KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : Literatur Ko T Titel der Sendung : "Mystiker der Vernunft" Ein Porträt des englischen Schriftstellers Ian McEwan Üb Autor/in : Thomas David Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 16.01.2015 Besetzung : Sprecher 1 (Kommentar), Sprecher 2 Ian McEwan OV/Zitator Regie : Beate Ziegs Produktion : O-Töne, Musik Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503- Mystiker der Vernunft Ein Porträt des englischen Schriftstellers Ian McEwan Wortspiel Autor: Thomas David Redaktion: Dorothea Westphal Aufnahmeleitung: Technik: Sprecher 1 = Erzähler Sprecher 2 = Ian McEwan/Zitator Atmo 1 ("The Children Act") "London. Trinity term one week old. Implacable June weather. Fiona Maye, a High Court judge, at home on Sunday evening, supine on a chaise longue, [...] Musik (Schubert: "Der Leiermann"/Bostridge) "Drüben hinterm Dorfe steht ein Leiermann. Und mit starren Fingern dreht er, was er kann." Atmo 2 ("Kindeswohl") "London. Sonntagabend, eine Woche nach dem Ende der Gerichtsferien. Nasskaltes Juniwetter." Musik (Schubert: "Der Leiermann"/Bostridge) "Keiner mag ihn hören, keiner sieht ihn an." Atmo 3 ("Kindeswohl") "Fiona Maye, Richterin am High Court, lag zu Hause auf der Chaiselongue und starrte über ihre bestrumpften Füße hinweg quer durch den Raum." Musik (Schubert: "Der Leiermann"/Piano) Erzähler Zu Beginn von "Kindeswohl", dem neuen Roman des englischen Schriftstellers Ian McEwan, betrachtet die Richterin Fiona Maye die Insignien ihres erfolgreichen, wohlsituierten Lebens. Musik (Schubert: "Der Leiermann"/Piano) Erzähler Fionas Blick streift die Einbauregale und den Kamin, die kleine Renoir- Lithographie an der Wand, den Walnusstisch mit der blauen Vase, die Familienfotos in Silberrahmen, die auf dem schwarzen Stutzflügel stehen. Fiona ist eine talentierte Amateurpianistin, ihre Liebe gilt der Kammermusik. Atmo 4 ("The Children Act") "...a tiny Renoir lithograph of a bather, bought by her thirty years ago for fifty pounds. Probably a fake." Erzähler In Fionas Hand ein Glas Scotch; neben ihr auf dem Fußboden der Entwurf des Urteils, das sie am nächsten Tag am High Court in einem Scheidungsverfahren aussprechen muss. Regen schlägt gegen das Fenster, aus dem Schlafzimmer hört sie die Schritte ihres Ehemanns Jack, der ihr vor wenigen Minuten ein schockierendes Geständnis gemacht hat. Fiona liegt ermattet auf der Chaiselongue und wünscht ihre Arbeit und ihren Wohlstand, die ganze Gediegenheit ihres weich gebetteten, guten Lebens "auf den Meeresgrund", wie McEwan in "Kindeswohl" schreibt. Musik (Schubert: "Der Leiermann"/Bostridge) "Wunderlicher Alter, soll ich mit Dir geh'n? Willst zu meinen Liedern Deine Leier dreh'n?" O-Ton 1 (Ian McEwan) The judge is required at various points to decide: What is the good life? Ian McEwan Als Richterin muss sie immer wieder darüber entscheiden, was "das gute Leben" ausmacht. Und natürlich ist die Liste dessen, was aus Sicht der meisten Menschen zu einem guten Leben gehört, sehr lang. O-Ton 2 (Ian McEwan) So you could have beautiful objects, they don't have to be expensive ones, but I would say top of the list has to be meaningful, loving human relationships. Ian McEwan Schöne Gegenstände gehören dazu, nicht notwendiger Weise kostspielige. Aber ganz oben auf der Liste müssen wohl tiefergehende, liebevolle menschliche Beziehungen stehen. O-Ton 3 (Ian McEwan) So at the core has to be at least one but maybe several profound, meaningful, loving friendships - love affairs, marriages, whatever it is in your life. Erzähler In "Kindeswohl", seinem vierzehnten Roman, zeichnet der 1948 geborene McEwan das Porträt einer Frau im Augenblick der Krise. Fiona Maye ist 59 Jahre alt, "in den frühsten Kinderjahren des Alters", wie er schreibt. Fionas Mann eröffnet ihr nach 35 Jahren der Ehe, dass er sich eine Affäre mit einer jüngeren Frau wünsche und bittet Fiona um ihre Zustimmung. Atmo 5 ("Kindeswohl") ""Wenn du das tust, ist es aus mit uns. So einfach ist das."-"Ist das eine Drohung?"" Atmo 6 ("Kindeswohl") ""Ein feierliches Versprechen."" O-Ton 4 (de Weck) Dieser Roman ist eigentlich fast eine Novelle. Ian McEwan hat vielfach in letzter Zeit auch über Novellen geschrieben, und dieser Roman - er läuft unter "Roman", aber er hat eine ganz klare vorwärtstreibende Struktur. "Honig", der Vorgängerroman, ist ja sehr verspielt - im Aufbau, in der Struktur mit einer Wende am Schluss, die alles wieder in einem neuen Licht erscheinen lässt. Erzähler Margaux de Weck, McEwans Lektorin im Diogenes Verlag. O-Ton 5 (de Weck) Und im Gegensatz dazu ist "Kindeswohl" für mich vergleichbar mit "Am Strand" - darin, dass es eine ganz geradlinige Geschichte ist, die von einer "unerhörten Begebenheit" - wie man in der Novellentheorie gesagt hat - ausgeht. Und in dem Fall sind es vielleicht zwei unerhörte Begebenheiten. Einerseits die Hauptfigur ist eine Richterin, um die sechzig, die im Familienrecht sich vor allem auskennt, und ihr Mann kommt zu ihr und sagt, dass er sie liebt, aber dass er eine Affäre beginnen möchte, dass er noch einmal eine große Leidenschaft leben möchte, bevor es zu spät ist. Und er möchte ihren Segen dazu. Ich denke, das ist die erste "unerhörte Begebenheit". McEwan Liebe ist der wesentliche Bestandteil dessen, was wir uns unter einem guten Leben vorstellen. Liebe und Güte. O-Ton 6 (McEwan) All those things can be listed. Why don't we pursue them? McEwan Aber weshalb gelingt es uns nicht, unsere Vorstellungen von einem guten Leben in die Tat umzusetzen? Wir könnten uns mühelos über die Dinge einigen, von denen wir wissen, dass sie uns glücklich machen und zu einem guten Leben führen. O-Ton 7 (McEwan) Why aren't we pursuing it every minute of the day? McEwan Aber statt diesen nachzugehen, lassen wir uns beirren, sind gelangweilt, ruhelos, geben unseren destruktiven oder selbstzerstörerischen Impulsen nach oder folgen irgendwelchen verrückten Ideen. O-Ton 8 (McEwan) Or we get gripped by some crazy ideas that are not healthy for other people around us and so on. O-Ton 9 (de Weck) Erzähler Nach der Aussprache mit ihrem Mann erhält Fiona einen Anruf von ihrem Sekretär. Und stürzt sich, nach dem ersten Aufwallen ihrer Angst, Jacks Liebe verloren zu haben und in ein um das Wesentliche beraubtes Leben hineingestoßen zu werden, in die Arbeit an einem drängenden Fall. Nicht nur, dass sie dabei über Leben und Tod entscheiden muss, Fiona wird schließlich auch mit der Irrationalität ihrer Gefühle konfrontiert. O-Ton 10 (de Weck) Und zwar geht es um einen 17-jährigen Jungen, der krank ist, Leukämie hat, und er gehört den Zeugen Jehovas an. Und die Zeugen Jehovas lehnen Bluttransfusionen aus religiösen Gründen ab. Dieser Junge wird sterben, wenn er keine Bluttransfusion bekommt, ist aber selbst dagegen, er will keine bekommen. Erzähler In "Kindeswohl", einem konzentrierten, im Original kaum mehr als 210 Seiten langen Kammerspiel, greift McEwan abermals das Thema auf, das bereits in seinen ersten Büchern - den beiden in den siebziger Jahren erschienenen Erzählungsbänden und dem 1978 erschienenen Debütroman "Der Zementgarten" - als Unterströmung die Handlung lenkt und in dem 1992 veröffentlichten Roman "Schwarze Hunde" an die Oberfläche drängt. Ian McEwan ist ein Mystiker der Vernunft, ein von Ironie und Skepsis, von einem tiefen Glauben an einen modernen wissenschaftlichen Materialismus durchdrungener Apologet des Rationalen, dessen Figuren sich gegen das vernunftwidrige Chaos stemmen, das man Leben nennt. O-Ton 11 (de Weck) Die Richterin ist vor die Entscheidung gestellt, ob sie sein Leben rettet gegen seinen Willen. Und das in einem Moment, in dem sie privat total aufgelöst ist, und ich denke, das ist ihr Dilemma. Und das große Dilemma in dem Buch überhaupt ist der Konflikt zwischen Glaube und Ratio, zwischen Religion und Wissenschaft. Musik (Schubert: "Erlkönig"/Bostridge - 0.00) Erzähler Ian McEwan ist der Autor von "Der Zementgarten", worin der 15-jährige Ich- Erzähler und seine ältere Schwester der Irrationalität des Todes begegnen. Sie zementieren den Leichnam ihrer Mutter im Keller ein - der Anfang eines intelligenten, von einer morbiden Logik geleiteten Plans, um sich und die beiden jüngeren Geschwister vor der Unterbringung in einem Waisenhaus zu retten. Musik (Schubert: "Erlkönig"/Bostridge) "Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind." Erzähler McEwan ist der Autor von "Abbitte", einem grandios orchestrierten Abgesang auf das mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu Ende gehende Zeitalter der Unschuld, das für die Protagonisten der 2005 und 2010 veröffentlichten Romane "Saturday" und "Solar" in einer gottlosen, von religiösem Fundamentalismus, von Terrorismus und Klimawandel bedrohten Gegenwart endgültig verloren scheint. "Sollte er je geholt werden, würde er die Evolution zu seiner Religion erklären", so die Hauptfigur aus "Saturday", ein Neurochirurg, für den es keine Glaubensfrage, sondern eine alltägliche Tatsache ist, dass das menschliche Bewusstsein von bloßer Materie geschaffen wird. In "Kindeswohl" verteidigt Fiona die profane, sterbliche Realität und widersetzt sich damit dem religiösen Dogma der Eltern des an Leukämie erkrankten Adam. Zitator "Gibt es einen besseren Schöpfungsmythos?" Musik (Schubert: "Erlkönig"/Piano) Zitator "Eine unvorstellbar lange Zeitspanne, zahllose Generationen, die in winzig kleinen Schritten komplexe, lebende Schönheit aus träger Materie zeugen, getrieben von der blinden Wut wahlloser Mutation, natürlicher Selektion und umweltbedingter Veränderung [...]." Atmo 7 ("Literatur im Nebel") [Musik, Lachen, Smalltalk der Besucher] Zitator "[...], dazu die Tragödie stetig aussterbender Arten, später dann das Wunder des aufkeimenden Geistes und in dessen Gefolge Moral, Liebe, Kunst, Städte [...]" Erzähler Ende September 2014, wenige Wochen nach Erscheinen der englischen Ausgabe von "Kindeswohl", ist McEwan im österreichischen Heidenreichstein, einer kleinen Stadtgemeinde im Waldviertel, etwa zwei Autostunden nordwestlich von Wien, Ehrengast des Festivals "Literatur im Nebel". Zitator "[...] und obendrein der beispiellose Vorteil, dass diese sich entfaltende Geschichte nachweislich der Wahrheit entspricht." Atmo 8 ("Literatur im Nebel") [Volksmusik, Smalltalk der Besucher] Atmo 9 ("Literatur im Nebel") [Beifall] Atmo 10 ("Literatur im Nebel") Moderation: "Es wird Ihnen heute vieles Spannendes vorgelesen werden. Ihnen allen möchte ich auch danken, dass Sie jedes Jahr hier herkommen, diese Halle füllen, und was ich jetzt beim Hergehen gedacht habe, wie bei einem Pop-Konzert, Menschen Karten suchen." Atmo 11 ("Literatur im Nebel") "Der Zementgarten": "Im Frühsommer hielt ein Lastwagen vor unserem Haus. Der Fahrer und noch ein Mann kamen auf mich zu. "Zement", sagte der eine." Atmo 12 ("Literatur im Nebel") Moderation: "Besonders begrüßen möchte ich aber natürlich alle Schauspielerinnen und Schauspieler, Autorenkollegen und Autorenkolleginnen des Ehrengastes, die hierher gekommen sind, um ihm zwei Tage ein Lesefest zu bereiten. Herzlichen Dank, dass Sie hier sind." [Beifall.] Atmo 13 ("Literatur im Nebel") "Der Zementgarten": ""Meint Ihr nicht, wir sollten es jemand sagen? Wir müsen es jemand sagen, damit es ein Begräbnis gibt." - "Wenn wir es ihnen sagen, dann kommen sie und geben uns in Pflege, in ein Waisenhaus."" Atmo 14 ("Literatur im Nebel") Moderation: "Und ganz besonders natürlich freue ich mich über den diesjährigen Ehrengast, ohne den dieses Festival definitiv nicht stattfinden könnte, den britischen Bestsellerautor Ian McEwan. Herzlichen Dank, dass Sie hier sind." [Beifall] Atmo 15 ("Literatur im Nebel") "Der Zementgarten": ""Wir können sie nicht im Schlafzimmer lassen, sonst fängt sie an zu riechen [...] Wenn wir es niemand sagen, müssen wir was unternehmen." - "Aber was können wir denn unternehmen?" July machte es etwas dramatisch. Sie sagte sehr ruhig: "Sie begraben, natürlich." [...] "Ja," sagte ich, erschauernd vor Grauen. "Wir machen ein Privatbegräbnis, Sue."" Erzähler McEwan ist der neunte Ehrengast des 2006 begründeten Festivals, das jährlich an zwei Tagen im Herbst das Werk eines international gefeierten Schriftstellers präsentiert. Salman Rushdie, Amos Oz und Jorgé Semprun waren bereits zu Gast, Margaret Atwood und Hans Magnus Enzensberger. Auf einem Hügel am Rande des zu Füßen einer mittelalterlichen Wasserburg gelegenen Ortes - in einer ehemaligen Reithalle - lesen Schauspieler wie Tobias Moretti, August Zirner und Elisabeth Ort, aber auch Autorinnen wie Teresa Präauer und Autoren aus dem Werk des Schriftstellers, während McEwan sich auf der Bühne den Fragen der Kuratorin stellt. Atmo 16 ("Literatur im Nebel") Interviewerin: "It is such a great pleasure and honour to have him here, so I don't want to waste a second of the prescious time with you. Ich gehe gleich in medias res. Ich werde die Fragen auf Deutsch stellen. [...] Erzähler McEwan trägt ein legeres Sakko und ein weißes Hemd ohne Krawatte. Er beantwortet die Fragen mit einem lässigen, einnehmenden Charme. Atmo 17 ("Literatur im Nebel") McEwan: "Well, before I answer that question, let me first of all say: This is an extraordinary honour and privilege, and the hospitality and focus of attention I am sure is not good for any writer." [Lachen Publikum] Übersetzerin: "Bevor ich Ihre Frage beantworte, möchte ich sagen, dass es ganz außerordentlich toll ist, hier zu sein. Diese Ehre, diese Aufmerksamkeit, die einem hier widerfährt, die Gastfreundschaft, und ich glaube, so im Mittelpunkt zu stehen, ist für einen Schriftsteller nicht immer gut." Erzähler Michael Haneke und der mit McEwan befreundete Daniel Kehlmann sitzen im Publikum, Honoratioren aus Heidenreichstein und den umliegenden Gemeinden. Mitbegründer des Festivals ist der frühere Kulturpolitiker und heutige Generaldirektor der Österreichischen Kontrollbank Rudolf Scholten, in dessen großzügigem, am Waldesrand gelegenem Haus McEwan und dessen Frau während des Festivals wohnen. McEwan scheint die Aufmerksamkeit zu genießen, die ihm in Heidenreichstein geschenkt wird, die konzentrierte Andacht, mit der das in Limousinen und Shuttlebussen aus Wien und Umgebung angereiste Publikum an beiden Tagen für den Lesemarathon an den Lippen der Schauspieler hängt und sich bei diesem exklusiven Kulturevent der Gesellschaft eines Großschriftstellers erfreut: Atmo 18 ("Literatur im Nebel") McEwan: "Now I've completely forgotten what I was going to say." [Lachen Publikum] Übersetzerin: "Ich habe jetzt völlig vergessen, was ich sagen wollte." Interviewerin: "What comes first when you are writing." McEwan: "Yes, sorry, I was daydreaming." [Lachen Publikum] Übersetzerin: "Ich habe jetzt taggeträumt." Erzähler McEwan wirkt amüsiert und zugänglich. Im Gespräch - am zweiten Tag des Festivals mit Daniel Kehlmann - gibt er sich locker und eloquent und beantwortet die Fragen mit der Nachsicht des Schriftstellers, der die Erwartungen seines Publikums kennt. Während der Lesungen sitzt er in der vordersten Reihe. Atmo 19 ("Literatur im Nebel") "Solar": "Hier traf kein Betrogener ein, sondern ein erlauchter Gast. [Lachen Publikum]. Der Chef persönlich." Erzähler Hin und wieder flüstert er seiner Frau etwas ins Ohr. Er scheint sich Notizen zu machen, etwas in ein Heft zu schreiben, um die langen Stunden der auf Deutsch gehaltenen Vorträge zu überbrücken. Gelegentlich zieht er sich hinter die Bühne zurück, wo in einem kleinen Raum ein Buffet errichtet ist. O-Ton 12 (McEwan) So, I am sitting in the front row in a hall with, I don't know, 600, 800 people. And twenty or thirty feet away are some of the best actors in the German language, many of them Austrians. McEwan Ich sitze in der ersten Reihe einer Halle mit 600, 800 Menschen. Und sechs oder sieben Meter vor mir sitzen ein paar der besten Schauspieler deutscher Sprache, viele von ihnen Österreicher, und lesen aus meinen Werken - angefangen mit "Der Zementgarten" bis hin zu "Kindeswohl", meinem jüngsten Roman. O-Ton 13 (McEwan) And the first thought I have - I don't speak German, but I can remember enough school German to locate me in any book - the first thought I have is a shortness of life. McEwan Ich verstehe genug Deutsch, um mich in dem jeweiligen Buch zurechtzufinden, und das erste, was ich denke, ist, wie kurz das Leben ist. Erzähler McEwan sitzt neben dem Buffet auf einem Klappstuhl, er hält ein Glas Wasser in der Hand. McEwan Mit der Arbeit an "Der Zementgarten" habe ich vor fast vierzig Jahren begonnen, aber plötzlich existieren alle meine Romane für mich in der Gegenwart. Sie sind alle jetzt. Diese Erfahrung ähnelt der, die ich vor zwei Wochen hatte, als ich Großvater geworden war und zum ersten Mal das Kind meines ältesten Sohnes im Arm hielt. O-Ton 14 (McEwan) And I held this baby in my arms, and I had that same feeling that life just went like that [Schnippen]...The memory is very powerful like memories are when they are tagged with a powerful emotion. So that's the first thought. McEwan Erinnerungen sind von großer Kraft, wenn sie an starke Gefühle gebunden sind. Das ist also der erste Gedanke, den ich habe, und der zweite ist folgender: Musik (Schubert: "Der Leiermann"/Piano - 0.00) O-Ton 15 (McEwan) After a while, because my German isn't good enough, I have to daydream, I have to float off into my own thoughts. Musik (Schubert: "Der Leiermann"/Piano) McEwan Weil mein Deutsch nicht gut genug ist, fange ich irgendwann an, tagzuträumen, in meine Gedanken abzudriften. Die Organisatoren haben mir gestern zu Beginn des Festivals ein leeres Notizbuch überreicht, und während auf der Bühne aus meinem Werk gelesen wird, verliere ich mich in den Gedanken an meinen nächsten Roman und mache mir Notizen. O-Ton 16 (McEwan) There are 800 people around this, voices, German is going over my head like the sea. And here I am imagining the opening of another book. McEwan 800 Leute. Musik (Schubert: "Der Leiermann"/Piano) McEwan Deutsche Stimmen spülen wie die See über meinen Kopf hinweg, und ich sitze da und imaginiere den Anfang eines neuen Buchs. Abends im Restaurant bemerkte ich, dass das Notizbuch verschwunden war. O-Ton 17 (McEwan) So it is gone, completely gone. So today, back to the front row, the voices rolling over me, and I am trying to reconstruct the notes. McEwan Heute sitze ich also wieder in der ersten Reihe, die Stimmen rauschen über mich hinweg, und ich versuche, mich an die Notizen, die ich gestern gemacht habe, zu erinnern. O-Ton 18 (Kehlmann) Wir kannten uns ganz flüchtig von diversen Literaturfestivals, wie das halt so ist. Man schüttelt sich die Hand und tauscht ein paar freundliche Sätze aus. McEwan Vielleicht taucht das Notizbuch wieder auf, aber ich bin bereits darauf vorbereitet, es niemals wiederzufinden. O-Ton 19 (Kehlmann) Aber dann kam Ian und seine Frau Annalena kamen für einige Monate nach Berlin, und gemeinsame Freunde, Zadie Smith und ihr Mann haben uns miteinander in Verbindung gesetzt. Erzähler Daniel Kehlmann - seit "Abbitte" einer von Ian McEwans sorgfältigsten Lesern. O-Ton 20 (Kehlmann) Wir haben dann Ian und Annalena geholfen, ne Wohnung zu finden in Berlin - einfach, weil wir vor Ort waren, meine Frau und ich. Und dadurch, dass wir die Wohnung gesucht hatten, und da hatten wir E-Mails ausgetauscht, hatten wir das Gefühl, wir kennen uns eigentlich schon ganz gut. Als sie dann tatsächlich nach Berlin kamen, haben wir uns sehr schnell sehr eng befreundet und haben sehr viel Zeit miteinander verbracht. Ausflüge gemacht, Bootsfahren. Wir sind zusammen nach Hohenschönhausen gegangen, ne Führung durchs Stasigefängnis gemacht. Erzähler Kehlmann erzählt von gemeinsamen Urlauben, von den Besuchen in McEwans ehemaligem Haus am Londoner Fitzroy Square. Er erzählt von seinem Wirklichkeit gewordenen Traum, einen bewunderten Schriftsteller als engen Freund gewonnen zu haben. O-Ton 21 (Kehlmann) Man findet sehr viel von ihm in den Büchern wieder. Ich glaube überhaupt, ein Schriftsteller ist umso besser, je mehr es ihm gelingt, seine eigene Persönlichkeit in die Bücher zu übersetzen. Je mehr es ihm gelingt, die ganze Spannbreite dessen, was er ist und was ihn beschäftigt, seiner dunklen und hellen Seiten, in Büchern auszudrücken. Zitator "Sie trugen kein Halsband und hatten keinen Herrn. Sie bewegten sich langsam. Zu irgendeinem Zweck schienen sie gemeinsam vorzugehen. Ihre Schwärze, die Tatsache, dass [beide Hunde] schwarz waren, dass sie zusammengehörten und herrenlos waren, ließ sie an Erscheinungen denken." O-Ton 22 (Kehlmann) Und Ians Bücher sind auch deswegen ganz besonders gut, weil sich seine Persönlichkeit sehr vollständig und reich in ihnen ausdrückt. Zitator "[Die schwarzen Hunde] waren Sinnbilder der drohenden Gefahr, die sie verspürt hatte, sie waren die Verkörperung der namenlosen, unsinnigen, unsagbaren Unruhe, die sie morgens empfunden hatte. Sie glaubte nicht an Gespenster, aber sie glaubte an Wahnsinn." O-Ton 23 (Kehlmann) Das Interessante an "Black Dogs" ist, dass hier die Entscheidung noch offen ist, dass beide Seiten noch gleiches Recht bekommen: der Aberglauben ist vielleicht das falsche Wort, aber die Bereitschaft zur Annahme des Übernatürlichen und der strikte Rationalismus sind hier wirklich noch auf der Kippe. Erzähler Kehlmann erzählt von "Black Dogs", "Schwarze Hunde", seinem Lieblingsroman von McEwan. Der greift darin den bereits in einer der frühesten Kurzgeschichten thematisierten Konflikt zwischen der rationalen und der spirituellen Realität auf, den er auch in seiner ersten, Mitte der neunziger Jahre geschiedenen Ehe mit der Journalistin und Astrologin Penny Allen austrug, der Mutter seiner beiden Söhne. In "Schwarze Hunde" treibt die Begegnung mit zwei bedrohlichen, herrenlosen Hunden einen Keil zwischen ein englisches Ehepaar, das sich kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs auf Hochzeitsreise in Südfrankreich befindet. "Schwarze Hunde" ist Ausdruck von McEwans eigener Zerrissenheit, dem scheiternden Versuch, seine Rationalität mit einer irrationalen, mystischen Weltanschauung in Einklang zu bringen. O-Ton 24 (Kehlmann) Und deswegen ist es vielleicht auch philosophisch gesehen sein interessantestes Buch, und sein komplexestes, obwohl es ja kurz ist. Und ich denke tatsächlich, dass er für sich die Entscheidung irgendwann nach dem Buch getroffen hat. Atmo 20 ("Kindeswohl") ""Mr Henry, erklären Sie dem Gericht bitte, warum Adam Bluttransfusionen ablehnt." Mr Henry zögerte, als dächte er zum ersten Mal über diese Frage nach. Er wandte sich um und richtete seine Antwort an Fiona." O-Ton 25 (Kehlmann) Der vernünftige Mensch, der vom Chaos bedrängt wird und nichts anderes hat, als in diesem Moment an der Vernunft festzuhalten. Und das ist auch richtig. Weil, was hat man denn schon sonst? Atmo 21 ("Kindeswohl") ""Sie müssen verstehen", sagte er, "Blut ist die Essenz des Menschlichen. Es ist die Seele, es ist das Leben selbst. Und so wie das Leben ist auch das Blut heilig."" Erzähler In "Kindeswohl" ist der in "Schwarze Hunde" ausgetragene Konflikt zwischen Ratio und Glaube längst entschieden. Anhand der Geschichte des an Leukämie erkrankten Kindes verhandelt McEwan in seinem neuen Roman vielmehr die Verantwortungen, die für Fiona und das Gericht aus ihrem Urteil erwachsen. Atmo 22 ("Kindeswohl") ""Blut steht für das Geschenk des Lebens, für das jede lebende Seele dankbar sein sollte." Er sprach diese Sätze nicht wie innige Überzeugungen aus, sondern wie Tatsachen." O-Ton 26 (McEwan) "Blood is the essence." That's just sort of romantic garbage. Musik (Schubert: "Erlkönig"/Piano) O-Ton 27 (McEwan) I mean, blood is not an essence, it is a functional biological factor. McEwan Die Vorstellung, dass Blut "die Essenz des Menschlichen" wäre, ist nichts als romantischer Unsinn. Blut ist eine funktionale Körperflüssigkeit. Wie bringt man es als Eltern fertig, sein Kind für ein religiöses Dogma, das auf derart unhaltbarem Unsinn beruht, sterben zu lassen? Musik (Schubert: "Erlkönig"/Bostridge") "Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, was Erlenkönig mir leise verspricht?" - "Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind, in dürren Blättern säuselt der Wind." McEwan Es bedarf keines kalten Rationalismus, um diese Haltung zu entkräften, sondern nur ein wenig Liebe und ein Empfinden für die Rechte eines anderen Menschen. O-Ton 28 (McEwan) It just requires a sense of love and a value of the rights of a person. Erzähler Anfang Dezember sitzt Ian McEwan im Souterrain eines pompösen spätviktorianischen Hotels am Londoner Russell Square an einem Konferenztisch. Musik (Schubert: "Erlkönig"/Piano) Erzähler Neben ihm die Tweed-Mütze eines Country-Gentleman, auf den Lippen das schmale Lächeln, das man von den Autorenfotos kennt. Lichtes, grau meliertes Haar: Auch McEwan kommt allmählich in die Jahre. In "Kindeswohl" erzählt er, wie Fionas Entscheidung, den jungen Adam Henry vor dem Tod zu bewahren und die Bluttransfusion gegen seinen und den Willen der Eltern gerichtlich anzuordnen, zugleich eine Entscheidung über die ethisch- moralischen Werte ist, auf die sich eine Gesellschaft verständigt. Eine Entscheidung über das, was sie "ein gutes Leben" nennt. Musik (Schubert: "Elkönig"/Piano) Erzähler In "Kindeswohl" erzählt er, wie Fionas rationale Entscheidung, das Recht über ein biblisches Gebot zu stellen, in ein Chaos der Gefühle mündet. Denn Fiona scheint sich schuldig zu machen, als sie dem von seiner Krankheit genesenen Adam die Liebe und Nähe verweigert, die sich der junge Mann von seiner Lebensretterin ersehnt - die "Sohnesliebe", die der 17-Jährige der kinderlosen, vom Ehemann scheinbar verstoßenen Fiona gern schenken würde. McEwan sagt: McEwan Auch wenn man das Irrationale zurückweist, kann man ihm manchmal dennoch nicht entkommen oder fühlt sich davon sogar angezogen. O-Ton 29 (McEwan) Well, I think, it is there, it is part of the structures of our minds. We are not entirely rational - but we are not entirely irrational. McEwan Eine Vielzahl romantischer Dichtung handelt von eben dieser Zerrissenheit. Musik (Schubert: "Erlkönig"/Bostridge) "Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort, Erlkönigs Töchter am düstern Ort?" - "Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau: Es scheinen die alten Weiden so grau." McEwan So wie Fiona, handelt jeder von uns sowohl rational als auch irrational. Der Mensch weiß heute viel über sich und die Welt, aber mit dem gleichen Recht kann man sagen, dass es noch sehr viel gibt, das er nicht weiß. O-Ton 30 (McEwan) You don't need the devil or a god to investigate what's wild and crazy and destructive in human nature. McEwan Aber es bedarf keiner übernatürlichen Erklärungen, keines Teufels und keines Gottes, um das zu erforschen, was an der Natur des menschlichen Herzens wild und verrückt und destruktiv ist. Musik (Schubert: "Erlkönig"/Bostridge) "Dem Vater grauset's, er reitet geschwind, er hält in den Armen das ächzende Kind, erreicht den Hof mit Müh und Not; in seinen Armen das Kind war tot." 4