COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Der Mensch, das unbekannte Wesen? Über Erfolg und Grenzen von Spieltheorie und Verhaltensökonomik Atmo Meer die üblichen Möwen, das bewährte Rauschen der Wellen und der gängige Schiffsmotor unter Sprecher liegen lassen Sprecher Wenn heute die Fischer in See stechen, müssen sie immer weiter hinausfahren. Es dauert lange, bis sie ihre Fanggründe erreichen, und viele kommen mit leeren Netzen nach Hause. Atmo kurz frei Die Bestände schrumpfen, weil die Fische schneller gefangen werden, als sie sich vermehren können. Wenn das so weiter geht, werden die Fischgründe unwiederbringlich zerstört. Kein Fischer kann das wollen. Eine Einigung ist, so scheint es, unmöglich. Niemand will den eigenen Fang begrenzen, solange die anderen nicht dasselbe tun. Um sich zu einigen, fehlt es den Fischern an Vertrauen. Atmo ausblenden Sprecherin In vielen Situation müssen wir uns entscheiden: Wollen wir mit unserem Gegenüber zusammenarbeiten? Oder suchen wir unseren eigenen Vorteil, unter Umständen auf Kosten des anderen? Vor sechzig Jahren entwickelten ein ungarischer Mathematiker und ein österreichischer Wirtschaftswissenschaftler, John von Neumann und Oskar Morgenstern, eine Methode, um solche Entscheidungen in ökonomische Analysen einzubeziehen. Ihre Analyse "Die Theorie der Spiele und des wirtschaftlichen Verhaltens" wurde zu einem der einflussreichsten Bücher des letzten Jahrhunderts. Sechsmal wurden Spieltheoretiker mit einem "Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften" geehrt, zum letzten Mal 2012. Psychologie, Politikwissenschaften, Biologie - kaum eine akademische Disziplin kommt heute mehr ohne Spieltheorie aus. Regie: Musikakzent Sprecherin Ihre Stärke besteht darin, dass sie Entscheidungsprobleme formalisieren kann. Die möglichen Handlungen und deren Folgen übersetzt die Spieltheorie in Strategien und Auszahlungen, die in Tabellen dargestellt werden. Neumann und Morgenstern wollten Methoden für die Sozialwissenschaften entwickeln, die ähnlich exakt sein würden wie die der Physik oder Chemie. Aber selbst unter Spieltheoretikern war immer umstritten, wie viel ihre Modelle über wirkliche Konflikte aussagen. Kann die Theorie ein komplexes Problem wie zum Beispiel "Überfischung" erklären? Lassen sich soziale Fragen überhaupt spieltheoretisch formulieren? Regie: Musikakzent "Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht" Sprecherin Wenn vernunftbegabte Konkurrenten aufeinander treffen, werden sie versuchen, einander zu durchschauen. Spieltheorie sucht nach der besten Vorgehensweise in dieser Situation; sie versucht sozusagen, unberechenbare Gegner berechenbar zu machen. Aber die Entscheidungen dieser Gegner sind eben nicht festgelegt - betont Manfred Holler, Volkswirt an der Universität Hamburg. 1 O-Ton Holler Die Situationen zeichnen sich dadurch aus, dass die Ergebnisse nicht von einem Entscheider bestimmt werden, sondern immer von mehreren Entscheidern. Wenn Sie ein Schachspiel machen, dann hängt das Ergebnis ihrer Züge nicht nur davon ab, was Sie vorhaben, was Sie wählen wollen, sondern auch, was der Gegenspieler macht. Ob meine Strategie gut ist, hängt ja immer davon ab, was der andere wählt. Aber selbst das zu erkennen, ist nicht immer einfach ... Ich mein, ich unterrichte wahrscheinlich seit zwanzig Jahren Spieltheorie, und wenn ich nachher also die Prüfungen anschau, dann seh ich, dass selbst Leute, die ein Vierteljahr, halbes Jahr Spieltheorie machen, sich ganz leicht verrechnen, die Situation falsch einschätzen, das Modell nicht anwenden können. Und dann frage ich mich: Warum soll man das von einem Entscheider erwarten, der mit Spieltheorie nichts zu tun hat? Fehler können wir alle machen. Das bedeutet aber nicht, dass das Modell falsch ist. Sprecherin Erfolgreich war die Spieltheorie nicht nur in der Wissenschaft. Sie prägt auch unser alltägliches Bewusstsein. Ihre populäre Wirkung entfaltet die Spieltheorie durch Szenarien, mit denen die Wissenschaftler ihre Modelle illustrieren - zum Beispiel das sogenannte Gefangenendilemma. Zitator Zwei Verdächtige werden verhaftet und in getrennte Zellen gesperrt. Der Staatsanwalt ist sich sicher, dass die beiden ein Verbrechen begangen haben, hat aber nicht genug Beweise für eine Verurteilung vor Gericht. Er macht also den beiden Gefangenen klar, dass jeder von ihnen jeweils zwei Alternativen hat: das Verbrechen zu gestehen oder nicht zu gestehen. Falls beide leugnen, kommen sie mit einer geringen Strafe davon. Falls einer gesteht und der andere leugnet, erwartet den Geständigen als Kronzeuge ein mildes Urteil, während den anderen die volle Härte des Gesetzes trifft. Sprecherin Offensichtlich wäre Schweigen für die beiden nun das Beste. Aber gleichzeitig gibt es die Verlockung, den Komplizen zu verraten. Das Dilemma besteht nun darin, dass sie sich weder verständigen, noch einigen können. Seit seiner Definition im Jahr 1950 wurde dieses Gefangenendilemma für beinahe jeden denkbaren Konflikt bemüht. Das Gefangenendilemma kommt immer dann zum Einsatz, wenn Anreize zum "Trittbrettfahrerverhalten" bestehen. Dann können die Akteure das Vertrauen der anderen ausbeuten und davon profitieren - genau solange, bis die anderen dasselbe tun - erklärt Eckard Arnold, Philosoph und Experte für Modellierung. 2 O-Ton Arnold Also das Gefangenendilemma kann Dilemma-Situationen abbilden, wo zwei Menschen einen Vorteil davon hätten, wenn sie kooperativ und vertrauensvoll zusammenarbeiten würden, wo aber jeder einzelne einen noch größeren Vorteil hat, einen persönlichen Vorteil, wenn er den anderen übers Ohr haut. Und das ist eine Dilemma-Situation insofern, als jeder versuchen wird, den anderen übers Ohr zu hauen. Aber wenn sie beide versuchen, den anderen übers Ohr zu hauen, stehen sie beide schlechter da, als wenn sie zusammengearbeitet hätten. Sprecherin Die Gefangenen müssen sich entscheiden - vertrauen sie dem anderen oder nicht? Wie sich konkrete Personen verhalten werden, darüber sagt dieses Modell nichts aus. Aber die Spieltheorie kann zeigen, dass es einen Zustand gibt, in dem niemand einen Vorteil davon hat, von der einmal gewählten Strategie abzuweichen. Solche Gleichgewichtspunkte werden, nach dem amerikanischen Mathematiker John Forbes Nash als Nash-Gleichgewichte bezeichnet: stabile Zustände, obwohl die Interessen der Spieler unvereinbar sind. Unter der Bedingung, dass die Spieler rational sind, gibt es im Gefangenendilemma nur einen solchen Punkt: den gegenseitigen Verrat. Denn der Begriff von Rationalität bewegt sich in engen Grenzen: Vernünftig sein heißt opportunistisch handeln, jede Gelegenheit ausnutzen und den größtmöglichen Nutzen anstreben. Von Anfang an rief das Widerspruch hervor. Viele Kritiker wenden ein, dass die Modelle nicht realistisch sind. Andere finden sie moralisch falsch. Zum Beispiel der Wirtschaftsethiker Ulrich Thilemann: 3 O-Ton Thilemann Die Erklärung der Durchsetzungsrationalität, für die der Name homo oeconomicus steht, zum Inbegriff der praktischen Vernunft, dessen, was wir den Gütestempel rational, richtig, vernünftig aufdrücken können, das ist der erste und hauptsächliche Sündenfall. Es kommt nur darauf an, dass man seine vorbestimmten Interessen durchsetzt. Und das gilt als Inbegriff von Vernunft. Indem nämlich dann nur noch andere in ihren Wirkungseigenschaften definitionsgemäß zählen, das heißt in ihren Fähigkeiten mir nützlich zu sein oder mir Schaden zuzufügen. Sprecherin Natürlich muss es den Menschen auf dieser Grundlage schwer fallen, überhaupt zusammenzuarbeiten, sich zu einigen, soziale Regeln zu entwickeln. Deshalb kreist ein Gutteil der spieltheoretischen Debatte um die Frage, wie "rationale Egoisten" überhaupt kooperieren können. Der amerikanische Biologe Garrett Hardin gab darauf eine zutiefst pessimistische Antwort: sie können es nicht. Der ökologisch engagierte Wissenschaftler benutzte das Gefangenendilemma, um Probleme wie die Überfischung der Meere zu beschreiben. In seinem berühmtem Aufsatz "Die Tragödie der Allmende" aus dem Jahr 1968 erklärt Garrett Hardin das angebliche Dilemma am Beispiel einer gemeinsam verwalteten Kuhweide. Zitator Der rationale Viehhalter kommt zu dem Schluss, dass es das einzig Vernünftige für ihn ist, seiner Herde ein weiteres Tier hinzu zu fügen. Und noch eines, und dann noch eines. Aber zu eben diesem Schluss kommt jeder einzelne der Hirten, die sich das Gemeingut teilen. Dies ist die Tragödie: Jeder ist in einem System gefangen, das ihn zwingt, seine eigene Herde immer weiter zu vergrößern. Sprecherin In ihrem kurzsichtigen Egoismus erkennen die Viehhalter laut Hardin nicht, dass sie die Allmende, also die gemeinsame Weide, zugrunde richten - und sich letztlich selbst schaden! Das Trittbrettfahrerverhalten entspricht dem gegenseitigen Verrat im Gefangenendilemma. Hardin sah diese fatale Dynamik überall am Werk. Mit strenger spieltheoretischer Logik bewies er, dass Gemeingüter langfristig untergehen müssen. Oder doch nicht? Vielleicht interessiert uns das Schicksal der anderen doch mehr als angenommen... Zitator Überraschenderweise gibt es eine einzige Eigenschaft, mit der relativ erfolgreiche von relativ erfolglosen Teilnehmern unterschieden werden können. Diese Eigenschaft besteht darin, freundlich zu sein. Sprecherin So beschrieb Robert Axelrod tit for tat - eine Strategie im wiederholten Gefangenendilemma. Frei übersetzt bedeutet dieser Ausdruck "Wie du mir, so ich dir!" Wie Hardin versuchte Axelrod mit Hilfe des Gefangenendilemmas das Rätsel zu lösen, wie Egoisten zusammenarbeiten können. Zu diesem Zweck ließ Axelrod Computerprogramme mit verschiedenen Strategien gegeneinander antreten. Diese Programme konnten mit ihren Konkurrenten zusammenarbeiten oder sie verraten. Überraschenderweise setzte sich dabei eine Strategie durch, die auf den ersten Blick gar nicht konkurrenzorientiert wirkt: Tit for tat kooperiert, solange der andere dasselbe tut. Auf Verrat reagiert das Programm allerdings unnachgiebig mit Vergeltung. So wies Robert Axelrod nach, dass sich kooperatives Vorgehen auszahlen kann - und damit im neoklassischen Sinne rational ist. Den Philosophen Eckard Arnold, der sich auch mit Computersimulationen beschäftigt, beeindruckt dieses Ergebnis allerdings nicht besonders. 4 O-Ton Arnold Ja ... nett sein, kann sich lohnen ... Aber was das Setting nicht mehr hergibt, sind alle weiteren Schlussfolgerungen, die Axelrod gezogen hat, wie zum Beispiel, dass tit for tat eine besonders gute Strategie ist. Es ist eine gute Strategie, aber es gibt noch viele andere! Das heißt, was man aus dem theoretischen Setting herausholen kann, ist eigentlich nur ein sehr diffuser Befund. Ein Befund, der lautet: Es kann sein, es kann aber auch nicht sein. Sprecherin Während Garrett Hardin mit dem wiederholten Gefangenendilemma nachzuweisen versuchte, dass Zusammenarbeit langfristig unmöglich ist, benutzte Robert Axelrod dasselbe Modell, um das Gegenteil zu zeigen. Der Biologe Hardin sah pessimistisch den ökologischen Untergang voraus. Der Politikwissenschaftler Axelrod glaubte an die Möglichkeit der Verständigung. Atmo Meer kurz frei, dann unter Sprecherin langsam ausblenden Sprecherin Ihre jeweilige Über-Interpretation ist ein Beispiel für das, was die Ökonomin Elinor Ostrom (gesprochen "Ösdröm") "den metaphorischen Gebrauch von Modellen" nannte. Auch sie war fasziniert vom Gefangenendilemma. Mit Hardins schematischer Anwendung konnte sie allerdings wenig anfangen. In einem Vortrag an der Universität Stockholm erklärte sie: 5 Einspielung Ostrom His analogy was a pasture. And he imagined ... Sprecherin (Voice-Over) Seine Analogie war eine Viehweide. Und er stellte sich das vor, dass jeder Viehhalter mehr herausholen würde, je mehr Tiere er auf die Weide stellt. Aber wenn wir zu viele Kühe haben, ruinieren wir die Wiese. Die Tragödie der Allmende war eine mächtige Allegorie, und sie trifft zum Teil für Systeme zu, wenn die Menschen freien Zugang haben. Aber es gibt viele, viele Arten, wie man Institutionen organisieren kann, die es den Menschen ermöglichen, die Allmende gemeinsam und auch langfristig auf nachhaltige Art und Weise zu nutzen. ... and to use it in a renewable way over time. Musikakzent Sprecherin Als Psychologen in den 60er Jahren begannen, die Modelle der Spieltheorie in Laborexperimenten zu testen, stellte sich schnell heraus, dass die Versuchspersonen sich für die optimalen Kalküle nicht besonders interessierten. Der Spieltheoretiker Manfred Holler erklärt das an einem kleinen, sehr einfachen Spiel. 6 O-Ton Holler Da gibt es das berühmte Ultimatum-Spiel. Dabei geht es darum, also wenn Sie mir jetzt hundert Euro geben würden, und wir müssten uns darauf einigen, wie wir die aufteilen. Wir wären uns einig, dann würden wir das Geld bekommen. Die Schwierigkeit aber ist, dass Sie mich zum Vorschlagenden ernennen und ich müsste jetzt vorschlagen, ja, eine Aufteilung von diesen hundert Euro. Na, ich könnt ja mal versuchen, zum Beispiel: Achtzig zu zwanzig. (...) Ich würd jetzt sagen, achtzig zu zwanzig wär okay. Aber die meisten Fälle, es kommen viele Fälle vor, wo der Mitspieler, Gegenspieler dann sagt: "Nö, zwanzig sind mir zu wenig." Sprecherin Der homo oeconomicus lässt sich in diesem Laborexperiment selten blicken. Er kennt keinen Neid und kein Unrechtsempfinden, nur den Wunsch nach möglichst viel Geld. Deshalb würde er so wenig wie möglich anbieten und jedes Angebot annehmen. In Wirklichkeit bieten die Teilnehmer - je nach Setting - zwischen einem Drittel und der Hälfte an und lehnen niedrigere Beträge ab. 7 O-Ton Holler Also das ist nicht irrational. Es ist nur irrational, wenn ich das Geld allein als Maßstab hernehme. Das tun die Menschen aber nicht. Aber machen sie das Experiment mal - versuchen Sie also statt hundert Euro vielleicht hunderttausend Euro reinzubringen. Dann werden kleinere Beträge realisiert. Also wenn ich Ihnen von hunderttausend zweitausend gebe - würden Sie 's annehmen? (lacht) Bei hundert würden Sie vielleicht, würde ich vermuten, ablehnen. Sie würden sagen "Ach dieser Holler mit seinen zwei Euro, das ist doch eine Gemeinheit, was er macht ..." Sprecherin Solche Ergebnisse führten dazu, dass sich die Spieltheorie zur Verhaltensökonomik weiterentwickelte, erklärt der bekannte Verhaltensökonom Armin Falk von der Universität Bonn. 8 O-Ton Falk Es war ja nicht so, dass man am Anfang gesagt hat: "Wir wollen mal gucken, ob das homo oeconomicus - Modell richtig ist!" Es war ja anders. Die Spieltheorie hat theoretische Prognosen gemacht, und weil sie eben sehr konkret die Entscheidungen auch beschreiben kann, also welche Anreize gelten hier, was ist genau das prognostizierte Gleichgewicht, gegeben die Strategien, gegeben die Informationen, die die Akteure haben und so weiter, konnte man sagen: "Okay, wenn sie jetzt rational sind und wenn wir jetzt diese Annahmen im Laborkontext implementiert haben, dann sollte im Gleichgewicht folgendes passieren." Und dann hat man eben festgestellt: "Moment mal, die Leute machen ja was anderes." Sprecherin Verhaltensökonomen untersuchen, wie Menschen sich tatsächlich verhalten. Statt auf Modellannahmen setzen sie auf die empirische Forschung, auf Laborexperimente und Daten aus dem Feld. 9 O-Ton Falk Also die Verhaltensökonomik hat sich zum Ziel gesetzt, die Natur der menschlichen Motivation zu erforschen. Ausgehend von dem Standardparadigma der Ökonomen, die also in der Regel unterstellt, dass Menschen perfekt rational sind, und auch, was die Motivation angeht, eine relativ beschränkte Vorstellung hat, also vor allem Eigennutz spielt da eine wichtige Rolle, hat die Verhaltensökonomik in den letzten zwanzig, dreißig Jahren gezeigt, dass Menschen systematisch nicht rational sind, dass sie Fehler machen. Und der zweite große Aspekt ist die Erweiterung um, man hat das früher Anomalien genannt, Anomalien halt im Verständnis der orthodoxen Ökonomik, dass Motive eine Rolle spielen wie zum Beispiel Fairness oder Vertrauen, ganz wichtig positive Reziprozität oder auch negative Reziprozität, also die Bereitschaft, Geld aufzuwenden, um jemanden zu belohnen, der nett und freundlich war zu mir oder kooperativ, oder jemand zu bestrafen, der unkooperativ war. Sprecherin Die Verhaltensökonomik zielt auf praktische Anwendung. Der Wirtschaftsethiker Bernd Irlenbusch von der Kölner Forschungsgruppe "Design and Behaviour" beispielsweise sucht nach der optimalen Bezahlung in Unternehmen. Er gibt ein Beispiel für ein typisches verhaltensökonomisches Problem. 10 O-Ton Irlenbusch Wenn man mehr geschafft hat als die anderen Kollegen, dann bekommt man zum Beispiel einen Bonus. Diese Anreizsysteme werden häufig eingesetzt, aber das wichtige ist, dass es auf den relativen Vergleich ankommt, dass der andere weniger Output hat als man selbst. Da findet man in Laboruntersuchungen sehr deutlich, dass, um die relative Position zu verbessern, die Mitarbeiter zu Methoden greifen, die nicht nur die eigene Leistung steigern, sondern, wenn es möglich ist, auch die Leistung des Kollegen zu reduzieren. Sie scheuen sich davor, den Kollegen zu helfen, weil die Kollegen dann einen relativen Vorteil davon hätten, und das würde ihren eigenen Bonus unsicherer machen. Sprecherin Solche Ergebnisse sind für Unternehmer natürlich hochinteressant, die ihrerseits nach der optimalen Mischung aus Konkurrenz und Kooperation suchen. Deshalb ist die Verhaltensökonomik als Unternehmens- und Politikberatung gerade äußerst erfolgreich. Die englische und die amerikanische Regierung beschäftigen sogar feste Beraterstäbe mit Verhaltensökonomen. Ernst Fehr beispielsweise, Mitautor von Armin Falk und unter Ökonomen als möglicher nächster Nobelpreisträger gehandelt, betreibt neben seiner wissenschaftlichen Forschung eine Beratungsfirma. In deren Werbung heißt es: Zitator (Werbung Fehr-Advice) Der Behavioural Economics -BEA, geschütztes Markenzeichen - beruht auf dem empirischen Wissen über die menschliche Tendenz zu fehlerhaften Entscheidungen und erlaubt den systematischen Einsatz dieses Wissens für die Wirtschaftsberatung ... Die verhaltensökonomische Forschung hat beispielsweise nachgewiesen, dass viele Menschen kleine Erfolgswahrscheinlichkeiten überschätzen und große Erfolgswahrscheinlichkeiten unterschätzen. Änderungen in der Preispolitik eines Unternehmens bergen Chancen und Risiken, die durch die verzerrte Wahrnehmung von Wahrscheinlichkeiten getrübt werden. Sprecherin Dass Verhaltensökonomen verbreitete "Fehlleistungen" der Menschen strategisch auszunutzen versuchen, empört den Wirtschaftsethiker Ulrich Thilemann. 11 O-Ton Thilemann Die traditionelle Sicht, die sagt, wir Menschen sind alle homines oeconomici, Eigeninteressenmaximierer, ist natürlich auch empirisch falsch. Aber was passiert heute? Die Verhaltensökonomik sagt: "Ja, die Menschen handeln nicht als hominis oeconomici." Und was folgt daraus? "Machen wir ein Geschäft daraus!" Musikakzent Sprecherin Mit der Wirtschaftskrise hat sich Unzufriedenheit mit dem neoklassischen ökonomischen Mainstream verbreitet. Gerade die Verhaltensökonomik profitiert davon. Aber ihre prominenten Vertreter verstehen sich als Reformer, nicht als deren Überwinder. Sie wollen das Modell des homo oeconomicus ergänzen, nicht es abschaffen, betont Armin Falk. 12 O-Ton Falk Ich glaube, dass wir sehr gut daran tun, ausgehend vom homo oeconomicus - Modell, ausgehend von der Methodik, die uns die Wirtschaftswissenschaften zur Verfügung stellen, das Modell schrittweise zu erweitern. Die wesentlichen, die fundamentalen, die zentralen Abweichungen oder systematische Änderungen zu identifizieren, das ist ganz stark eine empirische Frage auch. Also was man glaube ich nicht tun sollte, ist jetzt das Kind mit dem Bade ausschütten. Es ist also nicht so, dass die Verhaltensökonomen sagen würden, alles, was die traditionelle Ökonomik an Instrumenten, an Werkzeugen und so weiter zur Verfügung stellt, sei Quatsch. Sprecherin Wirtschaftswissenschaftler nennen die Verhaltensökonomik deshalb oft "die Reparaturwerkstatt der Neoklassik". Praktisch bedeutet das, dass die Verhaltensökonomen die Optimierungsfunktionen, die den homo oeconomicus beschreiben, ergänzen - durch die Vorliebe für Fairness etwa, durch Neid oder kognitive Fehlleistungen. Wirtschaftsethiker Bernd Irlenbusch: 12 O-Ton Irlenbusch Ja, das ist die große Herausforderung. Wir müssen leider diese schöne, kohärente spieltheoretische Modellierung dann ein bisschen aufgeben, wenn wir die Fairness mit hineinnehmen. Also Sie haben recht, es wird weiter optimiert, allerdings optimieren die Agenten in den Modellen jetzt auch unter Berücksichtigung des Nutzens anderer. Das heißt, das wird mit ins Optimierungskalkül mit hineingenommen. Sprecherin Mit Experimenten wie dem Ultimatum-Spiel "messen" Verhaltensökonomen, auf wie viel Geld die Versuchspersonen verzichten, um so deren sogenannte Ungleichheitsaversion zu bestimmen. Dieser Wert wird dann in die Optimierungsfunktion eingerechnet, konkret: von dem höchstmöglichen erreichbaren Betrag abgezogen. Ob solche erweiterten Modelle zu besseren Voraussagen führen, ist umstritten. Eckard Arnold hat seine Zweifel. 14 O-Ton Arnold Also wenn es überhaupt Gesetze des menschlichen Verhaltens gibt, ist das wahrscheinlich eine Vielzahl sehr lokaler Gesetze, die sich immer auf bestimmte Situationen beziehen. Und da sehe ich auch ein bisschen das Problem, auch von solchen Ansätzen, die natürlich Modifikationen, Verfeinerungen, Verbesserungen sind, wie der Verhaltensökonomik, dass es immer noch die Vorstellung gibt, es müsse so ein paar grundsätzliche Naturgesetze menschlichen Handelns geben. Ich kann das Risikoverhalten eines Menschen beim Roulettespielen oder Würfelspielen messen. Aber weiß ich, ob es dasselbe Risikoverhalten ist, wenn er rausgeht und sich ein Auto oder eine Lebensversicherung kauft? Das weiß ich nicht! Sprecherin Kaum ein Ökonom behauptet, dass Menschen in ihrem Alltag wirklich spieltheoretisch kalkulieren. Das ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil Optimierungsfunktionen schwer auszurechnen sind. Umstritten ist, ob das eine Rolle spielt. Erfolgreich ist ein Modell, wenn es Verhalten prognostizieren kann - aber gelingt das? Hartmut Kliemt, Professor für Philosophie und Ökonomik an der Frankfurter School of Finance and Management erklärt, warum es wichtig ist, was in den Akteuren tatsächlich vorgeht. 15 O-Ton Kliemt Wenn man genau voraussagen will, was Individuen tun werden in der Zukunft, tut man gut daran, die wahren empirischen Gesetze, die ihr Verhalten verursachen, zu kennen. Das Problem mit Modellen, die nur äußerlich repräsentieren, was passiert, ist ja, dass man keinen Zugriff auf die eigentlichen Verhaltensursachen bekommt. Man kann eben nicht sagen, jemand hat im Kopf so etwas wie diese Ungleichheitsaversion, wie sie in dieser repräsentierenden Funktion dargestellt wird. Man kann ja nur sagen, was hinterher in seinem Verhalten herauskommt, das ist so, als ob er das im Kopf gehabt hätte. Für viele Bedingungen interessiert uns aber gerade, was er im Kopf gehabt hat. Sprecherin Orientieren sich Menschen in ihrem Alltag wirklich an Wahrscheinlichkeitskalkülen und Optimierungsfunktionen? Haben sie feste, messbare, übertragbare Präferenzen? Das sind keine nebensächlichen Fragen. Denn wenn nicht bestimmt werden kann, warum ein Akteur in einer Situation handelt, wie er handelt, dann gibt es keine Möglichkeit, vorherzusehen, ob er sich unter anderen Bedingungen ebenso verhalten wird. So erbt die aktuelle Verhaltensökonomik die ungelösten Probleme der Spieltheorie. Atmo Meer unter Sprecherin ganz langsam ausblenden Sprecherin Jahrhundertelang und überall in der Welt fanden Fischergemeinden Wege, das Gemeingut Meer nachhaltig zu bewirtschaften. Ihnen gelang es offenbar, Trittbrettfahrer in die Schranken zu weisen. Andernorts dagegen wurden gemeinsame Ressourcen übernutzt und zerstört. Wie und unter welchen Umständen können Egoisten zusammenarbeiten? Auch Elinor Ostrom war fasziniert vom Gefangenendilemma. Dennoch war sie davon Überzeug, dass Allmende nicht tragisch enden müssen. 16 Einspielung Ostrom If you become familiar with the lobster fisheries in Maine ... Sprecherin Wenn man sich den Hummerfang in Maine in den USA anschaut - oder irgendeine der vielen anderen nachhaltigen Ressourcen - dann stellt man fest, dass die Nutzer sich streiten, miteinander reden, diskutieren und dann Regeln finden. Und sie entwickeln Vertrauen zueinander. Aber die Annahme in dieser Theorie war, dass die Menschen nicht selbst in der Lage seien, Wege zu finden, um nicht ausgebeutet zu werden. The presumption behind this theory was that humans couldn't find ways, to avoid being suckers. Sprecherin Elinor Ostrom erklärte das damit, dass die Nutzer unkooperatives Verhalten erkennen und bestrafen können - unter Umständen besser als staatliche Behörden und Privatbesitzer. Mehr als solche allgemeinen Hinweise konnte aber auch sie nicht geben. Auf komplexe soziale Probleme bezogen, kommen spieltheoretische Modelle schnell an die Grenzen ihrer Aussagekraft. Ob Gemeingüter überleben, hängt auch davon ab, ob die Nutzer ihren Ertrag steigern müssen, wie langfristig sie planen können - Fragen, die über die Grenzen des Modells weit hinausgehen. Spieltheorie kennt soziale Phänomene nur, soweit sie in den Kalkülen der einzelnen Spieler auftauchen. Dazu kommt: Diese Kalküle lassen sich nicht a priori feststellen. Das meint auch der Spieltheoretiker Hartmut Kliemt. 17 O-Ton Kliemt Was man eben immer unterscheiden muss, sind die objektiven Auszahlungen, also das, was man beobachten kann, wie viel Geld jemand bekommt, und das, was eben möglicherweise in den Köpfen vorgeht. Was in den Köpfen vorgeht, ist etwas ganz anderes, als das, was die Auszahlungen hergeben. So. Und was kann man daraus lernen? Wie die Leute sich nämlich zu den Geldauszahlungen stellen, das zeigt ihre inneren normativen Überzeugungen. Und ihre Präferenzen bilden sich eben aufgrund solcher inneren normativen Überzeugungen. Wenn sie also diese Geldauszahlung nicht so wichtig finden wie zum Beispiel die Sicherung des Gemeinwohls, ja, dann ergibt sich, dass das Gefangenendilemma sich in ein Versicherungsspiel verändert. Wichtig, um das noch mal festzuhalten, ist genau dieser Unterschied! Und die Ökonomen sagen dann immer gerne: "Na ja, der Einfachheit halber nehmen wir mal an, die Leute seien nur an Geld interessiert." Ja, das stimmt, das kann man machen. Aber dann muss man sich eben auch klar machen, dass diese vereinfachende Bedingung in diesen Fällen nicht unschuldig ist. Sprecherin Ein bescheidenes Fazit: Was in einem Konflikt rational ist, was Menschen wollen und was sie können - "das kommt darauf an". Was wirklich ein Gefangenendilemma ist, und was nicht, entscheidet sich an den Menschen. Und diese Menschen geben sich ihre Spielregeln selbst. 1