Deutschlandrundfahrt Ein geteilter Bahnhof - Bayerisch-Eisenstein an der tschechischen Grenze Von Sabine Korsukéwitz Sendung: 1. September 2012, 15.05h Ton: Bernd Friebel Regie: Karena Lütge Redaktion: Margarete Wohlan Produktion: Deutschlandradio Kultur 2012 OPENER ATMO Bahnhof neutral O 1 Pavel Wir stehen im ehemaligen Eingangshalle vom Bahnhof, und als der Bahnhof entstanden ist, hat man auch diesen Raum halbiert, damit kein Staat einen größeren Teil hat, und das heißt, ich steh schon in Tschechien - Sie in Bayern. (kleiner Lacher) Toiletten gibt es derzeit nur in Tschechien. (großer Lacher) Kennmelodie Spr.v.D. "Ein geteilter Bahnhof. Bayerisch Eisenstein an der tschechischen Grenze", eine Deutschlandrundfahrt von Sabine Korsukéwitz. Wechsel zu Atmo 1: Bahn innen, Halt Autorin: Anreise aus Deutschland mit der Bahn: Ab Plattling geht es auf die private "Waldbahn", ab hier ist "Provinz". Leise schnurren die zwei bis drei Waggons durch dichten Mischwald. Dicht an den Fenstern vorbei gleiten rotbraune Felsen, auf denen Moos und Farne wachsen, von denen unablässig Wasser tropft. A 2: Pfiff Stationsvorsteher A3: Bahnhof/Betriebsgeräusche neutral Autorin Der Bahnhof Bayerisch Eisenstein - Zelezna Ruda/Alzbetin wirkt überdimensioniert. Ein langgezogenes, zweistöckiges Bahnhofsgebäude im K.u.K-Stil; Granitstein und ochsenblutfarbene Holzverzierungen am Dach. Eine rote Linie verläuft quer über den Bahnsteig. Ein Schild warnt: Staatsgrenze. Hüben: Bayerisch Eisenstein, drüben: Zelezna Ruda, Böhmisch Eisenstein, die tschechische Seite. Hier war einmal das Ende Westeuropas. Musik 1 Unterlage für alle Bahnzitate: Woody Guthrie Instrumental (Train) Zitat 1: Beim Übergang in ein anderes Land sind gerade die kleinen Dinge wichtig, die ersten, flüchtig vorüberhuschenden Eindrücke, wenn man es plötzlich mit den Sitten und der Haltung eines anderen Volkes zu tun hat. Man ist gespannt wie weit die fremde Lokomotive charakteristisch für das kleine Land sein wird, das man nun betreten wird, im Unterschied zu dem mächtig-soliden Volk, das man verließ... Thomas Wolfe "Es führt kein Weg zurück" 1940 Musikunterlage kurz hoch und unter Autorin ausblenden Autorin Von einem Land ins andere gewechselt ist Richard Windsor, ein junger Tscheche, geboren ein Jahr vor Wiedereröffnung des Bahnhofs 1991. Von der wechselhaften Geschichte dieses Grenzlands hat er wenig mitbekommen.... O 2 Windsor Wir stammen ganz weit von hier, von Olmütz, Olomouc, eine wunderschöne Stadt, 400 oder 450 Kilometer von hier. Da war schon andere Welt sozusagen. Olmütz, das ist Unesco Weltkulturerbe, also eine wirklich wunderschöne historische Stadt und ich habe da nur 4 Jahre gelebt und dann sind meine Eltern nach Zelezna Ruda, also in den Nachbarort Böhmisch-Eisenstein umgezogen. Autorin Inzwischen hat er natürlich die Geschichten gehört, von der Vertreibung der deutschen Böhmen 1945. Einige von ihnen leben noch in Bayerisch Eisenstein. Bahnatmo langsam wegblenden O 3 Windsor Wenn ich die Erzählungen von den älteren Leuten höre, ja, dieses Haus in Zelezna Ruda, da haben wir gewohnt und jetzt ist es ein Bordell! Das ist natürlich für die dann schon ein bisschen traurig. Weil, wenn die fahren rüber nach Tschechien und sehen dieses Haus, wo die eigentlich ihre Kindheit verbracht haben und dann steht dort wirklich ein Nightclub, das glaube ich schon, dass das wirklich unangenehm ist. Für mich spielt das keine Rolle mehr. Mir tun natürlich die Leute leid, dass es soweit gekommen ist, dass die Deutschen weg von Tschechien mussten, aber für mich spielt es vom privaten her keine Rolle. Atmo 4 Zelezna Ruda (nur gelegentlich, nicht durchgehend) Autorin Ja, das mit den Bordellen... Immer noch empfangen den Besucher, der aus Deutschland nach Tschechien hinein fährt die Andenken-Stände mit bunten Glaskugeln, Korbwaren, billigen Textilien und gleich daneben lockt das horizontale Gewerbe. O 4 Windsor Ja, man kann das nicht so pessimistisch sehen, und auch Böhmisch-Eisenstein hat wunderschöne Sehenswürdigkeiten zum Beispiel die Zwiebelkirche, die man auf der Hauptstraße sieht, und die haben eine wunderschöne Straße gebaut und das ist eigentlich der erste Eindruck, den ein Deutscher hat, wenn er nach Tschechien kommt und ehrlich gesagt: Viele kommen extra deshalb zu uns und so ist es einfach. Eigentlich wollen die sich die andere Welt anschauen aber es sind nicht mehr so viele Unterschiede, also ein paar Läden, die Prostituierten auf der Straße - in Zelezna Ruda ist eine(!). Das ist schon besser. Autorin Richard Windsor ist 22 Jahre alt, ein junger Mann mit rotblondem Haar und wachen hellblauen Augen. Er arbeitet als erster Tscheche in der Touristeninformation von Bayerisch Eisenstein. O 5 Windsor Ich hab Fachoberschule besucht, Wirtschaftszweig und da habe ich mein Praktikum gemacht, ein Jahr lang und da ich dann von meinen Eltern weggezogen bin, und die Fachhochschule finanziell nicht mehr geschafft habe, hat mir der Herr Bürgermeister den Vorschlag gemacht, dass ich da eine Ausbildung machen könnte, als Kaufmann für Tourismus und Freizeit und da mir in dem Praktikumsjahr dieser Job wirklich Spaß gemacht hat, die Leute zu beraten, Flyer zu erstellen, Internet, da hab ich gesagt, ja das könnte eine gute Idee sein und dann haben wir es also gemacht. Autorin Anfangs sind viele Deutschen nach Tschechien gefahren, um drüben billig zu essen und zu tanken. Inzwischen kommen die wohlhabenden Tschechen aus Pilsen und Prag, um in Deutschland Urlaub zu machen und freuen sich, wenn sie hier in ihrer Sprache begrüßt werden. O 6 Windsor Natürlich auch deutsche Vermieter haben tschechische Gäste, und die Tschechen erwarten einfach - in Deutschland ist es einfach ein bisschen teuer, aber die Qualität von den Unterkünften ist besser. Und die haben das Geld, die Gäste aus Prag, Pilsen, und dann fahren die lieber nach Deutschland. Und da geht es auch um das: Die kommen nach Hause und sagen: Ich hab in Deutschland Urlaub gemacht. Auch wenn es praktisch 500 Meter von der Grenze ist: Ich hab in Deutschland Urlaub gemacht! Also es ist ein bisschen so Image-Steigerung. Autorin Die Vorbehalte der Deutschen haben sich gelegt ... O 7 Windsor Anfangs hatten viele Vermieter Angst, dass ich dann die Gäste nach Tschechien schicke. Aber das haben, glaube ich, auch die Vermieter nach einiger Zeit verstanden, dass es nicht der Fall ist. Autorin Inzwischen ist aus "dem tschechischen Azubi" der Richard geworden, gelegentlich sogar unser Richard. Er geht in Freilassing zur Berufsschule und hat eine deutsche Freundin. Das wäre vor ein paar Jahren noch nicht möglich gewesen - meint er, nicht etwa wegen nationaler Vorurteile, sondern wegen der Sprachbarriere. O 8 Windsor Das Bayerisch das war eine riesige Sprachbarriere! Wenn ich mit meiner deutschen Freundin zusammengekommen (bin), dann hat es mir auch viel geholfen, seit ich mit ihr zusammen bin, hat sich mein Deutsch wirklich verbessert. Ja, es ist ein Gegenteil passiert: Da kommen tschechische Gäste zu uns und ich berate sie auf Tschechisch und dann sagen sie mir: mei! Wo haben Sie so gut Tschechisch gelernt? Weil, die sagen in der tschechischen Sprache habe ich jetzt deutschen Akzent. Autorin Dass nur wenige Deutsche Tschechisch lernen, kann er verstehen, denn die Sprache sei wirklich schwer zu beherrschen. Windsor 9 Also beim Bier bestellen, ich glaube hier in Bayerisch Eisenstein kann das jeder sagen: jeder kann sagen "jedno Pivo!" ein Bier, und jetzt Tschechisch hat mehr Ausnahmen als Regeln. Das heißt, wenn Sie zwischen zwei und vier Bier bestellen, müssen Sie dann zweite Fall benutzen, also: zwei Bier ist dann: dva Piva, drei Bier: tri Piva, und vier Bier: ctyn Piva. Aber wenn Sie fünf Bier bestellen möchten, dann müssen Sie sagen: pet pif! Also nicht pet piva, sondern pet pif! Was eigentlich ganz unsinnig ist, aber es ist einfach in tschechische Sprache so. Musik 2: Cechomor: "Sedzi vrabcek na pilliri" 1:49 Übergang zum O-Ton mit eigener Atmo Bahn innen Autorin In einem Abteil der ältlichen tschechischen Regionalbahn, die von der Grenze Richtung Tschechien fährt, unterhält der Tscheche Pavel Koura seine deutsche Reisegruppe. Er ist eigentlich Deutschlehrer in Klatovy, aber als Reiseleiter verdient er mehr. Heute kann er mit Deutschen darüber lachen, was ihm als Kind weisgemacht wurde... O 10 Pavel Wir durften nicht weiter fahren, weil dort nur böse Menschen leben, die nur den dritten Weltkrieg wollen und damit wir geschützt werden können, müssen hier gute Soldaten sein. So hab ich es als Kind begriffen und so war ich sehr froh, dass ich hier aussteigen kann. (Lacher der Fahrgäste) Atmo stehen lassen. Musik 1 Unterlage Zitat: Woody Guthrie Instrumental Zitat 2 "Wir stolperten manchmal über die alten Bahnhofsgleise, in denen Gras gewachsen war. Keine konnte uns hören, außer diesem kaputten, beleidigten Bahnhof." Emine Sevgi Özdamar "Die Brücke vom Goldenen Horn" 1998 Autorin Bayerisch-Eisenstein - ist auch so ein beleidigter Bahnhof, einer der 38 Jahre lang seinen Zweck nicht richtig erfüllen durfte. Ernst Bellmann, ehemaliger Zollbeamter, lebt heute in Bayerisch-Eisenstein. Seine Biografie ist von der wechselhaften deutsch-tschechischen Geschichte geprägt: Atmo 5 Vorort mit leisem Verkehr (Archiv) O 11 Bellmann Ich hab das mitgekriegt, wie der Stacheldraht da hinkommen ist. Und zwar deshalb, weil ein Schnellzug von Prag am 3. September 1953 durchgerast ist hier. Getürmt, geflohen! In die Freiheit! Na, die haben den Zaun praktisch errichtet, Und die haben so vier bis sechs Gleise rausgerissen. Autorin Nicht nur in der jüngeren Geschichte war das Eisensteiner Tal umstritten. Wie der Name ausdrückt, wurde im 16. Jahrhundert dort Eisenerz gefunden. Die Region wurde zum Zankapfel zwischen dem Königreich Bayern und Österreich-Ungarn. Ende des 19.Jahrhunderts bauten dann beide Länder, jedes auf seiner Seite, Treffpunkt in der Mitte, eine Eisenbahnverbindung von München nach Prag über Bayerisch-Eisenstein und Pilsen. Danach begann eine wirtschaftliche Blütezeit. Beiderseits der Grenze gab es berühmte Glashütten mit höchstem künstlerischem Niveau. In einer dieser Glashütten ist die Mutter von Ernst Bellmann geboren. Aufgewachsen ist er in Hurkenthal, einem deutschen Dorf in Böhmen. O 12 Bellmann Ich wollte eigentlich gern in die Lehrerschule gehen, aber leider: meine Mutter war schon dafür aber mein Vater sagte, wir haben nicht so viel Geld, dass wir dir das leisten können, dann hab ich eine kaufmännische Lehre in Berg Reichenstein gemacht. 1945 verlor ich meine Lehrstelle, das war ein Großhandelsgeschäft, die haben alles gehabt: Lebensmittel, Zement, alles... Am 26 Mai kam dieser Metzgergeselle zu unserem Chef und hat ihm ein Etikett raufgedrückt: statni majetek, das heißt: staatliches Eigentum, und dann mussten wir deutschen Lehrlinge raus. Des Geschäft haben sie ihm weggenommen, da kam ein Tscheche drauf. Autorin Ernst Bellmann ist ein rundlicher, jovialer Mann, der viel lacht während unseres Gesprächs. Hinter dem Lachen verbirgt sich Stress pur, denn das, was dann kam, geht ihm bis heute nah. O 13 Bellmann Das ist a bissele a Trauma, ne. Wir waren ja nur ein Dorf und da gingen zwei Transporte raus, im Frühjahr und im Sommer. Und dann habend im dritten Transport 1946, zwei Familien haben sie ins Sammellager, und uns holten sie nicht mehr. Wir hatten die Kisten schon draußen. Und da hieß es: Spezialista, ihr müsst hier bleiben. Autorin Zwangsarbeit - nun umgekehrt. Viele deutsche Spezialisten wurden in Tschechien gehalten: Besonders gute Glasmacher, Land- und Holzarbeiter... O 14 Bellmann Uns beorderte man zum schwarzen See und wir mussten im Februar, mussten wir zwei Jungen das Holz von den ausgesiedelten Leuten runter ziehen an die Straße. Ohne Pferde, mit Schlitten! Schwere Arbeit für uns und gefährliche Arbeit. Ja und dann hieß es auf einmal, es wäre eine Visite für uns in der Gemeinde Stubenbach und wir müssen da zur Untersuchung. Wir wussten gar nicht, was da los ist, und dann hat sich rausgestellt, dass wir zwei jungen Burschen vorgesehen sind fürs Uranbergwerk in Joachimshof. Und meine Eltern wären dann ins Landesinnere gekommen. Dazu ist es nicht gekommen, weil die ganzen Dorfbewohner, die noch da waren, sich entschlossen haben zu fliehen. Autorin Er hat eine Weile gebraucht, bis er nach Grenzöffnung wieder rüber nach Tschechien gefahren ist, und seine Frau - wie er mir mit leiser Stimme anvertraut - hätte beim Grenzübertritt gezittert. Die tschechischen Kollegen vom Zoll hätten dann eines Tages die deutschen zu einem Schnaps auf ihre Seite eingeladen und das wäre schön gewesen. O 15 Bellmann Aber wie der Bahnhof wieder aufgemacht wurde, das war ja überwältigend, da waren sehr viele Leute da, sind's von überall hergekommen, ungefähr 20.000 Am Vorplatz vom Bahnhof, da richtete man eine große Tafel an und da wurde dann serviert, von der Bahnhofsrestauration gekocht und bestimmte Leute die haben da Freibier bekommen. Großes Zelt, war schön, net, alles! Autorin Ende gut, alles gut? Eine Frage der Perspektive... O 16 Bellmann Für uns war das nicht so schön, da haben wir gelebt wie Gott in Frankreich, als der Drahtzaun noch da war, der Eiserne Vorhang, da war die Ruhe ganz schön. Das war ja eine Attraktion, da sind die Busse gekommen, meist zum Bahnhof da, und schauten halt rüber, und es war auch lebhaft in Bayerisch Eisenstein, weil ja die Gasthäuser und Hotels angefahren wurden auch mit Bussen. Das hat sich sehr verändert, jetzt. Das ist so eine bittere Pille für Eisenstein. Es kommt kein Bus mehr, weder aus Berlin, noch aus Hamburg, ne. Das ist vorbei. Wenn, dann fahren sie durch. Autorin Mit leichtem Unbehagen sehen einige der älteren Eisensteiner zu, wie die Verhältnisse sich wandeln: Jetzt kaufen tschechische Bürger Hotels und Ferienwohnungen in Bayerisch Eisenstein und decken sich in deutschen Supermärkten ein. Zusammenwachsen wird das nicht wieder, meint Ernst Bellmann: O 17 Bellmann Das kann nicht so mehr kommen. Das waren ja ganz andere Verhältnisse früher, bis 38, ne, wo die Deutschen und Tschechen noch zusammen gelebt haben da drin. Aber das ist nicht allein deswegen, das sind die Sprachbarrieren. Ich hab das gemacht, freiwillig schon 1967, hab ich einen Volkshochschulkurs einrichten lassen in Bayerisch Eisenstein mit den Grenzpolizei-Kollegen zusammen. Anfangs waren wir über 30 Mann, zuletzt noch sieben. Die tschechische Sprache ist einfach zu schwer. Musik 3: Claudia Koreck "Sommerliab" Atmo 6 Bahnhof außen mit Ansage in Tschechisch und Deutsch Musik 1: Unterlage Zitat Zitat 3 Was machen wir bloß in unserem Körper", sagte der Herr, der sich gerade darauf vorbereitete, sich in dem Bett des Schlafwagens neben dem meinen auszustrecken."Vielleicht reisen wir darin", sagte ich, "wie in einem Koffer, in dem wir uns selbst herumtragen." Antonio Tabucchi aus "Chhatrapati Shivaji Terminus" Atmo 7 Fahrradfahrt (Regie) Autorin Parallel zu den Schienen der Bahn geht es durch den Wald zum etwas abgelegenen Ortsteil Regenhütte. Die Regenhütte - das war eine im 18. Jahrhundert gegründete Glashütte. 1986 musste der Besitzer Konkurs anmelden, wie viele Glasmacher beiderseits der Grenze. Beim Gespräch mit den Bewohnern merke ich gleich: sie sind stolz auf den hübschen kleinen Ort, die alten Schindel gedeckten Häuser, die Bauerngärten, den biologischen Dorfteich - alles gepflegt vom Ortsverein. Im Vorstand: Margarete Müller - eine "Zugereiste", eine... Polin. Atmo 8 Margarethes Küche (essen, leise Gespräche auf Polnisch) Zum verbinden, die folgenden Töne haben etwas Eigenatmo O 18 Müller In so einem kleinen Dorf wie Regenhütte lebst du mit den Menschen zusammen oder bleibst du allein. Und ich habe die Möglichkeit bekommen. Hier haben mich die Nachbarn angesprochen, ob ich Lust habe mit denen was zu machen. Und so hat sich das entwickelt, da ich mit älteren Menschen gut zurecht komme, liebe irgendwas zu organisieren, habe ich Zeit gehabt, meine Kinder waren schon ein bisschen größer, und bin ich dann aktiv geworden und bis heute ist das so. Autorin Ich bin zum Mittagessen eingeladen: Es gibt polnische und bayerische Spezialitäten: Steinpilzsuppe, Sauerbraten und polnische Kartoffelklöße, dazu Kraut und anschließend Mohnkuchen. Margarete Müller empfängt mich in polnischer Tracht - und ich fühle mich wie in einen alten Heimatfilm versetzt: wie sie da so steht, vor dem alten Haus, ein Bauerngarten mit Holzstoß nebenan. Aber drinnen geht es international zu: Mit am Tisch sitzen zwei Saisonarbeiter aus Polen, eine Filippina und die Oma, die ein knarziges Deutsch spricht. O 19 Oma (1 Satz von der Oma) O 20 Müller Wir haben gesucht ein ruhiges Örtchen, es sollte in Bayern sein, und da ich in dieser Zeit sehr schwer krank gewesen bin nach einem Schlaganfall habe ich die Ruhe gesucht. Es sollte mit Bergen sein, es sollte sehr viel Grün sein, und natürlich auch von der finanziellen Seite, dass was wir uns leisten konnten, und dann war das hier optimal. Autorin Den Nationalpark und den Berg Arber direkt vor der Tür, die Preise für Essen, Hotels und sogar Häuser sehr erschwinglich, was auch deutsche Touristen feststellen. Margarete Müller ist vor 30 Jahren mit ihrem Großvater nach Deutschland gekommen und hat hier ihren späteren Mann, einen Münchner, kennen gelernt. Aber als Polin an die tschechische Grenze? O 21 Müller Wir haben uns nie geliebt, die Tschechen und Polen haben sich nie geliebt, ich habe sehr viele böse Sachen an der Grenze erlebt, wo ich dann zu meinen Eltern gefahren bin nach Polen, die Kontrollen waren brutal, immer das ganze Auto auseinandergenommen mit reifen und Sitzen, das war nicht so lustig, aber heute leben wir sehr gemütlich zusammen und unternehmen wir auch sehr viel. Mein Mann führt hier Schachclub, und wir haben sehr viele Freunde und Bekannte in Tschechien und Slowakei, die auch zu uns kommen und spielen auch in unserem Club Schach. Ich bin eine Europafrau. Ich lebe jetzt seit 31 Jahren in Deutschland, in Polen 20 und habe keine Sehnsucht mehr. Als die Grenze zu war, war das immer ein Fragezeichen: Krieg ich ein Visum? Wird das gefährlich? Komm ich wieder zurück? Heute sind alle Grenzen offen und wir haben die Möglichkeit zu reisen und zu telefonieren, heute lebe ich frei, zufrieden und wenn mich jemand fragt, was ich bin, ich bin aus Europa. Atmo 3 Bahnhof neutral, Atmowechsel unter Autorin Autorin Der Bahnhof ist für Margarete Müller das Tor zur Welt, oder vielleicht eher ein Türchen. Sie reist viel: Zu Ihrer Tochter, die in München studiert, nach Polen zur Familie und zu den Saisonarbeitern, die sie an Landwirtschaftsbetriebe und Baumschulen vermittelt. Da sie sowohl in Polen als auch später in Deutschland als Pädagogin und Altenpflegerin tätig war, hatte sie schon viele Kontakte. O 23 Müller Das hat angefangen - vor 25 Jahren waren kleine Gruppen, die gekommen sind aus Polen, damals hat man noch ein Visum gebraucht und eine Arbeitserlaubnis gebraucht, die Leute waren damals nicht angemeldet für die Rente oder Arbeitslosengeld oder Krankenversicherung, und vor 25 Jahren habe ich nur die Leute betreut, die hier in Deutschland krank geworden sind oder haben große familiäre Schwierigkeiten. Wir haben angefangen mit Leuten, die zum Beispiel sehr schwer kranke Kinder hatten, und haben das Geld gebraucht um Operationen in Deutschland zu machen, und das war von Anfang an eine soziale Aufgabe. Autorin Sehr gut erinnert sie sich an ihren ersten Fall: O 24 Müller Das war ein junger Mann, hatte mehrere Monate hier gearbeitet bei Gänsen und Schweinchen, und die Tochter war gelähmt von oben bis unten, am ganzen Körper, konnte auch nicht reden und die Familie hat mehrere tausend Mark damals gebraucht um einen Laufanzug zu kaufen, dass das Kind schweben konnte, dass Gleichgewicht entstanden ist, und das haben wir geschafft dann auch mit privaten Spenden, heute ist das Mädchen weiterhin gelähmt, allerdings studiert mit Note Eins, hat spezielle Computer, wir haben bis heute Kontakt mit denen, und unterstützen wir die ganze Familie. Autorin Und so bringt eine Polin an der tschechischen Grenze das europäische Gefüge in Bewegung... Musik 1: Unterlage Zitat Zitat 4 Gegen fünf Uhr Nachmittag waren zwei Neue angekommen. Das ist nichts Besonderes, könnte man meinen, und man soll's ruhig meinen. Und doch sind es der Ort, die Stellung eines Uhrzeigers, ein zitternder Zug auf einem Schienenstrang und ein Knäuel von Menschenstimmen, die möglich machen, dass es wieder beginnt. Ingeborg Bachmann "Der gute Gott von Manhattan" 1958 Musik 4: Iva Bittova&Vladimir Vaclavek: Sto Let Atmo Bahnfahrt innen (hängt am nächsten O-Ton vorn dran!) O25 Pavel(O-Ton hat Atmo, Bahn innen) Aber es gab damals hier keinen Bahnhof. Man konnte die Lokomotive nicht wenden. Die Bauingenieure, die damals diese Strecke gebaut haben, haben nämlich mit dem eisernen Vorhang gar nicht gerechnet. Also mehr als 40 Jahre lang musste man hier sehr kompliziert die Züge wenden. Und das war so. Der Zug ist nach Eisenstein gekommen. Alle Fahrgäste sind ausgestiegen. Der Zug ist zu dem nächsten Bahnhof gefahren, natürlich aber leer, dort hat man die Lokomotive gewendet, dann wieder rückwärts, und dann erst konnte man einsteigen. Weiter Atmo Bahn innen vom O-Ton Autorin Eine Kuriosität aus dem Kalten Krieg, die da der Reiseleiter Pavel Koura erzählt: Die Tschechen mussten in Böhmisch Eisenstein - Zelezna Ruda - auf einem Behelfsbahnhof aussteigen, während die Lokomotive zum Wenden unter Bewachung in den bayerischen Teil fuhr, wo die entsprechenden Gleisanlagen waren. Kleine Zäsur aus Atmo (Bahn hält, Übergang zu Biergarten) Zelezna Ruda sieht man den "Wilden Osten" noch an: Die Straßen sind löchrig, die Häuser wirken abgewohnt. An der Hauptstraße schreiende Schilder: Zigaretten! Alkohol! Aber es ist ein guter Ausgangspunkt für Wanderungen durch den tschechischen Teil des einzigen europäischen Urwalds: Sumava, der zusammenwächst mit dem Bayerischen Nationalpark. Man sieht viele Radler, viele Rucksackwanderer - und irgendwann landen die meisten von ihnen auf der deutschen Seite im Schwellhäusl, beim "Luk". Zäsur Atmowechsel 9: Biergarten (Zunächst sehr leise, der nächste O-Ton hat Kelleratmo) Autorin Der "Luk", das ist Ludwig Lettenmaier, der Wirt des Ausflugslokals Schwellhäusl, eine halbe Stunde Wanderung von Bayerisch Eisenstein entfernt. Stolz führt er mich sofort durch sein Lokal und den Eiskeller ... O 26 Luk Das ist immer schon ein so ein Erdkeller gewesen. Also das ist gut, mein Liaber! Durch diese Quelle, da ist eine unheimlich starke Quelle drunter, die gibt diese Feuchtigkeit, das ist das beste, gell! Da ist auch das Bier. Das wird dann per Leitung unter der Straße durch(geleitet) ins Ding ... (lacht) in die Theke, gell. (Atmo Biergarten, draußen) Autorin Das Schwellhäusl ist ein wettergegerbtes Holzhaus, an die 200 Jahre alt. An den Außenwänden eine Kollektion von urigem, schwerem Werkzeug aus alter Zeit. Als begehbarer Kühlschrank dient ein unterkellerter Erdhügel. Die alte Hütte ist Energie effizient umgebaut worden und hat sogar ein paar Solarpaneele - aus grüner Überzeugung? O 27 Luk Nein, nein, nein, nein, nein! Da geht's wirklich um den Geldbeutel. Des is nur wegen derer Betriebskosten, das kann keiner mehr bezahlen! Autorin Aus dem Fels vor der Höhle kann der "Luk" bei besonderen Gelegenheiten Bier sprudeln lassen. Eine Einrichtung, auf die er besonders stolz ist. Im Garten sitzen die Wanderer und stärken sich an Weißwürscht' oder hausgebackenem Apfelkuchen. Eine blonde Kellnerin schleppt Bierkrüge. Die Kinder toben an der Eselskoppel herum. So lustig gings hier früher nicht zu. O 28 Luk Des ist eine Trifterklause, das Schwellhäusl. Der war ja angestaut und ... durchs Wasser gezogen und dann wurde des weggedriftet, die Bäume, sind in den Bach nei g'schmissen worden und das Wasser hat das dann mitgenommen zum nächsten Sägewerk und zum Lagerplatz. Neben dem Bach geht dann der Weg entlang und dann wurde das, mit langen Stangen wurde das, was blockiert ist, gerade gerichtet, dass es fließen kann ... Autorin ... das Holz, auf dem Schmalzbach. Holz und Glas, das waren die zwei Wirtschaftsgüter, die die Region Böhmerwald wohlhabend gemacht haben. Erst wurden die Bäume gefällt, dann damit die Glasöfen beheizt - und mancher Glasmacher wurde geadelt für sein Steueraufkommen. Ludwig Lettenmaiers Urgroßvater ist mit den Holzarbeitern gekommen, die aus Tirol geholt wurden. 1879 hat er die Trifter-Klause übernommen. Seither ist das Schwellhäusl ein Familienunternehmen und es war immer klar, dass der Ludwig es übernehmen sollte. O 29 Luk Aber ich hab's gern g'macht. Das sieht man dann schon von den Eltern her, dass das viel Arbeit macht, das musst du lieben. Das geht nicht, dass man das einfach so macht, da musst du reinwachsen, das musst du lieben, musst du die Leute mögen, genau. Das muss dir einfach ins Herzblut übergehen. Als kleiner Bub ... na ja da läufst du ein wenig neben her. Aber dann hab ich eine Lehre begonnen, und dann bin ich nach der Lehre ins Haus mit eingestiegen. Geschwister hab ich einen Bruder, der arbeitet auch hier, der macht die Theke. Des ist der Einzige den ich hab. Autorin Ludwig Lettenmaier, Ende 40, kannte Bayerisch Eisenstein nur geteilt. Kurz nach dem Schwellhäusl war die Welt zu Ende. O 30 Luk Des war wie wenn'st du mit'm Rücken an der Wand stehst. Das war nicht schön. Da war zwar Tourismus, also ziemlich viel, aber diese Wand, der Zaun, des hab ich als nicht gut empfunden. Autorin Man hatte sich damit eingerichtet. Aber nach der "Samtenen Revolution" von 89 war nichts mehr so wie vorher. O 31 Luk Da ist es dann schön geworden. Weil, meine Frau ist Tschechin, die hab ich kennengelernt bei der Grenzöffnung und dann - wie das so ist, haben wir uns verliebt und geheiratet und drei Kinder... und das war 1990, 3. Februar, da hat die Grenze einmal aufgemacht, nur einen Tag und da hat dann - ach! - tausende Leute hinein gegangen und heraus, und da haben wir uns da kennen gelernt, gell? Und das war eigentlich sehr - romantisch. Na ja, sie hat einen Minirock angehabt und schöne Füße gehabt, Beine, ja, eine schöne Frau halt. Das geht aber jetzt schon sehr tief, gell! (lacht) Na ja, wie das so ist. Autorin Ganz ohne Hindernisse ist es nicht abgegangen. Romeo und Julia im Bayerischen Wald - die Rolle des freundlichen Paters übernahm die tschechische Grenzpolizei. O32 Luk Oh mei! Da ist die Grenze wieder zugemacht worden und dann hat man eben so einen kleinen Besuch gemacht. Das darf man gar nicht sagen, ohne Visa, ohne alles... mei Liaber! Ja, die von der Polizei oder vom Zoll hab ich da schon gekannt, na ja: komm rein, Ludwig, die Tschechen waren da sehr lieb, die Deutschen waren auch sehr lieb und das war eigentlich eine schöne Zeit, spannend! Autorin Und als dann die Grenze endgültig weg war, da haben die Tschechen Deutschland erkundet, erst schüchtern. Sie hatten ja kein Geld, das sie ausgeben konnten. Deutsche sind nach Tschechien gefahren, wie Ludwig Lettenmair auch... O 33 Luk Die Gegend angeguckt, ja, das ist richtig, aber nicht dass man sich so aufspielen tut, als ob du der King wärst, da hat's aber viele Fälle so gegeben, die meinen, wenn'st du jetzt vom Westen kommst , sie müssen denen lernen wie's geht oder wie's zu machen haben, gell, die sich groß da aufgeführt haben, des war nit schee! Schwarze Schafe hat's auch gegeben, gell? Und nicht grad wenig. Autorin Für's Geschäft war die Grenzöffnung nicht schlecht O 34 Luk Die ganze Familie haben wir da mit eingebunden, dass die da im Betrieb mit umeinand sind, wenn von der Familie jemand da ist, das ist gut. Mein Bruder, mein Schwager tut da mit, meine Schwägerin tschechische Seite, und Mutter, ja, die ganze Familie da mit. Autorin So haben auch die tschechischen Gäste jemanden, mit dem sie in ihrer eigenen Sprache reden können. Die morbide Attraktion des Grenzzauns mag weg sein, dafür wird jetzt vermehrt auf das gesetzt, was man auf beiden Seiten reichlich zur Verfügung hat: Natur. 1997 ist der Nationalpark erweitert worden, so dass jetzt das Schwellhäusl mitten drin liegt. Ludwig Lettenmaier war anfangs dagegen: O 35 Luk Na, weil man da gehört hat, dass die Probleme machen, dass da die Leute quasi ausgesperrt werden vom Wald, aber das ist gar nicht der Fall und darum hab ich mich korrigiert und muss sagen, das ist so wie jetzt besser. Im Nachhinein sieht man das, wenn die Natur sich selbst überlassen wird, ist schon schön! Und des andere, wenn da jeden Tag Holznutzung ist, richtig Holznutzung, das ist furchtbar! Weil da würde jetzt kein großer Baum mehr stehen, irgendwo würden die landen aber nicht da, wo sie hingehören. Da wo die Leute sehen können, was für Ausmaße so ein Baum haben kann oder wie groß der wird! Das ist ja bei uns einmalig! (Kinder toben vorbei) Den Baum im Naturzustand, das ist ein Riesenbaum! Mei Liaber! Und des gibt's halt in Europa da nimmer. Das gibt's nur im Nationalpark Bayerischer Wald. Musik 5: Fantaisie No. 3 in D minor/ Telemann/Jiri Stivin Musik 1 Unterlage Zitate Zitat 5 Nur wenige Gebäude sind so groß, dass sich die Stimme der Zeit in ihnen einfangen lässt, und gerade ein Bahnhof eignet sich dafür am besten. Hier ist das Bild des menschlichen Geschicks in einen kurzen Augenblick zusammengerafft. Thomas Wolfe "Es führt kein Weg zurück" Atmo 10 Bahnhofsschranke, Warngeräusch, Zug rattert durch Autorin Noch wirkt er ein wenig verschlafen, der Bahnhof Bayerisch-Eisenstein, aber in ihm ist tatsächlich Geschichte eingefangen. Er steht symbolisch für Ereignisse und wechselnden Zeitgeist. In den 1870ern hatten sich die Fürsten gegenseitig übertreffen wollen mit der hohen Empfangshalle, den schwarz-weiß gefliesten Gängen, der repräsentativen Kölner Decke im Wartesaal erster Klasse, mit weiß verputzten Holzarbeiten. Rohe Balken waren für Bauern. (Kleiner Trenner durch Hintergrundgeräusch) Grau und heruntergekommen wirkte das Gebäude während des Eisernen Vorhangs. Stacheldraht war über die Gleise und den Bahnsteig gezogen. (Kleiner Trenner durch Hintergrundgeräusch) Von all dem ist nichts mehr zu sehen. Heute wird umfangreich restauriert. Man hofft, dass in Zukunft wieder mehr Gäste hier ankommen: Naturfreunde diesmal. Übergang: Atmo 11 Wald/Regen/Bach O 36 Weinberger (hat Atmo Wald im Regen) Es wird von Jahr zu Jahr immer schöner. Und ich denke, dass es auch immer attraktiver für Besucher wird, sich hier diese Entwicklung anzusehen: Auf der einen Seite den natürlichen Zerfall der alten Strukturen, vermodernde Baumleichen, die auch ihren Reiz haben, weil sie Lebensraum für verschiedene Tiere und Pflanzen sind und auf der anderen Seite die Dynamik, die sich hier entwickeln kann, wenn ein neuer Wald entsteht. Autorin Das Herzstück des Nationalparks bayerischer Wald ist aus Kriegs-strategischen Gründen entstanden, erzählt Förster Reinhold Weinberger. O 37 Weinberger 1760 - 1770 hat das bayerische Herrscherhaus angeordnet, dass hier ein sogenannter Bannwald erhalten werden muss. Sollte wieder einmal eine kriegerische Auseinandersetzung stattfinden und sollte der Gegner aus Osten kommen, dann könnte man aus diesen starken Bäumen, Tannen, Fichten, Buchen könnte man einen Verhau bilden und hier praktisch die Truppen zum Stehen bringen. Autorin Industrialisierung und Verstädterung schärften um 1900 das Bewusstsein für die Bedeutung der Natur - und der alte Wald wurde unter Schutz gestellt. Reinhold Weinberger hat als Kind davon profitiert und das Erlebnis hat ihn geprägt: O 38 Weinberger Unser Schulklassenausflug, unser jährlicher hat oft in Richtung Zwieseler Wald statt gefunden, und es hat damals hier eine Tanne gegeben, wo die halbe Schulklasse innen Platz hatte. Die war innen hohl, immer auch Wespennester drin, also gefährlich für Kinder, dass man an diese Wespenwaben nicht drangestoßen ist, und die größte damals ist dann irgendwann umgestürzt und dann hat man die nächstgrößte als "Große Tanne" bezeichnet, ist sogar ein Schuld dagewesen, Schild wurde dann gedreht zur nächstgrößten Tanne. Autorin Reinhold Weinbergers Vater war Forstangestellter, seine Mutter Lehrerin an der Dorfschule von Regenhütte. Er hat dann Forstwirtschaft studiert und war ein ganz normaler Förster, bis 1997 der Nationalpark um sein Revier erweitert wurde. Plötzlich war alles anders... O 39 Weinberger Ja, sicher, als Förster im normalen Wald ist ja doch die Holznutzung im Vordergrund, man hat einen betriebsplan, wie viel Holz man einschlägt und verkauft, es ist ein Wirtschaftsbetrieb. Jetzt, im Nationalpark, geht es um andere Dinge, touristische Einrichtungen, Wanderwege in Stand halten, auf der anderen Seite geht es auch um Forschung, das Beobachten und Begleiten des Werdens eines neuen Waldes. Speziell in der zeit, wo ich für nationalpark-Einrichtungen zuständig war, habe ich andere Nationalparke kenne gelernt, weltweit, ob Russland, China, Südamerika - das bringt einem persönlich sehr viel, weil man plötzlich andere Dimensionen erkennt. Man sieht, dass das ein weltweites Thema ist. Atmo Specht Autorin Wir stehen vor der Watzlik-Tanne: 400 Jahre alt, 42 Meter hoch, zwei Meter Durchmesser. Man muss den Kopf schon weit in den Nacken legen, um die Spitze zu sehen. Der gelernte Förster sieht mit geübtem Blick: Das sind 40 Kubikmeter Holz. O40 Weinberger Also bei solchen Bäumen wär' das Letzte, an das ich denke, dass man daraus Bretter machen könnte. Also, das ist das Allerletzte! Da ist sicher eine gewisse Ehrfurcht, und wenn man so zurückdenkt, wie lange dieser Baum schon hier steht, was war so um 1600 oder 1500? Wie hat's hier ausgesehen? Die hat also den Dreißigjährigen Krieg erlebt und so Dinge... Autorin Der Nationalpark Bayerischer Wald war lange Zeit umstritten in der Region. Das hat sich beruhigt, aber der Borkenkäfer, der sich besonders nach Sturmschäden gut entwickelt, ist immer noch ein empfindliches Thema. Steht man vor der Verwüstung am Berg Rachel, dann kann man die Ängste verstehen: Auf der ganzen Bergkuppe sind Fichten wie Streichhölzer umgeknickt. Was noch steht, sind kahle Ruinen. Unter der blätternden Rinde die Käfergänge wie eine Geheimschrift. Deshalb hieß der Käfer früher auch: Buchdrucker. O 42 Weinberger Das ist ein Hauptargument, dass der Nationalpark nichts gegen das Absterben des Waldes macht. Das Sterben, der Tod, das ist einfach etwas, das man schon seit Jahrtausenden nicht gerne mit ansieht, was aber in der neueren Zeit immer mehr verdrängt wird. Früher hat es zur Familie gehört, heute sterben Leute anonym in Krankenhäusern und es wird auch niemand mehr zu Hause aufgebahrt, sondern die werden dann in Leichenhallen transportiert und so, also das Sterben an und für sich, das ja auch zum Leben gehört, das will niemand mehr sehen. Und manche gehen in ihren Aussagen so weit, dass sie sagen, der Nationalpark züchtet die Borkenkäfer. Das ist natürlich gelinde gesagt ein Schmarrn! O 42 Atmo + Gespräch (Autorin drauf und dazwischen setzen) Autorin Im jungen Urwald leben außer Rotwild und Wildschwein inzwischen wieder Wildkatzen, Otter, Biber, Luchse und Marderhunde. Kürzlich trauten die Forscher ihren Augen kaum, als sie eine Fotofalle für Luchse überprüften und auf den ausgelösten Fotos eine Goldschakal entdeckten! Damit die Besucher eine Chance haben, die scheuen Tiere auch zu sehen, gibt es große Freigehege. Der Luchs ist ausgebüchst, aber die Wölfe sind da... Weinberger Da kimmt er jetzt ... Es sind ja, 2002 denk ich, drei Wölfe ausgebrochen und das ist interessant, wie in der Bevölkerung das Verhalten zum Wolf sofort wieder thematisiert wird, und wie zwei Lager sich dann bilden und mit welchem Engagement dass die ihre Meinung dann vertreten. Also das eine Lager, das sind die, die sagen: Was? Wolf? Kommt überhaupt nicht in Frage, der frisst mir meine Kinder, wenn sie auf den Schulbus warten. Und die anderen - da gibt's so eine Internetseite "Wolves", also auf englisch - und die haben dann: wenn diesem Wolf etwas passiert, bring ich mich auch um! Die raffeln schon einmal ... das sind Spuren der Rangkämpfe ... der eingezogene Schwanz, das ist eine Demutshaltung. Der hat wahrscheinlich von dem schon mal Prügel bezogen, da: schon wieder ... Ich weiß auch nicht, was so faszinierend ist daran, aber ich gehe immer wieder zwischendurch ans Wolfsgehege und beobachte ... Autorin Das Glücksgefühl, wenn einem ein wildes Tier vertraut ... Weinberger Es reicht schon wenn ein Vogel daher fliegt und sich daher setzt und wenn manchmal der Hintergrund auch nur das Brösel ist, was vom Teller fällt. Das ist anscheinend die Sehnsucht des Menschen, an der Natur anzudocken und vertrauen zu finden, dass man im normalen Fall ja verspielt hat ... Atmo 12 Wolf, dann weiter Atmo 11 Autorin 24.000 Hektar hat Deutschlands ältester Nationalpark. Zusammen mit den 54.000 Hektar des tschechischen Nationalparks Sumava - die beiden Gebiete grenzen ja aneinander - ergibt das den größten zusammenhängenden Wald in Mitteleuropa. "Böhmerwald" hieß das ganze Gebiet früher. Was die deutsch-tschechische Zusammenarbeit betrifft, gibt sich Reinhold Weinberger diplomatisch. Mit den Kollegen hätten sich Freundschaften entwickelt, die offizielle Seite scheint noch etwas schwierig ... O 43 Weinberger Momentan ist der Nationalpark Sumava mehr touristisch ausgerichtet. Es hat auf tschechischer Seite früher nicht so viele Wanderwege gegeben, es gibt große Gebiete die im Prinzip nicht erschlossen sind. Und da wird im Augenblick nachgerüstet. Autorin Beide Seiten wollen und brauchen den Naturtourismus. Wie sanft oder unsanft - das ist noch in der Schwebe. Doch die Einkünfte, die der Nationalpark bringt, überschreiten inzwischen deutlich die Gewinne, die mit dem Holzeinschlag zu machen wären. ATMO 13 Bahnhof neutral Autorin Der alte Bahnhof profitiert von dem Umdenken: 2013 soll nach Restaurierung und Umbauten hier nicht nur die Naturpark-Information residieren, sondern ein Arber Bergmuseum mit Museums-Restaurant, unterm Dach ein großes Eisenbahnmodell, und unten in den Kreuzgängen der Katakomben ein europäisches Fledermauszentrum. Im alten Lokschuppen gibt es bereits ein Eisenbahnmuseum mit historischen Loks. Pavel Koura, der tschechische Fremdenführer, hat nur noch einen Wunsch: O 44 Pavel (Ton hat Zugatmo, überstehend zum Verblenden) Unsere Züge fahren nicht weiter. Der bayerische Teil von Plattling nach Bayerisch Eisenstein wird von Privatgesellschaft Waldbahn betrieben. Und es gibt keinen Vertrag zwischen der tschechischen Bahn und Waldbahn, und so fahren tschechische Züge nicht weiter. Man muss immer an der Grenze umsteigen. Aber vielleicht in Zukunft kann es besser werden. Weil die Grenze inzwischen verschwunden ist, kann auch passieren, dass die Züge weiterfahren dürfen. Übergang in die Schlussmusik Spr.v.D. Ein geteilter Bahnhof Bayerisch Eisenstein an der tschechischen Grenze. Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Sabine Korsukéwitz Ton: Bernd Friebel Regie: Karena Lütge Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2012 Manuskript und Online-Version der Sendung finden Sie im Internet unter dradio.de Schlussmusik zum Ausblenden 1