COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Forschung und Gesellschaft am 18. März 2010 Redaktion: Peter Kirsten Der pädagogische Eros Reformpädagogik auf dem Irrweg? Von Hans-Jürgen Heinrichs 1. Spr.: Auf den ersten Blick liegen Welten zwischen Pädagogik und Eros. Mit Pädagogik verbindet man ein eher einengendes System der Strenge; ganz anders der Eros, der Weite, Freude und Lust verspricht. Die Kraft des Eros ist - das hat die Psychoanalyse betont -, eine konstruktive; sie zielt auf die Herstellung von Bindungen und Einheit. Das ist aber auch das Ziel der Pädagogik, selbst wenn sie, im Gegensatz zum Eros, ihren Ort in Institutionen hat und ein Erziehungssystem darstellt. Hartmut von Hentig, ehemals Professor für Pädagogik in Bielefeld und Autor zahlreicher Standardwerke wie zum Beispiel Die Schule neu denken, ist einer der prominentesten Vertreter einer Erziehung, die ein selbstbestimmtes, verantwortungsbewusstes Leben zum Ziel hat und dabei in erster Linie auf die Ent-Schulung der Lehrformen, auf eine Erweiterung des schulischen Rahmens setzt und sogar von einem pädagogischen Eros spricht. 1. O-Ton (von Hentig,): "Das Kind soll sich selbst lernen, es soll sich bewähren. Es soll eine Aufgabe lösen, die in unserer Gesellschaft, das ist die große Gemeinschaft, erfahrbar in der kleinen wird ... das ist eine Aufgabe, die wichtig ist. Es ist doch leider die Grunderfahrung unserer Jugend, dass sie eigentlich nicht gebraucht wird. Sie ist als bedeutender Faktor in der Rentenpolitik immer im Spiel, sie ist als Unruheherd in der Gesellschaft, als Störfaktor da -als das erleben sich die Jugendlichen und im Übrigen werden sie von Pädagogen zwischen dem sechsten und dem neunzehnten Lebensjahr verwaltet. 1. Spr.: Hartmut von Hentigs Engagement galt immer dem Ideal des "ganzen Menschen", des "ganzen Kindes" (im Gegensatz zum bloß verwalteten Kind) sowie der Gemeinschaft, der Liebe und der Schule als "Polis im Kleinen". Dabei widmete er seine besondere Aufmerksamkeit den Jugendlichen in der Pubertät. 2. O-Ton (von Hentig): "Große Pädagogen haben sich dessen angenommen, haben gute Beschreibungen davon gegeben. Und in dieser Zeit muß man aus den Kleinfamilien, in denen wir ja aufwachsen, aus den Gehäusen, die wir mit unseren Schulen gebaut haben, ausbrechen. Man muß sich selbst finden und sich selbst bewähren." 1. Spr.: Die hier formulierten Ziele und Ideale, die wir noch vor Jahren für wegweisend hielten, erscheinen plötzlich in einem diffusen Licht. Jetzt stellen ehemalige Internatsschüler die Praxis der Reformpädagogik als Horrorszenarien sexueller Unterwerfung, Bestrafung und Demütigung dar. 2. Spr. (Zitat): "Ich habe regelmäßig im Schlafzimmer des damaligen Direktors mit meinen Eltern telefoniert. Am Ende dieser Gespräche war ich oft sehr traurig. Der Direktor tröstete mich dann, streichelte mich im Genitalbereich und befriedigte sich selbst dabei. Der Musiklehrer richtete mich regelrecht ab." 1. Spr.: Verbirgt sich hinter der schönen Formulierung vom "pädagogischen Eros", die auf Nähe zwischen Lehrer und Schüler setzt, etwas gerade nicht Konstruktives, also nicht Eros, sondern Destruktion, Zerstörung, fehlgeleitete Sexualität? Ein Decknahme für Pädophilie, wie dies Albert von Schirnding als Frage in den Raum stellt? 3. O-Ton (von Schirnding): "Nein kein Deckname, sondern die Angst, es könnte zum Decknamen werden, denn jetzt, wo überall von Pädophilie die Rede ist - mit allen Zeichen des Entsetzens und berechtigten Zeichen des Entsetzens - liegt es nahe, dass der pädagogische Eros, der doch irgendwie in der Nähe, schon rein sprachlich, angesiedelt ist, mit der Pädophilie in einen Topf geworfen wird. Und das fände ich sehr bedauerlich." 1. Spr.: Es ist charakteristisch für unsere Gesellschaft, dass sie viele Phänomene aus ihrem Gesichtsfeld ausklammert und diese, sobald sie sich nicht mehr unterdrücken lassen, mit Wucht in den Vordergrund rückt und ein mediales Feuerwerk entzündet. Vor allem Themen, die mit Sexualität in Verbindung stehen, beherrschen dann, wenn sie erst einmal als skandalös entdeckt werden, die täglichen Nachrichten und verbreiten sich mit einer Geschwindigkeit, wie dies in keinem früheren Zeitalter möglich gewesen wäre. Gerade bei der Diskussion des sexuellen Missbrauchs zeigt sich auch, wie der Enthüllungsjournalismus trotz aller Problematik, wenn er sich populistisch zuspitzt, eine kollektive Atmosphäre erzeugen kann, in der sich Menschen mit ihren traumatischen Erfahrungen, die sie über Jahre und Jahrzehnte bis zum seelischen Zusammenbruch geplagt haben, an die Öffentlichkeit trauen. Dabei wird aber auch eine von Abscheu geprägte Stimmung geschaffen, die es schwer macht, in einem Begriff wie "pädagogischer Eros" überhaupt noch einen positiven Klang wahrzunehmen. Zurück geht der Begriff ja auf Platons "Symposion. 4. O-Ton (von Schirnding): "Also erstens darf man sich auf gar keinen Fall auf die Griechen berufen, um sexuellen Missbrauch an Jugendlichen zu rechtfertigen oder auch nur zu erklären. Das würde ich als doppelten Missbrauch ansehen - nicht als Missbrauch an den Opfern, sondern eben auch an den Griechen. Die damit, meiner Ansicht nach, in ein völlig falsches Licht gestellt würden. 1.Spr.: Wird die Idee des pädagogischen Eros nach den jetzigen Enthüllungen überhaupt noch zu retten sein und können die darin enthaltenen Vorstellungen noch einmal in ihren positiven Anteilen gesehen werden ? O-Ton (von Schirnding): Das kann ich schwer beurteilen, wie weit sich das durchsetzt. Im Moment ist es schwierig. Aber die Zeit wird auch wieder mal eine andere werden. Man muss sich einfach klar machen, dass der pädagogische Eros entsteht aus der Tatsache, dass die Griechen die Jugendlichen als Jugendliche entdeckt haben. Wenn man sich umschaut, was sonst passiert ist, wurden die Jugendlichen und auch lang nach den Griechen natürlich auch, eigentlich als was Negatives, als was Unreifes in die Welt der Erwachsenen durch mehr oder weniger grausame Initiationsriten Einzuführendes verstanden. Das gibt's bei den Griechen eben nicht. Sondern da wird der besondere Status des Jugendalters als etwas Positives entdeckt und dieses Positive verdient dann Aufmerksamkeit, Interesse, Zuwendung und Bemühung. " 1. Spr.: Im Kontrast zu den augenblicklichen, täglich sich noch steigernden Schreckensmeldungen über die Praxis der Unterwerfung und des Missbrauchs wirkt zum Beispiel die jüngste Wortmeldung Bernhard Buebs wie der einsame Ruf aus einer heilen pädagogischen Welt: 2. Spr. (Zitat): "Was war das Geheimnis meines Glücks? Ich kam als Schüler von einem baden-württembergischen Gymnasium nach St. Blasien, Schulangst war mein täglicher Begleiter gewesen. ... Ich kam in St. Blasien in eine 'Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden', ich traf auf Lehrer, weitgehend Patres, die mit uns lebten und arbeiteten. ... Dreizehn Jahre später kam ich als Lehrer und Erzieher an die Odenwaldschule. ... In St. Blasien war eine verbindliche Ordnung vorgegeben, an der Odenwaldschule durften und mussten wir uns eine eigene Ordnung geben. ... Als ich 1974 die Leitung von Salem übernahm, hatte ich aus meiner Zeit an der Odenwaldschule die Lehre gezogen, dass der Leiter oder die Leiterin den Geist der Schule prägen muss." 1. Spr.: Erst einmal sind das große Worte, gegenüber denen wir äußerst misstrauisch geworden sind: Gemeinschaft, Ordnung und Geist der Schule. Was ist von einem hehren Geist zu halten, wenn darunter reine Triebhaftigkeit alltägliche Praxis geworden ist? Lässt sich wenigstens ein Gedanke in Buebs Ausführungen retten? 2. Spr. (Zitat): "Jugendliche können an zu großer Distanz und zu großer Nähe der Erwachsenen leiden. Wie Lehrer die rechte Mitte finden, lässt sich nicht allein institutionell regeln, sondern durch kluge Beratung des Leiters oder der Leiterin, aber auch durch Kontrolle." 1. Spr.: Wie wird aus positiver, kreativer Nähe ein zerstörerischer und traumatisierender Übergriff? Und: Kann man den Kontrolleuren trauen, wenn sie selbst Teil des gesamten pädagogischen Systems sind? Nach dem augenblicklichen Stand der Recherchen muss man von Grund auf an einer selbstreflexiven und selbstaufklärerischen Haltung der Verantwortlichen zweifeln. Es klingt auch eher hilflos und überfordert, wenn Rudolf Tippelt, Vorsitzender der "Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft", erklärte: 5. O-Ton (Tippelt): DR Radiofeuilleton 15.03.2010 "Als Pädagogen und als Erziehungswissenschaftler, glaube ich, können wir nur im öffentlichen Bereich reagieren durch eine noch stärkere Professionalisierung, durch eine stärkere Professionalität pädagogischer Arbeit und die sich sicherlich auf Fach- und didaktische Kompetenz erstreckt, aber die auch diese pädagogische Kompetenz, diesen pädagogischen Takt, auch die richtige Nähe und aber auch die richtige Distanz zu den Kindern und Jugendlichen auch immer wieder mit reflektiert und eine starke Beratungskompetenz mit vermittelt." 1. Spr.: Insbesondere Begriffe wie "Professionalisierung" und "Beratungskompetenz" sind von einer solch erschreckenden Allgemeinheit und Banalität, dass damit überhaupt nichts Spezifisches ausgesagt wird, vor allem nichts, was den psychologischen und selbstkritischen Umgang der Erzieher mit Jugendlichen vor allem in deren Pubertät betrifft. Am auffälligsten ist zur Zeit, wie die Theoretiker und Praktiker einer auf Freiheit und Selbstverantwortung setzenden Pädagogik sich gegenseitig stützen, Geschehenes verharmlosen und eine Art "Bruderschaft" bilden. Jetzt werden auch die Versäumnisse der Schulleitungen immer deutlicher. Vor allem über Gerold Becker, der die Odenwaldschule von 1972 bis 1985 leitete und auch noch bis 1998 dort Ämter innehatte, lagen spätestens seit 1999 Berichte über seine Verfehlungen vor. Die Anklagen von ehemaligen Schülern wurden angezweifelt oder vertuscht. 2. Spr. (Zitat): "Man glaubte uns nicht und wir wurden als Nestbeschmutzer bezeichnet. Lehrer wurden angehalten, Medienberichte über Missbrauchsfälle zu vermeiden." 1. Spr.: Die Bruderschaft der alten Reformpädagogen: dazu gehören Gerold Becker, des Missbrauchs bezichtigter ehemaliger Leiter der Odenwaldschule und sein Lebensgefährte Hartmut von Hentig, als Befürworter einer Schule als "Lebensschule", Idol ganzer Generationen von Lehrern. Ihre Gemeinsamkeit: Sie leugnen, Teil einer zur Gewohnheit gewordenen Praxis des Bösen, der Perversion gewesen zu sein. Sie verbindet das, was wir Leugnung und Verdrängung nennen. Können wir von ihnen einen Beitrag zur Aufklärung des tatsächlich Geschehenen erwarten? 6. O-Ton (von Schirnding): "Da müsst ich jetzt in den Hentig und den Becker hineinschauen können, aber wenn sie es tun, und sie sollten es natürlich tun, sollten sie sich bitte nicht auf die Griechen berufen, weil das wär genau das Verkehrte. Der Gerold Becker hat kein Recht meiner Ansicht nach, für das, was er da angestellt hat, wenn das so alles stimmt, wie es berichtet worden ist, sich in irgendeiner Weise zu seiner Nobilitierung, zur Glorifizierung gar, seines Verhaltens auf Platon zu berufen. Das ist unmöglich." 1. Spr.: In den 1970er, 80er Jahren sind, nach heutigem Wissen, Dutzende Schüler von ihren Lehrern an der hessischen Odenwaldschule missbraucht worden, was umso schwerer wiegt, weil dies ein Hort der fortschrittlichen liberalen Reformpädagogik war. Der heute 85jährige von Hentig, Gründer der Laborschule in Bielefeld, aktives Mitglied der Friedensbewegung und Freund vieler Politiker und Intellektueller, hat in seinen letzten Äußerungen das ehemals progressive Modell der Reformpädagogik unter dem Druck der Vorwürfe eingeengt auf eine Verteidigung der pädagogischen Liebe: 2. Spr. (Zitat): "Bei Platon und Pestalozzi noch bedarf es keiner Verbergung der Natürlichkeit des hier [beim Lehrer] waltenden Gefühls. Und Eduard Spranger konnte noch unbefangen sagen, ein echter Erzieher trägt pädagogische Liebe in sich und diese sei mehr als ein Klima der Zuneigung, nämlich eine Form der persönlichen Liebe." 1. Spr.: Von ihm und von dem siebzigjährigen schwerkranken Gerold Becker, der, anders als von Hentig, überhaupt keine Auskünfte zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen macht, ist keinerlei Aufklärung zu erwarten. Von Hentig hält die Vorwürfe für gegenstandslos und verteidigt seinen Lebensgefährten als "bewundernswert geduldigen Erzieher", "begnadeten Lehrer", "größten Pädagogen der Gegenwart" und hält es für wahrscheinlicher, dass nicht er seine Schüler, sondern einer von diesen ihn verführt habe. An der Odenwaldschule wurde offenbar die Reformpädagogik, so sieht es jedenfalls ein neues Gutachten, für "Kulturprogramme" benutzt, die auch die Würdigung der Knabenliebe beinhalteten und dem Missbrauch eine Grundlage verschafften. Stellt diese Fehlentwicklung das gesamte Projekt der Reformpädagogik in Frage? 7. O-Ton (von Schirnding): "Das ist meine große Sorge. Denn es wäre schrecklich, wenn, wenn durch diese Aufdeckungen - und es sieht ja schon ein bisschen so aus, ein Klima an den Schulen entstünde, bei den Behörden und den Vorgesetzten und auch in der Kirche, ein Klima des Misstrauens, der der Überwachung, der Kontrolle und der Denunziation entstünde. Und das sehe ich nämlich kommen. Stellen Sie sich einen Pfarrer vor, der gerne mit Jugendlichen zusammenarbeitet, solche Leute braucht man ja um Gottes willen, wenn man jetzt mal von der Kirche ausgeht. Der gern mit Jugendlichen zusammen ist, der gerne mit denen Fußball spielt, mit denen auf Fahrt geht, der kann es sich heute nicht mehr leisten, der wird ja sofort in einer Wolke von Verdacht verschwinden. Die Folge ist, dass man auf Distanz geht, so weit als möglich auf Distanz geht und um Gottes willen ja nicht auffällt in diese Richtung. Und das wäre äußerst verhängnisvoll, weil dann genau das passiert, dass die Schule wieder aus einem Lebensraum und aus einer Schulgemeinschaft, das gibt es durchaus auch in staatlichen Schulen, wieder im Grunde zurückfällt zu einer emotionslosen Stätte der Stoffvermittlung, um nicht zu sagen, wieder zur Lernfabrik wird. " 1. Spr.: Die Idee der "Ent-Schulung" in der Reformpädagogik ist also an manchen Orten auf Abwege geraten und hat partiell die wertvolle Abkehr von einem den Schüler bloß verwaltenden, kalten Schulmodell teilweise verspielt und jede Form von Beziehungsnähe suspekt gemacht. In einem Vortrag von 1996 fasste Gerold Becker die Idee der Odenwaldschule so zusammen: 2. Spr. (Zitat): "Die Lehrer sind Kameraden und Freunde ihrer Zöglinge. Das ist eine unerhörte Veränderung gegenüber der Vorstellung des vor allem Disziplin haltenden, strengen und gerechten Lehrers der normalen staatlichen Schule." 1. Spr.: Der Journalist Jürgen Kaube hat dies in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung "die verführerische Ideologie der Schulgemeinschaft" genannt: 2. Spr. (Zitat): "Es führt - muss man es eigens betonen? - kein direkter Weg von undurchdachten pädagogischen Ideen zu Verbrechen. Aber es führt ein Weg von Ideologien zur Verbrämung verlogener Einstellungen. Die Ideologie der Schule als Gemeinschaft und des Lehrers als eines Charismatikers pädagogischer Zuneigung neigt dazu, sie in etwas verzaubern zu wollen, was im Extrem unmenschlich ist. Wer sich darüber beschwert, wenn Schule nur Stoff unterrichtet und gar "frontal", mag es sich in Zukunft noch einmal überlegen." 1. Spr.: Ist das die richtige Konsequenz oder nur aus der augenblicklichen Erschütterung, dem Erschrecken über die Praxis der Perversion geboren? Muss man nicht dennoch an der emotionalen Nähe des Lehrers zum Schüler festhalten? 8. O-Ton (von Schirnding): "Aber natürlich bleibt das große Problem, wie man in der momentanen, aufgewirbelten Misstrauensatmosphäre und Ängstlichkeit - es wird ja immerzu gerufen nach Kontrolle und Kontrolle von oben und Führung von oben und so weiter, wie man da in der nächsten Zeit mit einem menschlichen Umgang mit Schülern noch zurecht kommen wird. Ich hoffe einfach auf mutige Lehrer. Es müssen ja nicht alle vom pädagogischen Eros beseelt sein, das ist ja gar nicht notwendig, es wär fast schlimm, wenn alle das wären. Es kann ruhig auch ein Unterricht erfolgen, der vollkommen sachlich bezogen ist, einfach den Stoff vermittelt. Aber wenn das nur der Fall ist, dann sind die Schüler die Gebrandmarkten. Und ich hoffe, wie gesagt, dass es Lehrer geben wird, die sich nicht ins Boxhorn jagen lassen. Jeder Lehrer, der weiß, dass er nicht zur Pädophilie neigt, kann es sich im Grunde leisten, mit Schülern auch emotionsvoll umzugehen, weil es kann ihm eigentlich nichts passieren. Und die, die von dieser Krankheit befallen sind, die muss man natürlich aus dem Verkehr ziehen." 1. Spr.: Jetzt ist alles, was mit Gemeinschaft, Kameradschaft und Liebe in der Schule zu tun hat, erst einmal stigmatisiert. Misstrauen umgibt alle diese Begriffe und Vorstellungen. Mit geschärftem und skeptischem Blick liest man nun auch Hartmut von Hentigs Biographie Mein Leben - bedacht und bejaht. In dem Kapitel "Knabenalter" ist von der Idee der Reformpädagogik (außerschulische Lebensbereiche stärker in die Erziehung mit einzubeziehen) begeistert die Rede. Kann man jetzt in diesem Pathos noch strukturell wichtige Erkenntnisse für die Erziehung sehen? 2. Spr. (Zitat): "Wir lernten in der Schule, was sich dort am besten lernen ließ. Alles andere an dem Ort, an dem es vorkam, man es sehen, anfassen oder herstellen konnte: Wenn die Bienen von Herrn Döring schwärmten, gingen wir - in gebotenem Abstand - mit ihm hinaus, suchten den Schwarm und beobachteten seine Handlungen. Wanderten wir mit ihm, bekamen wir die Eigenarten der Landschaft erkärt, die Namen von Pflanzen und Bäumen genannt und mussten den Weg finden. Wenn er am Sonntag in der Kirche die Orgel spielte, sah ich zu, wie der große Walter Müller, der das nötige Gewicht dazu hatte, den Balg trat, oder sein behänder Bruder Hänschen, meine zweite Liebe, nahm mich mit in den Turm und zeigte mir, wie man ans Glockenseil springt und wie man es rechtzeitig wieder fahren lässt, um den Schwung der Glocke nicht zu bremsen. Wolfhart, Papus älteren Bruder, der eine Ritterakademie besuchte, durfte ich in den Wald begleiten, wo er eine ebenso perfekte wie verbotene Hütte baute. Nachdem wir auch den Boden mit lockerem Moss dicht bedeckt hatten, legten wir uns hinein und - Wolfhart entzündete seine Pfeife. Uff!" 1. Spr.: Ist das, was wir jetzt tagtäglich lesen, erst die Spitze des Eisbergs? Und hat die Diskussion des sexuellen Missbrauchs inzwischen eine viel weitere Dimension angenommen, eine Dimension, in der Kultur und Gesellschaft, Schule und Kirche ganz neu thematisiert werden? 9. O-Ton (von Schirnding): "Ja, das nehme ich auch an, dass das einiges an Aufarbeitung und Frage nach Wurzeln und Missstände, die also sehr tief liegen und behoben werden könnten, erfolgen wird. Das glaube ich schon. Es kann natürlich auch sein, dass das Ganze einer dieser kurzfristigen, hochgetriebenen Skandalmeldungen bedeutet. Im Moment wird es schon ein bisschen sehr hoch gespielt, man muss ja bedenken, dass die Sachen ja teilweise auch schon seit Jahrzehnten da und dort bekannt waren und das lief nicht immer nur auf Vertuschung hinaus. Aber diese Gerold Becker Geschichte, die hat mich zutiefst geschockt und da kann man nicht mehr zur Tagesordnung übergehen, da müssen schon grundsätzliche Fragen gestellt werden." 1. Spr.: Grundsätzliche Fragen: das sind Fragen an alle Institutionen, in denen besonders heikle Abhängigkeitsverhältnisse und damit Machtstrukturen bestehen, die von Vorgesetzten vor allem gegenüber jüngeren Menschen - zum Beispiel in weltlichen und kirchlichen Internaten, bei der Polizei oder etwa der Bundeswehr - ausgenutzt werden können und in vielen Fällen zu schwerwiegenden Traumatisierungen führen. Offensichtlich bedarf die Gesellschaft immer wieder neuer Erregungszentren, um sich selbst in ihren Bedingungen kritisch zu reflektieren und sich weiterzuentwickeln. Man muss diese Phasen so gut wie möglich nutzen, um Missstände in einzelnen Bereichen wie zum Beispiel denen der Gesundheit, des Missbrauchs von Drogen und des sexuellen Missbrauchs zu erkennen. Und sich dann fragen, wie reformbedürftige Strukturen im Sozial- und Erziehungssystem oder in den Kirchen verändert werden können. Man muss dabei wissen: Ein heute ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerücktes Problemfeld kann morgen schon wieder an den Rand gedrängt werden. Im Augenblick konzentriert sich das Interesse sehr stark auf einzelne Personen und deren berechtigte Verurteilung. Aber der Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenarth hat gestern zu Recht betont: 2. Spr. (Zitat): "Der Skandal um den Schulleiter Gerold Becker ist nicht ein Ereignis, das man allein personenbezogen diskutieren kann, sondern in einem historischen und politisch-pädagogischen Kontext lesen sollte; denn auch das gilt: Reformpädagogik ist bis heute immer mehr als nur ein pädagogisches Ereignis." 1.Spr.: Und das heißt, besser die ideengeschichtlichen Hintergründe zu verstehen. Heute hat dies Friedrich Wilhelm Graf, Professor für Systematische Theologie und Ethik in München, in einem Artikel in der FAZ auf den Punkt gebracht: 2.Spr.(Zitat): Wer die deutsche Reformpädagogik verstehen will, muss religiöse Lebenswelten und speziell die Ideengeschichten des modernen Protestantismus kennen. Prominente Reformpädagogen wie Hermann Lietz, Gustav Wyneken, Peter Petersen und Paul Geheeb hatten Evangelische Theologie studiert und sich in kulturprotestantischen Vereinen engagiert. Ihre Visionen einer anderen Erziehung in besseren, freien Schulen standen in engem Zusammenhang mit ihrer religiösen Hoffnung auf eine Wiederverzauberung der als sinnleer, kalt und fragmentiert erlittenen Moderne. Viele Programmschriften deutscher Reformpädagogen spiegeln ein tiefes Leiden an der modernen Massengesellschaft, deren Pluralismus man als Zerstörung substantieller Sittlichkeit und Verlust wahrer Gemeinschaft erlebte. Der Kapitalismus galt ihnen als grausame Schicksalsmacht, die durch allumfassende Zweckrationalität den Untergang der freien Persönlichkeit bewirke. 1.Spr.: Die Reformpädagogik war viel mehr als nur ein isoliertes Erziehungsmodell. Sie war geprägt von der Vision einer anderen Gesellschaft, die aber von Menschen geschaffen werden musste, die eine auf ganzheitlicher Weltsicht beruhende Erziehung durchlaufen haben. Neoromantische Gesellschaftskritik, idealistische Lebensphilosophie und die Wiederentdeckung der Religion als ein Heilmittel für die kranke Moderne werden dabei miteinander verbunden. Begriffe wie Ritus und das Heilige, Transzendenz und Gemeinschaft wurden wieder aufgewertet. Dem Gemeinwesen sollte eine neue Grundlage geschaffen werden. 2.Spr.(Zitat): Wer die Welt verändern, vom dürftigen Hier und Jetzt ins Gottesreich der Freiheit gelangen will, braucht geeignete Akteure, die er nur mit anderer, besserer Pädagogik gewinnen kann. Auch lässt sich der Bildungsbegriff nicht von seiner religiösen Herkunftsgeschichte, den theologischen Deutungskämpfen um die Gottebenbildlichkeit des Menschen ablösen. Im kulturprotestantischen Denken erweist er sich als extrem ideologieanfällig. Kulturprotestanten finden sich bei den Anthroposophen, in der Jugendbewegung, in Gesellschaften für neue Körperkultur, im Deutschen Werkbund und in der Frauenbewegung. Führende reformpädagogische Konzepte lassen sich als bildungspolitische Konkretion kulturprotestantischer Sozialutopien lesen. 1.Spr.: Die geistige Debatte beinhaltet die Chance, die in der Reformpädagogik beschlossenen Ideale, Visionen und Utopien einer nicht-modernistischen Welt und eines ganzheitlichen Menschen zu überprüfen und sie an den Verfehlungen in der Praxis zu messen. Welche Gefahren verbergen sich in einer Bildung, die auf eine harmonische Ganzheit von Geist, Seele und Leib zielt und den Lehrer nicht als "Fachmenschen" (wie man sagte), sondern als eine geistige Führungspersönlichkeit formen will ? 2.Spr.(Zitat): Die frühen Landerziehungsheime der Reformpädagogen sind die Klöster modern-antimoderner "Ganzheitlichkeit", entworfen aus dem heiligen Willen zur Bildung des anderen, besseren Menschen. Sie setzen auf umfassende Vergemeinschaftung im Kleinen und heben in ihren Alltagsriten, in Sportkultur, Gartenarbeit, Theaterspielen, gemeinsamem Duschen und auch Freundschaftskult, tendenziell den Unterschied zwischen privat und gemeinschaftlich auf. Sie erkennen dem Lehrer eine charismatische Seelenmacht über seine Zöglinge zu, die ihn nur überfordern kann. So darf der Lehrer nicht nur den äußeren Menschen kennen, sondern muss sich auch in den inneren Menschen, seine Emotionen, Hoffnungen, Sehnsüchte einfühlen. Der Durchgriff auf die Seele des anderen wird zum pädagogischen Programm. Doch wer auf das Innere des anderen durchgreifen zu dürfen meint, in höherer Absicht, um des "ganzen Menschen" willen, kann sich nur schwer davor schützen, dass manche Lehrer dann auch auf Körper und Leib ihrer jungen "Freunde" zugreifen. Nur hat kein Reformpädagoge die Schüler je gefragt, ob sie den Lehrer denn als Freund haben wollen. 1. Spr.: Wie also kann man in Zukunft sinnvoll und bedacht über Erziehung sprechen? In keinem Fall sollte man aus dem Auge verlieren, dass das Verstehen einer Sache oder eines Menschen immer daran gebunden ist, Nähe herzustellen. Haben wir dafür aber überhaupt geeignete Begriffe, Modelle und Theorien, wie wir sie für die Distanz zu Dingen und Personen haben? Aus der Distanz entsteht eine hierarchisch strukturierte Wissensvermittlung. Aber - und das sagen heute sogar viele der euphorischen Befürworter der digitalen Welt - die reine Akkumulation von Wissen ist nicht mehr das vordringliche Thema menschlichen Lernens. Das leisten die Computer viel besser. Was sie aber nicht können, das sollte man lernen: unbekannte Zusammenhänge erkennen, Intuition und Kreativität fördern, den richtigen, eben nicht neurotischen oder gar perversen Umgang mit emotionaler Nähe und Vertrautheit üben. Die gegenwärtige Welle von Bekenntnissen kann auch dafür genutzt werden. Eines der neuesten und besonders bewegenden Dokumente ist der Text "Sprachloses Kind" des Schriftstellers Bodo Kirchhoff im neuen Spiegel: 2.Spr.(Zitat): Die falschen Pädagogen sind, wie sie sind, sexuelle Freaks im Kleinen, und genau das reichen sie weiter. Keinem der Betroffenen sieht man an, wie viel in ihm kaputt ist, welchen Umfang das Sprachloch hat; jeder hat seine Scheinsprache entwickelt, um mit sich und der Welt klarzukommen. Macht kaputt, was euch kaputtmacht, hieß es, als ich Student in meinem Gehäuse war; aber es reicht, davon Wort für Wort, ohne Rücksicht auf sich und andere, zu erzählen. 1