Reihe : Zeitfragen Titel der Sendung : "Die Mauer - Eine stabile Idee im Hörbild" Autor/in : Florian Felix Weyh Sendetermin : 20.03.2017 Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinaus- geht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Gesprächspartner (alphabetisch): Prof.em. Peter-Alexis Albrecht, Kriminologe (Berlin) Dr. Ulf Buermeyer, Strafrichter (Berlin) Prof. Jochen Oltmer, Migrationsforscher (Osnabrück) Lutz Rathenow, Stasi-Beauftragter und Schriftsteller (Dresden) Dr. Rafael Seligmann, Schriftsteller und Publizist, (Tel Aviv) Dr. Hans von Trotha, Kunsthistoriker und Publizist (Berlin) sowie historische und aktuelle O-Töne aus der Politik 01 Ulf Buermeyer 0'10 Ich finde es schon einigermaßen imposant! Also das ist ja so die Haupthalle, die Haupttreppe im Altbau an der Turmstraße in Moabit. Und das hat für mich was sehr Majestätisches. SPRECHER "Haus, althochdeutsch hus, eigentlich ›das Bedeckende‹, jedes feste Gebäude zum Woh- nen und Wirtschaften, zum Teil auch Gebäude für kultische Zwecke." 02 Ulf Buermeyer 0'09 Und dann auch diese großen Bögen, die man an der Decke sieht, mit diesen gotischen Spitzbögen und mit den Rippen. Das ist in der Tat so ne Art Kathedrale des Rechts. SPRECHER "Dem Haus eignete immer eine besondere Heiligkeit." 03 Ulf Buermeyer 0'32 Interessant find ich, dass dieses Gebäude extrem funktional ist. Es gibt nämlich neben den öffentlichen Gängen, die wir sehen, ein zweites Gangsystem, das die Säle, in denen Haft- sachen stattfinden sollen, verbindet mit dem Untersuchungsgefängnis. Das heißt, die Ge- fangenen werden durch ein eigenes paralleles Gangsystem direkt in die Säle vorgeführt. Und das ist natürlich zum einen sicherer, weil die dann eben nicht so leicht abhauen kön- nen, aber zum anderen auch Würde wahrender! Weil man eben gerade nicht vorgeführt wird. Das find ich ein ausgesprochen funktionales System. 04 Peter-Alexis Albrecht 0'09 Das System, Menschen einzumauern und in diesen Mauern ihnen den Garaus zu machen, ist eigentlich das Schlimmste, was man sich mit einem humanen Menschenbild leisten kann. 05 Lutz Rathenow 0'08 Der Verlust der Mauer hat auch eine Verarmung zur Folge, zumindest in einem Punkt: Die Wut auf die Mauer ist abhanden gekommen. 06 Reporterin mit Walter Ulbricht Herr Vorsitzender, bedeutet die Bildung einer freien Stadt Ihrer Meinung nach, dass die Staatsgrenze am Brandenburger Tor errichtet wird, und sind Sie entschlossen, dieser Tat- sache mit allen Konsequenzen Rechnung zu tragen? (Ulbricht) Ich verstehe Ihre Frage so - 07 Donald Trump 0'30 Are you ready? We will build a great wall along the southern border. And Mexico will pay for the wall. 08 Lutz Rathenow 0'05 Die Wut war auch ein Motor, der das Leben - zumindest mein Leben - politisiert hat. Donald Trump Hundred percent. 09 DLF-Nachrichten Ungarn baut einen zweiten Zaun an der Grenze zu Serbien. Die Arbeiten hierfür hätten be- reits begonnen, teilte ein Regierungssprecher in der Hauptstadt Budapest mit. Die zweite Anlage sei notwendig, weil für dieses Jahr wieder mit mehr Zuwanderern gerechnet werde. 10 Rafael Seligmann 0'07 Es hat in der Geschichte der Menschheit keine Mauer gegeben, die Bestand hatte. WORTSETZER Die Mauer. Die Wand. Der Zaun. Die Grenze. Das Haus. Das Gefängnis. Der Kerker. Das Verlies. Die - SPRECHER "Mauer, althochdeutsch mura, von lateinisch murus, Bauwesen. Meist lang gestreckter Baukörper aus Mauerwerk, im weiteren Sinn auch aus Stampfmassen, aus Lehm, Beton und anderen Baustoffen hergestellte Wände" SPRECHERIN Brockhaus Online, Lexikoneintrag. WORTSETZER Die Mauer. Die Wand. Der Zaun. Die Grenze. SPRECHER "Eine Grenze ist immer etwas Unwirtschaftliches." SPRECHERIN Otto Veit, "Gefühl und Vernunft in der Wirtschaft", 1932. WORTSETZER Die Grenze. Die Wand. Das Haus. Der Zaun. SPRECHER "Bohling macht heute den Zaun. Eigenartig, wie sicher man sich sofort mit so einem Dings fühlt, obwohl jeder Mensch ohne weiteres drübersteigen kann." SPRECHERIN Walter Kempowski, Tagebucheintrag, Mai 1991. WORTSETZER Der Zaun. Die Hecke. Der Hag. Das Paradies. 11 Hans von Trotha 0'08 Das Paradies hat definitiv eine Mauer! Also alle mittelalterlichen Paradiesdarstellungen sind Mauerdarstellungen. 12 Peter-Alexis Albrecht 0'02 Die Mauer als solches ist ja was Schönes! 13 Hans von Trotha 0'34 Das klassische Bild vom Paradies ist Maria im Paradiesgärtlein. Da sieht man eine zinnenbewehrte Mauer, innen ist Gras. Grasbänke, Wiesen, Tiere, Pflanzen, Heilige, die irgendwelche Instrumente spielen und Maria. Und interessant ist: Oft sehen wir hinter den Zinnen Baumwipfel! Sprich: Diese Wiese und diese Mauer sind nicht auf dem Boden, sondern irgendwo oben. Das hebt das Bild in den Himmel. Und irgendwo da im Himmel ist diese Mauer, und hinter der Mauer ist das Paradies. SPRECHERIN Hans von Trotha. Kunsthistoriker, Publizist. 14 Hans von Trotha 0'37 Ich glaube, dadurch dass wir Mauern errichten, projizieren wir eine Projektion! Wir pro- vozieren, dass von der anderen Seite der Mauer das Paradies auf uns projiziert wird. Das heißt nicht, dass wir es selber so erleben. Und viele der Flüchtlinge, die gekommen sind, sind ja auch schwer enttäuscht. Wenn man aufbricht, hofft man, dass man an einen besseren Ort kommt. Also Reisen ist immer Hoffen. Und auch Fliehen ist ja eine genötigte, aber eine Form des Reisens. Und dadurch, dass ich eine Mauer errichte, steigere ich diese Hoffnung natürlich noch. Also das Unerreichbare wird natürlich immer schöner. 15 Peter-Alexis Albrecht 0'30 Im übrigen ist die Situation in Amerika ja so, dass man es eigentlich nur satirisch fassen kann! Wenn Sie nun die Bemühungen hier zitieren, an der mexikanischen Grenze eine Mauer zu bauen, dann müsste ich als Kriminologe eigentlich dankbar sein, dass man das tut. Denn stellen Sie sich mal vor: Man schützt unschuldige Mexikaner, unschuldige Menschen der Südhalbkugel davor, nach Amerika zu kommen! Schlimmeres, das sage ich Ihnen als jemand, der viele Monate bei der amerikanischen Polizei war, kann einem gar nicht passieren, als in Amerika einzuwandern. SPRECHERIN Peter-Alexis Albrecht. Emeritierter Professor für Strafrecht und Kriminologie. 16 Peter-Alexis Albrecht 0'27 Von daher ist die Idee von Trump, dass auch die Mexikaner das bezahlen, gar nicht so schlecht. Denn die Mexikaner sollen ja ihre Bevölkerung schützen, nach Amerika zu kommen. Das ist die Satire der Realität. Würden die wissen, was sie im Süden Los Angeles' erwartet, die Mexikaner, dann sind da Millionen Menschen, die in den Slums von Los Angeles kujoniert werden und die in schlimmsten Verhältnissen leben. Und daher ist der Bau dieser mexikanischen Mauer aus meiner Sicht ein Akt der Humanität. 17 Walter Ulbricht Was kann menschlicher sein als all das, was hier geschieht und für den Menschen getan wird? So dient der 13. August wahrer Menschlichkeit. 18 Donald Trump 0'31 These people come up to me. They say: "Donald, you don't really mean we'll gone build the wall, do you?" And I say: "Absolutly we'll gona build the wall!" So I get a call from one the reporters yesterday. And they said: "The President of Mexico said, they will not under any circumstances pay for the wall." They said to me: "What is you comment?" I said: "The wall just got ten feed higher!" It's true, it's true! 19 Lutz Rathenow 0'14 Wahrscheinlich setzt so eine Abgrenzung - im Unterschied zu Trump heute - in der DDR einen grundlegenden Minderwertigkeitskomplex voraus. Also zu glauben, man ist dem Westen nicht gewachsen. SPRECHERIN Lutz Rathenow, ehemaliger Bürgerrechtler, über die Motive des DDR-Mauerbaus. 20 Lutz Rathenow 0'25 Ich glaube, Trump ist so selbstbewusst bis größenwahnsinnig, dass ihm dieser Gedanke nicht kommt, dass die Mexikaner einfach besser, schneller, fleißiger, billiger arbeiten könnten. Und vielleicht geht es dann doch gar nicht so um die Ökonomie, sondern es geht darum, die scheinbare Regulierung der Ökonomie dafür zu benutzen, in der Politik Handlungsstärke zu beweisen. 21 Hans von Trotha 0'06 Genau das, was Trump will, haben die Römer gemacht. (lacht) Nur nach Norden, nicht nach Süden. WORTSETZER Der Limes. Hadrianswall. Antoniuswall. Trajanswall. Mauern von gestern. Mauern, die immer noch stehen. 22 Rafael Seligmann 0'19 Die Klagemauer ist ein Rest des zweiten jüdischen Tempels in Jerusalem, die Westmauer, Überreste davon, und die Juden - religiös aber vielfach auch nicht religiöse - beklagen die Zerstörung des Tempels. SPRECHERIN Rafael Seligmann. Schriftsteller und Publizist. 23 Rafael Seligmann 0'30 Wenn Trauer und Klage was Gutes ist, dann ist sie gut. Wenn man an das Leid von damals denkt, vor 2000 Jahren und das nachfolgende Leid - also zum Beispiel während der Kreuzzüge wurden ja von den verzeihenden und gewaltlosen Christen die Moslems und Juden in Jerusalem umgebracht, auch an der Klagemauer -, dann ist es was Negatives. WORTSETZER Mythische Mauern. 24 Peter-Alexis Albrecht 0'02 Offenheit ist auch ne schöne Sache, wenn man sie sich leisten kann. WORTSETZER Einstürzende Mauern. Offene Mauern. Schöne Mauern. 25 Hans von Trotha 0'15 Also die Mauer in den chinesischen Städten - und noch mehr in den chinesischen Gärten - ist nicht einfach da, sondern Teil der Landschaft, Teil der Wahrnehmung. Und deswegen viel überlegter ... und viel schöner. WORTSETZER Schöne Mauern. Chinesische Mauern. Mauern, hinter denen der Allerhöchste wohnt. 26 Hans von Trotha 0'13 Das System der Verbotenen Stadt breitet sich immer weiter aus. Und das, was die einzelnen Teile der Stadt definiert, sind Mauern. Wenn das alles immer bedrohlich gewesen wäre, hätte man's da gar nicht ausgehalten. (lacht) 27 Hans von Trotha 0'25 Da werden einzelne Regionen zu Sektoren erklärt durch die Mauern. Die sind aber nicht sehr hoch, dafür sehr lang. Und schön! Noch stärker ist es in den Gärten. Die Gärten sind von Mauern durchzogen, die haben aber Öffnungen. Die haben Mondtore, die haben Fenster, die wiederum wie Bilder strukturiert sind. Also da ist wirklich die Durchlässigkeit der Mauer auch inszeniert. SPRECHERIN zitiert O-Ton "Offenheit ist auch ne schöne Sache, wenn man sie sich leisten kann." 28 Peter-Alexis Albrecht 0'04 Wenn es einen Unsinn gibt, dann den des Gefängnisses. 29 Ulf Buermeyer 0'11 Eine denkbare Erklärung ist, dass eine Freiheitsstrafe, also das Einsperren von Menschen, im Grunde so was ist wie eine kleine, zeitweilige Todesstrafe. 30 Peter-Alexis Albrecht 0'07 Und wenn Mauern überhaupt nichts bewirken, dann im Hinblick darauf, dass Menschen sich ändern, besser werden oder zu sich finden. 31 Ulf Buermeyer 0'12 Und zwar ist der Gedanke dabei, dass ja bei der Todesstrafe dem Täter das Leben insgesamt genommen wird, und durch das Einsperren das Leben jedenfalls für den Zeitraum, den er hinter Mauern verbringen muss. SPRECHERIN Ulf Buermeyer, Strafrichter am Berliner Landgericht. 32 Ulf Buermeyer 0'26 Glücklicherweise haben wir uns ja von diesem eher archaischen Gedanken inzwischen gelöst. Also inzwischen arbeiten wir ja mit einer weitgehend unaufgelösten Spannung. Und zwar zwischen diesem alten Sanktionsgedanken, also Strafe muss wehtun auf der einen Seite. Und auf der anderen Seite diesen Behandlungsansatz, dass wir die Zeit hinter Mauern, die Zeit hinter Gittern nutzen wollen, um die Menschen zu bessern. Das ist ja die Grundidee der Resozialisierung. 33 Peter-Alexis Albrecht 0'11 Das ist blanke Ideologie! Man könnte aus meiner Erfahrung mindestens 90 Prozent aller Strafgefangenen entlassen, und nichts würde sich ändern! Man hätte nur den Vorteil, dass man nicht mehr so viel Geld ausgeben würde. 35 Peter-Alexis Albrecht 0'13 Wir haben immer als Kriminologen empfohlen, die modernen Hotels zu nutzen. 100 Euro am Tag jemanden in einem Hotel unterzubringen, bringt mehr, als ihn hinter Gittern schmoren zu lassen. 36 Ulf Buermeyer 0'15 Ich kann die Spannung zwischen dem Bestrafen, das ja im Prinzip verlangt, dass es hinter den Mauern möglichst furchtbar sein muss, und dem Bessern, das im Grunde verlangt, dass man hinter den Mauern mit den Menschen was tut - und dazu muss man auf sie zugehen -, ich kann dieses Spannungsverhältnis jetzt auch nicht auflösen. 37 Peter-Alexis Albrecht 0'09 Es war ja auch nur ne Persiflage! Nein, gesagt werden soll nur, dass das Gefängnis als System von Mauern kontraproduktiv ist für das, was man eigentlich will. 38 Lutz Rathenow 0'04 Wenn man ins Gefängnis kommt, soll man gar nicht sehen, dass man ins Gefängnis kommt. WORTSETZER Kalt. Harsch. Dunkel. Einsam. Verlassen. Weg. SPRECHERIN Lutz Rathenow verbrachte zehn Tage in einem DDR-Gefängnis, weil er das Gefängnis DDR kritisiert hatte. 39 Lutz Rathenow 0'19 Und dann wird die Binde abgenommen. Und dann sind Uniformierte da, die einen kontrollieren. Die Kleider werden ausgezogen. Der After wird geöffnet, ob man irgendwas hineinschmuggeln will in die Zelle. Und dann sitzt man in einer wenige Meter großen Einzelzelle und bekommt erstmal nichts mit. SPRECHER "Der leise Summton, der aus den Mauern meiner Zelle dringt, seitdem sie mich hier fest- halten, ist lauter geworden." SPRECHERIN Horst Bienek, "Die Zelle". Erfahrungen mit dem stalinistischen Justizsystem der DDR. SPRECHER "Eine Eisentür, drei Wände, eine weiße Decke, ein zementgrauer Fußboden, eine Pritsche mit einem Strohsack, ein Kübel, ich selbst auf der Pritsche liegend, unbeweglich, die Er- starrung auf diese Weise vollkommen machend, die Luft schließt mich ein wie in einem durchsichtigen Sarg, vielleicht kann ich mich überhaupt nicht mehr bewegen, dann liege ich da, in der Erstarrung, erhöht, auf einem Katafalk." 41 Peter-Alexis Albrecht 0'17 Die Berliner Mauer wird immer als Schandmal bezeichnet, nicht? Als Inbegriff der inhu- mansten Form, Menschen zu kujonieren. Dabei haben alle, die an der Festigung dieser Mauer mitgewirkt haben, West wie Ost, diese Mauer bewusst aufgebaut, um einen 3. Weltkrieg zu vermeiden. 42 Walter Ulbricht (historischer O-Ton) 0'08 Ich möchte hinzufügen, dass es selbstverständlich Menschen gibt, die die Absicht haben, ihren Wohnsitz zu ändern. 43 Karl-Eduard von Schnitzler (historischer O-Ton) 0'20 Unsensationell - dieses Wort kennzeichnet wohl am besten die Maßnahmen, die wir in Übereinstimmung mit den anderen Staaten des Warschauer Pakts heute Nacht ergriffen haben. Grenzgänger, die auch heute in Westberlin arbeiten wollten, nahmen davon Ab- stand und werden sich morgen eine anständige Arbeit suchen. Bei uns natürlich. 44 Peter-Alexis Albrecht 0'15 Das ging zwar auf Kosten jener, die hinter der Mauer auf der Ostseite saßen - scheinbar auf deren Kosten! -, aber diese Mauer war erstmal friedensstiftend. Das wusste Strauß, das wusste Kennedy, das wusste Chruschtschow. Diese Leute haben die Mauer konsensual er- stellt. SPRECHER "Der Bau der Mauer beschränkte nicht allein die Abwanderung, sondern ließ eine erhöhte Bereitschaft erkennen, Widerspruch zu unterdrücken. Unter diesen Bedingungen fand die Zunahme von Widerspruch, die man normalerweise erwarten sollte, nicht statt, ja sie konn- te nicht stattfinden." WORTSETZER Solide. Massiv. Robust. Stattlich. Staatlich. Fest. Unzerstörbar. SPRECHER "Die gleichzeitige Unterdrückung von Abwanderung und Widerspruch im Jahr 1961 sollte 28 Jahre später ihr Gegenstück finden, als Abwanderung und Widerspruch gemeinsam ex- plodierten und das ganze Staatsgebäude der DDR zusammenfallen ließen." SPRECHERIN Albert O. Hirschman, deutsch-amerikanischer Soziologe, in seinen Memoiren "Selbstbe- fragung und Erkenntnis". 45 Peter-Alexis Albrecht 0'10 Der große Fehler der DDR war, dass sie hinter der Mauer eben zu autoritär regiert haben. Hätten sie ein liberales System eingeführt, dann hätte sich die Mauer erübrigt, dann wären die Leute dageblieben. 47 Jochen Oltmer 0'06 Hätte die DDR nicht ihre gesamte Bevölkerung stets und ständig kontrolliert, hätte auch die Mauer in dem Maße nicht funktionieren können. SPRECHERIN Jochen Oltmer. Professor für Migrationsforschung an der Universität Osnabrück. 48 Jochen Oltmer 0'12 Wenn es um Migration, um Arbeitsmigration geht, geht es immer auch um die Frage: Was bedeutet explizit die Abwanderung aus einem bestimmten Land, aus einer bestimmten Ge- sellschaft? Ist es möglicherweise auch als ökonomische Verarmung zu verstehen? 49 Fritz Baade (historischer O-Ton) 0'24 Ich habe in diesem Artikel schon vor acht Jahren den Kapitalwert des Flüchtlingsstromes zum ersten Mal überhaupt als Begriff eingeführt. Und bin davon ausgegangen, dass eine einsatzfähige Arbeitskraft einen Kapitalwert von mindestens 15.000 Mark darstellt, näm- lich die 15.000 Mark, die seine Eltern und sein Staat mit der Schulbildung für ihn aufge- wendet hat. SPRECHERIN Fritz Baade, damaliger Direktor des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, 1965. 50 Fritz Baade (historischer O-Ton) 0'25 So ist der Volkswirtschaft der DDR ein Wert von 45 Milliarden entzogen worden durch den Flüchtlingsstrom, und er ist uns mit seiner Arbeitskraft zugute gekommen. 53 Donald Trump (Collage von CBS) 0'14 And Mexico will pay for the wall. / Mexico is going to pay for it and they'll be happy to pay for it. / We gonna make them pay for that wall. / But the gonna pay for the wall. / Trust me: Mexico will pay for it. / And I will have Mexico pay for that wall. O-Ton- Bade darüber legen, Trump am Ende wieder hochziehen 52 Fritz Baade (historischer O-Ton) 0'09 Und in dieser Diskussion hat's eine Zuschrift an die "Frankfurter Allgemeine" gegeben, in der ein witziger Mann gesagt hat: "Ja, dann könnten die uns ja noch die Kosten der Mauer anlasten!" Musik vorhanden: Ry Cooder "Goyakla is coming". Atmo: Es wird gemauert. WORTSETZER Gäste. Willkommene Gäste. Liebe Gäste. Ungebetene Gäste. 54 Jochen Oltmer 0'29 Während des 1. Weltkriegs sind amerikanische Stellen bemüht, Mexikaner im Rahmen von bilateralen Wanderungsabkommen anzuwerben. Diese Anwerbung läuft faktisch in den 1920er-Jahren weiter, wird noch mal verstärkt während des 2. Weltkriegs. Und wir sehen, dass eben über diese Anwerbungsaktivitäten immer mehr Mexikanerinnen und Mexikaner, die dringend gesucht werden, insbesondere als landwirtschaftliche Arbeitskräfte im Süden beziehungsweise Südwesten auch längere Zeit bleiben und eben Menschen nachziehen. SPRECHER "Wahrscheinlich rund die Hälfte der irregulären Aufenthalte gehen auf eine unerlaubte Einreise zurück. Die andere Hälfte sind Ergebnis der Überziehung des Visums." SPRECHERIN Jochen Oltmer in seinem Buch "Migration". 55 Jochen Oltmer 0'22 Das sind die sogenannten "Overstayer", die also über diese Begrenzung im Kontext des Visums hinaus bleiben. Und da sie als billige und willige Arbeitskraft gelten, wird eben tatsächlich dieses Bleiben ohne Dokument auch akzeptiert. SPRECHER "Die verschärften Grenzkontrollen haben dazu geführt, dass sich Migranten immer häu- figer niederlassen, anstatt nach dem Ende einer saisonalen Beschäftigung wieder abzurei- sen." 56 Rafael Seligmann 0'07 Mauern zwischen Staaten sind im Normalfall ein Symbol der Hilflosigkeit. WORTSETZER Mauern von gestern. Mauern von heute. Mauern von morgen. Deutschland, Israel, Mexiko. Mauern von gestern, Deutschland. Mauern von morgen, Mexiko. Mauern von heute, Israel. 57 Rafael Seligmann 0'14 Diese rund 400 Kilometer lange Demarkationslinie zwischen Israel und den besetzten Ge- bieten war offen bis vor einigen Jahren, bis zu den Intifada-Wellen. 58 O-Ton isrealische Mauerrundfahrt (läuft noch ein Stück unter Seligmann weiter) And really this fence saved the live of so many Israelis. Because from 2000 till the end of 2006 we had in Israel more than 4.000 terror attacks. 59 Rafael Seligmann 0'23 Um diesen Grenzübertritt zu verhindern, baute Israel einen Zaun, und an bestimmten Stel- len wird dieser Zaun durch eine Mauer ersetzt, um den Beschuss von Straßen oder von Häusern aus den besetzten Gebieten, teilweise aus Stadtvierteln, die direkt an Jerusalem angrenzen, zu verhindern. 60 Rafael Seligmann 0'34 Das Interessante an dieser innerisraelischen Grenze ist ja Folgendes: Dass die Befürworter der Okkupation dieses Gebiet okkuieren wollen, und gleichzeitig - was absurd ist! - bauen sie einen Grenzzaun, weil sie Angst haben vor eventuellen Attentätern. Da stehen sich entgegen einerseits die Gier, Gebiete zu besetzen, weil man der Meinung ist, sie gehören einem, aus historischen Gründen - oder aus religiösen Gründen -, und andererseits hat man Angst konkret vor den realen Menschen. 61 Jochen Oltmer 0'12 Die Mauer oder der Grenzzaun ist ja nur ein Element von Kontrolle! Wir haben immer im Kontext der Überwachung oder der Kontrolle oder der Lenkung von Mobilität es auch mit anderen Systemen zu tun. 62 Rafael Seligmann 0'08 Auf jeden Fall hat man Angst. Und die Mauer soll diese Angst mindern. Sie soll die Menschen draußen lassen. 63 Jochen Oltmer 0'21 Also zum Beispiel Pässe, zum Beispiel Visa. Wir gehen heute noch in eine Hotel und müssen so einen kleinen Zettel ausfüllen, mit Namen, mit Adresse. Das ist ein Relikt vergangener Zeiten, in denen damals Gastwirte beziehungsweise Hoteliers diese Zettel an die Polizei weitergaben, und die Polizei dann wusste, wer in der Stadt ist. Also: Mobilitätskontrolle. 64 Hans von Trotha 0'13 Die Mauer wird irgendwann als Relikt einer Zeit sein, in der es ein Wort gab, von dem die Leute gar nicht mehr wissen, wie man es schreibt, und das war "Privatsphäre". WORTSETZER Kontrolle, Schutz, Abschirmung, dein, mein. Ich. 65 Ulf Buermeyer 0'15 Für mich ist es auch eine manifeste Errungenschaft, weil natürlich Privatsphäre zum Beispiel Voraussetzung ist auch von Dissenz! Es ist glaub ich sehr, sehr schwer, einen anderen Lebensstil zu pflegen als die Mehrheitsgesellschaft, ohne sich auch gleichsam informatorisch zurückzuziehen auf sein kleines Eiland. SPRECHER "Erst als erwachsener Mann begriff ich genauer, warum der Verlust eines Hauses Men- schen um den Verstand bringen kann." SPRECHERIN Fritz J. Raddatz über sein weggebombtes Elternhaus. "Unruhestifter" - Erinnerungen. SPRECHER "Elias Canetti erklärte mir, wie sehr auch ein Haus Individualität besitze, sie gar erzeuge als Wehr gegen das Außen, gegen die als Feinde empfundenen anderen, dass schon einge- schlagene Türen und Fenster diese mühsam errichtete Abgrenzung zunichte machen; wenn das Abgrenzende zerstört ist, sei eine empfindliche Grenze verletzt."8 WORTSETZER Absperren. Zusperren. Aussperren. Einsperren. Wegsperren. 66 Ulf Buermeyer 0'09 Wenn man jemanden einsperrt, ist das zunächst mal ne massive Traumatisierung. Und das macht Menschen sicher nicht besser, davon muss man mal ausgehen! Also zunächst mal ist das Einsperren für Menschen schlecht. 67 Lutz Rathenow 0'20 Das Einsperren ist schon bedenklicher, weil Sie jetzt überhaupt keine Alternative haben. Das Aussperren ist unter Umständen zynischer, weil es die ganzen Bedingungen, warum hier jemand reinwill, ignoriert. Und Mauern können nie so gebaut werden, dass sie die nötige Differenzierung ermöglichen. 68 Peter-Alexis Albrecht 0'24 Einsperren ist das Schlimmste! Da nimmt man dem Menschen seine Autonomie und seine Freiheit. Aussperren macht Alternativen möglich. Aussperren heißt, man muss einen Umweg gehen. Man kann nicht irgendwo rein, wo man gerade rein will. Insofern würde ich für Aussperren immer eher sein, und Einsperren, dafür würde ich nie sein! 69 Hans von Trotha 0'13 Sperren ist gleich schlimm! Weil Sperren bedeutet ja, dass ich Menschen gegen ihren Willen etwas aufzwinge! Das hängt von der jeweiligen Situation ab, ob "ein" oder "aus" da das Schlimmere ist. Also wenn wir in der Arktis stehen, dann ist Aussperren im Zweifelsfall schlimmer. SPRECHER "Ich möchte nicht, dass mein Haus auf allen Seiten von einer Mauer umgeben ist und die Fenster verstopft sind. Ich möchte, dass die Kulturen der ganzen Welt über mein Haus so frei wie möglich hinwegwehen. Aber ich wehre mich dagegen, mich von einer von ihnen wegblasen zu lassen."9 70 Hans von Trotha 0'02 Das gefällt mir. SPRECHERIN Mahatma Gandhi. 71 Hans von Trotha 0'15 Also ich find das eine sehr schöne Metapher, die im Grunde genommen die Funktion der Mauer auf ihre Funktion der Begrenzung - im Sinne von Sichtbarmachung, wo die Grenze ist - beschränkt, und nicht des Aus- und Einschließens. Das find ich sehr schön! SPRECHER "Überhaupt wäre es sehr anstrengend auf der Welt, gäbe es nur Glas. Stellt euch nur mal ein Hochhaus vor, einen Straßenzug mit Altbauten, meinethalben, und alle Wände aus Glas. Und jeder sieht jeden, und jedem wird auf einmal klar, wie viele Menschen es gibt, die alle irgendwie dasselbe tun in ihren Wohnungen. Da würden wir ganz schön wahnsin- nig werden, nicht wahr? Deshalb an dieser Stelle meinen Dank an Herrn Beton und Herrn Ziegel." SPRECHERIN Sybille Berg, "Sex II". WORTSETZER Glas. Lehm. Stahl. Ziegel. Draht. Holz. Beton. Die Mauer. Der Zaun. Die Grenze. Der Wall. Der Schutz. Die Abwehr. Das Problem. Die Lösung. 73 Rafael Seligmann 0'17 Die Menschen gelangen am Ende dorthin, wo sie hingelangen wollen. Sie müssen genug Geduld aufweisen, genug Energie, genug Gewalt, aber eine Mauer ist auf Dauer kein Konzept. Jede Mauer wird scheitern. 74 Donald Trump feuert die Massen an 0'16 Build that wall! Build that wall! Build that wall! 75 Hans von Trotha 0'15 Er wendet dieses Konzept der Mauer ja keineswegs nur zu Mexiko an. Er will sich ja abschotten! Er will sich in alle Richtungen abschotten. 76 Peter-Alexis Albrecht 0'16 Man muss sich diesen Unsinn einmal vorstellen: Die Amerikaner sagen jetzt, sie wollen in ihrem Land bleiben. Ja, dann würd ich Beton und Mauersteine liefern, um dabei zu helfen, dass sie sich einmauern, und mal 50 Jahre unter sich bleiben! Vielleicht hilft das der Welt insgesamt. 78 Rafael Seligmann 0'13 Ich bin ziemlich sicher, dass auch die Mauer des Herrn Trump oder die Mauer zwischen Israel und den Palästinensergebieten keinen dauerhaften Bestand haben wird. Literaturverweise: Aus dem aktuellen Brockhaus Online. 2 ebd. 3 Otto Veit: "Gefühl und Vernunft in der Wirtschaft", S. 52 4 Walter Kempowski: "Somnia", S. 167 5 Horst Bienek: "Die Zelle", S. 37 und 97 6 Albert O. Hirschman: "Selbstbefragung und Erkenntnis", S. 36f. 7 Jochen Oltmer: "Migration", S. 182f. 8 Fritz J. Raddatz: "Unruhestifter", S. 42 9 zit. nach Jeremy Rifkin: "Access", S. 350 1