Deutschlandradio Kultur Zeitreisen am 28. April 2010 Redaktion: Peter Kirsten Madagaskar - Inselghetto für Europas Juden Täuschungsmanöver Hitlers oder reales Ziel? Von Holmar Attila Mück Band Adolf Hitler am 30.Januar 1939 " Wenn es dem internationalen Finanzjudentum inner- und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa." Sprecher Reichskanzler Adolf Hitler am 30. Januar 1939. Es ist die Ankündigung eines unvorstellbaren Infernos. Deutlich und unmissver- ständlich für jedermann. Wer lesen, hören und sehen konnte, nahm schon Jahre vorher eindeutige Signale wahr. Hier wurde keine Naturkatastrophe prophezeit, sondern eine Absicht....ein Versprechen im Konjunktiv! Band Gesang Estromngo Nachama (langsam ausblenden. Darauf: Sprecher 20. Januar 1992 - 50 Jahre nach der berühmt-berüchtigten "Wannseekonferenz zur Endlösung der europäischen Judenfrage" steht der 73 jährige Estrongo Nachama, Oberkontor der jüdischen Gemeinde von Berlin, am Gleis 17 des Gü- terbahnhofs Grunewald. Er blickt auf die verrosteten Gleise. Sie endeten einst in den Kammern des Todes; Der Vorbeter ruft, nein, er klagt ihre Namen in die Stille - und gedenkt der Opfer! Sprecherin Mit 24 Jahren durchschreitet 1943 der aus Saloniki deportierte Estrongo Na- chama die Tore von Auschwitz. Als "Nummer 116 155" überlebte er und bleibt im Land der Täter - als G r i e c h e und J u d e. War das ein Zeichen des Sieges, sein Triumph über das Böse? Sprecher Sein Sohn, der Historiker und Rabbiner Andreas Nachama, Direktor der Ge- denk- und Forschungsstätte "Topographie des Terrors" erinnert sich an einen stillen, nicht verbitterten Vater. Band Prof. Andreas Nachama Mein Vater hat über Auschwitz nicht gesprochen, das hat er eigentlich erst mit meinen Kindern gemacht. Er war nur griechischer Staatsbürger, das war ein Teil seiner Identität. Ich glaube auch, dass er Auschwitz eher als Grieche überlebt hat, denn als Jude. Er hat Auschwitz für sich auch immer als eine Form der Kriegsgefangenschaft betrachtet. Ich glaube, das macht das dann auch einfacher, diese Erniedrigungen zu ertragen. Die fabrikmäßige Tötung von Menschen, das war eigentlich etwas, was unvorstellbar war. Sprecherin Viele aber, denen ein "Grab in den Wolken" erspart blieb, viele, die den "Aus- gesonderten" auf den Wegen in den Tod stumm nachsahen, viele, die deren Lei- densweg nur aus Büchern kennen, stellten und stellen sich die Frage nach der Vermeidbarkeit dieses Schicksals. Sprecher Der Holocaust oder die Shoa werden nie aus der Diskussion kommen. Und im- mer werden sich die Geister an dieser Frage scheiden: Sprecherin War diese Art der "Lösung der Judenfrage" eine vorsätzliche, alternativlose Planung oder doch das Ergebnis einer nicht vorhersehbaren politischen Radika- lisierung, ja Fehleinschätzung der internationalen Politik? Was wurde getan, was konnte getan werden, diesen Weg zu vermeiden? Ist die Antwort Schicksal oder Schuld? Sprecherin Diese Tatsache ist für Historiker nicht ohne Bedeutung. Denn zu Formulierun- gen wie "Ausrottung", Vernichtung parasitärer Elemente" "Kampf gegen die Verjudung Deutschlands, ja Europas", die zu Ablehnung und Widerstand in der Bevölkerung führen könnten, entschließt sich selbst der Fanatiker Julius Streicher, der Herausgeber des Hetzblattes "Der Stürmer", erst mit zunehmender Akzeptanz der nationalsozialistischen Ideologie. " Entfernen " - Damit ist zu- nächst die freiwillige, dann die "Zwangs-Emigration" und letztendlich die De- portation gemeint. Sprecher Einige Studien sprechen dabei von einem "durch die Radikalisierung der Politik ausgelösten Prozess" andere von einem "von Beginn an vorgesehenen syste- matischen Vernichtungs-Plan". Sprecherin Zu den renommierten Verfassern intensiver Analysen zählen neben Raul Hil- berg, Franz Neumann und Hans Mommsen, der Leiter des Zentrums für Anti- semitismusforschung an der Technischen Universität Berlin Wolfgang Benz. Sprecher Vor allem aber ist es das Verdienst des Niederländers Hans Jansen und des in England lehrende Magnus Brechtken, die 1997 zeitgleich, einmal mit dem Buch " Der Madagaskarplan - Die beabsichtigte Deportation der europäischen Juden nach Madagaskar" und zum anderen mit der Dissertation " "Madagaskar für die Juden - Antisemitische Idee und politische Praxis 1885-1945" auf zwei aus dem Gedächtnis fast völlig gelöschte, aber für das Schicksal der Juden so wich- tige Orte verweisen: Sprecherin Die Flüchtlingskonferenz zu Evian und die französische Kolonie Madagaskar als europäisches Großghetto. Sprecher 1997 schreibt Hans Jansen im Vorwort seiner Publikation: Zitator "Über den Zweiten Weltkrieg sind schon mehr als 1oo Tausend Bücher er- schienen. Über den "Madagaskarplan" noch kein einziges. Dies ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass dieser großangelegt Evakuierungsplan im Zeitraum von Herbst 1938 bis Herbst 1940 Gegenstand intensiver Beratungen zwischen Hitler und seinen engsten Mitarbeitern Ribben- trop, Göring, Himmler, Heydrich und Frank war. Sprecher Aussiedlungspläne, Großevakuierungen wie die nach Madagaskar, später wer- den auch Kenia, Argentinien, ja selbst Alaska und Sibirien genannt, sind ohne einen Rückblick auf die deutsche Situation von 1933 bis 1940 kaum ver- ständlich. Band Magnus Brechtken Die deutsche Absicht war damals noch, möglichst viele Juden aus dem Land zu vertreiben, und es gab keine einheitliche Politik, wohin die dann gehen sollten: Palästina war eine Option. Auf der anderen Seite war man der Meinung in Pa- lästina entsteht dann so etwas wie ein "Vatikanstaat". Und die andere Option war: möglichst viele Juden in die ganze Welt zu verstreuen, weil man aus deut- scher Sicht annahm, wenn: wir die deutschen Juden in die Welt vertreiben, dann schürt das anderswo den Antisemitismus und hilft damit unsere antisemi- tischen Politik. Band Wolfgang Benz Von einem starken israelischen Staat träumte kein Mensch, vor dem fürchtete sich kein Mensch, Palästina war gut genug; es gab ja noch eine illegale, von den Nazis geförderte Einwanderung in Palästina während des Krieges. Die Politik lautete: Die Juden müssen unter allen Umständen raus! Egal, wohin die gehen! Sprecher Ob orthodoxer, überzeugter assimilierter oder fanatisch zionistischer Jude -allen war die 1888 erschienene Vision von Theodor Herzl bekannt: Zitator "Der Judenstaat - Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage", der Ent- wurf einer jüdischen Gesellschaftsordnung in Palästina. Sprecherin Zwei mögliche Ziele nennt Herzl: Palästina und Argentinien. Sprecher Es kann nicht Wunder nehmen, wenn Hitler das Buch dieses Juden nicht auf die Verbotsliste setzen lässt, fördert es doch sein Drängen nach einem "judenfreien" Deutschland. In der Bibliothek des vom Hass angefressenen Rebellen aus Brau- nau stehen auch andere Geister. Zitator Heinrich von Treitschke: "Die Juden sind unser Übel" Eugen Dühring: "Die Judenfrage als Rassen-Sitten und Kulturfrage." Martin Luther: "Von den Juden und ihren Lügen" Edouard Drumont: "Das Verjudete Frankreich" Henry Ford: "Der internationale Jude -ein Weltproblem" Theodor Fritsch: "Handbuch der Judenfrage" Paul de Lagarde: Assimilation oder Auswanderung. Juden und Indogermanen Sprecher " ...die jüdische Bevölkerung Südosteuropas ist aus Gründen der deutschen Be- iedlungspolitik nach P a l ä s t i n a oder M a d a g a s k a r umzusiedeln." Sprecherin Originalton de Lagarde 1885 ! Sprecherin Für den "Führer" ist de Lagarde der Prophet einer neuen deutschen Religion. Seine historischen Hintergrundinformationen interessieren ihn wenig. Ihm war nur wichtig, dass dieses Madagaskar möglichst sehr weit von Europa entfernt lag. Wenngleich sich 1937/38 die Einnahmen aus der "Reichsfluch- steuer" auf mehr als 255 Millionen Reichsmark belaufen, ist man mit der jüdischen Bereitschaft zur Auswanderung doch unzufrieden. Für die Historiker Brechtken, Benz und Nachama sind die Ursachen für die "jüdischen Vertrauens- seeligkeit" erklärbar. Band: Magnis Brechtken Für die meisten Menschen, die 1935 die "Nürnberger Gesetze" erdulden muss- ten, war das in der Wahrnehmung so, dass sie dachten: Ja, jetzt haben wir eine Grundlage, wir werden zwar diskriminiert, aber damit können wir uns arran- gieren, und das garantiert uns unsere zukünftiges Überleben in diesem neuen na- tionalsozialistischen Staat. Das waren jüdische Deutsche oder Deutsche jüdi- schen Glaubens...! " Ich bin erst einmal Deutscher und die rassistische Definition, die mir die Nationalsozialisten aufdrücken, die akzeptiere ich nicht...Das ist zwar erbärmlich, aber wir überleben. Dass das nicht das Ende war, das wissen wir heute. Band Andreas Nachama Die Familie meiner Mutter hatte nach Kito die Möglichkeit gehabt auszuwan- dern. Also sie hatten immerhin ein Visum, und mein Großvater, der Vater mei- ner Mutter hat dann zwei Tage bevor die Reise los gehen sollte, sich das Leben genommen, weil er darin keinen Sinn gesehen hatte. Also, ob jetzt Madagaskar oder Südamerika, für viele war das eben keine Alter- native. Sie fühlten sich eben dem europäischen Kulturkreis insbesondere dem deutschen verwurzelt... Sprecherin Dennoch klagten die Aufnahmestaaten über eine Zunahme der Flüchtlings- ströme. Sie fühlten sich überfordert, bedrängt und waren sich darin einig, den Deutschen bei der Lösung ihres Problems nicht zu assistieren. Polens Situation wird zudem heikler, nachdem Deutschland alle Juden mit polnischer Staatsbürgerschaft ausweist. Sprecher Die Völkergemeinde reagierte. Auf Initiative von US- Präsident Franklin D. Roosevelt sollte erstmalig weithin hör- und sichtbar auf die Zustände an Europas Grenzen und Küsten des ameri- kanischen Kontinents verwiesen werden. Sprecherin 6. Juli 1938 Evian-les-Bains, Frankreich. Sprecher Die Welt schaut gebannt auf das kleine am Genfer See gelegene Hotel "Royal". Sprecherin Die Schweiz als Sitz des Völkerbundes weigerte sich aus Rücksicht auf Deutschland diese Tagung auszurichten. Sprecher Der Schweizer Delegierte Rothemund fürchtete zudem eine "Überschwemmung jüdischer Flüchtlinge" in seiner Heimat. Sprecherin Er wird es übrigens auch sein, der später der Reichsregierung empfiehlt, die jüdischen Reisepässe mit dem deutlich sichtbaren Buchstaben "J" zu kenn- zeichnen. Sprecher Myron C. Taylor, der Chef der amerikanischen Delegation und Tagungsleiter, eröffnete vor den Vertretern aus 32 Staaten und drei Dutzend jüdischer und nicht-jüdischer Hilfsorganisationen die "Internationale Flüchtlingskonferenz". Die Sorge gilt den Juden im deutschen Großreich. Sprecherin Wobei während der Tagung vorsorglich das Wort "jüdische Flüchtlinge" ver- mieden wird, und nur Kolumbien war bereit, das Herkunftsland beim Namen zu nennen. Sprecher Nach zehn Tagen war alles vorbei. Die meisten der mehr als 200 akkreditierten Journalisten kabelten ihre Berichte mit den Schlagzeilen nach Hause: Zitator "Die Katastrophe von Evian!" - "Evian-Resultat so dünn wie sein Wasser" Sprecherin Alle Staaten waren - nach grundsätzlicher Sympathieerklärung für die Flücht- linge - bereit, ihr Zuwanderungskontingent einzuhalten, darüber hinaus aber keine weiteren Zugeständnisse machen zu wollen. Sprecher Die Appelle der jüdischen Hilfskomitees, deren Erwartungen und Ansichten zu hoch und zu widersprüchlich waren, hatten keinen Erfolg. Es blieb ihnen allein die ohnmächtige Wut über den unverhohlenen Egoismus der Teilnehmerstaaten und die überbetonte Rücksichtnahem auf Nazi-Deutsch- land. Sprecherin Worauf man sich einigte, war der kleinste Nenner: Sprecher Die Gründung eines Flüchtlingskomitees- " Intergovernmental Committee for Refugees - IGCR". Sprecherin Am 15. Juli liefert "Der Völkische Beobachter" erwartungsgemäß seinen hämi- schen Kommentar: Zitator "Deutschland bietet der Welt seine Juden an. Keiner will sie haben! Sprecherin Auf der anderen Seite schreibt die jüdische Beobachterin Golda Meir, Israels spätere Ministerpräsidentin: Zitatorin "Dazusitzen, in diesem wunderbaren Saal, zuzuhören, wie die Vertreter von 32 Staaten nacheinander aufstanden und erklärten, wie furchtbar gerne sie eine größere Zahl von Flüchtlingen aufnehmen würden und wie schrecklich Leid es ihnen tue, dass sie das leider nicht tun können, war eine erschütternde Er- fahrung. Ich hatte Lust, aufzustehen und sie alle anzuschreien: Wisst ihr denn nicht, dass diese verdammten "Zahlen" menschliche Wesen sind, die den Rest ihres Lebens in Konzentrationslagern oder auf der Flucht rund um den Erdball verbringen müssen wie Aussätzige, wenn ihr sie nicht aufnehmt?" Sprecher Am 9. November brennen in Deutschland 195 Synagogen, mehr als 1500 jü- dische Geschäfte werden geplündert oder zerstört, ihre Besitzer inhaftiert, viele von ihnen ermordet. Sprecher Weniger anrüchig und indiskutabel erwies sich jedoch das Thema "Mada- gaskar", das seit Beginn der 3oiger Jahre bereits von den Polen unablässig mit den Franzosen, der Kolonialmacht von Madagaskar, ventiliert wurde und unter der Regierung des jüdischen Ministerpräsidenten Leon Blume Erfolg zu haben schien. Sprecherin Polen war hartnäckig bestrebt, das Problem der Überbevölkerung durch Ko- lonisierung zu lösen; dass man dabei auch an die dreieinhalb Millionen Juden dachte, versteht sich von selbst. In Evian stand Madagaskar nicht auf der Tagesordnung, aber war natürlich Gegenstand von Pausengesprächen. Sprecher Aber in Deutschland, Jansen und Brechtken weisen daraufhin, wird Madagas- kar drei Tage nach der sogenannten "Reichskristallnacht" bei einer größeren Besprechung im Luftfahrtministerium, an der auch Heydrich und Eichmann teilnehmen, erneut thematisiert. Göring erklärt dabei: Zitator "Hitler will jetzt endlich einen außenpolitischen Vorstoß machen zunächst bei den Mächten, die die Judenfrage aufgeworfen haben, um dann tatsächlich zur Lösung der Madagaskar-Frage zu kommen." Sprecherin Über die Beurteilung der "Flüchtlingskonferenz" ist man sich in der Forschung einig. Der Madagaskarplan allerdings wird kontrovers diskutiert. Band: Magnus Brechtken Evian ist eine vertane Chance. 1938 hatte man eine andere Perspektive. Und die Befürchtung war, dass wenn ein Staat sein Kontingent erhöht, dann so- zusagen eine Art von Sorgwirkung in diese Richtung stattfindet und deshalb wa- ren sie alle sehr vorsichtig. Band Wolfgang Benz Welcher Staat auf dieser Erde ist an Flüchtlingen, an Vertriebenen interessiert, an mehr oder weniger mittellosen Einwanderern...Das ist heute ja nicht anders als es 1938 war. Niemand wollte sie, nicht so sehr weil sie Juden waren, sondern weil es kein Bedarf gibt an Heimatvertriebenen, die irgendwo einwandern wol- len. Band Andreas Nachama Es ging nicht um die Juden Europas, sondern es ging um die Juden Deutsch- lands.... Soll doch Deutschland sehen, wie sie das Problem lösen. Es ist eine Situation, die nur deshalb so surreal ist, weil wir wissen, welches traurige Ergebnis, damals selbst unvorstellbar, nachfolgte. Band Wolfgang Benz Der Madagaskarplan war ein Gedankenspiel, eine Illusion von allem Anfang an, dem haftete nur Fiktionales an. Das war eine Episode in der nationalsozia- listischen Judenpolitik, nicht mehr. Er war niemals ein echter Siedlungsplan. Sprecher Im Gegensatz zu den Historikern, die im Madagaskarplan ein reines Täu- schungsmanöver, gar die Vorstufe zu einem geplanten Holocaust sehen, bezieht Hans Jansen in seinem Buch " Der Madagaskarplan" nicht nur eine differen- ziertere Position, sondern widerspricht all jenen, die diesem "Ansiedlungsplan" eine völlig marginale Bedeutung zugestehen. Jansen schreibt: Zitator Das Scheitern der Konferenz von Evian kam für den deutschen Madagaskarplan wie gerufen: Am 7. Juli 1938 schrieb Wirtschaftsminister Schacht seinem Mi- nisterkollegen Frick einen Brief, der gleichzeitig an alle Spitzenpolitiker und Parteifunktionäre (inklusive Außenminister Ribbentrop) ging. Darin brachte er seine Meinung zum Ausdruck, dass die deutschen Juden zur Auswanderung nach Palästina (unter britischer Verwaltung), nach Äthiopien (unter italienischer Verwaltung) und nach Madagaskar (unter deutscher Obhut) gezwungen werden müssten. Sprecher Betrachtet man Jansens umfangreiche tabellarische Auflistung aller deutschen Aktivitäten im "Fall Madagaskar" von 1933 bis 1941, so kann es sich keines- wegs, wie einige Historiker behaupten, um ein nebensächliches Beschäftigungs- programm für ein, zwei Dutzend Beamte und Parteifunktionäre gehandelt haben. Band Wolfgang Benz Evian ist ein kläglich gescheitertes philanthropisches Projekt. Madagaskar ist ein Vernichtungsprojekt. Sprecher Was Madagaskar betrifft, so weist Benz mit dem Begriff "Vernichtung" zwangsläufig auf Auschwitz hin. Sprecherin Womit er die Position von Daniel Goldhagen vertritt, dem umstrittenen Ana- lytiker und Propagandisten einer "deutschen Kollektivschuld" und der streit- baren Hannah Arendt, die im Madagaskarplan nur den "Deckmantel, unter dem die Vorbereitungen zur physischen Vernichtung der Juden vorangetrieben wur- de", sieht. Sprecher Dagegen positioniert sich der Historiker Uwe Dietrich Adam. Er erkennt diese "insulare Lösung" noch bis in den Herbst 1941 als "Hauptziel und ernsthafte Perspektive der deutschen Judenpolitik". Sprecherin Für ein recht heftiges Beben in der neueren Geschichtsforschung sorgte jedoch schon 1961 vor allem der unbequeme jüdische Historiker Raul Hilberg mit seiner Dissertation " Die Vernichtung der europäischen Juden"; Sprecher Hierin widerspricht er der Theorie von einer "lineare Judenpolitik" der National- sozialisten, und er findet keinen überzeugenden Beleg für den "geplanten Holo- caust als Staatsziel". Als vorrangiges Ziel bis 1941 nennt er die freiwillige bes- ser die erzwungene Emigration. Sprecherin Auch Götz Aly und die Sorbonne-Porfessorin Anne Grynberg schließen sich 1995 dieser Beurteilung an. Grynberg bewertet den "Madagaskarplan als ei- nen der " ernsthaftesten Pläne zur Lösung der Judenfrage in Europa". Sprecher Die Replik von Professor Wolfgang Benz: Band Wolfgang Benz Der "Madagaskarplan" hatte im Gegensatz zur Vernichtungspolitik in den Kon- zentrationslagern und Vernichtungslagern den Vorteil, dass man den ja als ein Siedlungsprojekt verkaufen konnte. Deshalb musste man den nicht geheim hal- ten, sondern konnte sagen: Wir sorgen für die Juden, wir wollen sie los werden und sie an einer entfernten Weltgegend, in einem eigenen Territorium ansiedeln, das hatte ja Tradition, von Judensiedlungsprojekten war immer schon die Rede gewesen. Das war kein philanthropisches Projekt eines Judenstaates, sondern war ein "Mord-Projekt". Es war nicht einmal originell, darüber nachzudenken über ein Territorium, über das man überhaupt nicht verfügen konnte, es war ja französische Kolonie.... Sprecher Daher sprach man auch auf der anderen Seite von einer Aktion n a c h dem ge- wonnnen Krieg, denn ohne Frankreich und Großbritannien besiegt, mit beiden zumindest einen Friedensvertrag ausgehandelt zu haben, war eine solche Unter- nehmung natürlich illusorisch. Hilberg, Aly, Grynberg und Jansen berufen sich auf Fakten. Zitator "Als Frankreich im Sommer 1940 kapitulierte, bezweifelte man nicht, die " "Judenfrage" nach dem Krieg lösen zu können und deshalb bekamen die Ab- teilungen des Reichsaußenministeriums und des Reichssicherheitshaupt- amtes, die mit der Lösung der Judenfrage betraut waren, von ihren Vorgesetzten den Auftrag, den Madagaskarplan auszuarbeiten. Man arbeitete daraufhin, dass in einem Zeitraum von vier Jahren alle europäischen Juden verschifft würden." Sprecherin Zu analysieren und zu lösen waren vor allem die Probleme: Sprecher Wann, wie und durch wen soll der Madagaskarplan realisiert werden. Welche ernsthafte Alternative gibt es? Sprecherin Die von den jüdischen Interessenverbänden, vornehmlich den Zionisten favorisierte "Alternative Palästina" war, nachdem die Briten kein Jota von ihrer Mandatspolitik abzuweichen gedachten, das hieß: keine Verschärfung der Kon- flikte zwischen Arabern und Juden durch zusätzliche jüdische Einwanderung! , vorläufig indiskutabel geworden. Sprecher Die Briten werden ihrem Grundsatz "illegale Einwanderung" abzuwehren bis 1948 auch gnadenlos mit Waffengewalt Nachdruck verleihen. Band Magnus Brechtken Bald gibt es verschiedene Entwürfe und das wird dann in weiten Bereichen der Führung aufgenommen. Hitler spricht mit Mussolini darüber, Ribbentrop spricht mit dem italienischen Außenminister Ciano über das Thema; in der Generalität, Admiralität werden Gerüchte darüber aufgenommen und da beginnt dann im Grunde die Diskussion: Wie realistisch ist das, welche Planung müssen wir da in Angriff nehmen? Heydrich erfährt von diesen Plänen im Auswärtigen Amt und weil er sich als derjenige fühlt, der für die Judenfrage zuständig ist, reißt er diese Verantwortung an sich; die Person, die das dann federführend für Heydrich im Reichssicherheitshauptamt, in Heydrichs Herrschaftsbereich macht, ist Adolf Eichmann. Sprecherin Während Obersturmbannführer Eichmann sich mit dem ihm eigenen Eifer und Ehrgeiz an die Berechnung Trapsortkapazitäten - und Reisekosten macht, Sprecher ...die natürlich von den Juden, ihren inn- und ausländischen Organisationen zu tragen sind, Sprecherin Fahrtrouten und - zeiten zusammenzustellen beginnt - Sprecher er kommt bei einer "Gesamtstückzahl" von 5 Millionen auf 300 pro Tag in ma- ximal vier Jahren, Sprecherin ... wird durch Göring nicht nur die Schaffung einer "Reichzentrale für jüdische Auswanderung" unter Führung Heydrichs angekündigt, Sprecher wobei weiterhin angestrebt wird, den Juden die Organisation ihrer Auswande- rung weitgehend selbst zu überlassen, Sprecherin sondern an Universitäten und Instituten nach Experten für Gutachten gesucht. Sprecher Man findet sie in dem Bevölkerungswissenschaftler Friedrich Bergdörfer vom Bayrischen Statistischen Landesamt und dem Volkswirt Peter-Heinz Seraphim Sprecherin Statistik-Professor Bergdörfer übermittelt Franz Rademacher, Judenreferent im Auswärtigen Amt, am 17. Juli 1940 seinen Bericht" Zur Frage der Umsiedlung von Juden". Die Grundaussage seiner Analyse: Sprecher Gesamtzahl der europäischen Juden 10 Millionen. Nach Abzug der Juden aus dem sowjetrussischen Herrschaftsbereich muss ef- fekiv mit 6,5 Millionen Juden für eine Umsiedlung gerechnet werden. Mit den 3, 8 Millionen Einwohnern von Madagaskar bewegt sich die Gesamt- summe im natürlichen Fassungsvermögen der Insel. Sprecherin Seraphim leistet, in dem er die jüdischen Einwohner der in Frage kommenden Gebiete als "räumlich verschiebbare Masse" darstellt, seinen methodischen und propagandistischen Beitrag. Sprecher Am 2. Juli 1940 veröffentlich Franz Rademacher seinen Plan unter dem Titel " Die Judenfrage im Friedensvertrag". Die Eckpunkte: Zitator Madagaskar soll eine jüdische Wohnstätte unter deutscher Oberhoheit werden. Die Emigration wird Zwangsumsiedlung genannt, von jüdischem Vermögen finanziert und von der SS organisiert. Ein von Himmler eingesetzter Polizei- gouverneur wird die Insel verwalten, die Juden dürfen sich an der lokalen Ver- waltung beteiligen. Band Magnus Brechtken Praktisch ist das ein völlig utopisches Projekt und praktisch ist es im Grunde nichts anderes als die Menschen in den Tod zu schicken. Wenn man jeden Tag 3000 Leute an einer Insel anlandet, die für Europäer quasi unbewohnbar auf Grund der Vegetation und des Klimas, wo es keine Infrastruktur gibt, keine Häuser, keine medizinische Versorgung, keine Straßen, keine Ernährung, keine Landwirtschaft...Wenn man das zu Ende gedacht hätte, wäre einem klar ge- worden, das bedeutet den Tod der meisten Menschen. Sprecher Ein Jahr später überschreitet die deutsche Wehrmacht die Grenzen zur Sowjet- union. England ist nicht besiegt und das Vichy-Regime will Madaxgaskar nicht freigeben. Der Madagaskarplan ist damit -zumindest vorläufig - gegenstands- los. Aber Hitlers Vernichtungswahn wittert einen neuen Tatort - den Osten. Am Ende wird dort tatsächlich das "infernalische Szenario" statt- finden: Auschwitz! Sprecherin Im Schlusswort seiner Dissertation resümiert Magnus Brechtken: Zitator Madagaskar - das hatte den Klang von Größe und Abgeschiedenheit, von Ge- schlossenheit und Überwachbarkeit, von Konzentration, von "Endlösung", ja Erlösung. Eine Insel der Ausgestoßenen, der ausgestoßenen Juden unter dem Signum der Rassenquarantäne. Sprecher Madagaskar! Ein Begriff, der fast den Rang eines Mythos errang. Zwei Stimmen antworten auf den Madagaskarplan: Theodor Herzl und der Poet und Sänger Heinz Rudolf Kunze Zitator "Niemand ist so stark oder reich genug, um ein Volk von einem Wohnort nach einem anderen zu versetzen. Das vermag nur eine Idee. Die Juden haben die ganz Nacht ihrer Geschichte hindurch nicht aufgehört diesen königlichen Traum zu träumen:" Übers Jahr in Jerusalem". Band H. R. Kunze Song" Madagaskar" .... die könnten jetzt doch alle in Madagaskar sitzen schön warm, und überhaupt auch viel mehr Platz der ganze Zweite Weltkrieg ein Gegenteil von Witzen und über unser Land kein böser Satz. Die haben das doch gar nicht gewollt, die wollten doch nichts weiter als die los sein und schließlich war ja außerdem noch Krieg die haben das doch gar nicht gewollt ein Missgeschick, das warn doch auch nur Menschen beim Hobeln fallen Späne für den Sieg. 1