COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. "Schicksalslosigkeit". Zwischen Buchenwald und Budapest. Ein Porträt des ungarischen Schriftstellers Imre Kertész Feature Deutschlandradio Kultur Literatur 3.4.2016, 00.05 Uhr Erstsendetermin: 13.6.1995, 18.35 Uhr Wortspiel Feature für DeutschlandRadio Berlin Regie: Ulrike Brinkmann O-Töne, Zitator (Otto Mellies), Sprecherin (Ute Martin) und Spre- cher (Wolfgang Condrus), Musik von G. Ligety, Streichquartett Nr. 1 (1953/54) Länge: 52.52 min ZITATOR Gott ist Auschwitz (...). MUSIK ZITATOR Gott ist Auschwitz, aber auch der, der mich aus Auschwitz herausführte. MUSIK ZITATOR Gott ist Auschwitz, aber auch der, der mich aus Auschwitz herausführte. Und der mich dazu verpflichtet, ja zwingt, über das alles Rechenschaft abzulegen, weil er hören und wissen will, was er tat. MUSIK SPRECHER Der Schriftsteller Imre Kertész legt Rechenschaft ab für ei- nen Gott, mit dem nicht mehr zu rechnen ist. Dieser Gott ist nicht nur unzurechnungsfähig. Er ist nicht nur blind und taub und stumm und fühllos. Er ist nicht. SPRECHERIN Gott ist tot, spätestens, seit er in den Konzentrationslagern Gestalt angenommen hat. In ihrem Schatten gibt es keine Ge- wißheiten mehr. Kein Glaube, sei er religiös, ästhetisch, po- litisch oder moralisch begründet, vermag den Menschen fortan vor dem Abgrund zu schützen, der sich vor ihm aufgetan hat und auftut. Sinnlos und leer ist sein Dasein. Die menschliche Existenz ist absurd. SPRECHER Imre Kertész ist ein überaus freundlicher Mensch, zuvorkom- mend, liebenswürdig, ja, manchmal gar ganz alte Schule. SPRECHERIN Alte kakanische Schule. Der Schriftsteller ist Ungar und lebt in Budapest. SPRECHER Imre Kertész, geboren 1929 in Budapest, 1944 als Fünfzehnjäh- riger nach Auschwitz deportiert, 1945 aus dem KZ Buchenwald befreit. 1948 Abitur, danach Journalist, seit 1953 freier Schriftsteller und Übersetzer (unter anderem von Elias Canet- ti, Hugo von Hofmannsthal, Sigmund Freud, Friedrich Nietz- sche, Ludwig Wittgenstein). Sein erster Roman "Schicksalslo- sigkeit", erschienen 1975 in Budapest, schildert die Deporta- tion eines vierzehnjährigen Jungen nach Auschwitz und seine Befreiung 1945 in Buchenwald. O-TON (...) wie ich mich so umschaue auf diesem milden, dämmrigen Platz, auf dieser Straße, sturmgepeitscht und doch voll von tausend Verheißungen, da spürte ich bereits, wie in mir die Bereitschaft wächst, sich anhäuft: ich werde es fortsetzen, mein nicht fortsetzbares Leben. Meine Mutter wartet auf mich, und gewiß wird sie sich sehr über mich freuen, die Ärmste. Ich erinnere mich: einst hatte sie den Plan, ich sollte Inge- nieur werden, Arzt oder so etwas Ähnliches. So wird es auch kommen, aller Wahrscheinlichkeit nach, so wie sie es wünscht; es gibt nichts so Sinnloses, daß wir es nicht doch durchle- ben würden, auf natürliche Weise, und auf meinem Weg, das weiß ich bereits, lauert auch, wie eine unausweichliche Fal- le, das Glück. Denn selbst dort, im Schatten der Schornstei- ne, gab es in einer Pause der Qual etwas, das dem Glück äh- nelte. Jeder fragt mich nur nach den Unbilden, den "Greueln": obwohl für mich vielleicht gerade dieses Erlebnis das denk- würdigste bleiben wird. Ja, davon müßte ich ihnen erzählen, vom Glück der Konzentrationslager, beim nächstenmal, wenn sie mich fragen. Falls sie fragen. Und falls ich es selbst nicht vergessen habe. [Mensch ohne Schicksal, 225 f.] MUSIK SPRECHERIN "Schicksalslosigkeit" ist kein autobiographischer Roman. Die neun Kapitel sind jeweils einem Thema gewidmet: Zerfall der Familie durch die Einlieferung des Vaters in ein Arbeitsla- ger, Arbeitsdienst für den Vierzehnjährigen, seine Festnahme, dann die Deportation, Aufenthalte in verschiedenen Konzentra- tionslagern, Alltag im KZ, Todesnähe, Krankenbaracke, Rück- kehr. Stationen, die notwendig und unausweichlich aufeinander folgen. Die streng komponierte Abfolge unterstreicht das ab- solute Übergewicht des Objektiven über das Subjekt: die Form des Romans übersetzt die Erfahrung des Ausgeliefertseins. O-TON Damals, als ich den Roman geschrieben habe, war in der Mode, mit der Zeit zu spielen. (...) Aber dann mußte ich auf der Entscheidung kommen, daß da die Zeit nicht einem Gefangenen gehört, (...) muß man die Handlung linear führen, weil so hat man das erlebt. Nur, und jetzt kam die sprachliche (..) Ent- scheidung, (...) und da habe ich auch gesucht eine Sprache, die keine erzählerische Sprache ist, sondern lieber eine Ge- genwärtigkeit ist als eine Erzählung. Also in der Sprache durfte kein sprachfremde, von diesem Bewußtsein fremde Wort da liegen, und da das Kind, der Erzähler, der spricht, ein Ausgegrenzter war, war auch wichtig, daß die Sprache nicht ihm gehört. Also er spricht eine Sprache, aber er weiß genau, daß er auf dem Rande der Sprache steht (...). [abfangen] SPRECHERIN Immer wieder wird der Leser vor den Kopf gestoßen. Der linea- re Ablauf von "Schicksalslosigkeit" verwehrt ihm die Aus- flucht in die Erinnerung, die spröde Sprache jene in die äs- thetische Freude. Und keine Instanz im Buch, weder der Ich- Erzähler noch eine andere Figur, bietet der so wohlberechtig- ten Empörung des Leser identifikatorischen Unterschlupf. Die Welt der Konzentrationslager, die Imre Kertész schildert, entzieht sich der Moral. O-TON Zwölftonmusik war das Stichwort, weil Zwölftonmusik wirft die Tonalität weg. Und das mußte ich auch machen. Eine Tonalität im Roman bedeutet eine Moral, die auf alle übereinstimmen (...), die die Leute bestimmen. (..) So eine Moral gibt es nicht in den Zeiten des Nazismus. (...) Diese Moralisierung, also diese Haltung, die in Konzentrationslagerromanen immer da sind: Warum ich, ich bin doch so einer wie der andere, wa- rum hat man mich verfolgt usw. Also (..) das muß man ausgren- zen. (...) Ich wollte (..) einen Text machen, einen Text schaffen, als ob das erstes Mal da wäre, wie es erlebt war, also in den Zeiten, wo niemand wußte, was Auschwitz ist und was das alles bedeutet. Darum habe ich auch einen Held ge- wählt, ein Kind. (...) Das Kind sieht ganz objektiv, er rati- onalisiert auch die irrationalsten Dingen. Er ist ein anpas- sungsfähiges Wesen, das Kind, und diese frische Betrachtung, was das Kind hat, ohne Vorurteile. SPRECHER Giörgy Köves begegnet dem Konzentrationslager mit Faszination und Entdeckerfreude. Die neue Welt, in die ihn die Zeitläufte verschlagen haben, soll seine Welt werden. Schrecken oder Entsetzen erweckt das Lager nicht in ihm, denn beide Regungen setzten voraus, daß er es an ihm fremden Normen messen würde. Doch der Vierzehnjährige versucht, das Lager aus sich heraus zu verstehen. SPRECHERIN Seine Haltung ist eine raffinierte Konstruktion. Kertész ver- leiht Köves einen aus der Kindheit überkommenen Blick, der die Ereignisse voll innerer Zustimmung und Vertrauen in ihre Sinnhaftigkeit beobachtet. Zugleich aber möchte Köves ihren Sinn benennen und fragt nach dem Warum der Deportation und den Kriterien der Selektion, nach den Gesetzen des Lagerall- tags, nach denen seiner eigenen allmählichen Hinrichtung - und er findet die Logik im Irrationalen, den Sinn im Sinnlo- sen. An diesem Punkt schlägt die verfremdende Schilderung der Konzentrationslager in ihr Gegenteil um. Die Abwehr des mora- lisierenden Affekts durch die strenge Romankonstruktion ent- rückte die Welt der Konzentrationslager und ließ sie fremd werden. Plötzlich wird sie als Vertrautes kenntlich: als eine menschliche Gesellschaft, in der die Vernunft regiert. ZITATOR (...) im nächsten Moment trat ich an seine Stelle. Mich mus- terte, wie ich sah, der Arzt schon gründlicher, mit einem ab- schätzenden, ernsten und aufmerksamen Blick. (...). Ich emp- fand auch gleich so etwas wie Vertrauen zu dem Arzt, denn er war eine recht gute Erscheinung und hatte ein sympathisches langes glattrasiertes Gesicht, mit eher schmalen Lippen, mit blauen oder grauen, auf alle Fälle hellen, gutmütig dreinbli- ckenden Augen. Ich konnte ihn mir genau ansehen, während er mir die Hände, die in Handschuhen steckten, von beiden Seiten gegen mein Gesicht stützte und mit den Daumen die Haut unter meinen Augen ein wenig nach unten zog - mit Bewegungen, wie ich sie schon daheim bei Ärzten kennengelernt hatte. Zur gleichen Zeit fragte er mit leiser und doch sehr klarer Stim- me, die den gebildeten Menschen verriet: "Wie alt bist du?" Das aber sozusagen wie beiläufig. Ich sagte: "Sechzehn." Er nickte leichthin, aber gewissermaßen nur so als Antwort und nicht als Bestätigung - wenigsten war das damals in der Eile mein Eindruck. Eine andere Beobachtung, vielleicht auch nur eine flüchtige und unrichtige Feststellung war, daß er irgendwie zufrieden, auf eine bestimmte Weise sogar erleich- tert schien; ich hatte das Gefühl, ich gefiel ihm. Und dann, mich mit einer Hand an meinem Gesicht schiebend, mit der an- deren die Richtung weisend, schickte er mich auf die andere Straßenseite, zu den Tauglichen. (...) Von hier aus sah ich auf das, was da auf der andren Stra- ßenseite ablief, aus einem neuen Blickwinkel. Die Menschen- flut wälzte sich ununterbrochen heran, drängte in ein engeres Bett, beschleunigte ihren Lauf und spaltete sich vor dem Arzt in zwei Zweige. (...) Später entdeckte ich ein Stück weiter eine andere Marsch- säule, die der Frauen. Auch sie waren von Soldaten und Sträf- lingen umringt, auch vor ihnen stand ein Arzt, und auch dort lief alles so ab wie hier, mit der einen Ausnahme, daß sie den Oberkörper nicht zu entblößen brauchten, und das war ja ganz natürlich, wenn ich es mir überlegte. Alles bewegte sich, alles funktionierte, jeder war an seinem Platz und tat das Seine, exakt, heiter, reibungslos. Auf vielen Gesichtern sah ich ein Lächeln, bescheiden oder auch selbstsicher, ohne jeden Zweifel oder das Ergebnis schon vorherahnend - also im Grunde doch wieder gleichförmig, ungefähr so, wie ich es zu- vor auf meinem Gesicht gespürt hatte (...). [Mensch ohne Schicksal, 75 f.] SPRECHER Der Vierzehnjährige überlebt die Selektion in Auschwitz, in- dem er sich als Sechzehnjähriger ausgibt; Kinder und Jugend- liche unter 16 werden sofort vergast. Danach erblickt Giörgy Köves an diesem bisher unbekannten Ort mit einem Lächeln ein vertrautes Phänomen: das vernünftige Funktionieren eines ar- beitsteiligen Systems. Unwichtig, daß es sich mit vorzügli- cher Reibungslosigkeit gerade den Entscheidungen zwischen Ar- beitstauglichkeit und Gaskammer widmet. SPRECHERIN Die Vernünftigkeit des Lagers erfuhren nicht nur Kinder und Jugendliche, die ihm noch ohne eigene Maßstäbe ausgeliefert wurden. Ähnlich erging es auch kultivierten Erwachsenen. Der humanistisch gebildete Intellektuelle, schrieb Jean Améry, auch er ein Lagerhäftling, hätte den SS-Staat schließlich als vernünftig empfinden müssen - so "ungeheuerlich und unüber- windlich" türmte sich die Macht der SS vor ihm auf. Seine Bildung verlor nicht einfach ihren Wert für die kreatürliche Existenz, zu der ihn die Herren des Lagers erniedrigten; sie gehörte ihm einfach nicht mehr. Denn mit Goethe, Hölderlin und Beethoven schmückte sich der Feind. Der Intellektuelle, jedenfalls jener ohne politischen oder religiösen Halt, ver- lor seine Identität. Er wurde wehrlos und war dem Tod preis- gegeben. SPRECHER Giörgy Köves dagegen sichert seine Wehrlosigkeit das Überle- ben im Lager: Dank ihr vermag er sich ohne innere Widerstände weitestgehend anzupassen. So formbar war der Vierzehnjährige schon in der Familie. Dort leistete er voll innerer Gleich- gültigkeit den Erwartungen anderer Folge, und nach seiner Verpflichtung zum Arbeitsdienst wurde er ebenso leicht ein unauffälliges Mitglied einer Gemeinschaft von Jugendlichen. SPRECHERIN Die Haltung bleibt, die Orte wechseln. Zwischen Familie, Öf- fentlichkeit und Konzentrationslager bestehen nur graduelle Unterschiede. Aber im KZ vermag der Vierzehnjährige erstmals auszudrücken, was er sein möchte: "ein guter Häftling". Der Willfährige bleibt nicht unbelohnt: geschenkt wird ihm das "Glück der Konzentrationslager". SPRECHER 13 Jahre lagen zwischen dem Entschluß, "Schicksalslosigkeit" zu schreiben, und der Fertigstellung des Manuskripts; Imre Kertész verdiente sein Geld in dieser Zeit mit Theaterstü- cken, Musicals und Übersetzungen aus dem Deutschen. Zum Er- staunen des unbekannten Schriftstellers wurde das Manuskript vom zweiten angeschriebenen ungarischen Staatsverlag angenom- men. Der Roman erschien 1975, wurde aber nicht besprochen und war bald nur noch auf dem Bücherschwarzmarkt erhältlich. 1983 erinnerte ein junger Schriftsteller in einem großen Artikel an "Schicksalslosigkeit". Die Wiederauflage 1985 machte Imre Kertész bekannt, der inzwischen einen Band mit zwei Erzählun- gen publiziert hatte. Die nächsten Veröffentlichungen folgten schnell aufeinander: "Fiasko", Roman 1988, "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind", Roman 1990, "Die englische Flagge", Erzählungen und Essays 1991, "Galeerentagebuch", Aufzeichnun- gen von 1961 - 1991, erschienen 1992. SPRECHERIN Völliges Scheitern, Sklavendasein und Tod - eine Titelsamm- lung voll menschlicher Tragik. MUSIK SPRECHERIN In den Konzentrationslagern fühlte sich der fünfzehnjährige Imre Kertész beschützt. Dieses Vertrauen zu dem Existieren- den, meint er, sei vielleicht nur einem Fünfzehnjährigen ge- geben und besitze schon ein Achtzehnjähriger nicht mehr; in- sofern sei er eine Ausnahme gewesen. Das ist eine erstaunli- che Auskunft: Es waren also nicht die Erinnerungen an Prügel, Krankheiten, erschöpfende Arbeit, Demütigungen und zermürben- den Hunger bis zur gleichgültigen Gewißheit des Todes, die Kertész in den Jahren 1960 - 1973 seinen ersten Roman "Schicksalslosigkeit" schreiben ließen. O-TON Was mich zu diesem Erlebnis zurückgebracht hat, ist eine spä- tere, viel spätere Erfahrung, und zwar die Erfahrungen der 50er Jahren, die Stalin-Zeit (...), und dann der Aufstand in Budapest, der Niederschlag des Aufstandes und was nachher kam. Was nachher kam, also die Anpassung eines Volkes zu ei- ner gegebenen Situation, die ich schon ganz bewußt erlebt ha- be. (..) Das hat mich zurückgebracht (...) zu meiner ur- sprünglichen Erfahrung von einer Diktatur, und da war der ganze Prozeß, der ganze Mechanismus für mich ganz klar. (...) und das brachte mich zurück zu meinem Urerlebnis, zum Auschwitz-Erlebnis. Aber ich betone noch einmal: Wäre ich nach meiner Befreiung in Buchenwald, wie es mir damals ange- boten war, z.B. nach Schweden oder Amerika gefahren, hätte ich dieses Ganze einfach vergessen. In einem Sinne des Wor- tes: also nicht vergessen, daß ich dort gewesen bin, aber das Erlebnis selbst. (...) Diese späteren Jahren haben meine gan- ze Erkenntnis und Wissen von das gegeben, was ich in Auschwitz erlebt habe. (...) Primär bin ich vielleicht nicht ein Auschwitzopfer, primär bin ich ein Künstler, vielleicht, vielleicht ein Schriftsteller, und ich gehe von da aus. Jeder Schriftsteller hat ein - ja, nicht ein einziges Thema, aber (...) ein Leitmotiv (...), also ein Grundthema, das immer wieder zurückkehrt in verschiedenen Formen. Da mein Grunder- lebnis wirklich der Totalitarismus war und der funktionale Mensch, wie ich das im Galeerentagebuch geschrieben habe, ha- be versucht, das zu formulieren, das zu einer Form zu brin- gen. SPRECHERIN Die Leiden im Lager sind eine intellektuelle Rekonstruktion. Aber gilt das nicht von allen Erfahrungen? Der Schriftsteller holt in die Kultur zurück, was sich ihr entgegenstellte, was sie und ihn zu vernichten drohte: die totale Macht, die völ- lige Verfügungsgewalt über den Menschen, die Imre Kertész To- talitarismus nennt. Auschwitz wird so zum Symbol, zu einem Realsymbol: seine Bedeutung beschränkt sich nicht auf die Jahre der NS-Herrschaft. Auschwitz wird zum Symbol des 20. Jahrhunderts. MUSIK SPRECHERIN Auschwitz und der Totalitarismus - in Imre Kertész' Denken, Leben und Kunst sind dies die Signaturen des 20. Jahrhunderts ZITATOR - dieses unablässig diensttuenden Exekutionskommandos. SPRECHERIN Erst durch die Erfahrung des Totalitarismus, des ungarischen Stalinismus nach dem Aufstand von 1956, begreift Imre Kertész seine Zeit in Auschwitz, und mit Hilfe von Auschwitz begreift er seine Gegenwart. Beiden ist die totale Macht gemeinsam, die dem Menschen die Individualität, sein unverwechselbares Schicksal raubt und ihn als Sache funktionalisiert. Will er dies nicht, so bleibt ihm nur eines: ZITATOR "Nein!" SPRECHER ... ist das erste Wort des Erzählers im Roman "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind", erschienen 1990, 15 Jahre nach "Schicksalslosigkeit". "Nein!" ist die impulsive Antwort des Erzählers auf die Bitte seiner Frau, mit ihr ein Kind zu zeu- gen. Bei dieser bloßen Weigerung bleibt es nicht. Weitere "Nein" folgen, eingebettet in einen Monolog von 156 Seiten Länge, den der Erzähler in einer dunklen Nacht - oder sind es mehrere, die einander an Schwärze gleichen? - an die Frau richtet, die sich längst von ihm getrennt hat. Scheint die Logorrhoe zunächst ein Dementi der einleitenden und dann wie- derholten Weigerung zu sein, so ist sie tatsächlich ihre Er- weiterung. Der Erzähler weigert sich nicht nur, ein Kind zu zeugen, es ist ihm in jeder Hinsicht unmöglich, ein "norma- les" Leben zu führen. SPRECHERIN An die Stelle der einfachen Verneinung tritt - im Gewand ei- nes Kaddisch, des jüdischen Trauergesangs für einen Toten - die vergegenwärtigende Kraft einer Biographie, die vom Zwie- spalt zwischen der Weigerung und dem Dennoch gezeichnet ist. Nach und nach entfaltet die atemberaubende, an Thomas Bern- hard erinnernde Suada eine Lebensgeschichte, zu der auch eine Kindheit in Auschwitz gehört. SPRECHER In der Umgebung des Erzählers ist die Internierung durchaus kein besonderes Schicksal. Das erlaubt ein makabres Gesell- schaftsspiel: ZITATOR (...) jemand kam auf den melancholischen Einfall, jeder mö- ge sagen, wo er war, worauf die Namen, wie kraftlose, verein- zelte Tropfen aus einer vorübergezogenen Wolke, zu fallen be- gannen: Mauthausen, Donbogen, Recsk, Sibirien, das Sammelge- fängnis, Ravensbrück, die Fö utca, Andrássy út 60, die Namen der Deportationsdörfer, die Gefängnisse nach 1956, Buchen- wald, Kistarcsa, und schon fürchtete ich, an die Reihe zu kommen, als mir zum Glück jemand zuvorkam: "Auschwitz", sagte jemand im bescheidenen, aber selbstsicheren Tonfall des Sie- gers, und die Gesellschaft nickte: "Unschlagbar", so quit- tierte auch der Hausherr mit einem halb neidischen, halb übelnehmenden, aber zu guter Letzt doch anerkennenden Lä- cheln. Dann tauchte ein damaliger Bestsellertitel auf und ein Bestsellersatz aus dem Buch, Bestseller damals wie heute und wie sicher immer und ewig, der Autor sprach ihn nach dem ge- bührenden, aber natürlich vergeblichen Räuspern, heiser und von Ergriffenheit bewegt aus: "Für Auschwitz gibt es keine Erklärung", so, kurz und bewegt, leise und mit versagender Stimme, und ich erinnere mich an mein Erstaunen, wie diese Gesellschaft, die meisten doch recht gewieft, diesen einfäl- tigen Satz aufgenommen, analysiert, diskutiert hat, wobei sie hinter ihren Masken mit einem pfiffigen oder unentschlossenen oder unverständigen Blinzeln hin und her lugten, als sage dieser alle Aussagen im Keime erstickende Aussagesatz irgend etwas aus, obwohl man nicht gerade ein Wittgenstein zu sein braucht, um zu erkennen, daß der Satz schon in puncto sprach- licher Logik falsch ist, daß sich in ihm höchstens Wünsche, verlogene oder ehrliche kindliche Moralität und verschiedene verdrängte Komplexe spiegeln, davon abgesehen aber besitzt der Satz keinen Aussagewert. (...) dieser unglückliche Satz "Für Auschwitz gibt es keine Erklärung" ist auch eine Erklärung, der unglückliche Autor erklärt damit, daß wir über Auschwitz besser schweigen sol- len, daß Auschwitz nicht existent ist, vielmehr gewesen sei, denn es gibt nur für das keine Erklärung, nicht wahr, was nicht ist oder was nicht gewesen ist. Auschwitz jedoch (...) war, vielmehr, Auschwitz ist existent, also gibt es auch eine Erklärung für Auschwitz, hingegen gibt es gerade keine Erklä- rung dafür, daß Auschwitz nicht gewesen sei, das heißt, es kann keine Erklärung dafür gefunden werden, daß Auschwitz nicht gewesen sei, daß Auschwitz nicht geworden wäre, daß sich in der Tatsache namens "Auschwitz" nicht der Weltgeist realisiert hätte (...), ja, es gibt gerade für die Nicht- Existenz von Auschwitz keine Erklärung, folglich hängt Auschwitz da seit undenklichen Zeiten in der Luft (...) [Kad- disch für ein nicht geborenes Kind, 46f.; 50] SPRECHERIN Auschwitz ist existent - in der Gegenwart. Als Schatten eines Zivilisationsbruchs, aber auch als Gestalt der menschlichen Kultur im 20. Jahrhundert, im sozialistischen Ungarn ebenso wie in den westlichen Staaten. Denn nicht Auschwitz, sondern Herrschaft schlechthin kennzeichnet für den Erzähler in "Kad- disch für ein nicht geborenes Kind" die Welt. Herrschaft, er- innert er sich, verkörperte sich zuerst in der väterlichen Herrschaft. ZITATOR Die Herrschaft ist unanfechtbar, und unanfechtbar sind ihre Gesetze, nach denen wir zu leben haben, wir können diesen Ge- setzen jedoch niemals restlos entsprechen: Vor dem Vater und vor Gott sind wir immer schuldig, sagte ich zu meiner Frau. (...) Auschwitz (...) erschien mir später bloß als Übertrei- bung jener Tugenden, zu denen ich von frühester Kindheit an erzogen worden war. Ja, damals, mit meiner Kindheit, mit der Erziehung begann das unverzeihliche Gebrochenwerden, mein nie überlebtes Überleben, sagte ich zu meiner Frau. Ich war ein mäßig eifriges, nicht immer untadliges Mitglied jener lautlo- sen Verschwörung, die sich gegen mein Leben richtete, sagte ich zu meiner Frau. Auschwitz, sagte ich zu meiner Frau, er- scheint mir im Bild des Vaters, ja die Worte Vater und Auschwitz erzeugen in mir das gleiche Echo, sagte ich zu mei- ner Frau. Und wenn es stimmt, daß Gott ein glorifizierter Va- ter ist, dann hat Gott sich mir im Bild von Auschwitz offen- bart, sagte ich zu meiner Frau. [Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, 145; 146] SPRECHERIN Auschwitz ist kein Betriebsunfall einer Zivilisation, die das Leben verneint, sondern ihr überwältigendes Zeugnis. Hinter der umfassenden Ablehnung jeglicher Herrschaft, die "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind" zeigt, steht eine existentia- listische Auffassung vom Menschen. Sie kennt keine politi- schen, ökonomischen oder kulturellen Erklärungen für die menschliche Existenz. Auch ethnische Kategorien haben für sie keine Bedeutung. Als Jude habe man nur ein Privileg, merkt Imre Kertész im "Galeerentagebuch" mit bitterem Sarkasmus an. ZITATOR Ich habe nie daran gedacht, daß ich Jude bin, ausgenommen die Momente der Bedrohung. (...) Ich habe nie an Religion ge- dacht. Ich verstehe sie einfach nicht, die jüdische Religion ebensowenig wie - beispielsweise - den Buddhismus, die Feuer- anbetung, den Dienst an der Göttin Kali oder das Mormonentum. Aber dank meines Judentums habe ich eine Erfahrung gemacht, und zwar die allumfassende Erfahrung menschlichen Ausgelie- fertseins im Totalitarismus. Wenn ich Jude bin, heißt das al- so, daß ich Negation bin, Negation menschlichen Hochmuts, Ne- gation von Sicherheit, ruhigen Nächten, friedlichem Seelenle- ben, freier Entscheidung, nationaler Selbstherrlichkeit - ich bin die schwarze Seite im Buch der Triumphe, auf die die Schrift nicht durchschlägt, nicht Jude, sondern allumfassende menschliche Verneinung, das Menetekel an der Wand totaler Un- terdrückung. [Galeerentagebuch, 54] MUSIK SPRECHER Imre Kertész verabscheut jede Herrschaft. Zwischen Individuum und Gesellschaft waltet für ihn ein unauflösbarer Gegensatz. Mehrmals findet sich in seinen Büchern eine Notiz aus den Ta- gebüchern von Franz Kafka: ZITATOR (...) alles was möglich ist, geschieht ja; möglich ist nur das, was geschieht. SPRECHERIN Aus diesem geschlossenen Kreislauf von Vernunft und Geschich- te muß, wer Mensch sein will, ausbrechen. Der Mensch hat zu wählen - zwischen Auflehnung und Anpassung, Schicksal und Schicksalslosigkeit. Er hat zu wählen, ob er ein Mensch sein will, oder als funktionaler Mensch vegetieren will. SPRECHER Der funktionale Mensch ist ein Appendix der Macht, er wird darüber zur Sache. Aber auch die Revolte, das bloße "Nein" erkennt die Willkür des Herrschenden als Realität an und fällt ihr so zum Opfer. Wie kann der Mensch der Schicksalslo- sigkeit entkommen und sein eigenes Leben leben? Wie kann das sinnlose Leben zu einem sinnvollen werden? SPRECHERIN Diese Frage beschäftigte auch Albert Camus, und er gab eine Antwort, die Imre Kertész natürlich kennt. Camus forderte, den Wunsch der Vernunft nach Einheit mit einer in sich sinn- losen, chaotischen Welt als unerfüllbar zurückzuweisen - und ohne Hoffnung, nur auf sich selbst vertrauend, den unaufheb- baren Bruch zwischen Welt und Mensch zu ertragen. Dieser jen- seits von Moral und Vernunft gelebte Widerspruch sei die ab- surde Freiheit. Der Absurdität der menschlichen Existenz blickt Imre Kertész hartnäckig ins Auge. In die eher allgemeinen Bestim- mungen von Albert Camus hat er die Katastrophen des Jahrhun- dert eingetragen. Zeugnis von der Auflehnung im sozialisti- schen Ungarn gibt der Band "Galeerentagebuch", in dem Kertész mit existentieller Radikalität bis zur abgrundtiefen Ver- zweiflung die Frage nach dem richtigen Leben umkreist. SPRECHER Bloße Stimmungen, Schnurren oder Alltäglichkeiten finden sich in diesen Aufzeichnungen aus den Jahren 1961 - 1991 nicht. Auch Einblicke in die Schriftstellerwerkstatt fehlen; das 1992 erschienene "Galeerentagebuch" ist kein Arbeitsjournal, wie es Bertolt Brecht, Peter Weiss oder Thomas Mann geführt haben. Imre Kertész nennt die Notate einen "Tagebuchroman", wohl um Distanz zu nehmen von dem nicht nur beiläufig ver- merkten Qualen, von der existentiellen Qualität der Reflexio- nen, die an Begegnungen, Lektüren und Erinnerungen anknüpfen. Tatsächlich ist das "Galeerentagebuch" aus weit umfängliche- ren Heften zusammengestellt; zwischen manchen Eintragungen klaffen Monate des Schweigens. Am ehesten läßt sich dieser ein halbes Leben währende, lebenswichtige Reflexionsprozeß in seiner Mischung aus Alltag und Kunst mit den Tagebüchern Franz Kafkas vergleichen, der immer wieder zitiert wird. Doch Imre Kertész verfährt strenger, philosophischer, seine Ge- währsleute heißen Pascal, Kierkegaard, vor allem Camus. SPRECHERIN "Galeerentagebuch" - der Titel dieser Aufzeichnungen zwingt die Existenz des Rudersklaven mit der intimen schriftlichen Selbstverständigung des bürgerlichen Subjekts zusammen. Eine treffendere Bezeichnung hätte Kertész nicht finden können. Die Einheit dieser zwei gemeinhin für unvereinbar geltenden Existenzweisen zeigt die vorherrschende Form der Aufzeichnun- gen an: die Reflexionen bilden die Figur des Widerspruches nach, die Figur der absurden Freiheit - das Paradoxon. MUSIK [KURZ FREI, DANN UNTERLEGEN] SPRECHERIN Haben Sie noch Hoffnung? ZITATOR Jede Hoffnung ist paradox, allein schon deshalb, weil sie sich - ihrer Natur gemäß - auf die Zukunft (den Tod) richtet. [277] SPRECHER Galeerentagebuch. SPRECHERIN Was bleibt dann? ZITATOR Der wahre Name der Transzendenz: das Nichts. Doch allein des- wegen ist die Transzendenz nicht weniger transzendent. [122] SPRECHER Galeerentagebuch. SPRECHER Aber dennoch sprechen sie von Freiheit. ZITATOR Ist es möglich, die Sinnlosigkeit der Welt, den Gedanken an die totale Vernichtung, die auf unser einmaliges Leben folgt, anzunehmen, ohne daß wir verzweifeln, ja, so daß wir sogar noch Kraft schöpfen aus diesem Gedanken? Hier würde die Frei- heit beginnen. In gewissem Sinne auch die Andacht. [11] SPRECHER Galeerentagebuch. SPRECHERIN Was bleibt dann dem Menschen? ZITATOR Radikal die Phantasie wählen, sein Nest radikal in der freien Luft bauen. Die Möglichkeit eines Sturmes, des Abstürzens einbeziehen, doch diese Möglichkeit so, daß man dabei aus dem eigenen Aufschrei auf eine neue Gleichung für die Luftschwin- gung und die Gesetzmäßigkeit des Schalls schließt. [79] SPRECHER Galeerentagebuch. SPRECHERIN Wenn die Welt leer und ohne Hoffnung ist, deren Name einst Gott oder Moral oder Gerechtigkeit war, liegt dann der Selbstmord nicht nahe? ZITATOR Der mir am meisten gemäße Selbstmord ist, wie es scheint, das Leben. [34] SPRECHER Galeerentagebuch. SPRECHERIN Ist denn alles so hoffnungslos? ZITATOR Gestern abend auf einer dunklen Budaer Straße die Begegnung mit T. Die Lage sei "hoffnungslos". Nun ja. Doch welche Lage ist hoffnungsvoll? Die, in der der Mensch klar unterscheiden kann zwischen sich selbst und der Lage. Wenn der Sumpf mich auch verschlingt, identisch bin ich mit ihm nur als Leiche, nachdem er mich bereits erstickt hat. [179] SPRECHER Galeerentagebuch. SPRECHERIN Was heißt also Freiheit in der verwalteten, durchorganisier- ten Welt? O-TON Ja, ich weiß nicht, was Freiheit überhaupt ist. Was ist Frei- heit? (..) Also, im Sozialismus ein Negativum als erster Schritt. (..) Man zieht sich heraus von der Gewalt, aus dem allgemeinen Gedankenwelt und von Befehlen, von spürbaren oder unspürbaren aber ständig daseienden Befehlen, und dann spürt man sich verloren und ganz bedroht. Das ist der erste Schritt. Der zweite ist - für mich - war zu schreiben, (...) ein Kunstwerk zu schaffen. (...) In dieser Arbeit sind schon die Momente der Freiheit da. SPRECHER Imre Kertész. MUSIK [HOCHZIEHEN, KURZ FREI] SPRECHER In "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind" schreibt sich der Erzähler durch die nahe Vergangenheit, die gescheiterte Ehe, andere Liebesbeziehungen und die Internierung in Auschwitz bis in die Kindheit zurück. Dieses Vergessene holt ein Kugel- schreiber hervor, von dem es heißt, er sei ein Spaten. Dieser Kugelschreiberspaten gräbt nicht nur nach Erinnerungen, er gräbt auch ein Grab in den Wolken - eine Anspielung auf Paul Celans Todesfuge, in der es heißt: "streicht dunkler die Gei- gen dann steigt ihr als Rauch in die Luft/dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng". Das Wolkengrab ist ausgehoben, als der Erinnerungsprozeß in der Kindheit an- gelangt ist: Anfang und Ende, Kindheit und Tod fallen zusam- men. Schreiben ist also ein Versuch der Selbsterkenntnis, der freilich im Augenblick seiner Vollendung nicht den therapeu- tischen Erfolg verheißt, sondern das Ende des Lebens. Leben ist nur möglich im Schaffen; endet das Schreiben und mit ihm das Kunstwerk, endet auch das Leben. ZITATOR Das Kunstwerk geht, wenn es diese Bezeichnung verdient, aus dem Schoß des Todes hervor. Der Tod ist einfach die Moral des Kunstwerks; und, genau überlegt, auch die des Lebens. [Galee- rentagebuch, 76] SPRECHERIN Kunstproduktion und Leben gleichen sich in ihrer Beziehung zum Tod. Dessen illusionslose Anerkennung ist die Bedingung der absurden Freiheit, die der Mensch nur im Handeln, in der Auflehnung erfährt. Auch das künstlerische Schaffen ist solch eine Auflehnung. O-TON In dieser Arbeit sind schon die Momente der Freiheit da. (...) Der Schöpfer selbst, der Schriftsteller oder der Künst- ler selbst, empfindet das schon nicht mehr, wenn das Objekt da ist. Er muß sofort etwas anderes machen. SPRECHERIN Die Kunst oder das Kunstwerk bietet nicht mehr, wie seit dem 18. Jahrhundert behauptet, Freiheit - denn: was ist schon Freiheit. Statt des Produktes, des Kunstwerks, ist für Imre Kertész der Prozeß das Entscheidende. Die Kunstproduktion ist wie das Leben ein auf Dauer gestellter Widerspruch. Der schöpferische Prozeß ist also unendlich, er kennt keine Uto- pie und keine Erlösung im Werk mehr. Die im Schaffen erfahre- ne Freiheit ist stets flüchtig, und sie ist quälend: ist ihr einziges Thema doch die Absurdität der Existenz. Das Kunstwerk schafft für den Spätexistentialisten Kertész keinen neuen (Lebens-) Sinn. Es hält vielmehr das Bewußtsein der Unversöhntheit mit der Welt und die einzige Gewißheit: die des Todes schmerzend wach. Kunstwerke stellen die mannig- faltigen Gestalten des leidenden Bewußtseins dar und sind für dieses - so Albert Camus - eine "Schule der Geduld und der Klarheit". SPRECHER Schreibt der Künstler nur mehr um der höchst individuellen Erfahrung der absurden Freiheit willen? Warum sollen seine Werke dann noch verlegt werden? Warum werden sie gelesen? ZITATOR Der Mensch lebt in ewiger Aussprache, im ewigen Zeichengeben, einem ewigen Dialog, jede Gebärde ist Ausdruck. Und da er sich unablässig 'ausdrückt', bedarf er auch des anderen Pols, der das Ausgedrückte empfängt. Äußere Grenze ist Gott. Die große, fließende Erzählung vom Menschen, in der wir alle un- seren Platz suchen. [Galeerentagebuch, 92] O-TON Es ist keine Frage, ob es den Gott gibt oder es gibt ihn nicht; man muß leben, als ob (...) es ihn gäbe. Das ist für mich Gott (...) - eine Haltung, (..) eine Ethik (...). Der Gott wird in jedem Moment geschafft - oder nicht. Aber diese, wie soll ich sagen, diese Arbeit, das ist sehr wichtig. (...) Wir schaffen Gott, und wenn wir ihn nur einen Moment nicht schaffen, dann gibt ihn nicht. SPRECHERIN Gott ist das Selbstbildnis, das der Mensch als dialogisches Wesen von sich entwirft; eine kollektive Erzählung, in der die Normen menschlichen Zusammenlebens beständig bestätigt oder verworfen werden. Gott ist eine Metapher für die Taten und die Begründungen aller Menschen, sowohl der sich aufleh- nenden wie der funktionalen, und so hat in dieser Metapher neben der Ethik auch die Nichtethik, der Zusammenbruch des Menschenbildes, seinen Platz: Gott ist Auschwitz, aber auch jener, der Imre Kertész aus Auschwitz herausführt. SPRECHER Auch Gott besitzt ein Janusgesicht in einer Welt, die von Ja- nusgesichtern beherrscht wird: Schicksalslosigkeit und Schicksal, Funktion und Auflehnung, Individuum und Kollektiv. Das eine Gesicht Gottes zeigt die Fratze eines unfaßbaren Menschheitsverbrechens, das andere das Bemühen, daraus menschliche Werte zu gewinnen. O-TON Ich meine, daß der Holocaust wirklich keine reine histori- sches Ereignis ist, sondern eine sehr tiefe Verletzung - was: Verletzung also aller Werte, eine Verletzung des Men- schenbildes, das wir haben, hatten!, eine Verletzung wirklich aller Träume und Wirklichkeit, die wir über den Menschen ge- habt hatten. Es ist in einem Sinne alles zusammengebrochen auf ethischem Ebene. (...) Also kurz gesagt, und vielleicht hört sich das ganz also komisch: Es fehlt die Liebe einfach im Leben, es fehlt Gott, (...) also alles, was schöpferisch sein kann. (...) Das ist wirklich eine Tragödie, weil Auschwitz lange nicht mehr nur die Juden treffen, lange nicht mehr nur die Deutschen treffen, lange nicht mehr nur die Tä- ter und die Opfer treffen - also fünfzig Jahre hat bewiesen, daß das wirklich ein Trauma ist, das liegt tief in den Ins- tinkten des heutigen Menschen. Und so eine Verletzung kann man nur mit schöpferischer Arbeit überwinden. (...) So ent- standen im Antiken Religionen, mit solchen Verletzungen. Ver- gessen wir nicht, daß Sigmund Freud glaubt, daß die erste Re- ligionsgefühl kommt von dem Trauma, von dem Vatermord (...) Wir haben gesehen, auch die modernere Religionen wie Chris- tentum und die Mohammedaner, die kommen auch aus einem Trau- ma, die mythisiert wurde. Und Auschwitz ist auf dem Weg, zu einem Mythos zu sein, zu einem Symbol zu sein, das den heuti- gen Zustand des Menschen symbolisiert. Und das spricht uns an wie eine Statue in dem Gedicht von Rilke: Du mußt Dein Leben ändern. SPRECHERIN Der Holocaust wirkt kulturstiftend, ein Aufsatz von Imre Kertész trägt den Titel "Der Holocaust als Kultur". Bedeutet das die Relativierung des Menschheitsverbrechens? Nein, aber eine Relativierung seiner fortdauernden Herrschaft über die Menschen durch Integration in eine Kultur, die er vernichten wollte, und durch einen Schriftsteller, den er fast vernich- tet hätte. Zu dieser Arbeit bekennt sich der Erzähler in Imre Kertész' bisher nicht ins Deutsche übersetztem Roman "Fias- ko": ZITATOR In der Darstellung liegt schließlich eine Macht, in der sich der Aggressionstrieb für einen Augenblick legen, die einen Ausgleich, einen Übergangsfrieden erzeugen kann. Das war es wohl, was ich wollte, ja, zwar nur in der Phantasie und nur mit künstlichen Mitteln, aber ich wollte die Wirklichkeit in meine Gewalt bekommen, die Wirklichkeit, die mich ihrerseits - sehr konkret - in der Gewalt hatte. Ich wollte aus meinem ewigen Objekt-Sein zum Subjekt werden, ich wollte aus einem Bezeichneten zu einem werden, der bezeichnet. MUSIK SPRECHER Heute müssen wir uns Imre Kertész vorstellen als einen glück- lichen Unglücklichen. So, wie er in einer Miniatur einen Men- schen beschrieben hat, der nur er sein kann und doch jemand anders ist - ein Zeugnis des menschlichen Zustands. ZITATOR In letzter Zeit stelle ich mir häufig etwas vor, eine unklare Gestalt, ein menschliches Wesen, einen alterslosen, freilich eher alten oder doch älteren Mann. Er kommt und geht, erle- digt seine Dinge, lebt sein Leben, leidet, liebt, verreist, kehrt heim, manchmal ist er krank, manchmal geht er schwim- men, zu Bekannten oder Karten spielen; zwischendurch jedoch, sobald sich eine freie Minute findet, öffnet er die Tür einer versteckten Zelle, setzt sich rasch - und gleichsam zerstreut - vor ein schäbiges Instrument, schlägt einige Akkorde an und beginnt dann halblaut zu improvisieren, eine weitere von in- zwischen zahllosen Variationen des seit Jahrzehnten gespiel- ten, immer gleichen Themas. Kurz darauf springt er auf, muß gehen - doch sobald sich wieder freie Zeit findet, sehen wir ihn abermals vor dem Instrument, als sei sein Leben nur die notgedrungene Unterbrechung zwischen zwei Spielen. Würden die Töne, die er dem Instrument entlockt, aufstehen und, gleich- sam ineinander verdichtet, in der Luft gefrieren, würden wir vielleicht ein Eiskristallgebilde erblicken, an eine ver- krampfte katatonische Bewegung erinnernd, worin, bei genaue- rer Betrachtung, zweifellos die Hartnäckigkeit einer Aus- drucksabsicht zu erkennen wäre, wenn auch nur die der Monoto- nie, setzten wir sie gar in Noten, könnten wir vermutlich die Umrisse einer sich mehr und mehr verdichtenden Fuge herauslö- sen, die immer entschlossener zu ihrem Ziel durchbricht, da- bei aber dieses Ziel immer weiter fortschreibt, fortstößt von sich, und so wird es dennoch immer ungewisser. - Für wen spielt er? Warum spielt er? Er weiß es selbst nicht. Zudem - und das ist das Merkwürdigste daran - kann er nicht einmal hören, was er spielt. Als habe ihm die gespenstische Kraft, die ihn wieder und wieder an sein Instrument zwingt, das Ge- hör geraubt, damit er allein für sie spiele. - Ob jedoch sie ihn wenigstens hört? (Die Frage, wir sehen es ein, ist sinn- los, aber den Spieler müssen wir uns natürlich glücklich vor- stellen.) [Galeerentagebuch, 317 f.] O-TON Ich ging auf der Straße und hatte eine Vision. Diese Vision - ja, das beschreibe ich jetzt nicht, kann ich auch nicht be- schreiben - das war über einen Menschen, der auf einem Punkt ist, wo er wählen muß: (...) Also weiter so zu leben, so un- bewußt, hin- und hergeworfen, so von einem Moment auf den an- deren, oder eine Existenz zusammenzufassend probieren und das ganze Leben auf dieser Existenz stellen. Liste der zitierten Titel im Feature: "Schicksalslosigkeit". Zwischen Buchenwald und Bu- dapest. Ein Porträt des ungarischen Schriftstellers Imre Kertész von Jörg Plath Sendetermin: 13.6.1995, 18.35 h Imre Kertész: 60 Zeilen aus: Mensch ohne Schicksal, deutsch von Jörg Busch- mann, Rütten und Loening, Berlin 1990 [ich zitiere aus dieser Übersetzung; inzwischen hat der Rowohlt Berlin Verlag eine neue für den Frühjahr 1996 angekündigt und besitzt offen- sichtlich die Rechte für den Titel] 63 Zeilen aus: Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, Aus d.Ungarischen von György Buda und Kristin Schwamm, Rowohlt Berlin 1992 92 Zeilen aus: Galeerentagebuch, Aus d. Ungarischen von Kristin Schwamm, Rowolt Berlin 1993 2 2