COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. "Jeden Abend Krieg!" Wie Marinetti den futuristischen Terror erfand von Dagmar Just Stimmen: Sprecher 1 - Erzähler Sprecher 2 - Kommentar Sprecher 3 ? Alltag, Fakten, Recherche Marinetti (Russolo, Carrà u.a. Futuristen ? dramatisch-magisch- demagogisch) O-Ton Marinetti Die Musik wie die dem futuristischen Geräuschekatalog entlehnten Geräusche sollten anfangs diffus und erst allmählich erkennbar sein, den Text kommentieren, nicht zerstören, ausgenommen im Schlussbild. Musik 1: Richard Strauss: Also sprach Zarathustra, darüber: Sprecher 1: Sommer 1886. Schweiz. Engadin. Sils-Maria. Ein Mann auf einer Bank. Vor ihm tiefblau der See, dahinter das monumentale Alpenpanorama. Von fern Glockenläuten. Dann wieder Stille. Doch der Mann sieht und Hört eine Welt, die explodiert. weiter über dem 'Zarathustra': Sprecher 2: Raum und Zeit expandieren. Nach oben, nach unten, ins Erdinnere. Die Seele. Den Himmel. Alles vermehrt sich nach dem Gesetz der sprin- genden Zahl. Straßen, Schiffahrtslinien, Schienennetze fräsen sich in die Landschaften. Wo eben noch Dörfer waren, sind jetzt Fabriken. Vororte. Ballungsräume. Wo Städte standen, dehnen sich Metropolen. Hochhäuser stoßen im Zeitraffer durch die Wolken. Die Kirchtürme verschwinden unter den Glaskuppeln der Vergnügungspaläste. Neue Transportsysteme sind die Blutbahnen der Unterwelt. Nachts scheint Licht von tausend Sonnen. Pilgerströme ziehen wie einst nach Lourdes oder Mekka zu den Weltausstellungen. Auf der Suche nach Gott oder Gold, dem Schatz der Pharaonen oder der Kunst des Fliegens. Straßen- bahnen verbinden Kaffee- und Kaufhaus. Der Orientexpress Paris und Konstantinopel. Zeitungen füllen die Zeit, Nachrichten den Äther. Einer hat den elektrischen Stuhl erfunden, ein andrer das Dynamit. Die Foto- grafie. Die Espressomaschine. Den Spucknapf. Die Sekretärin. Die Luft hallt wider - nein, nicht von Orgeltönen, sondern vom Klappern der Schreibmaschinen. Autohupen. Brummen der Zeppeline. Ende Musik Gott ist tot, denkt der Mann. Alles muss neu gedacht, die Umwertung der Werte gewagt werden. Sprecher 1: Als Friedrich Nietzsche diesen Begriff prägt, plant er ein Jahrhundert- werk, doch die Krankheit ist schneller. Im Januar 89 bricht der deutsche Zarathustra in Genua zusammen. Sein Hauptwerk kann nur noch posthum, 1906, aus dem Nachlass, unter dem Titel "Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte" erscheinen. Aber ein Italiener nimmt den Stab auf. Jünger, gesünder, dreister als Nietzsche, ruft er im Februar 1909 mit einer berühmt gewordenen Brandrede zur Schlacht um die Zukunft auf: O-Ton Marinetti darüber: Marinetti : "Geben wir uns dem Unbekannten zum Fraß! Wir wollen die Liebe zur Gefahr! Wir wollen Mut! Kühnheit! Empörung! Wir wollen die Schlaflosigkeit! Geräusch 1: (langsam lauter werdende Motorengeräusche eines Autorennens) Die Ohrfeige! Den Faustschlag! Wir erklären: Der Glanz der Welt hat sich um eine neue Schönheit bereichert: die Schnelligkeit! - Jedes aufheulende Auto ist schöner als die Nike von Samothrake!" Sprecher 3: (leise erklärend) berühmte Statue der antiken Siegesgöttin, heute im Louvre. Marinetti: (sich steigernd) "Kein Meisterwerk ohne Aggression! Schönheit gibt es nur noch im Kampf! Wir wollen den Krieg verherrlichen ? diese einzige Hygiene der Welt ? den Militarismus! den Patriotismus! die Zerstörungstat der Anarchisten! Die schönen Ideen, für die man stirbt! Und die Verachtung des Weibs!" Geräusch 2: Baustellengeräusche (Hämmern, Bohren etc), darüber Sprecher 3: Speziell für seine italienischen Landsleute fügt er hinzu: Marinetti: " Lange genug war Italien ein Trödelmarkt! Wir wollen es von seinen unzähligen Museen reinigen , diesen Friedhöfen verlorener Mühen, diesem Golgatha gekreuzigter Träume. Für Invaliden und Gefangene ? meinetwegen. / Wir Futuristen wollen das nicht! O lasst sie kommen, die guten Brandstifter! Ja, steckt die Bibliotheken in Brand! Leitet die Kanäle ab! Überschwemmt die Museen! Lasst die glorreichen Bilder dahintreiben! Nehmt Spitzhacken und Hammer! Untergrabt die Grundmauern der ehrwürdigen Städte!" Sprecher 2: Ein Apostel des Zorns. Wer ist das? Und wer steht hinter dem Wir? Zwei Freunde? Eine Bande? Eine Bewegung? Und Frage aller Fragen: folgen diesen Worten Taten? Sprecher 3: Emilio Filippo Tommaso Marinetti. Ein Mann, dem halb Europa zu Füßen lag. Anfang des letzten Jahrhunderts. Dagegen ist er hier und heute ein weißes Blatt. Fast vergessen - der Ausnahmedichter, begna- dete PR-Manager, hochdekorierte italienische Offizier und Kulturpoli- tiker. Im gesamten deutschen Sprachraum existiert keine komplette Marinetti-Biografie, keine Monographie, keine Werkausgabe. Tauchte sein Name nicht ab und an im Zusammenhang mit Mussolini und bei Wikipaedia auf, es wäre, als hätte er nie gelebt. Aber so könnte es gewesen sein: Musik 2: Hamza Shakkûr: Tartíl du Coran, darüber Sprecher 2: Alexandria. Antiker Welthandelsplatz im Mittelmeer: Theater, Gärten, Prunkbauten, die größte Bibliothek des Altertums, berühmter Leucht- turm, siebtes Weltwunder. Nach der Eroberung durch die Araber ver- sinkt alles im Staub der Zeit. Napoleons Heer findet dort ein Fischer- dorf mit 6000 Einwohnern. Erst als der türkisch-albanische Pascha Mohammad Ali im 19. Jahrhundert einen Kanal zum Nil bauen lässt, erwacht das Dorf wieder und wird zum wichtigsten Umschlagplatz für Baumwolle und Tabak. Rasch steigt seine Einwohnerzahl auf 200 000, Fremde kommen in die Metropole, Alexandria wird zur heimlichen Hauptstadt der Levante. Sprecher 1: Hier wird Marinetti 1876 geboren. Ein Kind zwischen den Zeiten und Kulturen. Seine Mutter die Tochter eines Mailänder Literaturprofessors. Sein Vater - ein erfolgreich für ausländische Firmen operierender Anwalt aus dem Piemont, dessen Vermögen aus ägyptischen Bordells stammen soll. Seine ersten Eindrücke: Marinetti: "Ich begann in Rosa und Schwarz, ein blühendes, gesundes Bübchen zwischen den koksfarbigen Armen und Brüsten meiner sudanesischen Amme." Sprecher 1: Danach hat er alle Freiheiten. Die Düfte des Orients. Die Rufe der Muezzine. Das Gewimmel im Hafen. Die standesgemäße Erziehung durch französische Jesuiten. Sprecher 1: Und der erste Krieg. Er ist sechs, als die Engländer Alexandria bombardieren. Sprecher 2: Mit 15 die erste antiklerikale Aktion: er deklamiert öffentlich Emile Zola. Sprecher 1: Prompt wird er vom Gymnasium geworfen. Musik 3: Jacques Offenbach: Gaîté Parisienne ?letzter Titel VIVO darüber: Marinetti: "Allein in Paris. Siebzehn Jahre. Alle Grissettes des Quartier Latin" Sprecher 1 : Offiziell soll er das Abitur bestehen. Die Bilanz drei Jahre später: Marinetti: "Ein sehr schlechtes Examen in Mathematik. Aber ein triumphales über die Theorien von Stuart Mill" Sprecher 2: Berühmter britischer Nationalökonom und Erfinder des pessimistischen Pendants zu Thomas Morus' schönem Zukunftsstaat "Utopia", genannt "Dystopia". Sprecher 3: Aber Mill ist tot, sein Werk graue Theorie, während Paris gärt. Überall Tumulte und Skandale. Erst die Dreyfusaffäre, dann Ravachols Atten- tatsserie. Dann das Pamphlet des einflussreichen Kunstkritikers Octave Mirbeau ü b e r Ravachol. Dann die Wiederaufnahme des Prozesses mit zweiter Verurteilung und Hinrichtung des Anarchisten. Dann im Früh-ling 93 die große Rache. Auguste Vaillant wirft eine Bombe in die Nationalversammlung. Ende Musik Sprecher 3: (weiter) 32 Tote und 50 Verletzte. Im Sommer landet auch er auf der Guillotine. Das Volk summt dazu ein neues Lied, "La Ravachole", und Vaillant ruft ekstatisch: Mein Tod wird gerächt! "Lang lebe die Anar- chie! Sprecher 2: Wo ist der Siebzehnjährige, den diese Mischung aus militantem Idealismus, öffentlicher Selbstdarstellung und edlem Opfertum nicht beeindruckt? 15 Jahre später kommt Marinetti erfolgreicher als alle Ravachols und Vaillants zusammen auf diese zweite Prägung nach dem Krieg in Alexandria zurück. Sprecher 1: Zuvor studiert er aber noch Jura in Italien und geht danach wieder nach Paris - um Schriftsteller, nicht Anwalt zu werden. Musik 4: Stravinsky: Valse aus: Die Geschichte vom Soldaten, darüber: Er arbeitet als Redaktionssekretär für diverse Zeitungen, sondiert die Kunstszene, bewundert die Symbolisten, sucht Freunde, findet Mento- ren, schreibt Theaterstücke, auch preisgekrönte Gedichte, von Sarah Bernardt intoniert, alles auf französisch; dazwischen gründet er die internationale Literaturzeitschrift "Poesia" in Mailand und tourt mit eigenen Abenden durch italienische und französische Theater. Sprecher 3: Rezitatoren sind die Popstars der Literaturszene ? Sprecher 1: und alle sind sich einig, die ihn damals Baudelaire und Rimbaud, Mallarmé und Verlaine oder später die eignen, schrägen Gedichte vortragen hören ? das ist ein Star. Marinetti: "tlatlack ii ii giii Trrrrrrrtrrrrrr Tatataôo-tatataôo (RÄDER) cuhrrrr cuhrrr guhrrrr (Lokomotive) fufufufufufu tatatatatata zazazazazaza tzatzatzatza? Sprecher 3: Halb romantischer Snob, halb Don Giovanni, ist er der Typ, auf den das Publikum fliegt: schlank, dunkel, markant, edler Zwirn, mondäner Bart, kräftige Stimme, katzenhafte Bewegungen. Perfekter Mix aus Bürger und Bohemian. Raucht wenig. Trinkt mäßig. Einziges Laster: Poesie. Mit ihr auf den Lippen, wird er zum Vulkan, der auf den Nerven seiner Zuhörer wie Rubinstein auf den Tasten seiner Flügel spielt. Furchtlos übt er sich und sein Herz in der Technik, jedermann zu entzücken, zu empören, zu frustrieren. Sprecher 2: "Um zwei Uhr Besuch eines gewissen Marinetti, Leiter einer Zeitschrift für künstlerischen Schund namens Poesia" Sprecher 1: notiert André Gide im Tagebuch: Sprecher 2: "Ein Dummkopf, sehr reich und sehr eingebildet. Kann sich keine Minute zum Schweigen bringen" Sprecher 3: Immerhin landet dieser "Dummkopf" kurz darauf den größten Coup eines Dichters in der abendländischen Kultur- und Geistesgeschichte. Sprecher 1: Die Idee ist verrückt, die Ausführung genial: Sprecher 3: Er kauft den 'Figaro'. Sprecher 1: Ein mit seinem Vater befreundeter Aktionär der konservativen Pariser Tageszeitung "Le Figaro" hatte ihm drei von sechs Spalten auf der Titelseite der Sonntagsausgabe vom 20. Februar 1909 verschafft. Dort platziert er die elf rellischen Parolen seines Manifests als Faustschlag in die Magengrube der rechtskonservativen Leserschaft. Sprecher 2: Ein Italiener in Paris! Sprecher 1: Der gleiche 'Figaro' hatte auch Manifeste der Symbolisten, Texte von Proust, Strindberg, der Scuola Romana veröffentlicht. Aber nie vorher und niemals wieder hat eine Kunst-Aktion derart spektakuläre Folgen. Sprecher 3: Das Timing war perfekt. Synchron erschien das Manifest auf italienisch, portugiesisch, englisch, spanisch, russisch, rumänisch, später auch auf deutsch, japanisch, katalanisch. Noch im gleichen Jahr: das Zweite Manifest mit dem sprichwörtlich gewordenen Titel "Tod dem Mond- schein!" Musik 5: Kahn/ Caruso: Ave Maria (nach schönem Anfang leises Kratzen und langsam leierndes Schnellerwerden) Marinetti: "Ja zum Kriege! Gegen euch, die ihr zu langsam sterbt und gegen all die Toten, die unsere Straßen verstopfen!" Sprecher 1: Adressiert an das in seiner Trägheit wie das Ei im Dotter schwimmende Bürgertum. Marinetti: "Wir jungen und starken Futuristen wollen den Senat durch eine vom Volk gewählte Versammlung von 20 Jugendlichen unter Dreißig erset- zen. Amtsdauer ist auf 12 Jahre begrenzt, und wenn wir selbst vierzig sind, sollen uns andere Männer, jünger und kraftvoller als wir, in den Papierkorb werfen!" Sprecher 3: Ein grandioser Fake, denn hinter Marinettis stolzem "Wir" steht in diesem Februar 1909 eine einzige Person: Marinetti selbst. Ein Napo- leon der Literatur, der im Handstreich nimmt, wovon Generationen von Künstlern vor und nach ihm nur träumen konnten: Die Seele seiner Zeit. Sein Privatfuturismus trifft wie der Funke im Pulverfass auf ein schwelendes Grundgefühl breiter Massen, das er entzündet und verstärkt, bis es sich einem globalen Wüstensturm gleich von den Kunstszenen Italiens über ganz Europa nach Asien und Amerika ausbreitet. Sprecher 1: Die zwei Säulen dieses allgemeinen Grundgefühls: Sprecher 3: Lust auf Zukunft. Sprecher 1: Zukunft nicht als Strafe, Alptraum, Hölle, Damoklesschwert, Schlachtfeld der Barbaren, sondern als neuer, verheißungsvoller Kontinent, unbekannter Planet, Landschaft, überreich an Rätseln, Herausforderungen, Gefahren. Sprecher 2: "Die Zukunft ist für Menschen ohne Gott das einzige Jenseits", sagt Nietzsche. Für die Besserwisser von heute ist futuristische Zukunfts- sehnsucht nurmehr "Modernolatrie: Verherrlichung des modernen Lebens und der neuen Technologien". Sprecher 1: Die andere Säule: Sprecher 3: Vatermord. Der gemeinsame Feind Tradition ? Vergangenheit ? Stagnation. Sprecher 2: Passatismus auf Futuristisch, von passato: vergangen. Geräusch 3: Zuschlagen von Türen, Rascheln, Trampeln, diffuses Stimmengewirr Marinetti: "Schluss mit dem Konservieren und Bewundern alter Bilder und Statuen! Spucken wir jeden Tag auf den Altar der Kunst!" Sprecher 3: Aus dem Manifest der futuristischen Malerei. Marinetti: "Wir sind in den Händen der Bürger/ der Bürokraten/ der Akademiker/. Mit Zeitschriften ist dagegen nichts zu machen/, nur mit Fußtritten!"/ Sprecher 3: Umberto Boccioni. Futuristischer Schriftsteller und Maler. Marinetti: "Für den Futurismus gibt es weder Gesetze, noch Beamte, noch Polizi- sten, noch Kuppler, noch moralische Eunuchen". Sprecher 3: Carlo Carrà. Gelernter Dekorateur und futuristischer Maler. Marinetti: "Die Kurse und Examina unserer Schulen sind Falltüren für die Jugend" Sprecher 3: Enrico Prampolini. Futuristischer Maler, Bühnenbildner, Regisseur. Marinetti: "Wir wollen gegen die neutralen Farben der bürgerlichen Kleidung mit ihren gereihten, karierten und punktierten Mustern und ihren pedanti- schen, teutonischem Schnitt lebhafte Farben erfinden und ungewöhn- liche dynamische Stoffmuster". Sprecher 3: Fortunato Depero. Futuristischer Bühnenbildner, Grafiker und Designer Marinetti: "Die Hauptmerkmale der futuristischen Architektur werden die Baufäl- ligkeit und das Provisorische sein. Jede Generation wird ihre eigne Stadt hervorbringen müssen". Sprecher 3: Antonio Sant'Elia. Futuristischer Architekt. Marinetti: "Jeder gute Futurist hat zwanzigmal pro Tag unhöflich zu sein!" Sprecher 3: Verherrlichen aber soll er: Marinetti: das Flugzeug! die Geschwindigkeit! das Verb im Infinitiv! die sexuelle Freiheit! Die aus ihren Anstalten befreiten Verrückten! die Kunst, die jedem Menschen die Freiheit gibt zu denken, zu schaffen und künstlerisch zu genießen! Sprecher 3: Dagegen soll er verachten - Marinetti: Alles Akademische! Pessimistische! Pazifistische! Den Papst und den Vatikan! Die Ehe und die Frau! - Sprecher 2: Die Frauen sind ein eignes Kapitel - Marinetti: "Ich bestreite nicht den animalischen Wert der Frau, wohl aber die emotionale Bedeutung, die man ihr gibt! Sprecher 2: Im August 1910 hatte Marinetti mit seinem programmatischen Roman "Mafarka, der Futurist" einen öffentlichkeitswirksamen Skandalerfolg inszeniert. Im ersten Kapitel "Die Schändung der Negerinnen" werden schwarze Frauen an einem Teich zusammengetrieben und von den Kriegern des arabischen Helden Mafarka kollektiv vergewaltigt. Die Szene trägt dem Autor eine Gerichtklage wegen Sittlichkeitsvergehen ein. Marinetti wird freigesprochen. Die Medien berichten. Danach macht das neue Wort in ganz Italien die Runde: Futurismus. Sprecher 3: Provokation als Instrument des Marketings oder: das anarchistische Attentat als Kunstaktion ? Marinetti hat diese heute hochaktuelle PR- Technik erfunden und in den berühmten "Serate futuriste" im Teatro Lirico und zahllosen anderen 'locations' perfektioniert. Immer nach dem Motto: "Jeden Abend Krieg!". Sprecher 1: 27. April 1910. Venedig. Romantisches Touristenziel ohne Autos und Fabriken - Musik 6: Di Capua/ Caruso: O sole mio (ab "Wir Futuristen aber? ? leise anschwellende Fabriksirenen bzw. U-Bahn-Geräusche darüber: Sprecher 2: Stadt gewordener Inbegriff des verhassten Vergangenheitskults. Auftritt Marinetti im traditionsreichen Teatro La Fenice. Erster Akt: Publikumsbeschimpfung. Marinetti: "Venezianer!" "Ihr wart einmal unbesiegbare Krieger und geniale Künstler, tüchtige Industrielle und kühne Seefahrer. Heute seid Ihr Hoteldiener, Kuppler, Fremdenführer, Antiquare, Betrüger! Wir Futuristen aber" ? Ab hier: über Caruso die Sirenen- bzw. U-Bahn-Geräusche Marinetti: "Wir wollen ein industrielles und militärisches Venedig, das die Adria beherrscht. Beeilen wir uns, die kleinen, stinkenden Kanäle mit dem Schutt der alten, einstürzenden Paläste zuzuschütten! Verbrennen wir die Gondeln, diese Schaukelstühle für Idioten! Errichten wir bis zum Himmel hinauf Metallbrücken und rauchgekrönte Fabriken als Ersatz für die weichen Kurven der alten Bauten! Es komme das Reich des göttlichen elektrischen Lichts, um Venedig von seinem käuflichen Mondschein möblierter Zimmer zu befreien!" Ende Musik plus Geräusche Sprecher 2: Zweiter Akt: damit die Venezianer die Botschaft noch mal in Ruhe studieren können, lässt er 800 000 Exemplare des Manifests vom Glockenturm auf die Stadt regnen. Dritter Akt: Tumult. Medienhype. Die Macher sind's zufrieden und gehen erst ins Café Savini, dann nach Haus. Sprecher 1: Was in Marinettis Fall von missgünstigen Zeitgenossen als "traditio- nalistisches Nest" beschrieben wird, ein am noblen Mailänder Corso Venezia gelegenes "Museum exotischer Kulturen", wo die Futuristen zwischen "persischen Teppichen, türkischen Vorhängen und ägyp- tischen Möbeln ihre revolutionären Schlachtpläne schmieden." Sprecher 3: Das Publikum reist mit Körben voller Eier und Tomaten durch halb Italien und stellt sich bei Wind und Wetter an die Kassen, um gegen Eintritt die Theaterkriege der Futuristen zu sehen und den Gegner zu spielen. Keine fünf Jahre später werden sie alle freiwillig in jenen anderen Krieg ziehen, wo nicht mehr symbolisch mit Eiern und Tomaten getötet wird, sondern real mit Munition und Giftgas. Sprecher 1: Aber noch ist das Jahr 1913. Letzte Frist, Schon-Zeit für alle Spiele. Marinetti: "Kennt jemand ein lächerlicheres Spektakel als zwanzig Menschen, die sich darauf versteifen, das Miauen einer Violine zu verdoppeln?" - Sprecher 2: Luigi Russolo im Gründungsmanifest der futuristischen Musik. Geräusch 5: (kurze Schläge auf Holz oder Metall) Marinetti: "Bloß fort von hier! / Beethoven und Wagner haben unsere Nerven lange genug gereizt. / Jetzt freuen uns an geschickt kombinierten Geräuschen von Straßenbahnen/ Vergasermotoren / Wagen und kreischenden Menschenmengen Musik 7: Luigi Russolo: Die Kunst der Geräusche N.4 "Gracidatore" , allein Marinetti: "Wir finden Gefallen an der idealen Orchestrierung des Getöses von Rolläden/ auf- und zuschlagender Türen/ Stimmengewirr und Trampeln der Menge/ den verschiedenen Geräuschen von Bahnhöfen/ Elektrizitätswerken/ Untergrundbahnen. Nicht zu vergessen die neuesten Geräusche des modernen Kriegs/ Alle fünf Sekunden Raumaufschlitzen- " Geräusch 5: Detonationen oder Schüsse "Belagerungskanonen Akkord ZANG TUMB TUUUMB Aufruhr von 300 Echos, um ihn mit den Zähnen zu packen zerstückeln unendlich zu zerstreuen" ? Sprecher 3: Russolo teilt die Geräusche in sechs Geräuschfamilien: Dröhnen-Donnern-Knallen /// Pfeifen-Zischen-Schnauben /// Flüstern-Murmeln- Brummen /// Knistern-Knarren-Rascheln /// Schlagen auf Metall-Holz-Leder-Stein und Rufen-Schreien-Stöhnen- Brüllen-Röcheln-Schluchzen von Tieren und Menschen. Musik 8: Russolo, Nr. 5 "Gorgoliatore? - darüber: Sprecher 1: Für diese Geräusche konstruiert Russolo einen sogenannten Geräusch- Intonator. Zuerst einen, dann ein ganzes Orchester, das er nicht weniger als 2000 Zuschauern am 2. Juni 1913 im Teatro Storchi von Modena demonstrierte. Passend zu den neuen Instrumenten kompo- nierte er danach einige Musikstücke, die er natürlich auch nicht Kompositionen, sondern Geräuschspiralen nennt und die so spannende Themen behandeln wie 'Erwachen einer Stadt' oder 'Das Zusammentreffen von Automobilen und Aeroplanen'. Nach langen Proben und Ärger mit der Polizei findet der erste öffentliche Auftritt des Geräuschintonatorenorchesters im völlig überfüllten Mailänder Teatro Dal Verme statt. Ein denkwürdiger Abend, Geräusch 6: Tierlaute, zum Beispiel Löwenbrüllen, Eselrufe, Hunde-oder Katzenjammern, darüber: Sprecher 2: eine typische futuristische Soirée. Sprecher 3 "Schon eine halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn hagelten die ersten Wurfgeschosse aus den Rängen", berichtet ein Pariser Korrespondent. Später erscheinen 23 verschiedenfarbige Kästen auf der Bühne, übersät mit Röhren, Kurbeln und Hebeln, und hinter jedem ein Orchestermusi- ker, blass wegen der bevorstehenden Schlacht. Russolo erhebt den Taktstock. Im Parkett bricht ein ohrenbetäubendes Getöse aus. Eine Stunde halten die Futuristen gleichmütig aus. Dann springt der eine Teil von der Bühne in den Saal und stürzt sich auf die lärmenden Zuschauer, und die Orchestermusiker spielen weiter. Als trainierte Boxer kommen die Futuristen ohne Blessuren davon, während elf Traditionalisten den ärztlichen Notdienst aufsuchen müssen. Sprecher 2: Happenings, die Maßstäbe für die moderne Aktionskunst von Joseph Beyus und Nicki de Saint Phalle bis Valie Export und Rainald Goetz gesetzt haben. Sprecher 3: Allerdings sind diese nur selten archiviert oder kommentiert und nirgends aufgezeichnet. Was man weiß, ist bloss, dass zwischen 1909 und 1916 über 50 Futuristische Manifeste in Italien gedruckt wurden. Ein famoser Versuch, das komplette Leben futuristisch durchzudekli- nieren ?Höhepunkt des Optimismus': Ein Manifest zur "Futuristischen Rekonstruktion des Universums". Sprecher 1: Synchron tourt die von Marinetti finanzierte futuristische Wanderaus- stellung durch Europa. Taktisch klug arrangierte Extraspektakel sorgen für astronomische Besucherzahlen in Paris, London, Berlin, Brüssel, Amsterdam, München, Budapest, Rotterdam, St. Petersburg, Leipzig. Gleichzeitig herrscht selbst in den Kunstavantgarden von To-kyo und Sao Paolo futuristisches Gründungsfieber. Überall kommt es zu Futuristischen Aktionen, und Futuristische Zeitschriften schießen aus dem Boden, um Essays, Fotomontagen, Programme und Manife- ste des futuristischen In- und Auslands zu publizieren. Sprecher 2: Während das politische Europa unaufhaltsam den Trümmern und Toten des ersten Weltkriegs entgegentreibt ? ein typischer Fall von Simulta- nität oder Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Sprecher 3: Aber Marinetti will mehr. Nicht nur die Kunst, alles soll futuristisch werden! Das Zauberwort heißt "Artekratie". Die Futurisierung des Alltags und der Politik soll die Menschheit von Trägheit und Stagnation erlösen. "Kunst und Künstler an die Macht!" lautet das Programm, und spätestens nach Italiens Eintritt in den 1. Weltkrieg zeigt der Millio- närssohn, wie ernst er das meint. Sprecher 1: Zusammen mit anderen Futuristen rückt er zu den "Freiwilligen Radfahrern und Automobilisten" ein. Später wechseln sie zu den Gebirgsjägern, von wo viele mit Tapferkeitsmedaillen zurückkehren. Sprecher 2: Wenn sie zurückkehren. 13 Futuristen bleiben im Krieg, 41werden verwundet. Für die meisten scheint danach alles einfach nur weiterzugehen. Aber der Futurismus hat seine Unschuld verloren. Geräusch 7: Exerzierende bzw. marschierende Soldaten Sprecher 1: Wie der Zauberlehrling ruft Marinetti immer neue Besen hervor. Seit 1914 tritt er gemeinsam mit dem Shootingstar der Sozialisten, Benito Mussolini, in Politveranstaltungen auf. 1918 gründet er die "Futuristisch Politische Partei", auf deren Programm unter anderem die Abschaffung von Monarchie, Papsttum, Grundbesitz steht sowie ? da er inzwischen geheiratet hat, die Ehescheidung neben dem Achtstunden- tag und gleicher Lohn für Männer und Frauen. 1919 werden die "fasci futuristi" von Mussolinis neuer Faschistischer Partei geschluckt. Doch als dieser nach rechts rückt, tritt Marinetti wieder aus, löst seine eigne Partei auf und erklärt in seinem Manifest "Über den Kommunismus hinaus" trotzig, dass er mit den Oktoberrevolutionären zwar sympathi- siert, aber Marinetti: "Der wahre Futurist zerstört, zerstört, zerstört, ohne sich darum zu kümmern, ob das, was er Neues schafft, besser ist als das Alte." Sprecher 1: 1922 wird Mussolini Regierungschef, 1924 Diktator. Im gleichen Jahr lenkt Marinetti ein. Er stellt einen Sammelband "Fascismo e futurismo" zusammen und widmet ihn dem neuen starken Mann. Der Duce nimmt die Friedenspfeife an und belohnt den Kniefall des reumütigen Anar- chisten mit der Ernennungsurkunde zum Faschistischen Kulturminister. 1929 lässt sich der einstige Hassprediger gegen die Frauen, die Ehe und die Akademien sich im Ornat der Königlichen Italienischen Akade- mie an der Seite seiner Gattin fotografieren. Sprecher 2: So enden Helden. Sprecher 3: "Exzellenz Marinetti!" Sprecher 1: lautet denn auch die offizielle Anrede, mit der ihn Gottfried Benn im Namen der Union Nationaler Schriftsteller 34 in Berlin begrüßt. Und weiter: Sprecher 3: "Welche ungeheuren Folgen hatte ihr berühmtes Manifest, welche ungeheure Verwandlung des europäischen Geistes drückte es aus!... Sie hatten das Glück, das vielleicht seit den hellenischen Architekten keinem Künstler mehr zuteil ward, zu erleben, wie Ihre Vorstellungen in Ihrem Volk Geschichte wurden... Wir haben von hier aus verfolgt, wie Ihr Futurismus den Faschismus miterschuf, wie Ihre Stoßtrupps für die Erneuerung Ihres Vaterlands kämpften und fielen und wie aus Ihrem futuristischen Gedankenkreis, seinem Willen, seinen Kampfstaf- feln drei grundlegende Werte des Faschismus aufstiegen: das Schwarz-hemd in der Farbe des Schreckens und des Todes, der Kampfruf 'a noi' und die Faschistische Hymne." Sprecher 2: Auch wenn Marinetti hierzulande inzwischen fast vergessen und sein Futurismus entweder als martialische Geburtszange des Faschismus verachtet oder zum Geheimtipp mutiert ist - die Welt hätte anders ausgesehen ohne ihn. Denn neben den Inszenierungen des italieni- schen Faschismus, des deutschen Nationalsozialismus und der Protestbewegung von 68 hat der Futurismus vor allem die Kunst geprägt, mehr als jede Bewegung vor oder nach ihm. Nicht nur, dass sie ihm den Begriff der Avantgarde oder Techniken wie Montage und Simultaneität verdankt. Er hat alle großen Kunsterfindungen des 20. Jahrhunderts ? vom Expressionismus und Surrealismus über das Bauhaus bis zu den verrückten Maschinen eines Tinguely, Vasarélys Planetarischem Alphabet oder Calders Mobiles, der Musik eines Varèse und der Beatles bis zu Hans Scharouns Architekturphantasien ? mitkreiert. Sprecher 1: Aber der kreative PR-Manager Marinetti bleibt ein Krieger. 66-jährig zieht der Künstleroffizier erneut in den Krieg. Freiwillig. An die Ost- front. Er dichtet auch dort, kommt aber krank zurück, stirbt und wird am 2. Dezember 1944 zum ersten Mal im Familienkreis begraben. Mussolini lässt dem Toten jedoch keine Ruhe und ihn frisch vom Grab weg nach Mailand bringen, dort aufbahren und zum zweiten Mal per Staatsakt begraben. Musik 8/1: Strauss: Zarathustra Sprecher 2: Der Mann auf der Bank in Sils-Maria, im Engadin, in der Schweiz, in der Stille und zeitlosen Schönheit der Alpen ? war es diese Zukunft, die er vorausgesehn hat? Geräusch 8: leise über dem Zarathustra beginnend: Herzschlag, darüber Marinetti: "Auch Nietzsche ist ein deutscher Professor, ein Passatist, der über die Gipfel der thessalischen Gebirge wandelt, die Beine klobig in lange griechische Texte gestemmt." Nun ist nur noch der Herzschlag zu hören. 1