KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR 19.30 Titel der Sendung: "...dass und das andere erst möglich macht." Der bosnische Erzähler Dzevad Karahasan Autor : Cornelia Jentzsch Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 09.01.2015 Besetzung : Sprecherin/ Autorin 0-Ton /Musik Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 "...dass uns der Andere erst möglich macht." Der bosnische Erzähler Dzevad Karahasan Von Cornelia Jentzsch (Erstsendung: 9. Januar 2015, 19.30 Uhr) SPRECHERIN (Autorin) : SPRECHER (Reiseführer) : SPRECHER (Karahasan) : Tontechnik: Redaktion: Sigried Wesener Musik aus Sarajevo / Bosnien: Ensemble Mostar Sevdah Reunion; Amira Medunjamin; Lejla Jusic; Hanka Paldum & Ansambl Cultura; Damir Imamovic, Album "Damir Imamovoc Trio/ Abrasevic Live" (möglichst einfach, eher ethnografisch und auf typischen Instrumenten begleitet) Schreiben in aufgewühlten Grenzregionen zwischen Orient und Okzident. "Die Grenze lehrt, dass uns der Andere erst möglich macht.", schreibt der bosnische Autor Dzevad Karahasan. Er erzählt in seinen Büchern, Essays und Theaterstücken nicht nur über die grausamen Auswirkungen von Grenzen, ihn interessieren jene, die täglich gelebt werden. Karahasan lebt heute in Sarajevo und Graz. Beides sind multikulturelle, multireligiöse und multiethnische Städte im Herzen Europas, die eng verbunden sind mit seiner eigenen Geschichte. In Sarajevo lebten bis zum Krieg, der Jugoslawien auseinandersprengte, viele Religionen und Kulturen auf engstem Raum, nicht nur Tür an Tür, sondern oft sogar in einer einzigen Familie zusammen. Hier mischten sich in einer langen Tradition Abend- und Morgenland: Muslime, Christen, Juden oder Orthodoxe tolerierten sich und heirateten untereinander. Und dennoch konnte nicht verhindert werden, dass "die Mehrzahl der europäischen Grenzen aus der inneren in die äußere Realität gewandert" ist. Sie zeigen sich nicht mehr durch unterschiedliche Regeln bei Tisch oder Feierrituale, sondern manifestieren sich durch militärische Konflikte und Kriege. Dzevad Karahasan weiß aus eigener Erfahrung, dass man Grenzen zunächst im Kopf und dann erst in der Realität aufrichtet. (23.560 Zeichen) O-TON Karahasan : (7/ 20:15-21:10) Ich erkenne Dein Recht auf das Denken, auf das Existieren an - Du erkennst mein Recht auf das Denken, das Existieren an. AUTORIN : ... sagt der bosnische Romanautor, Essayist, Dramatiker und Literaturwissenschaftler Dzevad Karahasan. Aus eigener Erfahrung weiß er, dass ein tolerantes Miteinander von Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturen möglich ist. Musik aus Sarajevo / Bosnien (unterlegen) AUTORIN : Geboren wurde Dzevad Karahasans am 25. Januar 1963 im hauptsächlich kroatisch besiedelten Duvno in Bosnien-Herzegowina. Seine Eltern sind Bosniaken. Obwohl Karahasan muslimischen Glaubens ist, erhielt seine erste Bildung von einem christlichen Franziskaner-Mönch, mit dem er noch heute befreundet ist. Dzevad Karahasans Frau, Dragana Tomasevic, eine Publizistin, ist wiederum keine Muslima, sondern serbisch-orthodoxen Glaubens. Es war für Karahasan einfach nicht ungewöhnlich, dass er als jugendlicher Muslim bei einem erfahrenen Christen in die Lehre ging. O-TON Karahasan : (7/ 7:40-10:40) Wo ich aufgewachsen bin, gab es ein Realgymnasium. Du hast also zwei Stunden wöchentlich Latein, nicht eine Stunde Altgriechisch. Das schien mir irgendwie viel zu wenig. So ging ich zum Franziskanerkloster in Duvno. Dort war damals Fraibo Bagaric [?], ein hochgebildeter, sehr netter Franziskaner. [...] Zwei Mal wöchentlich besuchte ich ihn, lernte mit ihm, von ihm, durch ihn Latein, Altgriechisch und die Katholische Philosophie. Den Augustinus habe ich eigentlich von ihm zu lesen bekommen. Er kannte recht gut auch Thomas von Aquin. Dadurch habe ich auch mein erstes Dossier bei der Geheimpolizei bekommen als kroatischer Nationalist. AUTORIN : Dzevad Karahasans Eltern tolerierten die damalige Neugier und den Wissensdrang ihres Sohnes. O-TON Karahasan : (7/ 7:40-10:40 Fortführung) Mein Vater war ein tiefgläubiger Kommunist, meine Mutter war eine Muslima, eine ruhige gläubige Muslima. Und die beiden fanden es völlig normal. Für meine Mutter kann ich es auch nachvollziehen. Denn im Koran heißt es an einer Stelle: Du musst nach dem Wissen suchen. Du musst nach dem Wissen suchen, wenn es auch in China sein soll. Musik aus Sarajevo / Bosnien AUTORIN : Ein weiterer Grund für die Freisinnigkeit und Offenheit Dzevad Karahasans liegt in der Stadt Sarajevo. Seiner Stadt, in der Karahasan bis zum Bosnien-Krieg 1992 lebte, die er verlassen musste und in der er, neben Graz, heute wieder weitestgehend lebt. Sarajevo besitzt eine in Europa beinahe einmalige Geschichte. Über mehrere Jahrhunderte hinweg siedelten Muslime, Christen, Orthodoxe und Juden in ihren Mauern und kamen friedlich miteinander aus. Sie kannten einander und respektierten sich. SPRECHERIN (Reiseführer) : Alle theoretischen Diskurse darüber, ob Multikulturalität oder Multikonfessionalität möglich sind, werden irrelevant, wenn Sie den Ezan hören, den Gebetsruf des Muezzins, der zum muslimischen Gebet einlädt und der mit dem Läuten der Kathedrale verschmilzt. AUTORIN : ... beschreibt der Reiseführer "Little Global Cities: Sarajevo" die Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas. In diesem unlängst erschienenen Buch erzählen junge Autoren, Journalisten und Fotografen auf Bosnisch, Englisch und Deutsch von ihrer Stadt. Musik aus Sarajevo / Bosnien (unterlegen) AUTORIN : Sarajevo, eingebettet zwischen den Bergen des Dinarischen Gebirges, gehörte lange Zeit zum Osmanischen Reich. Benannt wurde die Stadt nach dem prächtigen Palast eines türkischen Statthalters. Palast heißt auf türkisch "Saray". Musik aus Sarajevo / Bosnien (aus) AUTORIN : Doch erst seit den Schüssen im Sommer 1914 auf der Lateinerbrücke, die den Ersten Weltkrieg auslösten, kennt jeder den Namen der Stadt Sarajevo. Und sollte er ihn zwischenzeitlich vergessen haben, dürfte er ihn spätestens seit1992 wieder erinnern. Die Unabhängigkeitserklärung des souveränen Staates Bosnien und Herzegowina von Jugoslawien führte zum Bosnienkrieg, in dem Sarajevo heftig umkämpft war. Musik aus Sarajevo / Bosnien (unterlegen) AUTORIN : Ihr Miteinander, das Politik und Machtbestreben immer wieder zerstörten, konnten die Bewohner von Sarajevo dennoch lange Zeit bewahren. Sie bauten ihre Häuser nebeneinander, heirateten untereinander - und trotzdem ging jeder in sein Gotteshaus. Moscheen, Kathedralen und Synagogen stehen noch heute in Sarajevo in unmittelbarer Nachbarschaft und zeugen davon. In einer bewahrten Tradition mischten sich in Sarajevo Abend- und Morgenland. Über die Besonderheit seiner Stadt schreibt Dzevad Karahasan im "Tagebuch der Aussiedlung": Musik aus Sarajevo / Bosnien (ausblenden) SPRECHER (Karahasan) : Schon bei ihrer Gründung wurde die Stadt von Menschen dreier monotheistischer Religionen besiedelt - der islamischen, der katholischen und der orthodoxen, und es wurde türkisch, arabisch, bosnisch, kroatisch und serbisch, ungarisch, deutsch und italienisch gesprochen. Dann fanden, fünfzig Jahre später, einige der von den frommen Herrschern Ferdinand und Isabella aus deren spanischen Landen vertriebene Juden Zuflucht in Sarajevo, wobei sie eine vierte monotheistische Religion [...] und eine Anzahl neuer Sprachen in diese Stadt mitbrachten. So wurde Sarajevo zu einem neuen Babylon [...] und eine Stadt, in der man die Gotteshäuser aller vier Buchreligionen mit einem Blick erfassen konnte. AUTORIN : Für Dzevad Karahasan war der religiös Andere niemals fremd oder unverständlich, wie er heute so oft in Europa stigmatisiert wird. Jeder Sarajlijer erlebte im nachbarschaftlichen Miteinander, wie sehr der Andere ein notwendiger Bestandteil der eigenen Existenz ist. Denn indem jeder sehen konnte, wie sein Gegenüber lebte, erfuhr er erst seine eigene Kultur und Religion in ihrer Besonderheit. Ähnliche Menschen, so schrieb Aristoteles, bringen keine Stadt zuwege. SPRECHER (Karahasan) : In einer monokulturellen Umgebung kann man die kulturelle Identität automatisieren und auf die reine Gewohnheit reduzieren, ich nehme an, dass ein Katholik im Vatikan oder ein Muslim in Mekka irgendwann aufhören, ihre religiöse Zugehörigkeit zu empfinden und anfangen, sie wie die Morgendämmerung oder den Lauf des Wassers im Fluss als selbstverständlich vorauszusetzen. In Sarajevo ist die kulturelle Identität dagegen unverbrüchlich mit einer Art sozialen Unbehagens verbunden, weil der soziale Kontext den Menschen in Sarajevo ständig daran erinnert, dass die Welt voll von andersartigen Leuten ist, dass sein Glaube nur einer von vielen ist, dass er und alles Seine nur eine von unzähligen Möglichkeiten im Ozean der göttlichen Allmacht sind. AUTORIN : ... schreibt Dzevad Karahasan in seinem Essayband "Der Schatten der Städte". Viele Jahre lang lehrte Dzevad Karahasan an der Universität in Sarajevo Dramaturgie und Dramengeschichte. Er beschäftigte sich aber nicht nur in der universitären Lehre mit dem Thema Drama, sondern vor allem untersuchte er in seinen Essays und Romanen die Konstitution von Räumen und ihr dramatisches Potenzial. Er entwickelte ein besonderes Gespür für die architektonische Situation der Stadt Sarajevo als poetisch zu deutende Bühne menschlichen Zusammenlebens. Niemand anders als die Bewohner gaben ihr über die Jahrhunderte hinweg ein eigenes Gesicht, was sich für jeden Besucher in Sarajevos unverwechselbarer traditioneller Architektur und Baukunst zeigt. Der Reiseführer "Little Global Cities: Sarajevo" gibt eine Ahnung davon: SPRECHER (Reiseführer) : Worin liegt der Charme des Orients, der in Sarajevo beginnt und dem das Abendland nicht widerstehen kann? Hier gibt es keine Pläne, die rationalen Überlegungen entspringen, es ist alles eine Sache der Improvisation. Ein Resultat spontaner Ideen und vorübergehender Bedürfnisse. Es existiert keine klare Achse, keine absolute Symmetrie. Nicht einmal die Baupläne wurden korrekt ausgeführt. Es zeigt sich der Wunsch der Menschen nach Befriedigung. Eine Komposition, die im Westen nach Logik und Plan gelehrt und ausgeführt wird, gedeiht hier aus einem Mosaik aus vielen Teilen, jedes das Resultat unterschiedlicher Ansprüche und wandelbarer Improvisationen, aber alle die Sinne ansprechend. AUTORIN : Zur unverwechselbaren alten Architektur Sarajevos gehören vor allem die Mahalas, die Stadtviertel. Jede Religion und Kultur besaß eine eigene Mahala. In der Moschee oder der Kirche oder im lokalen Café der Mahala traf man sich und tauschte sich aus, ebenso wie auf dem zentralen Platz, dem meydan, und dem Markt, dem çarsi. Die öffentlichen Begegnungsräume halfen, eine gemeinsame Identität herzustellen. SPRECHER (Karahasan) : Diese Mahalas sind in Sarajevo strahlenförmig um das Zentrum angeordnet, so dass sich auf der einen Seite die muslimische Mahala Vratnik befindet, auf der anderen Seite die katholische Mahala Latinluk, auf der dritten die orthodoxe Mahala Taslihan, auf der vierten die jüdische Mahala Bjelave; zwischen diesen großen liegen kleinere Mahalas (Bistrik, Mejtas, Kovaci), so wie die großen ebenfalls durch je eine Religion, eine Sprache, ein Brauchtumsystem definiert. AUTORIN : Dzevad Karahasan verweist auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem Raum des Eigenen und dem Raum des Gemeinsamen, das erst einen funktionierenden Stadtorganismus schafft. Das ist das einfache Geheimnis dieses jahrhundertelangen Miteinanders. SPRECHER (Karahasan): Das Zentrum der Stadt bildet die Carsija, ein Gebiet, in dem man nicht wohnt, sondern das Werkstätten, Läden und anderen Formen des Wirtschaftstreibens vorbehalten ist. Das Innen ist immer offen, semantisch offen, weil es potentiell alles in sich birgt, was im Außen möglich ist. Auf der Carsija artikuliert und realisiert jede der Kulturen ihre universelle Komponente, weil auf der Carsija allgemeinmenschliche Werte realisiert werden, wie sie nun einmal jede Kultur in sich birgt - es wird gehandelt und damit die ökonomische Existenzgrundlage in dieser Welt gesichert, und zugleich werden auf der Carsija menschliche Solidarität und Kommunikation und Offenheit mit und gegenüber Anderen gepflegt. Bei allen zwischen ihnen bestehenden Unterschieden ist auf der Carsija jeder nur Mensch und Sarajlijer, Kaufmann oder Handwerker. Deshalb ist die Carsija, das Zentrum der Stadt, das reine Innen und das reine Offene. AUTORIN : Das religiös und kulturell vermischte wie andererseits partiell eigenständige Sarajevo war, so besehen, fast so etwas wie eine humanistische Modell-Stadt der Zukunft. Geprägt von Unterschieden, die sich ausleben dürfen, und Respekt vor dem Anderen, der nicht eingefordert, sondern freiwillig gegeben wird, wie Dzevad Karahasan betont: O-TON Karahasan : (7/ 20:15-21:10) Wir öffnen uns gegenseitig. Ich erkenne Dein Recht auf das Denken, auf das Existieren an - Du erkennst mein Recht auf das Denken, das Existieren an. Wir beide sind uns einig, dass wir falsch denken, oder dass wir das Recht haben, falsch zu denken. Und dann beginnt das Gespräch. Musik aus Sarajevo / Bosnien AUTORIN : In den "Berichten aus der dunklen Welt", einem weiteren seiner Essaybände, erzählt Dzevad Karahasan jedoch auch von einem anderen Beispiel aus dem 8. Jahrhundert. Obwohl in der beschriebenen Begegnung sowohl Okzident als auch Orient versuchten, sich einander anzunähern, waren beide Seiten nicht in der Lage, sich zu öffnen und den Anderen in seiner Besonderheit zu erkennen. Geschweige denn in irgendeiner Form einen Dialog miteinander zu führen. Es mangelte an der notwendigen Aufmerksamkeit für den Fremden und der menschlichen Neugier auf dessen besondere Lebenswelt. Der angestrebte Dialog wurde zu einem doppelten Monolog. Was war geschehen? Karl der Große hatte diplomatischen Kontakt zum Kalifen von Bagdad, Harun al Raschid aufgenommen und eine Delegation nach Bagdad gesandt. Sie kehrte nach vier Jahren Aufenthalt mit Geschenken zurück. Über diese Geschenke berichtete die jeweilige Geschichtsschreibung völlig konträr. O-TON Karahasan : (4/ ab ca. 24:00) Von den Kostbarkeiten, die von Bagdad die Reise nach Norden antraten, hat eine Uhr den größten Widerhall in den orientalischen Chroniken gefunden; tatsächlich ein Wunder an technischem Sachverstand, zeugte sie von höchster Handwerkskunst und konnte zu jener Zeit nur in Bagdad entstanden sein. AUTORIN : Bagdad war damals Zentrum einer blühenden Wissenschaft und Kultur. Nicht zuletzt dank der weitsichtigen Politik Harun al Rashids entstanden in Medizin, Mathematik, Astronomie, Chemie, Philosophie und Literatur Werke, die modern, neu und wegweisend weit über den Orient hinaus waren. Noch heute ist dieser Einfluss in der deutschen Sprache sichtbar, die Worte Algebra, Alchemie, Alkoven, Alkohol oder Alkalien enthalten die arabische Vorsilbe al. Offenbar konnte Karl der Große und sein Hof aber wenig mit diesen neuen Erkenntnissen anfangen, denn: O-TON Karahasan : (4/ ab ca. 24:00) Europäische Chroniken und Geschichtsbücher erwähnen diese Uhr gelegentlich, beschreiben sie aber nicht [...] Warum sollte man sich mit einer Uhr beschäftigen? Wozu ist diese virtuose Sinnlosigkeit gut, ein Mensch kann doch auch ohne solche Schmuckstücke die Tageszeit abschätzen! So etwas mag verweichlichte oder dem Luxus ergebene, dekadente Menschen im Süden erfreuen, aber der männlichen Ernsthaftigkeit der tapferen Krieger, von denen die europäischen Chroniken berichten, widerstrebte es, die Zeit in Scheiben zu schneiden, als sei sie ein Laib Brot oder ein Kalbsbraten. Die europäischen Quellen schenkten nur einem der vielen kostbaren Geschenke Aufmerksamkeit, und das war ein Elefant namens Abul-Abbas, über den spannende Geschichten in Umlauf kamen. AUTORIN : So sah eine jede Seite nur das, was ihr selbst am wichtigsten war. Die orientalische Seite war stolz auf Uhr und Wissenschaft, Elefanten hingegen gehörten zum normalen Alltag. Die europäische Seite bewunderte das riesige exotische Tier, konnte jedoch mit der vergleichsweise kleinen Uhr nichts anfangen. Dzevad Karahasans verwundert die Ignoranz in den Niederschriften: O-TON Karahasan : (4/ ab ca. 24:00) In keinem Dokument, das mir in die Finger kam, habe ich einen einzigen Satz oder Ausdruck gelesen, der auch nur das leiseste Interesse für die an den Ereignissen beteiligten Menschen oder gar für die Menschen und Verhältnisse der anderen Seite verraten hätte. Musik aus Sarajevo / Bosnien AUTORIN : Es sind notwendige Fragen nach dem Menschen - nach einem Lebewesen überhaupt - hinter all den Insignien und faktischen Geschehnissen. Ohne diese Fragen nach den einfachsten Bedürfnissen wird man den Anderen nicht erkennen und seine Welt nicht begreifen können. Dzevad Karahasans literarische Spurensuche geht deshalb auch immer wieder in die Innenwelten, die inneren Räume, wo sich der Andere von Grund auf konstituiert und seine Bedürfnisse formt. In der Stadt Sarajevo sind dies vor allem die Häuser ihrer Bewohner. Die traditionellen typisch bosnischen Häuser, wie sie Dzevad Karahasan liebevoll beschreibt, beginnen im Hof, einem halb öffentlichen und mit Brunnen oder Beet noch an die Natur angeschlossenen Raum. Danach kommt man auf dem Weg ins Haus als Nächstes auf die Veranda ... O-TON Karahasan : (4/ ca. 2:00) ... genannt Divanhana, in den Teil des Hauses, der dem geschlossenen Raum ein Stück näher und der Natur einen Schritt ferner steht als der Hof. Die Veranda ist überdacht und liegt einige Stufen über der Erde. AUTORIN : Noch riecht man hier die Düfte der nahen Bäckerei, aber dazu auch bereits die Essensdüfte aus der Küche und den Quittengeruch aus den Schränken des Hauses wie den Duft des Heus unterm Hausdach. O-TON Karahasan : (4/ ca. 3:45) Und dann betritt man [...| den sogenannten Männerteil des Hauses, in dem die Familie mit Verwandten, Freunden und sogar Fremden zusammensitzt, [...] dieser Bereich ist bereits vollständig von der Natur getrennt, vom Universum geschieden, gegen Himmel, Wasser und Wetter, wilde Tiere und den offenen Horizont abgeschirmt... AUTORIN : Und schließlich gelangt man zum Eigentlichen des Hauses. Denn hat man den Männerteil durchquert ... O-TON Karahasan : (4/ ca. 4:30) ... tritt man in den geschlossenen Frauenbereich ein, in dem sich Frau und Kinder aufhalten, in eine geschützte intime Welt, in der man sich liebt, krank ist, Kinder gebiert, in der man seine Ängste und Sorgen ablädt, Rat und Trost sucht, in der man, vermittelt durch die Mutter, die ersten Eindrücke von und die ersten Ausdrücke für die Welt und das Leben empfängt. Dort wohnt die Seele des Hauses. Aufgrund dieser Beschreibung könnte man sagen, dass das bosnische Haus wie eine rote Zwiebel aus einer Reihe von Schichten besteht, die eine nach der anderen in ein Inneres führen, welches sie zugleich einschließen und beschützen. AUTORIN : Lauscht man dem Autor Dzevad Karahasan, wenn er über die Stadt und ihre Menschen spricht, ahnt man den entsetzlichen Verlust, der die Bewohner Sarajevos mit dem Krieg von 1992 traf. Viele verloren nahe Angehörige, viele ihr Zuhause. Die Sarajlijer befinden sich, so beschreibt es Karahasan, seitdem nicht mehr in einem geschützten Raum, sondern in einem trostlosen Grenzgebiet... O-TON Karahasan : (Gespräch Buchmesse) ... zwischen einer Welt, dem Westen, einer Welt, die immer noch funktioniert, die klare Formen hat. Und einer anderen Welt, seiner eigenen Vergangenheit, die bereits ihre Form verliert. Ohne Form sind wir Menschen nicht imstande, etwas zu begreifen. AUTORIN : Die Bewohner Sarajevos verloren mit den Menschen und der Stadt auch ihre Gespräche mit ihrer Vergangenheit. Dass als eines der ersten Gebäude gezielt das Orientalische Institut zerstört wurde, hält Karahasan für keinen Zufall. Er schreibt in seinem Essayband "Buch der Gärten": SPRECHER Karahasan : Im Orientalischen Institut wurden Hunderttausende Dokumente von unschätzbarem historiografischem Wert aufbewahrt, Dokumente, ohne die man buchstäblich keine Geschichte dieser Region schreiben kann [...] Auch diejenigen, die die Stadt zerstören, können ihre Vergangenheit einzig aus den hier aufbewahrten Dokumenten erfahren, auch sie werden das zuverlässigen Gedächtnis und die Möglichkeit verlieren, ihr Gedächtnis zu überprüfen, wenn sie dies alles vernichten. AUTORIN : Ebenso verloren und unlebbar ist auch die Gegenwart geworden. Menschen, die lange durch ihren Alltag zueinander gehörten, wurden brutal voneinander losgerissen. Und damit gewissermaßen auch von sich selbst. O-TON Karahasan : (Gespräch Buchmesse) Das Schlimme an Kriegen ist eben, das die Gesellschaft immer weiter zersplittert. Im Sommer 91 waren wir immer noch alle Jugoslawen, 22 Millionen Menschen, im Herbst 91 waren wir schon Slowenen, Kroaten, Serben, Bosnier und so weiter. Heute fragt man sich, wenn ich nach Sarajevo zurückkomme, frage ich mich, ob ich überhaupt noch zu dieser Welt gehöre. AUTORIN : Deshalb geht Dzevad Karahasan in seinen nach dem Krieg entstandenen Erzählungen und Romanen - "Schahrijars Ring" von 1997, "Sara und Serafina" von 1999 und "Der nächtliche Rat" von 2005 - auf die Suche nach einer gemeinsamen Vergangenheit, nach der einstigen Stadt Sarajevo, die, wie er sagt, jetzt aus der Realität in die Literatur gewandert ist. Seine Romanfiguren führen Gespräche mit jenen, die nicht mehr auf dieser Welt sind. Deren Erfahrungen, Erlebnisse, Erschütterungen und grausame Todesarten aber noch immer spürbar anwesend bleiben und sich nicht vergessen lassen wollen. Musik aus Sarajevo / Bosnien AUTORIN : In Dzevad Karahasans Roman "Der nächtliche Rat" kehrt Simon aus Berlin in seine bosnische, vom Krieg gezeichnete Stadt Foca zurück. Im Haus seiner Eltern findet er den Keller seltsam verschlossen vor. Als er sich später unerwartet öffnet, erweist sich dieser Raum unter der Erde als das zwischen Hölle und Paradies gelegene Zwischenreich Barzakh. Hier warten die im Krieg ermordete Einwohner Focas auf denjenigen, der sie noch einmal ermordet und von ihren traumatischen Ereignissen erlöst, damit sie sich zur endgültigen Ruhe legen können. Noch einmal ermorden, das bedeutet: sie zu vergessen. Doch dafür ist Simon nicht bereit. Vielmehr entschließt er sich, dass er .... SPRECHER Karahasan : ... in den Keller hinuntergehen und die Kellertür hinter sich zumachen, das Licht löschen und im Dunkeln [...] durch diese Tür gehen würde, die nach allem zu urteilen nur für ihn aus dem Nichts aufgetaucht war [...] Er konnte sie nicht aufs Neue umbringen, doch leben konnte er, nachdem er sie gesehen hatte, auf dieser Welt auch nicht mehr [...] er würde zu ihnen gehen, um mit ihnen zu leiden, lebendig, aber fähig, zu empfinden und zu verstehen. AUTORIN : Im Roman "Schahrijahrs Ring", kurz nach dem Krieg und früher als der Roman "Der nächtliche Rat" entstanden, nähert sich Dzevad Karahasan unter der Wucht des Geschehenen noch mittelbar den grausamen Zerstörungen menschlichen Zusammenlebens. Er erzählt - analog zu den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht - die Geschichte zweier Liebender. Aber vor allem schildert er die Geschichte derer, die nicht wie politisch oder ökonomisch Mächtige der blanken Materialität und dem rationalen Zweckdienst anhängen, sondern die den sinnlichen Reichtum der Kulturen weitertragen und dem Humanen verpflichtet sind. Karahasans Erzählweise kommt aus der Tradition der sinnesfreudigen orientalischen Literatur und Lebensart. Handlungen werden immer wieder ergänzt von philosophischen Gesprächen über das Leben und die wahrhaftigste Art, in ihm zu bestehen. In die Geschichte von Azra und Faruk aus Sarajevo - hier erzählt anders als in Tausendundeiner Nacht vor allem der Mann - bettet Karahasan zwei weitere Geschichten ein. Aus jenen Zeiten, die unter unserer heutigen liegen und die Karahasan gläsern und durchsichtig werden lässt. Wir können durch den Orient und durch Babylonien bis tief auf den Boden unserer heutigen europäischen Existenz schauen. Denn unter allem liegt eine gemeinsame Quelle von Islam, Christen- und Judentum. Die erste Subgeschichte berichtet von Figani, einem jungen osmanischen Dichter aus dem 16. Jahrhundert, er hat tatsächlich gelebt und wurde für seine Gedichte ermordet. Figani übersetzt eine alte babylonische Schriftrolle. Auf ihr wiederum steht die zweite Subgeschichte von einem Dschinn und einer Menschenfrau aus Uruk geschrieben. Auch der den Menschen fremde Dschinn wird ermordet. Dieser babylonische Dschinn gehörte zu jenen vorislamischen Naturgeistern, die in sich zwiefach sind, denn sie sind... SPRECHER (Karahasan): ... Helligkeit und Feuer, sie fügen dem Körper die Erinnerung hinzu und verweisen die Erinnerung darauf, dass sie einen Körper braucht [...| ihnen ist daran gelegen, stets an die andere Seite zu erinnern und das Ganze zu bewahren. Deshalb sind sie überall Fremde und überall eine Störung, vor allem in Zeiten, in denen die bösen Dschinns die Übermacht gewinnen. Fast scheint es, als gehörten auch die Dichter zu diesen Dschinns, als wären diese Dschinns das uralte Alter Ego all derjenigen, die stets das Ganze sehen, aber eingeschlossen in den Teilen leben müssen. Bosnisches Lied: "Kraj tanana sadrvana" (Bosnische Sevdalinka nach Heinrich Heines "Lied vom Asra") 1