COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Zeitreisen 7. Juli 2010 Wie man die Hölle überlebt John Noble - ein Amerikaner in sowjetischen Lagern von Winfried Sträter (gekürzte und bearbeitete Whg. von DLF-Feature 30. 1. 2007) Sprecher 1 Im Januar 1955 sitzt ein hagerer Mann in West-Berlin in einer Pressekonferenz und soll Journalisten aus aller Welt berichten, was er hinter sich hat. Doch er sagt nicht viel, er ist noch voller Angst vor jedem falschen Wort. O-Ton (Pressekonferenz 1955) Mr. Noble, what would you say is the worst thing that happened to you in the 9 1/2 years? The worst thing actually is falling in the Soviet hands. Because who is once there hardly has a chance to get out of them. Sprecher 2 (Übersetzer) Das Schlimmste ist, den Sowjets in die Hände zu fallen. Denn da hat man kaum eine Chance, ihnen zu entkommen. Sprecher 1 John Noble. Amerikaner. 1955. 31 Jahre alt, der Hölle entkommen. Einer der ganz wenigen. Dem RIAS sagt er: O-Ton (RIAS-Interview 1955) Also, eine berechtigte Hoffnung habe ich natürlich nicht gehabt. Es war ein inneres Vertrauen, was mich aufrecht erhielt und immer noch daran glauben ließ, dass es vielleicht möglich wäre. An sich hat niemand geglaubt, dass er wieder von Workuta wegkommen würde. Sprecher 1 Kriegsende 1945. Am 7. und 8. Mai 1945 besetzen Einheiten der Roten Armee Dresden, wo die Familie von John Noble lebt. Die Nobles sind amerikanische Staatsbürger. Auf dem Grundstück ihrer Villa hissen sie die amerikanische Flagge - wirksamer Schutz vor marodierenden Soldaten. Johns Vater Charles Noble ist Inhaber einer Firma, die Fotoapparate herstellt. Die Firma hat den Krieg heil überstanden, kann weiter produzieren und bekommt auch gleich einen Großauftrag von der sowjetischen Besatzungsmacht. O-Ton (Interview 22.3. 2006) Als ich dann mit meinem Vater nach Jena fuhr, um Objektive für die Kameras sicherzustellen, fuhren wir weiter nach Kassel, wo das amerikanische Hauptquartier war, und dort wurde uns gesagt, ihr braucht keine Sorge zu haben, denn für die Sowjets ist die Oder-Neiße-Linie als endgültige Grenze festgesetzt. Sodass das Dresdner Gebiet wieder frei wird. Sprecher 1 Im Sommer 1945 geht die amerikanische Regierung noch davon aus, dass Deutschland einheitlich regiert werden wird, von allen Siegermächten gemeinsam. Deshalb der Hinweis der US-Behörden, der sowjetische Machtbereich beginne erst hinter der Oder-Neiße-Linie. Die Eltern John Nobles waren 1921 aus Deutschland in die USA ausgewandert. Johns Vater Charles hatte in Detroit ein Fotolabor übernommen und daraus eine der größten Foto- und Kopieranstalten der USA gemacht. Wegen der Chemikalien- Dämpfe bekam er gesundheitliche Probleme, wollte zurück nach Deutschland und erwarb im Tausch gegen sein US-Unternehmen Kamerawerkstätten in Dresden. 1938 bezog die Familie in der Elbmetropole die noble Villa San Remo, behielt aber die amerikanische Staatsbürgerschaft. Die Entwicklung der Spiegelreflex- Kleinbildkamera "Praktiflex" beflügelte das Geschäft, allerdings stand die Familie wegen ihrer amerikanischen Staatsbürgerschaft während des Zweiten Weltkrieges unter polizeilicher Aufsicht. O-Ton (Archiv) Kriegsende 1945: Ansprache Truman Sprecher 1 Die Flaggen der Freiheit wehen über ganz Europa, verkündet US-Präsident Truman im Mai 1945 nach der Kapitulation Deutschlands. John Noble arbeitet im Unternehmen seines Vaters. Am Abend des 4. Juli 1945 kehren sie von ihrer Reise nach Kassel zurück. Sprecher 2 "Wir hielten an unserem Tor, nahmen unser Gepäck und klingelten wie gewöhnlich", Sprecher 1 schreibt John Noble in seinem autobiographischen Buch. Sprecher 2 "(Mein Bruder) Georg kam uns eilig auf der Treppe entgegen. Ein Herr in Zivil folgte ihm. Mein Vater fragte besorgt: `Georg, wer ist das?´ Georgs Stimme war angespannt. `Etwas ist nicht in Ordnung! .. Sie sind hier, um euch zu verhaften!´" Sprecher 1 Die Nobles hatten in den zurückliegenden Wochen frei gelassene amerikanische Kriegsgefangene beherbergt und amerikanische Offiziere verkehrten in ihrem Haus. Für ihre Versorgung erhielten sie Proviant. Das war ein Vorwand für die Verhaftung von Charles und John Noble. Der wahre Grund jedoch wurde ihnen nie mitgeteilt. Vermutlich ging es darum, den Weg für die Enteignung der Kamerawerkstätten frei zu machen. Am frühen Morgen des 7. Juli 1945 werden John Noble und sein Vater in die Dresdner Kommandantur des sowjetischen Geheimdienstes NKWD gebracht - angeblich, um ihre Pässe zu überprüfen. Sprecher 2 (Zitator) "Am Abend des 13. Juli brachte uns der Posten die ersehnte Nachricht, dass wir auf freien Fuß kämen. In Gedanken entschuldigte ich diese Tage als eine Zeit der Prüfung unserer Papiere und Klärung unserer Identität, eine Zeit, die jetzt vorbei sein sollte. Am nächsten Tag standen wir bereit. Ich wurde zu einem Offizier gerufen und war der Annahme, dass ich frei sei und nach Hause käme. ... Er war Offizier des NKWD. .. Er grüßte mich mit einem Lächeln. Als wir zur Sache kamen, nahm ich an, es ginge um letzte Fragen oder Anordnungen. ... `Gib mir deine Papiere!´, befahl er freundlich. Er nahm sie - meinen Pass, den Führerschein, die Geburtsurkunde und meinen Schweizer Schutzbrief. Auch mein silbernes Zigarettenetui. `Du gehst ins Gefängnis!´ teilte er mir emotionslos mit. Die Fahrt war kurz, den Berg hinunter ins Stadtzentrum von Dresden, durch bombenzerstörte Straßenzüge, bis zum noch funktionsfähigen Gefängnis `Münchener Platz´." Sprecher 1 John Noble landet dort - wie auch sein Vater - in einer drei Meter langen und einen Meter breiten Zelle. Ein Überlebenskampf beginnt, dessen Dimensionen er nicht ahnen kann. O-Ton (Interview 22. 3. 2006) Und da hab ich mir gesagt, wenn´s einen Gott im Himmel gibt, hat er die Tür vor meinen Augen zugeschlagen. Dann fing eine neue Hungersperiode an. .. Da war es für die meisten der Häftlinge zu viel. Wenn man einmal aufgibt, ist es vorbei. Stirbt man. Nicht unbedingt weil man ausgehungert ist, aber weil man mutlos ist. Seelisch bricht man zusammen. Am Abend des 6. Tages war ich so schwach, dass ich meine Füße nicht mehr heben konnte. Ich konnte nicht mehr sprechen. Dann als ich mich hingelegt habe auf meine dünne Matratze, da hab ich gebetet, hab gesagt, Herr! Schließ meine Augen und lass sie zu bleiben. Aber wenn es noch ein Leben für mich geben sollte, dann ist es nicht mehr mein Leben, meins ist zu Ende. Es ist Dein Leben. Und da hat sich alles geändert. Und als ich am nächsten Morgen aufwachte und wieder laufen konnte und wieder sprechen konnte, da hab ich mir gesagt, wenn der Herrgott das machen kann, dann können die Sowjets überhaupt nichts mit mir machen. Und das hat mir wirklich die Kraft gegeben. Obwohl ich nicht wusste, wie lange das angehen musste, aber hab ich mir gesagt, ich habe etwas, was Ihr nicht habt. Sprecher 1 John Noble übernimmt Arbeiten im Gefängnis. Zunächst als Reiniger, der die Gänge sauber macht. Später verwaltet er die Häftlingskartei. O-Ton (Interview 22. 3. 2006) Ich hatte die Karten von 21.000 Häftlingen in meinen Händen. Und aus den 21.000 Häftlingen sind 15 Personen entlassen worden. Sprecher 2 (Zitator) "Das Geschrei der Gefolterten konnte man durch das ganze Gefängnis hören. Das Geschrei der zum Tode Verurteilten hörten nur wenige. Es war üblich, dem zum Tode Verurteilten das Einreichen eines Gnadengesuches zu erlauben. Bleistift und Papier dafür musste ich diesen Häftlingen aushändigen. Ich musste auch zugegen sein, wenn der Kommandant das Gnadengesuch entgegennahm. Ohne es zu lesen, zerriss er das Papier, auf das der Verurteilte alle Hoffnung auf ein weiteres Leben setzte. Ein neunjähriger Junge, der zum Tode verurteilt war und dessen Gnadengesuch zerrissen wurde, schrie bis zur Bewusstlosigkeit. Nie wurde ein Gnadengesuch gelesen, nie." Sprecher 1 Bis Ende August 1946 bleiben John Noble und sein Vater im berüchtigten NKWD- Gefängnis am Münchner Platz in Dresden. Dann werden sie nach Mühlberg an der Elbe verfrachtet, in das so genannte Speziallager Nr. 1. Von 1945 bis 1950 unterhalten die Sowjets zehn Speziallager, zum Teil in ehemaligen KZs - vorgeblich zur Entnazifizierung. Doch unter den mehr als 120.000 Inhaftierten sind neben NS- Tätern auch viele Gegner des stalinistischen Regimes und wahllos Festgenommene. O-Ton (Interview 22. 3. 2006) Die meisten der Häftlinge haben sich von Tag zu Tag gefragt: Warum bin ich hier? Warum haben sie mich verhaftet? Und das geht nicht! Die Welt ist so klein geworden. Das Lager ist die Welt. Das Leben ist dort. Und da muss man mit zurecht kommen. Disziplin muss man haben. Wenn jemand gesagt hat: Ich schaff´s nicht. Er hat´s auch nicht geschafft. Sprecher 1 Nach zwei Jahren werden John Noble und sein Vater vom Lager Mühlberg nach Buchenwald transportiert. Im September 1948. Sprecher 2 "Im Vergleich zu allem Bisherigen schien Buchenwald gespenstisch, außer dem Tod geschah nichts. Es sah aus, als warteten die Russen auf das Ende der Letzten." Sprecher 1 Am 7. Oktober 1949 wird die DDR gegründet. Drei Monate später, am 17. Januar 1950, verkündet Staatssekretär Warnke vom DDR-Innenministerium auf einer Pressekonferenz die Auflösung der sowjetischen Speziallager. O-Ton Pressekonferenz 17. 1. 1950 (Archiv / Monitor-Mitschnitte / DRA) Danach werden auf Beschluss der Regierung der UdSSR aus den 3 vorhandenen Lagern Sachsenhausen, Buchenwald und Bautzen insgesamt 15.038 Personen entlassen, von denen 5.504 von sowjetischen Gerichten verurteilt sind. 10.513 Personen, die von sowjetischen Gerichten verurteilt sind, werden zur Verbüßung ihrer Strafe an die deutschen Organe übergeben. Sprecher 1 Die meisten Häftlinge werden nach dem Ende der Internierungslager nicht entlassen, sondern, wie der Staatssekretär ankündigt, von DDR-Organen "übernommen". Das heißt: Sie bleiben inhaftiert, und über 3.000 Menschen werden in den berüchtigten Waldheim-Prozessen - Schnellverfahren ohne rechtsstaatliche Regeln - abgeurteilt - einige zum Tode, viele zu langjähriger Haft. Einen Monat nach der Ost-Berliner Pressekonferenz werden Charles und John Noble im Februar 1950 von Buchenwald nach Erfurt, anschließend ins Zuchthaus nach Weimar verlegt. Neun Häftlinge dicht gedrängt in einer winzigen Zelle. Am 8. August 1950 aber ist John Noble voller Hoffnung, alles überstanden zu haben. Fünf Jahre in Lagern, Gefängnissen - grundlos, schuldlos. Er wird aus der Zelle geholt und in einen Raum geführt, in dem ein Offizier und eine Dolmetscherin auf ihn warten. O-Ton (Interview 22. 3. 2006) Und als ich rein kam, wurde mein Name nicht gefragt. Aber ich sollte mich rumdrehen und die Tür anschauen. Und während ich die Tür anschaute, hat die Dolmetscherin etwas erst in Russisch gelesen. Und hat dann gesagt, ich solle zum Tisch kommen, es unterschreiben. Ich hab gesagt, ich verstehe kein Russisch, ich weiß nicht, was ich hier unterschreiben soll, sie sagt, es ist nur eine Bestätigung, dass ich informiert wurde, dass ich in Moskau verurteilt wurde zu 15 Jahren. Sagte - 15 Jahre?!? Also, ich war sprachlos. Ich hatt gedacht, ich komme frei. Sagte ich, wieso, warum? Sagte sie, wenn ich irgendeine Frage hätte, sollte ich im Lager fragen, wo ich hingebracht werde. Als ich dann später im Lager gefragt habe, warum bin ich denn verurteilt worden, sagten sie, ja, da hätten Sie doch fragen sollen, als Sie verurteilt wurden. Jedenfalls, wurde dann zu einer großen Zelle gebracht, wo 40 Mann drin waren. Und als ich dort rein gesteckt wurde, kam die Frage: wie viel Jahre? 15 Jahre gegeben! Und die lachten, war vielleicht nicht zum Lachen - wir haben alle 25. Also es ist innerhalb von etwa einer Stunde wurden 1.000 Jahre ausgehändigt. 1.000 Jahre Menschenleben. Und vielleicht der ein oder andere schuldig gewesen. Das weiß ich nicht. Aber der größte Teil völlig unschuldig. .. Kein Verfahren! Sprecher 1 Johns Vater Charles Noble kommt 1950 nach Waldheim und wird 1952 aus der Haft entlassen, als gebrochener Mann. Warum John zur Zwangsarbeit nach Sibirien verbannt wird, ahnt er erst später. Es hat offenbar mit der Gefangenenkartei im NKWD-Gefängnis am Münchner Platz in Dresden zu tun. O-Ton (Interview 22. 3. 2006) Als ich in Sibirien war, da wurde es mir klar. Weil ich im Gefängnis zu viel gesehen hatte. Die konnten mich nicht entlassen. Ich hab die Kartei im Gefängnis geführt. Ich habe die Offiziere kennen gelernt. Ich wusste, wie viele Leute dort erschossen wurden im Gefängnis. Wie die Leute gefoltert wurden. Ich wusste buchstäblich alles, was im Gefängnis geschah. Und wenn die mich nach dem Westen entlassen hätten, das wäre nicht gut gegangen für die Russen. Sprecher 1 Workuta liegt am Nordrand des Ural. Eine Lagerstadt am Ende der Welt, in einer ansonsten menschenleeren Gegend. Im Spätsommer 1950 wird John Noble dorthin verfrachtet. Einen Monat dauert der Transport. O-Ton (Interview 22. 3. 2006) Das letzte Stück im Viehwaggon. Vorher im Stalopinski. Und da wurden wir reingestopft. Auf 3 Etagen. Waren da buchstäblich wie Sardinen in einer Büchse. Sprecher 1 Am 14. September 1950 erreicht der Transport das sibirische Workuta. Sprecher 2 (Zitator) "Auf dem Hochplateau befanden sich etwa 40 Kohlebergwerke, einige Zementwerke und Ziegelfabriken. Die Zivilisation war unerreichbar, wir waren am Ende der Welt. Hatten wir überhaupt eine Chance?" Sprecher 1 In Workuta angekommen werden die Deportierten komplett enthaart. Kohleförderung ist die Hauptaufgabe der Häftlinge. Unter mörderischen Bedingungen. Unter Tage kratzen die Häftlinge in hunderte Meter langen und 70 Zentimeter hohen Gängen Kohle aus dem Berg - in ständiger Gefahr, verschüttet zu werden. O-Ton (Interview 22. 3. 2006) Es schien, als ob jeder Tag kein Ende hatte. Als ob die Tage 30, 40, 50 Stunden lang waren. Sprecher 1 Im Winter fallen die Temperaturen auf unter 40 Grad minus. Im härtesten Winter auf 72 Grad minus. O-Ton (Interview 22. 3. 2006) Man reibt die Backen und reibt die Hände, wenn man die Hände aus den Jacken raus nimmt, wird alles weiß. Es wird alles weiß. Wenn man die Hände nicht reibt, erfrieren die, ja. .. Entweder müssen die Finger abgenommen werden oder sie fallen ab. Ohren und Nase waren viele, wo es einfach abgefallen ist. Sprecher 1 In ihren eisigen Baracken haben die Häftlinge nicht einmal Decken zum Schlafen. O-Ton (Interview 6. 11. 2006) Also, wir hatten keine Matratzen, keine Decken, keine Kissen oder irgend so was. Man ist so eng einer am andern gewesen, sodass wir bis auf die Unterkleidung uns ausgezogen haben. <..> Und man hat sich auf die Hose gelegt und hat dann die Jacke über sich und den rechten und linken Nachbarn gelegt. Und er hat auch seine Jacke von beiden Seiten halb drüber gelegt. Sodass man an sich ganz gut abgedeckt war. Musikeinblendung O-Ton (Interview 22. 3. 2006) Man wurde ja mit Rap bezeichnet. Rap meint Sklave. Sklave mach dies, Sklave mach das. So wurde man ja angesprochen dort. Sprecher 1 Trotz allem gibt es Möglichkeiten, in dieser Welt persönliche Würde zu bewahren. John Noble hat einen Instinkt dafür. O-Ton (Interview 6. 11. 2006) Als ich in Mühlberg und in Buchenwald war, hab ich immer ´n Schlips getragen. Den hatten sie mir zufällig gelassen, nachdem normalerweise ein Schlips schon im Gefängnis weggenommen wird, aber hatten sie da gelassen, und ich hab immer ´n Schlips getragen. Und viele denken, ist ja Blödsinn so was, nein, nein, ich wollte eben anders sein. Sprecher 1 Haltung zu bewahren und sich selbst zu disziplinieren: das ist Teil des Überlebenskampfes. Noble lernt Russisch - elementare Voraussetzung, um zu verstehen, was im Lager vorgeht. Und er meldet sich freiwillig zur Arbeit. Dadurch bekommt er immer wieder Arbeiten, die das Leben erleichtern: in der Küche zum Beispiel. Oder im Bad. O-Ton (Interview 6. 11. 2006) Da hab ich mich auch gefragt, warum. Warum gebt ihr mir solche Gelegenheit? Das hat er mir dann auch erklärt. .. Ich hab Russisch gelernt zu sprechen. Aber ich habe nicht die Fluchworte gebraucht, die die Russen immer gebraucht haben. Ich war der einzige im Lager, hat jeder gesagt, er ist der einzige, der Russisch spricht, aber nicht flucht. Und das hat ihnen Vertrauen gegeben. Und die andern haben immer gesagt: Du musst so sprechen, wie wir sprechen, sonst denken sie, Du bist schwach. Aber ich hab nie geflucht. Es passt mir nicht, ich mag das nicht. O-Ton Stalins Tod Reportage vom Begräbnis, zunächst deutsch, dann russisch Sprecher 1 Stalin ist tot. März 1953. Forts. Reportage Sprecher 1 Im Juni 1953 wird der berüchtigte Geheimdienstchef Berija verhaftet, dann hingerichtet. In den sibirischen Lagern keimt Unruhe auf. Um den 12. Juli 1953 bricht in den Lagern ein großer Aufstand aus, an dem insgesamt mehrere Millionen Menschen beteiligt sind. Auch in Workuta treten die Häftlinge in den Streik und stellen einen Forderungskatalog auf. O-Ton (Interview 6. 11. 2006) Ich hab mir gesagt, das System bricht. Es kann nicht auf lange Dauer so weiter gehen. Sprecher 1 Sie sollen Ruhe bewahren und abwarten, welche Meldungen aus Moskau kommen, sagen ihnen die Offiziere. Nach 3 Wochen kommt aus Moskau General Maslennikow mit 2 Divisionen des Geheimdienstes KGB. O-Ton (Interview 6. 11. 2006) Und dann ging er von einem Lager zum andern. Und er sagte, wir sollten sagen, was wir wollen. Und da waren die Leute unschlüssig. Was sollen sie sagen, wie sollen sie´s sagen usw. Hat er gesagt: Euch geschieht nichts, ihr seid frei, ihr dürft frei drüber sprechen, sagt mir, was ihr wollt, und es wird getan. Und dann auf einmal standen so ungefähr 20 Mann auf. Und es gab uns Gänsehaut, und der erste, der aufstand, war ein Prof. für Geschichte von Leningrad, und er sagte, Herr General, ich weiß, dass für das, was ich sage, bekomme ich wenigstens 10 Jahre zusätzliche Haft. Sagt er, nein, nein, nichts geschieht. Hast die Freiheit zu sprechen. Und da hat er die Sklaverei der Menschheit von Anfang an, die verschiedensten Perioden der Sklaverei erklärt. Und dann sagte <> der Historiker sagte, was wir jetzt erfahren, ist die schlimmste und brutalste und größte Sklaverei, die jemals in der Zeit der Menschheit geschehen ist. Er hat keine 10 Jahre bekommen. Er ist noch am gleichen Tag erschossen worden. Obwohl ihm versprochen wurde, dass ihm nichts geschieht. Dass er Freiheit hat zu sprechen. Und das ist mit allen 20 geschehen. Sprecher 1 Maslennikov richtet mit seinen Truppen ein Blutbad an. Bis die ersten wieder die Arbeit aufnehmen. Den Häftlingen wird schließlich mitgeteilt, gefangene Amerikaner hätten erklärt, dass sie nicht wieder in ihre Heimat zurückkehren wollten. O-Ton (Interview 6. 11. 2006) Damit war der Aufstand gebrochen. Völlig gebrochen. Sprecher 1 Für alle, die sich an dem Aufstand beteiligt haben, war die Hoffnung auf Freiheit vergeblich. Für John Noble ist es das neunte Jahr in sowjetischen Lagern. Einige wenige Häftlinge dürfen Karten an Verwandte in der Heimat schreiben. John Noble lernt einen Friseur kennen, der schreiben darf, aber nie Antwort bekommen hat und daher nicht mehr schreiben will. Deshalb fragt ihn der Friseur, ob er nicht unter seinem, unter dem falschen Namen des Friseurs, eine Karte schreiben wolle. Ein Zensor kontrolliert zwar die Post, aber es gibt einen neuen Zensor, der die Handschriften der Schreibberechtigten noch nicht so genau kennt. Sprecher 2 (Zitator) "Die Karten durften nur innerhalb der Sowjetunion oder der sowjetisch besetzten Gebiete versendet werden, aber da kannte ich niemanden. Doch ich hatte einen weitläufigen Verwandten in Westdeutschland, in einer kleinen Stadt namens Oberaula. Ein Oberaula in Ostdeutschland war mir nicht bekannt und ich hoffte, wenn die Karte nach Ostdeutschland käme, dass man sie vielleicht doch in den Westen weiterleiten würde. Und so habe ich es gewagt. Ich teilte dem Frisör genau mit, was ich auf die Karte schrieb, offiziell war es ja seine und bei Befragung musste er jede Einzelheit wissen. Die Karte .. war meine einzige Chance und ich wagte es, der Adresse "Amerikanische Zone" beizufügen. .. Eines Tages kam der neue Zensor zum `Frisiersalon´, um sich frisieren zu lassen. Der Zensor hatte die Karte in seinen Händen. `Hast du die Karte geschrieben?´, fragte er den Friseur. `Ja, die habe ich geschrieben.´ Der Zensor meinte, er habe sie mit alten Karten verglichen, die Handschrift sei ganz anders. Der Frisör, fast in Panik, suchte nach einer Begründung: `Ich habe mir in den Finger geschnitten und musste die andere Hand benutzen, deswegen sieht es so anders aus.´ .. Der Zensor meinte: `Diesmal werde ich die Karte durchgehen lassen, aber schreib nie wieder eine Karte an diese Leute ...´" Sprecher 1 Mai 1954. Nobles Vater ist inzwischen entlassen, seine Familie lebt wieder in den USA. Der Text der Karte ist nichtssagend, seinen Namen muss Noble verschweigen. Aber ein Wort im ersten Satz dieser rätselhaften Karte gibt den Verwandten im hessischen Oberaula den entscheidenden Hinweis: Sprecher 2 "13. 5. 54. Lieber Onkel Lohr! Die herzlichsten Grüsse sendet Euch Euer noble Neffe und kann sagen daß es ihm gut geht..." Sprecher 1 Noble Neffe: Noble. Die Verwandten begreifen, wer ihnen diese Karte geschickt hat und leiten sie an John Nobles Eltern in die USA weiter. O-Ton (Interview 22. 3. 2006) Der noble Neffe war das Schlüsselwort. Und das kam in Detroit an, Vater war zu Hause, das wusste ich aber nicht, die haben natürlich die Handschrift gleich erkannt und haben das dem State Departement vorgelegt, hier ist Beweis: Er lebt noch! Er ist dort noch irgendwo im Lager. Sprecher 1 Jahrelang hatte das amerikanische State Departement vergeblich in Moskau nach dem Verbleiben von John Noble gefragt. Angeblich war er dort unbekannt. Nun aber erreichen Nobles Eltern, dass ein Kongressabgeordneter die Karte ins Weiße Haus zum Präsidenten bringt. 36. O-Ton (6. 11. 2006) Präsident Eisenhower war an dem Tag oder zu der Stunde jedenfalls nicht im Weißen Haus, sodass er die Karte dort hinterlegt hat, ist vom Weißen Haus weggegangen, hat eine Pressekonferenz einberufen und in der Pressekonferenz gesagt, Präsident Eisenhower wird sich persönlich für Herrn Noble einsetzen. Und wo das einmal in der Presse bekannt war, dass sich der Präsident für mich einsetzt, das haben natürlich die Sowjets auch gleich mitbekommen, da wussten sie, dass sie mich endlich freilassen müssen. Sprecher 1 Am 8. Januar 1955, neuneinhalb Jahre nach seiner Inhaftierung, wird John Noble in Berlin den Amerikanern übergeben. Drei Tage später präsentieren sie den noch tief verunsicherten wortkargen Mann auf einer einstündigen Pressekonferenz, nach der die Meldung von seinem Schicksal um die Welt geht. Auf die Frage, wie er die Jahre überstanden habe, sagt er: 38. O-Ton (DLR-Archiv / Pressekonferenz 1955) I should say there were two things. One thing was, I should say the most strongest, was a confidence in god and the second was the absolute will of wanting to return back to the home for the purpose of telling that and expressing that what I had experienced in the Soviet Union. Sprecher 2 (Übersetzer) Es waren 2 Dinge. Am stärksten war ein Vertrauen in Gott, und das zweite war der unbedingte Wille, nach Hause zurückzukehren, um zu berichten, was ich in der Sowjetunion erlebt hatte. Sprecher 1 Wenige Tage nach dieser Pressekonferenz reist John Noble zu seinen Eltern in die USA zurück. Der Fall Noble bewegt die amerikanischen Medien, und so wird seine Rückkehr fernsehgerecht inszeniert. Vor laufenden Kameras der CBS sieht John Noble nach 8 1/2 Jahren in New York seine Eltern wieder. In den USA begann John Noble bald nach seiner Freilassung, über den Gulag zu berichten, dem er entkommen war, in dem aber Millionen andere zugrunde gingen, auch nach Stalins Tod. Unter ihnen auch amerikanische Staatsbürger, die nicht wie John Noble das Glück hatten, dass sich ihre Regierung um sie kümmerte. Mitten im Kalten Krieg wurde zwar laut die Propagandatrommel geschlagen. Aber wer hatte - vor Alexander Solschenízyns Veröffentlichungen über den Gulag - auch nur eine Vorstellung von den Lagern in Sibirien, die so weit weg waren wie der Mond... O-Ton (Interview 22. 3. 2006) Als ich raus kam und nach Washington gebracht wurde, hab ich kurz vorm Kongress etwas vorgetragen, wurde dann zu einer Mahlzeit mit Foreign Relations Committee im Repräsentantenhaus geladen. Und da haben wir ne Mahlzeit gehabt und da kamen Fragen. Die erste Frage war: Was hältst Du von Marilyn Monroe? Die nächste Frage: Konntest Du während der Lagerzeit Dein Lieblings-Baseball-Team verfolgen? Da hab ich mir gesagt, so naiv, so unheimlich naiv können doch nicht Regierungsleute sein! Musik 1