DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 16.03.2010 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 ? 20.00 Uhr In langen Schürzen würde man uns nicht beachten Zivilgesellschaftliche Aufbrüche in der Ukraine Von Anastasia Vinokurova URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Musik Titel: B-Style, Interpret: Rotfront Autorin Sie würden mit "Krawall gegen Sextourismus" kämpfen, schrieb der "Spiegel", und im "Merkur" konnte man lesen, die Aktivistinnen der ukrainischen Frauenbewegung Femen gingen "aggressiv, offensiv und drastisch gegen Sextourismus, Prostitution, die Pornoindustrie und lebenslange Haftstrafen vor." Fotos und Videos zeigen schöne junge Frauen in sexy Outfits, gewagten Posen oder in knappster Unterwäsche. Sie posieren für die Fotografen, inszenieren Schlammschlachten oder überraschen die Öffentlichkeit mit erotischen Choreographien auf öffentlichen Plätzen. "Wir haben unsere eigene und einzigartige Form gesellschaftlicher Darstellung entwickelt", heißt es auf der Homepage von Femen. Sie beruhe auf Mut, Kreativität, Effektivität und Schock und sie ziele darauf, den Frauen in der Ukraine mehr Rechte und ein größeres Selbstbewusstsein zu verschaffen. O-Ton Viktor (im Café) Übersetzer Wir denken, dass eine Frauenbewegung sich nicht von allem Fraulichen entfremden sollte, sie sollte alle weiblichen Möglichkeiten nutzen. Unsere Gesellschaft ? unsere slawische Gesellschaft ? hat die Frau zur Katze gemacht und wir sollten nun nicht versuchen, aus einer Katze einen Bär zu machen. Wir sollten alle Vorteile der Katze nutzen: die Schönheit, die Grazie, die Krallen. Verstehen Sie, was ich meine? Wir sollten aus einer Frau keinen Mann machen, das wäre absurd. Wenn man versucht, eine Frau einem Mann anzugleichen, bedeutet das, dass man den Mann zum Maßstab macht. Autorin Zwar hatte ich gelesen, dass auch Männer bei Femen willkommen sind, bin aber doch überrascht, dass sich in Kiew ein Mann als Vertreter der Frauengruppe hervortut. Viktor Swjatsky scheint sich zwischen den langbeinigen, aufregend geschminkten Grazien in Miniröcken und engen Tops äußerst wohl zu fühlen. Er diskutiert leidenschaftlich und überzeugend und scheint der Kopf hinter der neuen ukrainischen Frauenbewegung zu sein. Davon hatte ich in all den wohlwollenden Medienberichten nichts gelesen. Als Gründerin und Sprecherin von Femen wurde dort stets die inzwischen 25-jährige Anna Gutsol genannt. Atmo Stadt überall "Stöckeln" von Frauenschuhe ANSAGE IN LANGEN SCHÜRZEN WÜRDE MAN UNS NICHT BEACHTEN Zivilgesellschaftliche Aufbrüche in der Ukraine Ein Feature von Anastasia Vinokurova Musik Titel: Penguin in Bondage Interpret: Frank Zappa & The Mothers Of Invention Autorin Als ich zum ersten Mal durch das Kiewer Stadtzentrum laufe, bin ich verblüfft: Mini-Röcke und extrem hohe Absätze gehören bei den Frauen offenbar ebenso zu den "Basics" wie bei den Männern ein Mercedes oder ein BMW. Jedenfalls ist die ukrainische Hauptstadt voll von diesen Edelmarken. Ansonsten unterscheidet sich Kiew auf den ersten Blick kaum von jeder anderen europäischen Stadt. Die Cafés und Läden sind gut besucht, die Straßen sauber und viele Häuser frisch saniert. Erst wenn man das Stadtzentrum verlässt, trifft man auf die heruntergekommenen Plattenbauten aus der Sowjetzeit. In so einem Haus im Wohnbezirk "Niwki" wohnt Anna Gutsol. Atmo Kleiderschranktür quietscht O-Ton Anna Übersetzerin Ein Kleid gibt mir ein besonderes Gefühl: Luftigkeit, Leichtsinn, Koketterie. Ich spüre meine Weiblichkeit. Der Wind lässt den Saum flattern, oder du stülpest ihn kokett hoch und "fliegst" in dem Kleid herum. Es versetzt dich in eine entsprechende Stimmung. Du wirst sehen, unsere Mädchen sehen wahnsinnig gut aus. Das ist bei uns im Land gang und gäbe. Auch wenn du nur drei Rubel in der Tasche hast, musst du schick aussehen, immer und überall! Autorin Anna sieht man auch schon mal in Jeans und Sneakers, schick ist aber auch sie immer und überall. Anders als bei den meisten jungen Ukrainerinnen ist ihr Make-up dezent, und die Haare sind kurz geschnitten ? wie man es aus dem Westen kennt. Heute hat sie sich für ein luftiges rotes Kleid und hochhackige Stiefel entschieden. Die Farben von Lippenstift und Handtasche sind perfekt darauf abgestimmt. Anna ist auf dem Sprung zu einem Arbeitstreffen ihrer Organisation. O-Ton Anna Übersetzerin Wir sind eine Bewegung von Frauen, so wie sie sind, so wie unsere Mädchen sind. In unserem Land ist es vorerst nicht wichtig, die Kleidung zu ändern oder darüber zu diskutieren, wer wem die Tür aufhalten soll. Wir haben so viele Probleme ? drängende und schreckliche, dass Kleidungsfragen in den Hintergrund treten sollten. Autorin Die wirtschaftliche Situation in der Ukraine unterscheidet sich nicht von der in den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. Das alte System funktioniert nicht mehr, das neue ist noch nicht aufgebaut. Unter glamourösem Deckmantel ist Armut versteckt. Das offizielle Durchschnittseinkommen beträgt nur knapp 200 Euro im Monat. Rentner und Studenten müssen oft mit 40-50 Euro auskommen. Obwohl Anna keine Studentin mehr ist, wohnt sie in einer Wohngemeinschaft. Ihre Mitbewohner sind vier junge Tänzer aus einer Kiewer Balletttruppe, die sich mitunter an den Aktionen von Femen beteiligen. Mit ihnen teilt sie eine 3-Zimmer Wohnung. Immerhin hat sie ihr eigenes Zimmer, die anderen übernachten zu zweit in einem Raum. Atmo Café Schritte, alte Tür Autorin Auch ein eigenes Büro können sich die Femen-Aktivistinnen noch nicht leisten. Sie treffen sich deshalb im Stadtzentrum, ganz in der Nähe des Majdan-Platzes in einem Café, das zur städtischen Sauna gehört. Ich muss lange suchen, bis ich es finde und bin erstaunt über das Interieur. Alle Zeiten und Stile scheinen sich hier zu vermischen. Marmorsäulen und Stuck stehen in einem seltsamen Kontrast zu den billig sanierten und hellgrün gestrichenen Wänden. Es gibt eine überaus moderne Bar, aber die Tische im Café scheinen noch aus einer sowjetischen Kantine zu stammen. Dass hier selten Gäste sind, wundert mich nicht. O-Ton Anna (Café) Übersetzerin Hier finden Dreharbeiten statt, hier ziehen wir uns um, hier lagern wir unsere Requisiten, hier haben wir auch den Schlamm für die "Schmutzigen Spiele" angemischt, und diese archaischen Metallschüsseln für unsere Aktion "Baden auf dem Majdan" kamen ebenfalls von hier, auch die Teller für die Demonstration vor der Arabischen Botschaft oder die Eimer, mit denen wir DJ Hell mit Wasser begossen haben. Viktor (Café) Übersetzer Wir haben uns hier damals vor der Kälte versteckt. Das war ganz am Anfang, wir hatten überhaupt kein Geld und konnten uns in kein Café setzen ? nicht mal für einen Tee hätte das Geld gereicht. Aber hier wurden wir mit dem Personal ganz schnell warm. Wir durften also hier sitzen, und sie haben uns Tee, manchmal sogar etwas Essen gegeben, einfach so, umsonst. Autorin Anna und Viktor sind erst vor ein paar Jahren nach Kiew gekommen. Kennengelernt haben sich die damals 18-jährige BWL-Studentin und der 25-jährige "Dorfphilosoph" in der kleinen Provinzstadt Khmelnitsky, 300 Kilometer von Kiew entfernt. Dort organisierte Viktor einen philosophischen Club. Fast täglich trafen sich die jungen Leute des Ortes im Garten seiner Eltern. Sie lasen und diskutierten oft bis in die Morgenstunden. Geld für neue Bücher hatten sie nicht und deshalb lasen sie, was damals auf dem Müll landete: Marx, Engels, Lenin und andere Klassiker aus der Sowjetzeit. Auf dem Altpapierhaufen einer Bibliothek fand Viktor eine Übersetzung von "Die Frau und der Sozialismus" von August Bebel. Dieser sozialdemokratische Klassiker aus dem 19 Jahrhundert wurde zur theoretischen Grundlage für den neuen ukrainischen Feminismus, den Viktor zusammen mit seiner Lieblingsschülerin Anna seither propagiert. O-Ton Viktor (Café) Übersetzer Unser Ziel ist eine internationale Frauenbewegung. Diese Bewegung soll einen neuen Feminismus propagieren. Einen neuen! Weil der alte Feminismus in Theorie versunken ist, er kann die Menschen nicht mehr auf die Straße bringen. Soziale Fragen sind keine Fragen der Diskussion, sondern erfordern direkte Aktionen. Die Probleme existieren in der Realzeit, auf der realen Straße und dahin, auf die Straße, müssen auch wir! Musik Titel: Internationale Interpret: Camerata Silesia, Polish National Radio Symphony Orchestra & Mark Fitz-Gerald Autorin Viktor und Anna träumten von einer revolutionären Massenbewegung, und dafür musste man zunächst die Hauptstadt erobern. Anna ging als erste nach Kiew, fand einen Job als Event-Managerin bei einer Musikagentur und organisierte Konzerte für ukrainische Pop-Stars. Später kam dann auch Viktor nach Kiew und im Frühjahr 2008 gründeten sie FEMEN. O-Ton Viktor (Café) Übersetzer Was meine Rolle bei dem Ganzen ist? Ich schreibe die Drehbücher. Zum Beispiel für die "Schmutzigen Spiele". Auch das Konzept für die Kampagne "Die Ukraine ist kein Bordell" habe ich geschrieben. Ich verstehe was davon, denn ich habe früher in der Politikberatung gearbeitet. Ich habe den Abgeordneten geholfen, sich zu präsentieren, habe ihnen bei der Vorbereitung ihrer Reden geholfen. Das sollten Sie wissen: FEMEN ist keine Sache von Amateuren! Es ist keine naive Vereinigung naiver Straßen-Mädchen. Nein, das ist ein Projekt mit einem großen Potenzial und ebenso großen Ambitionen. Atmo Aktion "Schmutzige Spiele" Autorin Schon mit der ersten großen politischen Aktion "Schmutzige Spiele" zog FEMEN im Oktober 2008 die Aufmerksamkeit westlicher Medien auf sich. Drei junge Frauen in orangenen, blauen und weißen Bikinis, das sind die Farben der drei größten ukrainischen Parteien - bewarfen sich lustvoll mit Schlamm und räkelten sich im Schmutz. So wollten sie die Politik in der Ukraine kenntlich machen: keine Argumente, viel Dreck. Dann folgte im Juni 2009 die Aktion "Baden auf dem Majdan" ? eine Demonstration gegen die Abschaltung des warmen Wassers in den Studentenwohnheimen. Die Mädchen badeten öffentlich in dem Brunnen auf dem zentralen Platz von Kiew. Später zerschlugen sie Teller vor der afghanischen Botschaft, um ihre Solidarität mit den Frauen in Afghanistan auszudrücken. O-Ton Anna Übersetzerin Ich denke, wir haben es geschafft, soziale Themen mit Formen des Show-Business, mit Kunst, mit Plakaten und vielem anderen zu verbinden. Nach anderthalb Jahren Arbeit gewinnt unsere Stimme, zumindest in der Presse, aber auch bei vielen Menschen, an Gewicht. Autorin FEMEN konzentrierte sich bald auf den Kampf gegen Prostitution und Sex-Tourismus. Obwohl Prostitution in der Ukraine offiziell verboten ist, beziffert sogar das Innenministerium die Zahl der ukrainischen Prostituierten auf 250 000 und den jährlichen Umsatz im Geschäft mit dem Sex auf 750 Millionen Dollar. Die Dunkelziffer dürfte wesentlich höher sein. Atmo Kiew am Abend Autorin Als wir abends durch die Stadt laufen, zeigt mir Viktor immer wieder Mädchen, die auf Freier warten. Mir wären sie zwischen all den anderen sexy aufgeputzten Ukrainerinnen kaum aufgefallen. Nicht zu übersehen sind allerdings die vielen jungen Frauen, die sich bei offensichtlich aus dem Westen oder aus der Türkei stammenden Ausländern untergehakt haben. O-Ton Anna Übersetzerin Wir sind nicht "nackt und hungrig" wie in Thailand, aber wir sind arm und hungrig auf andere Dinge. Unsere Einkommen sind bescheiden, aber hier gibt es, was es überall in Europa gibt: Clubs, Cocktails, Klamotten, Gucci, Dolce. Und das kann man sich bei uns normalerweise nicht leisten. So fängt Prostitution mit den einfachsten Dingen an: mit dem Verkauf des Körpers gegen Geschenke, Klamotten, Restaurants. Autorin Im Kampf gegen das Geschäft mit dem Sex hat FEMEN das Aktionsprogramm "Die Ukraine ist kein Bordell" entwickelt. Es wird von der 21-jährigen Sascha Schewtschenko koordiniert. Die junge Frau hat im vergangenen Jahr ihr Studium in Khmelnitsky aufgegeben und ist ihren Freunden Anna und Viktor nach Kiew gefolgt. Dort gehört auch sie nun zum Kern der Bewegung. O-Ton Sascha Übersetzerin Ich wollte das Schicksal nicht, was für mich durch mein Studium und mein damaliges Leben vorbestimmt war: heiraten, irgendein ruhiger Job. Ich wusste aber auch nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Zwischenzeitlich war ich sogar bei einer Sekte gelandet und dann bei einer suspekten Modelagentur, die an der Grenze zur Prostitution arbeitete. Das glaube ich jedenfalls mittlerweile. Musik Titel: Dancing With Myself Interpret: Nouvelle Vague Atmo Skandieren "Ukraina ne bordel", Aktion von Juli 2008 Autorin Die erste von Sascha koordinierte Aktion fand im Sommer 2008 statt. Eine Gruppe junger Frauen verkleidete sich als Huren und verwandelte einen Teil der Kiewer Hauptstraße Kreschatik zur Rotlichtmeile. Die Mädchen warfen Dollarscheine auf die Straße und skandierten "Wir sind nicht käuflich!" Die Fotos von der Aktion verbreiteten sich schnell im Internet. Die Reaktionen waren ambivalent. "Eine bessere Werbung für Prostitution können die nicht machen" ? las man beispielsweise in deutschen Internetforen. Anna hält das für Unfug. "In langen Schürzen, sagt sie, würde man uns nicht beachten." Auch bei der folgenden Aktion gegen die Verbreitung von Pornografie und Sexangeboten im Internet setzten die jungen Frauen auf ihren Sex-Appeal. Sie demonstrierten oben ohne vor der ukrainischen Presseagentur. Auf ihren Rücken konnte man "Google" lesen. O-Ton Viktor Übersetzer Wir wollen den weiblichen Sex-Appeal nicht bekämpfen, wir wollen ihn nur befreien! Es ist nichts Schlimmes daran, sexy zu sein. Ein kurzer Rock oder ein Bikini sind nicht schlimm, aber nur, wenn der Sex-Appeal der Frau gehört, wenn er ihr Instrument ist, und nicht das eines Zuhälters oder der Männer allgemein. Wenn die Frau durch sexy Outfit nicht versklavt, sondern befreit wird, dann ist das gut. Wir sind für freie und sexy Frauen! Musik Titel: Dancing With Myself Interpret: Nouvelle Vague Autorin So sieht Sascha das wohl auch. Mit ihren langen blonden Haaren, ihrem entschlossenen Blick und mit meist sehr knapper Kleidung steht sie im Mittelpunkt jeder Aktion und posiert gerne vor den Kameras. Sie ist von FEMEN besessen, und auch im Alltag ist sie immer rosa gekleidet, denn rosa ist die Farbe von FEMEN. O-Ton Anna Übersetzerin Sascha ist das Gesicht von FEMEN ? der Stil, der Wahnsinn, diese rosa Farbe. Damit geht sie uns allen auf die Nerven, also, mir steht die Farbe einfach nicht. Ich trage auch rosa, das ist notwendig. Doch sie hat's überall ? selbst ihre Kugelschreiber und Slips sind rosa! Sie ist eben eine völlig überzeugte "Femenka." O-Ton Viktor Übersetzer Sascha vergibt sogar schon Autogramme, vor allem seitdem sie unserem "berühmten" Schriftsteller Oles Buzina eine Torte ins Gesicht geworfen hat. Er hat ein Buch geschrieben, das heißt "Gebt den Frauen den Harem zurück!". Dieses stümperhafte Werk ist voll mit abscheulichsten Beleidigungen gegen Frauen. Er schreibt zum Beispiel: "Eine Frau ist eine leicht verderbliche Ware" und so was. Wir fanden heraus, dass er eine Pressekonferenz geben wollte, um das Buch vorzustellen, und haben beschlossen, ihm diese Pressekonferenz zu verderben. O-Ton Buzina Übersetzer Ich denke, sie haben meinen Humor schon verstanden, wollten aber die Gelegenheit nutzen, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie kamen zu einer meiner Buchvorstellungen, um mir eine Torte ins Gesicht zu werfen. Ich weiß nicht, wofür sie kämpfen. Ich bin ja kein Feminist. Ich denke, sie wollen die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, vor allem das. Alle kämpfen doch nur für das Eine ? für ein gutes Leben für sich selber. Die ganze Welt kämpft nur dafür. Autorin Oles Buzina ist ein ukrainischer Bestsellerautor. Er sieht sich als den Jungen aus Andersens Märchen "Des Kaisers neue Kleider", macht sich in seinen Büchern über die "Helden" der ukrainischen Politik und Geschichte lustig und warnt seine Landsleute vor der Illusion, man müsse nur Mitglied der EU werden und alles werde sich zum Besseren wenden. O-Ton Buzina Übersetzer Es ist absolut klar: die Europäische Union will die Ukraine nicht aufnehmen. Die Ukraine ist viel zu stark mit Russland verbunden: kulturell, historisch, mental ? wie auch immer. Die ukrainische Wirtschaft wäre aber leicht zum Laufen zu bringen, wenn man mit der anti-russischen Rhetorik aufhören und mit einer normalen Zusammenarbeit beginnen würde. Autorin Organisationen wie FEMEN wirft der Schriftsteller vor, sie seien viel zu sehr auf den Westen bezogen. Er plädiert für eine Föderalisierung der Ukraine, meint aber, nur Russland könne derzeit die ukrainische Integrität garantieren. O-Ton Buzina Übersetzer Die Ukraine ist ein künstlich zusammengesetztes Land - da muss man ehrlich sein. Zusammengesetzt, vor allem durch das kommunistische Regime. Es ist mental sehr uneinheitlich, es ist ein Land mit einer hohen inneren Aggressivität: der Westen mag den Osten nicht und umgekehrt, es gibt zwei Sprachen, zwei Religionen. Es gibt ein wirtschaftliches Ungleichgewicht zwischen dem ? komischerweise ? industriell entwickelten Osten und dem agrarischen Westen. Das Geld befindet sich nicht in Lwov, in Lwov befinden sich die Cafés. Das Geld befindet sich in Donezk. So ein zerrissenes Land kann sich nur dann weiterentwickeln, wenn es einen inneren Kompromiss ausarbeitet. Im Moment ist die Ukraine wie ein Schaschlik, der auf die russische Gaspipeline aufgespießt ist. Wenn es diese Pipeline nicht gäbe, wäre die Ukraine schon auseinander gefallen. Autorin Viktor Swjatsky macht wie FEMEN insgesamt kein Geheimnis daraus, dass man eher auf den Westen als auf den Osten orientiert ist, will sich und seine Mitstreiterinnen aber von keiner Partei vereinnahmen lassen. O-Ton Viktor Übersetzer Die Parteien in der Ukraine haben keine ideologische Grundlage, sie sind rein oligarchische Vereinigungen. Und dort, wo es keine Ideologie gibt, gibt es auch keine jungen Menschen, dort gibt es keine Idee, dort gibt es nichts, dem man mit Enthusiasmus folgen könnte. Studenten gehen zu Demos wie zu einem Job. Es gibt feste Sätze: fürs Rumstehen bekommt man 30 Griwen pro Stunde, wenn man dabei mit einer Flagge rumwinkt - 50, und wenn man sogar ein Megaphon dabei hat und etwas schreit ? kann man 200 verdienen. Das ist ein Geschäft. Autorin Auch bei der orangenen Revolution, bei der vor sechs Jahren in Kiew Tausende gegen Wahlfälschungen demonstrierten, sei Geld geflossen, sagt er. Was von westlichen Medien als Bekenntnis zum Westen interpretiert wurde, sei nicht nur eine Manifestation der Volkssouveränität gewesen. O-Ton Viktor Übersetzer Ich kenne viele Leute, die mir die Augen auskratzen würden, wenn ich sage, dass die orangene Revolution "gekauft" wurde. Diese Leute glauben immer noch daran. Sie kamen damals dahin und haben protestiert und würden noch mal hin gehen, wenn es nötig wäre. Ich kenne aber die strategische Seite. Also weiß ich, dass nicht nur Orangen, die Symbole der Revolution, sondern auch Orangene mit LKWs angefahren wurden. Es war ein sehr erfolgreicher Mix aus Strategie und Willen. Das war eine durchdachte Veranstaltung, die sich allerdings im Kern auf überzeugte Menschen stützte, auf Menschen, die wirklich dahin kamen, um ihre Position zu verteidigen. Autorin Die Protagonisten der orangenen Revolution, Viktor Juschenko und Julia Timoschenko, erfüllten die Erwartungen ihrer Anhänger nicht. Sie haben keinerlei Reformen zustande gebracht und erschöpften sich in Streit und Machtkampf gegeneinander. Die Ukraine ist weder Mitglied der EU noch der NATO geworden. Und so wurde jetzt der damalige Gegner Juschenkos - Viktor Janukowitsch - auch ohne Wahlfälschungen Präsident der Ukraine. O-Ton Viktor (Café) Übersetzer Es war ein Durchbruch! Wenn auch ein künstlich organisierter. Man hat die Hemmung überwunden, mit einem Plakat auf den Majdan-Platz zu gehen. Vorher wäre so was undenkbar gewesen. Auch FEMEN wäre ohne diese Ereignisse gar nicht möglich geworden. Aber man muss feststellen, dass daraus kein ernsthafter Aufbruch zivilgesellschaftlicher Aktivitäten resultierte. Die Menschen haben zwar Freiheit bekommen, aber es fanden sich kaum Leute, die damit etwas anfangen konnten. Und nun verschlimmert sich die Lage wieder. Es wird das sogenannte "Gesetz über Kundgebungen" vorbereitet, das uns direkt betreffen wird. Es soll Massenversammlungen und soziale Proteste regulieren. Bei jeder Demonstration soll jemand "von oben" dabei sein, der berechtigt ist, jede Demo jederzeit zu beenden und zu verbieten. Autorin Von Demokratie kann in der Ukraine kaum die Rede sein. Es gibt keine Parteien mit erkennbaren Programmen, keine unabhängigen Medien und vor allem keine funktionierende Zivilgesellschaft. Die wenigen gesellschaftlichen Gruppen, die es gibt, stellen in der Regel keine originär ukrainischen Initiativen dar. Sie existierten nur, meint Viktor Swjatsky, weil sie von europäischen, russischen oder amerikanischen Geldgebern geschaffen worden seien und am Leben gehalten würden. O-Ton Viktor Übersetzer Nehmen wir als Beispiel die Frauenorganisation "Krone" aus Charkow. Sie wird von der Böll-Stiftung gefördert. Sie propagieren Ideen des klassischen Feminismus, beschäftigen sich auch mit literarischen Aspekten des Feminismus oder mit Film. Von der Idee her ist das alles schon richtig, also in der Theorie. Aber es funktioniert überhaupt nicht. Sie sind nicht im Internet präsent, man hört nichts von ihnen, es spricht sich nichts herum. Sie sind im Prinzip weder für sich selber, noch für die Förderer interessant. Schließlich helfen sie nur der Böll-Stiftung, das Geld auszugeben. Und das alles heißt "Förderung der demokratischen Normen und Aufbau der bürgerlichen Initiativen in der Ukraine." Autorin Diese Kritik könnte auch der Schriftsteller Oles Buzina unterschreiben. O-Ton Buzina Übersetzer Unsere Leute wollen nicht begreifen, dass sie ihre Probleme selber lösen können. Man wartet auf einen Messias. Das war eben das Phänomen "Juschenko" ? man hat in ihm einen Messias gesehen, der alles auf einmal ändern wird. 1991 hatten wir 52 Millionen Einwohner. Heute sind es offiziell nur noch 46 Millionen und 6 Millionen davon leben im Ausland. Ich glaube nicht, dass man sich im Westen darüber große Sorgen macht. Aber hoffentlich hier in der Ukraine. Im Idealfall muss man sich selber ernähren können, Geld verdienen, etwas produzieren, etwas für den Export, etwas für den Inlandsmarkt. Wenn du weißt, dass du ? sagen wir mal - 70 Jahre leben wirst, ein Haus bauen willst, eine Familie gründen willst, dass du eine Zukunft hast, dann kannst du nicht einfach träumen, man werde uns in die EU aufnehmen und alles wird sofort in Gang kommen. Es wird nicht in Gang kommen. Atmo Straßenverkehr, Leute sammeln sich O-Ton Sascha Übersetzerin Wir Mädchen sind Rebellinnen! Also: Arme in die Höhe! Bewegt euch! Zeigt eure Emotionen! Ihr kommt nicht hierher, um euch selbst, sondern um einer Idee Ausdruck zu geben! Autorin Die meisten Aktivistinnen von FEMEN sind Schülerinnen und Studentinnen im Alter zwischen 15 und 20 Jahren. Die Gruppe ist bis jetzt nicht offiziell registriert und hat auch keine demokratischen Strukturen. Wer bei FEMEN Mitglied werden will, kann das per Mausklick im Internet über ein soziales Netzwerk tun. Man wird dann über die aktuellen Aktionen und Treffpunkte informiert, kann Kommentare hinterlassen oder Ideen unterbreiten. Eine organisierte demokratische Willensbildung mit Mitgliederversammlungen, Programmdiskussionen oder Vorstandswahlen findet nicht statt. Die Gruppe zählt inzwischen fast 16 000 Mitglieder, darunter erstaunlicherweise fast tausend Männer. O Ton Viktor Übersetzer Zu unserer Vorstellung von einer Organisation gehört eine Ideologie, die eine Massenvereinigung von Menschen bindet. Wir sind immerhin im Land des Komsomol aufgewachsen. Wir haben daher eine andere Vorstellung von einer Jugendorganisation: sie sollte Massen binden und Gemeinschaft vermitteln. Aber Organisationen wie in Europa sind in der Ukraine nicht möglich, weil sie sehr kostenaufwändig sind. Jugenderziehung konnte sich nur der Staat leisten. Autorin Wie FEMEN sich finanziert, konnte ich nicht wirklich herauskriegen. Viktor Swjatsky berichtete, dass man Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens als Sponsoren gewinnen wolle, aber auf der Homepage der Gruppe sind lediglich ein amerikanischer Medienmagnat, eine deutsche Feministin, ein ukrainischer Fußballkommentator und ein deutscher Musiker als regelmäßige Unterstützer erwähnt. Anscheinend sind sie spendabel, denn Anna, Viktor und Sascha konnten ihre Jobs kündigen und professionelle Aktivisten werden. Atmo DJ Hell begrüßt FEMEN-Mädchen namentlich Autorin Der Sponsor von FEMEN aus der deutschen Musikszene ist der Discjockey Helmut Geier, alias DJ Hell. Im Frühjahr 2009 nahm er Kontakt zu der Gruppe auf. Er kam nach Kiew und nahm an einer Aktion gegen Sex-Tourismus teil. Im Oktober 2009 war er erneut in der ukrainischen Hauptstadt. O-Ton DJ Hell Ich finde die Herangehensweise und den Anspruch hier, den Ansatz hier viel interessanter als in irgendwelche Frauengruppe in Deutschland. Da wäre ich nie auf die Idee gekommen, da irgendwie mich selber einzubringen und dafür zu stehen oder dafür zu kämpfen. Hier in der Ukraine ist das ganz anders. Ich denke, dass sie schon ein bisschen fortschrittlicher sind als manche Feministinnen in Deutschland, die immer noch die alten Themen aufgreifen, und es wiederholen und das alles schon längst überholt ist, und wir in einer ganz anderen neuen Welt leben. Atmo Aktion Skandieren Musik Titel: I Prefer Women to Men Anyway Interpret: DJ Hell Autorin FEMEN hat eine Techno-Disco direkt vor dem ukrainischen Parlament organisiert. Die Mädchen haben sich als Prostituierte verkleidet, tanzen und werden von Fotografen und Kamerateams umkreist. Sie schwenken rosa farbene Fahnen und skandieren "Die Ukraine ist kein Bordell!" oder "Wir sind kein Fleisch!". Der Discjockey aus Deutschland hat sein Pult in einem kleinen Park aufgestellt, direkt neben einem Zelt der orthodoxen Kirche. Die demonstriert für einen staatlichen Zuschuss zum Wiederaufbau eines Gotteshauses. Die direkte Nachbarschaft zu den halb bekleideten jungen Frauen scheint die Priester nicht zu irritieren. Ihre Forderungen seien berechtigt, sagen sie, und ihre Aktionsformen modern. Das Interesse der Passanten, vor allem der männlichen, gilt allerdings fast ausschließlich den jungen Frauen. Die meisten trauen sich nicht, die Mädchen anzusprechen, sie bleiben ein paar Minuten stehen, tuscheln miteinander und gehen schnell weiter. O-Töne Umfrage Passanten Übersetzer Ich denke, was die hier machen ist Unsinn, weil Prostitution eine normale Erscheinung ist, überall auf der Welt. Daran ist doch nichts Schlimmes. Das ist eine persönliche Entscheidung der Frau. Wenn ein Schwein den Dreck sucht, wird es ihn finden. Das ist doch kein legislatives Problem und das Parlament kann da nicht helfen. Das Parlament ist nicht in der Lage, den Mädchen, die es tun, das Gehirn zu waschen. Sie werden ja nicht gezwungen, allenfalls ein kleiner Teil. Meistens stimmen die Mädchen dem ganzen selber zu... Autorin So oder so ähnlich sehen das die meisten Zuschauer des Happenings. An den politischen Forderungen der Mädchen sind sie kaum interessiert, sie hat die Musik angelockt, die Show und die aufreizenden Kostüme der Tänzerinnen. Nur ein ehemaliger Taxi-Fahrer kann mit dem Anliegen der Aktion wirklich etwas anfangen. Er sei mit dem Geschäft vertraut, sagt er, und wisse, wie man aus braven Mädchen Huren macht. Dass sie hier keine Mitkämpfer finden, scheint die FEMEN-Aktivistinnen nicht weiter zu stören. O-Ton Mädchen Übersetzerin Das ist ein ganz anderes Gefühl, wenn man nicht nur beobachtet, sondern aktiv an einer Aktion teilnimmt! Du gehst voll ab! Du fühlst dich wie ein Mensch, der etwas geschafft hat, etwas öffentliches, und das ist interessant, das... ich hab das russische Wort dafür vergessen...das inspiriert! Besonders, wenn du merkst, dass es bei den Leuten gut ankommt. Etwas mit den Leuten und für die Leute zu tun, etwas Gesellschaftliches, das ist am spannendsten! O-Ton DJ Hell Diese ungewöhnliche Herangehensweise und diese Art von Provokation ? das spiegelt eigentlich das, was ich auch in meiner Welt oft gemacht habe: Aufmerksamkeit zu bekommen durch ein andersartiges Auftreten. Und ich denke sie haben, wenn sie weiter dran bleiben und in die Richtung gehen, eine große Zukunft vor sich, vielleicht sogar im politischen Umfeld hier und könnten hier einiges verändern! Autorin Am Abend nach der Technorevolte erhält Anna einen Anruf: Sie wird zur nächsten Ausgabe der wichtigsten politischen Talkshow im ukrainischen Fernsehen eingeladen. Das Thema: Prostitution und Sex-Tourismus. O-Ton Anna und Viktor Anna Übersetzerin Soll ich jetzt einfach losreden? Viktor Übersetzer Ja, klar Anna Übersetzerin Ne, so kann ich nicht... Viktor Übersetzer Das müssen wir aber bis zum Automatismus üben, wie Schauspieler das tun. Anna Übersetzerin Weißt du, was mich am meisten empört? Es ist in der ganzen Welt bekannt, dass man in die Ukraine zu einer Sex-Tour fahren kann, dass die ukrainischen Frauen sofort bereit sind, sich einem Ausländer hinzugeben, nur weil er ein Ausländer ist. Das wissen alle überall auf der Welt. Aber wir selber, in unserem Land, reden nicht darüber, verschweigen es, und unsere Politiker wollen es nicht wissen. Viktor Übersetzer Genau. Und dann sprichst du über die Kriminalisierung von Freiern. Das bedeutet, dass wenn ein solches Gesetz verabschiedet würde... Anna Übersetzerin Nein, zuerst will ich sagen, dass das Problem "Sex-Tourismus" vom ukrainischen Staat anerkannt werden muss und sowohl moralisch wie juristisch verurteilt werden sollte. Und dann soll der Kunde der Prostituierten kriminalisiert werden. Das bedeutet, dass wenn Prostitution in unserem Land verboten ist, also eine Prostituierte muss eine Strafe zahlen, aber dann muss derjenige, der ihre Dienste nutzt, auch eine Strafe zahlen. Viktor Übersetzer FEMEN behauptet, dass für die Prostitution in erster Linie reiche Männer verantwortlich sind, die die armen ukrainischen Frauen mit Geld verführen! Wo willst du hin? Anna Übersetzerin Ich muss ja gleich los... Ich kriege weiche Knie... (seufzt) Atmo Talkshow Beginn, Applaus AUSSCHNITTE SENDUNG Moderator My vnov p prjamom efire telekanal Ukraina. Pervogo otjabrja, pozavchera, u Verhovnoj Rady sobralis bolee sotni aktivistok zhenskogo dvizhenija FEMEN ... Autorin Bei dieser Talkshow waren auch schon mal Viktor Juschenko und Julija Timoschenko zu Gast und sie wird von einigen Millionen Zuschauer gesehen. Auch bei der heutigen Ausgabe gehören prominente Politiker, Abgeordnete, Präsidentschaftskandidaten und einflussreiche Journalisten zu den Gästen. Zunächst erläutert Anna wie Prostitution und Sex-Tourismus in der Ukraine funktionieren. Das Gewerbe sei hinter Partnerbörsen, Reisebüros, Hotels und Clubs versteckt. Obwohl die Prostitution illegal und strafbar sei, führt sie aus, scheine das System mit Hilfe von Korruption sehr gut zu funktionieren. O-Ton Anna Übersetzerin Wenn man allgemein und nach oben schaut, dann tragen unsere Regierung, unsere Machthaber die Verantwortung. Außerdem, das ist doch kein Geheimnis, deckt die Miliz das Geschäft mit dem Sex. Man könnte entsprechende Gesetze beschließen und die Situation ändern, aber es wird kaum was in diese Richtung unternommen. Ich glaube, es wird deswegen nichts gemacht, weil das Geschäft mit dem Sex sehr viel Geld bringt. Das hat angefangen, beziehungsweise massiv zugenommen, seitdem es diese VISAFreiheit für EU-Bürger gibt. Wir kontrollieren gar nicht, wer zu uns kommt und was er hier will. Wir lassen alle rein. Studiogast Übersetzer Wir verwechseln Ursachen und Folgen! Das stimmt, dass das Ganze nach der Abschaffung der Visapflicht angefangen hat, aber wenn wir nicht wollen, dass es so läuft, müssen wir nicht die Gesetze ändern, sondern das Leben in der Ukraine! Man muss nicht die Prostitution bekämpfen, man muss die Armut bekämpfen! Autorin Die Studiorunde diskutiert darüber, zur Fußballeuropameisterschaft, die in zwei Jahren in Polen und in der Ukraine stattfinden wird, die Prostitution in diesen Ländern zu legalisieren. Anna ist dagegen. Man solle die Freier kriminalisieren, fordert sie und so Sex-Touristen davon abhalten, ins Land zu kommen. Einer der Studiogäste versucht das Problem ins Grundsätzlichere zu ziehen. Studiogast Übersetzer Die Berliner Mauer fiel vor 20 Jahren, aber in Wirklichkeit ist sie einfach umgezogen, zusammen mit der Schengen-Zone. So sind wir wieder abgeschnitten. Zu uns darf man, aber wir dürfen nirgendwo hin. Das ist das Hauptproblem. Das ist ein Zivilisationsproblem, ein Problem des Wertesystems. Wir wollten eine liberale Marktwirtschaft aufbauen, um schnell an die materiellen Werte zu kommen - wir wollten fremde Werte verfolgen. Und heute sehen wir das Resultat. Wir brauchen eigene Werte, eigene ukrainische Werte! Wie kann man bloß in der Ukraine, dem Land mit einer traditionellen Familien- und Lebensweise, über Legalisierung von Prostitution reden? Wie konnte es bloß soweit kommen? Autorin So viel Lamento ist typisch für Talkshows überall in der Welt. Es spekuliert auf allgemeine Zustimmung, trägt aber in aller Regel nicht dazu bei, Missstände zu beseitigen. Das weiß auch Anna. O-Ton Anna Übersetzerin Ich will nun doch ein konkretes Datum hören, wann das Gesetz, das die Freier zur Verantwortung zieht, im Parlament diskutiert wird. Lassen Sie uns zumindest damit anfangen! Die Abgeordneten im Hintergrund Vo vtornik my gotovy Autorin "Am Dienstag sind wir bereit", murmelt ein Abgeordneter im Hintergrund. Weil aber nichts geschieht, tritt Sascha Schewtschenko einige Wochen später als Überraschungsgast in der Talkshow auf. Mitten in der Diskussion platzt sie ins Studio, hält ein Plakat mit der Aufschrift "Lügen-Live" in die Kamera und fordert die Zuschauer auf, den Politikern kein Wort zu glauben. Dann zerreißt sie ihr Plakat, schleudert es einem Abgeordneten ins Gesicht und verlässt das Studio wieder. Atmo Anna Autorin Anfang 2010 wurde schließlich ein Gesetzentwurf zur Kriminalisierung der Freier ins Parlament eingebracht, aber bis heute nicht verabschiedet. Einen ähnlichen Gesetzentwurf hatte es bereits im Herbst 2008 gegeben, er war dann aber zurückgezogen worden. Der Schriftsteller Oles Buzina glaubt nicht daran, dass man Ausländer mit Gesetzen davon abhalten könne, in der Ukraine nach Sexabenteuern zu suchen und überhaupt: FEMEN vertrete ein Frauenbild, das in der Ukraine keine Wurzeln habe. O-Ton Buzina Übersetzer Wenn es im Westen so eine Nachfrage nach russischen und ukrainischen Frauen gibt, dann wahrscheinlich, weil sie traditioneller sind. Man kann nicht der ganzen Welt dasselbe Modell aufdrängen. Vielleicht ist der Feminismus für den Westen gut. Aber bei uns wird er nur existieren, solange dafür Geld aus dem Westen eingespritzt wird. Ansonsten wird er nicht existieren können. Es gibt dafür keine Voraussetzungen. Sogar Julija Timoschenko, die Frau mit dem Anspruch, Präsidentin zu werden, hat nicht auf Feminismus gesetzt, sondern auf Mutter-Tochter Rollen. Ihr Spiel basiert auf sehr traditionellen Stereotypen. Frau Merkel trägt eine Hose und das ist gut so, aber Frau Timoschenko tritt mit Rüschen und Glockenärmel in der Öffentlichkeit auf! Und im Übrigen: Im Westen laufen die Feministinnen bestimmt auch nicht in Unterwäsche herum, wie die ukrainischen es tun. Autorin Anna und die FEMEN-Aktivistinnen halten den populären Schriftsteller für einen Macho und Chauvinisten, aber auch sie räumen ein, dass es bei den jungen Frauen in der Ukraine Orientierungskrisen gibt. O-Ton Anna Übersetzerin Unsere Mädchen sind oft schamlos, aber nicht, weil sie schlecht sind oder weil Frivolität in ihren Genen liegt, nein. Sie sind so aufgewachsen. Man darf die Mädchen nicht verurteilen. Bei uns reden die Eltern mit ihren Kindern nicht über Sex oder wie man sich in einer Beziehung verhalten soll. Sie sagen: "Sieh zu, dass alles gut wird!" Aber was ist gut und was ist böse ? das entscheidet jeder für sich selbst. Das bringen nicht die Eltern ihren Kindern bei, sondern die Clubs, das Fernsehen, die Magazine, die Freunde und so weiter und so fort. Es betrifft vor allem die Mädchen, die in den 90-er Jahren geboren wurden. Ich bin selber vier oder fünf Jahre älter und meine Generation ist anders. Wir hatten noch diese sowjetischen Schulen, wo man genau wusste, was gut und was böse ist. Wir hatten all diese Wettbewerbe, wir halfen Omas und Opas... So haben viele von uns noch ein Streben nach vorne, wir wollen etwas erreichen, einen Sinn im Leben finden, lernen, ausprobieren, uns entwickeln... Aber die heutige Jugend ist sehr apathisch. Sie haben keinen Antrieb, keine Leidenschaft. O-Ton Sascha Übersetzerin Ein Mädchen ist mit zwanzig Jahren entweder schon verheiratet, und wenn nicht ? oh Schreck! ? dann heißt es, sie warte und suche schon...Im Lebensentwurf ukrainischer Mädchen sind Karriere, Entwicklung und Selbstverwirklichung nicht vorgesehen. Das aber wollen wir den ukrainischen Mädels beibringen, denn ohne das ist es irgendwie, ich weiß nicht... O-Ton Anna Übersetzerin Unsere Mädchen haben Kraft, sie haben Potenzial, Energie. Man muss sie nur entflammen, man muss diese Gleichgültigkeit vertreiben, und es ist eigentlich sehr einfach! Tatsächlich aber haben sie nichts, was sie interessieren und entflammen könnte ? das ist es! O-Ton Viktor Übersetzer Ein Mensch ist nie vollkommen resigniert ? nie im Leben! Die Natur des Menschen ist dialektisch. Der Resignation folgt der Aufbruch. Deswegen ist die Apathie, die sich nach der orangenen Revolution ausgebreitet hat, keine Apathie von indifferenten Menschen. Nein. Die Enttäuschung heute ist gleichzeitig die Hoffnung auf das, was kommt. Musik Titel: Red Mercedes Interpret: Rotfront Absage In langen Schürzen würde man uns nicht beachten Zivilgesellschaftliche Aufbrüche in der Ukraine Ein Feature von Anastasia Vinokurova Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2010. Es sprachen: Isis Krüger, Matthias Haase, Philipp Scheppmann, Janina Sachau und Anja Bilabel Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Petra Pelloth Regie: Wolfgang Rindfleisch Redaktion: Hermann Theißen Die Recherchen zu dieser Sendung wurden unterstützt von der Robert-Bosch-Stiftung. Musik Titel: Red Mercedes Interpret: Rotfront 27 27