KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : LITERATUR 0.05 Uhr Kostenträger : P.6.2.30.0 Titel der Sendung: Luftlinien - Üb Eine literarische Erkundung Autor : : Jörg Magenau Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 21.09.2014 Besetzung : Sprecherin (Rezitatorin)) : Sprecher : Rezitator Regie : Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Luftlinien Über gute und böse Winde, Atmen und Schreiben und den Traum vom Fliegen. Eine literarische Erkundung der Luft Von Jörg Magenau Eine Sendung im Deutschlandradio Kultur MUSIK: Jimmy Hendrix, Wind cries Mary, Intro (0:05-0:15) REZITATOR: Luft ist Luft. Ihre Leere umglitzert uns überall. Ihre Laute sind keine Engelssilben, sondern unsere ungeformten Geister, deutlicher verwirklicht in wilderen Ichs. - (Wallace Stevens) MUSIK: Jimmy Hendrix, Wind cries Mary, 1. Strophe After all the jacks are in their boxes And the clowns have all gone to bed You can hear happiness staggering on down the street Footprints dressed in red And the wind whispers Mary (Abblenden, Zwischenspiel nach 2. Strophe unter den Text legen) REZITATORin: Hörst du, wie es fällt und steigt? Fühlst du, wie es um dich streicht? Dringt zu dir im weichen Duft Nicht der Himmelsodem - Luft? - (Annette von Droste-Hülshoff) MUSIK: Jimmy Hendrix, Wind cries Mary (3. Strophe) The traffic lights they turn a blue tomorrow And shine their emptiness down on my bed The tiny island sags downstream Cause the life that they lived is dead And the wind screams Mary REZITATOR: O Schwester des Geistes, der feurigmächtig in uns waltet und lebt, heilige Luft! wie schön ist's, dass du, wohin ich wandre, mich geleitest, Allgegenwärtige, Unsterbliche! - (Friedrich Hölderlin) MUSIK: Jimmy Hendrix, Wind cries Mary, (4. Strophe) Will the wind ever remember The names it has blown in the past And with its crutch its old age and its wisdom It whispers "no, this will be the last" And the wind cries Mary SPRECHERIN: Am Anfang ist der Schrei. Die Nabelschnur wird durchtrennt, und das Kind beginnt zu atmen. Der erste Schluck Luft. Unabhängigkeit. Sauerstoff. Muskelkraft. Die Anstrengung des Lebens beginnt. SPRECHER: Und so weiter bis zum letzten Atemzug. Ohne Pause. SPRECHERIN: Ein Erwachsener holt pro Minute 12 bis 18 mal Luft. Jeder Atemzug besteht aus einem halben Liter Luft. Das macht etwa 10.000 Liter pro Tag. SPRECHER: Man kann die Nahrung verweigern, man kann ein paar Tage lang nichts trinken, aber man kann nicht aufhören zu atmen. Luft lässt sich nicht verweigern. SPRECHERIN: Taucher schaffen das ziemlich lange. Der offizielle Guinness-Weltrekord im Luftanhalten unter Wasser liegt bei 21 Minuten und 33 Sekunden. Und er wird, wie alle Rekorde, immer weiter verbessert. SPRECHER: Wenn das Atmen zum Sport wird, ist eine Grenze überschritten. Atem ist etwas Heiliges, eine Lebensfunktion. Wir machen ja schließlich auch aus der Blutzirkulation keinen Sport. SPRECHERIN: Das Überschreiten von Grenzen ist aber genau das, was die Extremisten des Luftanhaltens suchen. Wenn sie wieder auftauchen aus dem luftlosen Ruhezustand mit Niedrigpuls, dann sagen sie: "Ich bin an meine Grenzen gestoßen." Das Unterdrücken des Atmens ist die äußerste Grenze des Lebens hin zum Tod. Diese Leute sind Gipfelstürmer im eigenen Körper. SPRECHER: Was für eine Vermessenheit, was für eine Dummheit. Sie machen das Atmen quantifizierbar, machen es zu einer Rechengröße. Damit verliert es seine Unschuld. Für Elias Canetti, Literaturnobelpreisträger und erbitterter Gegner der Sterblichkeit, liegt der Ursprung aller Freiheit im Atmen. - Aber doch nicht im Luftanhalten. REZITATOR: Aus jeder Luft konnte jeder ziehen, und die Freiheit des Atmens ist die einzige, die bis zum heutigen Tag nicht wirklich zerstört worden ist. SPRECHER: Für Luft müssen wir im Unterschied zu Erde und Wasser nichts bezahlen. Sie gehört niemandem, niemand erhebt Anspruch darauf. Luft lässt sich nicht privatisieren. SPRECHERIN: Eine Luftsteuer gab es aber sehr wohl - in München zum Beispiel. Sie musste für Balkone bezahlt werden, die in den öffentlichen Raum hineinragen. Wurde dann aber für rechtswidrig erklärt. SRPECHER: Um Luft sind noch keine Kriege geführt worden wie um Wasser oder um Bodenschätze. Wer Luftschlösser baut, nimmt niemandem etwas weg und schadet niemandem - allerhöchstens sich selbst. Es gibt keinen Luftbesitz, wie es Grundbesitz gibt. Die Luft gehört uns allen. SPRECHERIN: Aber nur deshalb, weil es genug Luft gibt. Wenn sie einmal zum Mangel wird und man Geschäfte damit machen kann, sagen wir in luftverschmutzten chinesischen Großstädten oder in einem zukünftigen Leben auf einem anderen Planeten, dann wird auch für die Luft bezahlt werden müssen. SPRECHER: Sauerstoffflaschen im Supermarkt? Die werden dann wahrscheinlich ähnlich bunt und in sportiven Mischungen und Geschmacksrichtungen angeboten werden, wie wir das von all diesen unsinnigen isotonischen Erfrischungsgetränken kennen. SPRECHERIN: Kranke, die keine Luft mehr bekommen, zahlen doch heute schon dafür, wenn sie am Sauerstoffgerät hängen. SPRECHER: Ersticken ist keine schöne Todesart. REZITATOR: Dr. Klopstock, der Arzt Franz Kafkas, berichtete vom Sterben des Dichters. Die Kehle des Schweratmenden war geöffnet und ein Schlauch war eingesetzt worden, um ihm das Atmen zu erleichtern - in Wirklichkeit verschob sich dieser Schlauch immer wieder und quälte den Sterbenden mehr, als dass er ihm half. Als der Schlauch sich wieder einmal verschoben hatte und Klopstock ihn wieder einsetzen wollte, machte Kafka eine protestierende Bewegung, und Klopstock flüsterte ihm zu: "Es ist doch, damit Sie leichter atmen!" Aber Kafka riss ihm den Schlauch weg und warf ihn mit einer plötzlichen brüsken Bewegung in die Mitte des Zimmers. "Jetzt wird nicht mehr geatmet, jetzt wird gestorben!" sagte er. Und starb. SPRECHER: Auch wenn solchen Anekdoten und letzten Worten zu misstrauen ist, wäre das ein Sterben, das zu Kafka passt. So verabschiedet sich ein gelernter Hungerkünstler, der eine lungensüchtige Reiterin auf schwankendem Pferd in die Manege schickte. SPRECHERIN: Luftmangel war eine in der Kunst verbreitete Todesart, an der vor allem die Frauen dahinschwanden. Nehmen wir Alexandre Dumas' "Kameliendame", die Verdi in seiner Oper "La Traviata" auftreten ließ. Oder die Mimi aus Puccinis "La Boheme". Sie sterben an Tuberkulose. SPRECHER: Auch Fontanes Effi Briest zeigt eindeutige Symptome der Schwindsucht. Effi selbst spricht übrigens von "Sehnsucht". Vielleicht ist das das seelische Pendant dazu. REZITATOR: So verging der Sommer, und die Sternschnuppennächte lagen schon zurück. Effi hatte während dieser Nächte bis über Mitternacht hinaus am Fenster gesessen und sich nicht müde sehen können. "Ich war immer eine schwache Christin; aber ob wir doch vielleicht von da oben stammen und, wenn es hier vorbei ist, in unsere himmlische Heimat zurückkehren, zu den Sternen oben oder noch drüber hinaus! Ich weiß es nicht, ich will es auch nicht wissen, ich habe nur die Sehnsucht." Arme Effi, du hattest zu den Himmelwundern zu lange hinaufgesehen und darüber nachgedacht, und das Ende war, dass die Nachtluft und die Nebel, die vom Teich her aufstiegen, sie wieder aufs Krankenbett warfen, und als Wiesike gerufen wurde und sie gesehen hatte, nahm er Briest beiseite und sagte: "Wird nichts mehr; SPRECHERIN: Auch der allerletzte Auftritt Effis, bevor sie dann stirbt, hat noch einmal mit dem Bedürfnis nach frischer Luft zu tun. So verabschiedet sie sich: REZITATOR: Die Sterne flimmerten, und im Park regte sich kein Blatt. Aber je länger sie hinaushorchte, je deutlicher hörte sie wieder, dass es wie ein feines Rieseln auf die Platanen niederfiel. Ein Gefühl der Befreiung überkam sie. "Ruhe, Ruhe." MUSIK: Frank Sinatra, Summer wind (Intro zuvor einblenden) The summer wind came blowin' in from across the sea It lingered there, to touch your hair and walk with me All summer long we sang a song and then we strolled that golden sand Two sweethearts and the summer wind SPRECHER: Weniger gelassen als Fontanes Effi Briest geht ein später Nachzügler der Tuberkulose mit seiner Erkrankung um: Thomas Bernhard. In seinem autobiographischen Roman "Der Atem" hat er darüber geschrieben: ein geradezu atemloser Text. REZITATOR: ..., wenn ich daran dachte, in welchem tatsächlichen Zustand ich mich befand, vor allem, wenn ich genau fühlte, in wie große Mitleidenschaft mein Hauptinstrument, mein Brustkorb, gezogen war, ich hatte einen schon beinahe zur Gänze vernichteten und kaum zu den notwendigen Atemzügen befähigten Brustkorb, welcher mir nach wie vor die größten Schwierigkeiten machte, wenn ich mich nur im Bett umdrehte, die gelbgraue Flüssigkeit hatte sich auch nach zwei Wochen Krankenhausaufenthalt und also, wie mein Großvater gesagt hatte, Spezialbehandlung immer noch auf beängstigende Weise nach jeder Punktion unwahrscheinlich schnell zwischen Zwerchfell und Lunge gebildet, manchmal hatte ich den Eindruck, es sei überhaupt noch keinerlei Besserung meines Körperzustandes eingetreten, unabhängig davon, wie weit mein Geist und meine Seele schon in Aufwärtsentwicklung gewesen waren, der Körper war hinter ihnen zurückgeblieben, und er hatte pausenlos versucht, Geist und Seele zu sich zurück- und hinunterzuziehen, ich hatte ununterbrochen diesen Eindruck gehabt, aber ich wehrte mich dagegen mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln. SPRECHER: Thomas Bernhard wollte ursprünglich Sänger werden, deshalb macht er sich besondere Sorgen um Lunge und Luft. Die Lunge ist sein Instrument, die Luft seine Musik. Der Wunsch, Sänger zu werden, erfüllte sich nicht; zum Glück. Deshalb gibt es den Schriftsteller Thomas Bernhard. SPRECHERIN: Es sieht so aus, als ob den Menschen und ganz speziell den Schriftstellern im 19. und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts reihum die Luft wegblieb. 1905 wurde Robert Koch für seine Entdeckung des Tuberkelbakteriums und seine Verdienste bei der Bekämpfung der Tuberkulose der Nobelpreis verliehen. Seine Hygiene-Regeln - vor allem die Quarantäne - halfen dabei, die Epidemie zurückzudrängen. Doch im 1. Weltkrieg breitete sie sich rasant wieder aus. SPRECHER: Die engen Arbeiterquartiere waren Brutstätten der Infektion; und es traf auch die Schriftsteller. Molière, Schiller, Matthias Claudius, Novalis, Annette von Droste- Hülshoff, Tschechow, Gorki, Stevenson, Kafka, Morgenstern, Klabund. SPRECHERIN: Auch deshalb ist Thomas Manns "Zauberberg" der Roman der Epoche. Katastrophen kündigen sich an, indem die Luft wegbleibt. Das Lungensanatorium in Davos ist demnach der adäquate Ort, um den Beginn des Weltkrieges zu erwarten - in einem Zustand zwischen Untätigkeit, Erkrankung, Erschlaffung, Atemschwäche und verfeinertem Genuss. REZITATOR: Hans Castorp, schwer atmend, und ohne recht zu wissen, wie er heraufgekommen war, lag wieder auf dem vorzüglichen Stuhl in seiner Balkonloge, denn nach dem Essen war Liegekur bis zum Tee, - sogar die wichtigste des Tages und streng einzuhalten. Zwischen den undurchsichtigen Glaswänden, die ihn von Joachim einerseits und dem russischen Ehepaar andererseits trennten, lag er und dämmerte mit pochendem Herzen, indem er Luft durch den Mund holte. Als er sein Taschentuch benutzte, fand er es von Blut gerötet, aber er hatte nicht die Kraft, sich Gedanken darüber zu machen, obgleich er ja etwas ängstlich mit sich war und von Natur ein wenig zu hypochondrischen Grillen neigte. Wieder hatte er sich eine Maria Mancini angezündet, und diesmal rauchte er sie zu Ende, mochte sie nun wie immer schmecken. Schwindelig, beklommen und träumerisch bedachte er, wie sehr sonderbar es ihm hier oben ergehe. SPRECHERIN: Da hat sich Hans Castorp bereits der Krankheit ergeben. Das Merkwürdige ist ja, dass er gesund im Sanatorium ankommt. Er entscheidet sich gewissermaßen dafür, krank zu werden, weil die Krankheit ihm eine Bestimmung gibt. Sie ist etwas, an das er sich halten kann und das ihm erlaubt, sich dauerhaft einzurichten. Bei seiner Ankunft in den Bergen hatte er zur Luft noch ein ganz anderes, indifferentes Verhältnis: REZITATOR: Und Hans Castorp nahm neugierig einen tiefen, probenden Atemzug von der fremden Luft. Sie war frisch - und nichts weiter. Sie entbehrte des Duftes, des Inhalts, der Feuchtigkeit, sie ging leicht ein und sagte der Seele nichts. "Ausgezeichnet!" bemerkte er höflich. "Ja, es ist ja eine berühmte Luft." SPRECHER: Der "Zauberberg" lässt sich als Roman darüber lesen, wie einer Gesellschaft allmählich die Luft wegbleibt. Da herrscht eine erstickende Enge, aus der auch die Bergwelt keinen Ausweg bietet. Es ist eine Flucht in die Tatenlosigkeit im Abseits. SPRECHERIN: Auf den Leib bezogen ist das Atmen die Verankerung in der Welt, die uns so selbstverständlich ist, dass wir sie kaum einmal bemerken. Herz und Lunge - das sind zwei verschiedene Rhythmen, in denen wir leben. Das Pochen des Herzens ist die Basstrommel, die den Schlag angibt, und darüber spannen sich die Amplituden der Atmung, ein kontinuierliches Heben und Senken wie in einer fortgesetzten Melodie. Blut und Luft: Dieser Zweiklang des Strömens bestimmt das leibliche Leben in jedem Augenblick. SPRECHER: Da ist es auch nicht mehr verwunderlich, wenn bei Elias Canetti das Atmen zu einem Bild für das Schreiben selbst wird. Schließlich hat Sprache mit ihrer Herkunft aus Schwingung und Atmung und Klang auch etwas mit der Luft zu tun. Im Schreiben setzt sich das fort - für Canetti eine unmittelbare Lebensfunktion: REZITATOR: Ausatmen, das heißt sich selbst erschöpfend, restlos ausatmen aus sich selbst hinüber in das weit Offene - das ist schon ein Tod. Einatmen, das heißt das Weite wieder in sich hineinlassen - das ist schon eine Auferstehung. SRPECHER: Und weiter Canetti: REZITATOR: Ich verachte alles, was nicht atmen, denken, lernen ist. SPRECHER: Und dieses denkende Atmen geht so: REZITATOR: Nur in seinen zerstreuten und widersprüchlichen Sätzen vermag es der Mensch, sich zusammenzuholen, ganz zu werden, ohne das Wichtigste zu verlieren, sich zu wiederholen, sich zu atmen, seine Gesten zu erfahren, seinen Akzent zu begründen, seine Masken zu üben, seine Wahrheiten zu fürchten, seine Lügen zu Wahrheiten zu verdampfen, sich zum Tod zu erzürnen und verjüngt zu verschwinden. SPRECHER: Schreiben, atmen , denken, leben - das ist eine einzige Bewegung. Sprache, Stimme, Schrift. Die Luft, die man dafür braucht, ist nicht nur metaphorisch gemeint. SPRECHERIN: Martin Walser ist sogar einmal am Schreibtisch zusammengebrochen, weil er immer die Luft anhielt, bis er mit seinem Satz fertig war - und Walser schrieb damals sehr lange Sätze. Er arbeitete gerade an dem Roman "Das Einhorn" und war an der Stelle angelangt, an der Anselm Kristlein, unter einem Apfelbaum liegend, beobachtet, wie die wunderschöne Orli, Urbild der Weiblichkeit, in knappem Bikini und mit offenem, nassem Haar aus dem Wasser des Bodensees steigt. SPRECHER: Da kann einem Mann schon einmal die Luft wegbleiben. SPRECHERIN: Walser verlor zusammen mit seiner Romanfigur das Bewusstsein und diagnostizierte in seinem Tagebuch einen "Schwindel, der nicht mehr aufhören will". Jahre später findet sich dort eine Stelle, wo es ganz allgemein um Schriftsteller geht - und damit also auch um ihn selbst: REZITATOR: Sie wissen nichts anzufangen mit sich, sie müssen arbeiten. Sobald sie nicht arbeiten, sterben sie. Leben z. B. ist ihnen fremd. Sie nehmen daran nur gezwungenermaßen teil. Sie wollen so rasch wie möglich wieder heim aufs Papier. Und es erbittert sie wirklich, dass ihnen beim Arbeiten immer häufiger die Luft wegbleibt, dass sie umfallen am Schreibtisch, den Kopf auf die Tischplatte schlagen, dass die Physis versagt, nicht mitmacht, den ganzen großen Plan sabotiert. Ohne dass die Hauptsache getan worden wäre, verenden sie. All das Angefangene, das sie hinterlassen, nämlich die Welt, wie sie gerade ist, macht einen grotesken und vor Unfertigkeit eigentlich lächerlichen Eindruck. SPRECHERIN: Und noch einmal Walser: REZITATOR: Das Atmen genügt nicht mehr. Es ist, als sei irgendwo in meinem Körper ein Loch, durch das die eingeatmete Luft sofort wieder entweicht, bevor sie ihre Arbeit tun kann. Die Luft, die ich einatme, ist, als sei sie angewärmt und schon verbraucht. SPRECHER: Das Atmen ist unmittelbares körperliches Erleben und In-der-Welt-sein. SPRECHERIN: Zugleich hat es aber auch eine starke symbolische Dimension. Es macht aus dem Schreiben ein Existieren. SPRECHER: Schreiben ist Atmen, ist Leben, ist Luft. Das vibriert, das pulsiert, das ist aufgeladen und voller Spannung. Luft ist ein erotisches Element, etwas Verbindendes. SPRECHERIN: Nicht umsonst ist der "Lebensatem" in vielen Kulturen gleichbedeutend mit der Seele, die mit dem letzten Seufzer den Körper verlässt. SPRECHER: Atem ist Geist, ist "Pneuma", wie die Griechen sagten, und war für die Vorsokratiker ein feuriger Lufthauch mit kosmischer Kraft. Atmend nahm der Mensch das Urelement auf, die Luft, und damit füllte ihn der Lebensstoff, der Geist, die Seele, der Eros. SPRECHERIN: Und das alles kommt im Schreiben zum Ausdruck? Schreiben - eine Art geistiges Atmen? SPRECHER: Love is in the air. MUSIK : (John Paul Young, Love is in the air) Love is in the air in the whisper of the trees love is in the air in the thunder of the sea and I don't know if I'm just dreaming don't know if I feel sane but it's something that I must believe in and it's there when you call out my name Love is in the air love is in the air oh oh oh SPRECHER: Leben und Lieben als Luft und Atem - so wird es auch in den Schöpfungsmythen gedacht. Prometheus formte Figuren aus Lehm in Menschengestalt, die er der Göttin Athene zeigte. Und weil sie Gefallen daran fand, blies sie ihnen ihren göttlichen Atem ein. So entstand der Mensch. Ganz ähnlich geschieht es in der Bibel, in der zweiten Schöpfungsgeschichte. REZITATOR: Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen. SPRECHERIN: Erst mit diesem göttlichen Odem kommt Luft in die Schöpfungsgeschichte und mit der Luft das menschliche Leben. Bei der Erschaffung der Welt werden zwar Himmel und Erde und Erde und Wasser voneinander geschieden, den Himmel aber muss man sich als das ferne Firmament vorstellen, das die Sterne, die Sonne und den Mond trägt. Licht und Finsternis entstehen, oben und unten, aber Luft als eigenständiges Element kommt in der Genesis nicht vor. Selbst die Vögel, die da geschaffen werden, fliegen nicht durch die Luft, sondern, wie es in der Luther-Übersetzung heißt, "auf Erden unter der Feste des Himmels". SPRECHER: Luft ist nicht greifbar. Sie ist das unsichtbare Element, und es dauerte sehr lange, bis die Menschen überhaupt verstanden, dass da etwas ist und nicht Nichts. SPRECHERIN: Man musste von den Wirkungen auf die Existenz eines Elementes schließen: erst Wind und Stürme, Nebel, Rauch machen die Luft erlebbar. Doch solange Wind als Atem der Götter verstanden wurde, war die Abwesenheit von Wind einfach nur Leere. Dann zeigten sich die Götter eben nicht. SPRECHER: Thales von Milet hat das Wasser als Urstoff aller Dinge bezeichnet, Heraklit das Feuer. Anaximenes kam dann auf die Luft, die er als das einzige wirklich unbegrenzte Etwas für den Ursprung aller Dinge hielt. Luft umgibt das Wasser und die Erde, das Wasser ist in ihr als Regen enthalten, das Feuer als Blitz. Hitze und Wärme, Feuchtigkeit und Trockenheit gehen aus der Luft hervor. SPRECHERIN: Anaximenes hatte auch schon eine ziemlich moderne Theorie wechselnder Aggregatzustände, wenn er Wasser als verdichtete, schwer gewordene Luft verstand. SPRECHER: Empedokles brachte dann als viertes Element die Erde ins Spiel und begründete die bis heute noch wirksame Lehre von den vier Elementen in seinem nur in Fragmenten überlieferten Lehrgedicht "Über die Natur". REZITATOR: Die vier Wurzelkräfte aller Dinge höre zuerst: Zeus, der schimmernde, Here, die lebensspendende, sowie Aidoneus und Nestis, die durch ihre Tränen irdisches Quellwasser fließen lässt. SPRECHER: Die Urstoffe werden da noch mit einzelnen Gottheiten identifiziert; die Götter sind die Ursache dieser Stoffe, wenn Wasser als Göttertränen vorgestellt wird und Luft als göttlicher Atem. SPRECHERIN: Sie sind aber auch die Stoffe selbst und zeigen sich in diesen. Zeus ist das Feuer und Here die Erde, Aidoneus ist der Wind und Nestis das Wasser. Die Elemente sind chemische, sinnlich erfahrbare Substanzen - aber göttlich belebt. Ein anderer Name für Luft ist Hades, das Unsichtbare. Empedokles bezeichnet Luft auch als "unendliche Höhe". SPRECHER: Feuer, Wasser, Erde und Luft sind die vier Grundstoffe, die aus nichts anderem bestehen und die nicht mehr hintergehbar sind. REZITATOR: Die Luft dagegen tauchte mit langen Wurzeln in die Erde hinab. SPRECHERIN: Die Stoffe sind miteinander verbunden, sind in einen ständigen Prozess des Werdens und Vergehens verstrickt und in ihren Mischungsverhältnissen, Verbindungen und Übergangszuständen zu betrachten. SPRECHER: Die treibenden Kräfte, die zwischen ihnen wirken, nennt Empedokles "Liebe" und "Hass". Das sind Spannungsverhältnisse, die mit Attraktion und Abstoßung zu tun haben. Eros ist die universale Macht, die das Werden in Gang setzt. Das ist ein affektives Geschehen. Die Elemente stehen auch für Gefühle oder Stimmungen. REZITATOR: Und dieser beständige Wechsel hört nimmer auf: bald vereinigt sich alles zu Einem in Liebe, bald auch trennen sich wieder die einzelnen Dinge im Hasse des Streites. Insofern nun so Eines aus Mehrerem zu entstehen pflegt und Mehreres wiederum aus dem Zerfall des Einen entsprosst, insofern findet eine Entstehung statt und ihr Leben bleibt nicht unverändert, sofern aber ihr beständiger Wechsel nimmer aufhört, insofern bleiben sie während des Kreislaufes stets unerschütterte Wesen. SPRECHER: Die vier Säfte, die vier Temperamente, die vier Lebensalter, die vier Jahreszeiten: Immer ist es die Vier, die Vollständigkeit nahelegt. SPRECHERIN: Auch die vier Winde wären da zu nennen als Vertreter der vier Himmelsrichtungen. Die Vier ist der Ordnungsfaktor der Welt. So ist auch die Luft selbst viergeteilt. MUSIK: Fats Domino, Let the four winds blow Let the four winds blow Let 'em blow, let 'em blow From the East to the West I love you the best SPRECHERIN: Boreas, der beißende Nordwind; Euros, der heiße Ostwind; Notos, der feuchtwarme Südwind und Zephyros, der milde Westwind. Aiolos, der von Zeus zum Hüter der Winde bestellt worden war, hielt sie auf einer äolischen Insel in Schläuchen gefangen und ließ sie nach seinem Belieben oder auf Bitten der Götter frei. Man musste sich gut stellen mit ihnen, um sie nicht zum Gegner zu haben. MUSIK: Fats Domino, Let the four winds blow I like the way you walk I like the way you talk Let me hold your hand Try to understand I want a girl like you Tell my troubles to you Don't be afraid You've heard what I said Let the four winds blow Let 'em blow, let 'em blow From the East to the West I love you the best SPRECHERIN: Odysseus hätte sehr viel früher zu Hause sein können und sich seine Irrfahrt ersparen, wenn er seine Gefährten daran gehindert hätte, die Winde aus ihren Schläuchen freizulassen. Aiolos, der Odysseus gastfreundlich empfangen hatte, gab sie ihm mit, um ihm ungünstige Winde zu ersparen. Doch kurz vor der Ankunft in Ithaka schauten die Gefährten neugierig in die Schläuche. Die hervorbrausenden Winde trieben die Schiffe weiter ab vom Ziel, und Odysseus kam erst nach zahn Jahren zu Hause an. SPRECHER: Den Trojanischen Krieg hätte es dagegen aufgrund einer Windstille fast nicht gegeben. Agamemnon hatte eine der Artemis geweihte Hirschkuh erlegt und sich obendrein noch damit gebrüstet, die Göttin würde auch nicht besser zu treffen verstehen als er. Das hätte er besser nicht gesagt, denn die Götter sind schnell beleidigt. In Gustav Schwabs Nacherzählung klingt das so: REZITATOR: "Wenn der oberste Führer der Griechen, der Fürst Agamemnon, Iphigenia, sein und Kytämnestras geliebtes Kind, der Artemis opfert, so wird die Göttin versöhnt sein, Fahrwind wird kommen, und der Zerstörung Trojas wird kein übernatürliches Hindernis mehr im Wege stehen. SPRECHER: Agamemnon zögert und klagt, ist schließlich aber doch bereit, die Tochter für den guten Zweck zu opfern. Im allerletzten Augenblick wird Iphigenie schon auf dem Opferaltar liegend gerettet, weil Artemis Mitleid mit ihr hat und sie rasch durch eine heilige Hirschkuh ersetzt. SPRECHERIN: Menschenopfer sind nicht mehr opportun, Tieropfer reichen aus. das sagt diese Geschichte. Da ereignet sich in der griechischen Mythologie der selbe zivilisatorische Schritt wie im alten Testament, wo Abraham seinen Sohn Isaak zu opfern bereit ist und Gott ihn dann durch ein Opfertier ersetzt. SPRECHER: Artemis ist versöhnt, ein Wind kommt auf, und die Geschichte nimmt ihren unvermeidlichen Lauf. Iphigenie wird auf die Insel Tauris versetzt. Sie kam zwar mit dem Leben davon, befindet sich nun aber im Exil und beklagt in der Tragödie des Empedokles ihr vom Wind diktiertes Los: REZITATORIN O Aulis, hättest du der Griechen Schiffe In deinem Hafen nie empfangen! Hätte Ein günst'ger Wind nach Troja sie beflügelt, Kein Zeus hier am Euripus sie verweilt! Ach, er verleiht die Winde nach Gefallen: Dem schwellt er mit gelindem Wind die Segel, Dem sendet er das Leid, die Angst dem Andern, Den lässt er glücklich aus dem Hafen steuern, Den führt er leicht durchs hohe Meer dahin, Den hält er in der Mitte seines Laufes. War's nicht schon leidenvoll genug, nicht etwa Schon tränenwert genug des Menschen Loos, Dass er dem Tod noch rief, es zu erschweren? SPRECHER: Der Wind ist der Motor der Geschichte, er bläst gewissermaßen in die Zukunft hinein, treibt vorwärts, dem Krieg entgegen. SPRECHERIN: Mit dem nutzbar gemachten Wind setzt die Geschichte des Fortschritts, der technischen Evolution ein. Schließlich wollten die Menschen sich emanzipieren von den Launen und dem Willen der Götter. SPRECHER: Nur um schließlich zu bemerken, dass der Wind, den sie beherrschen wollten, zum Sturm geworden ist, der sie gnadenlos vorwärtstreibt. Der Engel der Geschichte, wie Walter Benjamin ihn sieht, ist eine vom Wind gepeitschte Figur: REZITATOR: Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm. MUSIK: (Etta James, Stormy weather) Don't know why There's no sun up in the sky Stormy weather Since my man and I ain't together Keeps raining all of the time Oh yeah, life is bad Gloom and misery everywhere Stormy weather, stormy weather And I just can get my poor self together Oh, I'm weary all of the time The time, so weary all of the time SPRECHERIN: Derjenige, der den Sturm des Fortschritts in der Geschichte der Luft entfacht hat, ist Dädalus, der Erfinder, so wie ihn Ovid in den "Metamorphosen" vorstellt. Der Erfinder bedient sich der Technik und gelangt durch fortgesetztes Experimentieren zu neuen "unerspäheten" Künsten. Try and error, würde man heute sagen: REZITATOR: So drehet der Künstler Zahllos irrender Gänge Gemisch. Kaum findet er selber Sich zur Schwelle zurück. SPRECHER: Da deutet sich schon an, welches Risiko der Forscher eingeht. Er lebt in der Gefahr, sich selbst verloren zu gehen, mitgerissen zu werden von seiner Sache und von der Begeisterung, Neues zu finden und zu schaffen. Er baut sich ein Fluggerät, verliert dabei aber zwangsläufig den Boden unter den Füßen. SPRECHERIN: Was Dädalus angetrieben hat, war die Sehnsucht. Er war Gefangener des Königs Minos auf Kreta und litt unter Heimweh. Er wollte fliehen, wollte nach Hause, und das konnte ihm nur durch die Luft gelingen. Das Fliegen als Traum von der Freiheit, die Luft als Sehnsuchtsort über den Wolken, der Fortschritt als Flucht und Entkommen: Auch das beginnt mit Dädalus. REZITATOR: Lange verbannt das Geschick, und, gelockt von der Liebe der Heimat, War er umschlossen vom Meer. So werde denn Land und Gewässer, Rief er, gesperrt; doch öffnet der Himmel sich: dort sei die Laufbahn! Alles beherrsch' auch Minos, die Luft beherrschet er doch nicht! SPRECHER: Das klingt fast wie 2000 Jahre später die berühmte Stelle aus dem "geteilten Himmel" von Christa Wolf. "Den Himmel wenigstens können sie nicht zerteilen", heißt es da, im Vertrauen darauf, dass in der Luft alle Ansprüche der Politik und der Macht enden. Doch in der Zeit des Mauerbaus, des Kalten Krieges und der Konkurrenz der Ideologien lautete die unvermeidliche Replik: REZITATORIN: "Doch", sagte Rita leise: "Der Himmel teilt sich zuallererst." SPRECHER: Das konnte Dädalus noch nicht wissen, als er mit größter Sorgfalt seine Flugmaschine konzipierte, Feder an Feder fügte und dabei Vogelflügel nachahmte. Die langen zuerst, dann immer kürzere bis in die Flügelspitzen hinein, fast so, sagt Ovid, als baue er eine Hirtenflöte aus Federn. SPRECHERIN: Und doch weiß auch Dädalus, dass der Himmel geteilt ist. Luft ist ein Zwischenelement, das sich zwischen dem Wasser des Meeres und dem Feuer der Sonne ausdehnt. Deshalb schärft er seinem Sohn, dem Knaben Ikarus, ein, nicht zu hoch und nicht zu tief zu fliegen und am besten immer dicht bei ihm zu bleiben. REZITATOR: und mit Schwingen sich hebend, Fliegt er voran, voll Angst um den Folgenden: so wie ein Vogel Hoch aus dem Nest entführet die schwächliche Brut in die Lüfte. Und er ermahnt den Begleiter und lehrt ihm schädliche Künste; Selbst die seinigen regt er und schaut auf die Flügel des Sohnes. Mancher, indem er Fische mit schwankendem Rohre sich angelt, Oder gelehnt auf den Stecken ein Hirt, auf die Sterze der Pflüger, Sahe die beiden erstaunt, und wähnete, Himmlische wären's, Welche die Luft durcheilten. SPRECHERIN: Wir wissen, wie diese Reise durch die Luft ausgegangen ist. Es waren eben keine Götter unterwegs, sondern nur Menschen, und die stürzen ab. Die Katastrophe begleitet die Geschichte der technischen Innovationen auf Schritt und Tritt, oder von Flügelschlag zu Flügelschlag. Und wie zum Hohn des Menschen, der versucht, die Natur zu bezwingen, lässt Ovid am Ende ein Rebhuhn auftreten, das dem um seinen Sohn trauernden Erfinder zeigt, was Flügel sind: REZITATOR: Als er die Leiche begrub des erbarmungswürdigen Sohnes, Schaut aus der ästigen Eiche hervor ein geschwätziges Rebhuhn. Fröhlich schlug es die Schwingen und äußerte Freud' im Gesange. Noch ein einzelner Vogel und fremd den vorigen Jahren, Jüngst in Gefieder gehüllt, dir, Dädalus, ewig ein Vorwurf. MUSIK: (ab 2:00) Muddy Waters: Blow wind, blow. Well blow wind, blow wind, blow my baby back to me Yeah, blow wind, blow wind, blow my baby back to me Well you know if I don't soon find my pine top, my heart's gonna be in misery SPRECHER: Der Wind, die Technik und die Katastrophe - die Elemente des Dädalus- Mythos finden sich verwandelt auch im ersten großen Roman der Neuzeit, im "Don Quijote". Es ist ja kein Zufall, dass der Ritter von der traurigen Gestalt, der die gute alte Zeit der Ritter verteidigt, gegen Windmühlen kämpft. Er hält sie für gewaltige Riesen, und ist mit dieser Anschauung vielleicht weniger verrückt, als es zunächst scheint. Sie repräsentieren die Moderne, den Fortschritt, die Technik, all das, wogegen Don Quijote vergeblich anrennt. REZITATOR: Indem erhub sich ein leiser Wind, und die langen Flügel fingen an, sich zu bewegen. Sobald Don Quijote dies sah, sprach er: "Wohl, ob ihr auch mehr Arme als die des Riesen Briareus bewegtet, ihr sollt mir's doch bezahlen. Und dies ausrufend und sich von ganzem Herzen seiner Herrin Dulcinea befehlend und sie bittend, ihm in so entscheidendem Augenblicke beizustehen, wohl gedeckt mit seinem Schilde, mit eingelegtem Speer, sprengte er an im vollsten Galopp Rosinantes und griff die erste Mühle vor ihm an: aber als er ihr einen Lanzenstoß auf den Flügel gab, drehte der Wind diesen mit solcher Gewalt herum, dass er den Speer in Stücke brach und Ross und Reiter mit sich fortriss, so dass sie gar übel zugerichtet übers Feld hinkugelten. SPRECHERIN: Der Kampf mit den Windmühlen dauert nicht länger als eine Seite in einem Roman von fast tausend Seiten! Es ist erstaunlich, dass gerade diese Szene so berühmt geworden ist, dass man bei Don Quijote immer gleich an Windmühlen denkt. SPRECHER: Weil hier symbolisch in einem einzigen, verdichteten Bild Natur und Geschichte und die Rolle des Menschen dargestellt sind. Wir erkennen uns wieder in Don Quijote, der den technischen Fortschritt aufhalten möchte. Und dann ist es doch die Natur, die mit der Kraft des Windes zurückschlägt und sich ausgerechnet an dem rächt, der sie befreien möchte. Das ist wahrhaft tragisch. Es wäre zu einfach, Don Quijote nur als lächerliche Figur zu verstehen. MUSIK: (ab 2:00) Muddy Waters: Blow wind, blow. Well blow wind, blow wind, blow my baby back to me Yeah, blow wind, blow wind, blow my baby back to me Well you know if I don't soon find my pine top, my heart's gonna be in misery SPRECHERIN: Auch die, die nach Don Quijote kamen, sind von seinen Ambivalenzen gezeichnet. Die Pioniere der Naturbezwingung zeigen oft eine geradezu melancholische Stimmung, weil sie die Gesetze der Natur besonders gut verstehen müssen, um zu begreifen, wie sie nutzbar zu machen sind. SPRECHER: Otto Lilienthal konnte nur deshalb das Flugzeug erfinden, weil er den Vögeln ganz genau zusah und als erster Mensch verstand, dass es nicht auf das Schlagen der Luft mit den Flügeln ankam, sondern auf das Gleiten durch die Luft als Verdrängungsvorgang, der Auftrieb erzeugt. Der Schneider von Ulm hatte es noch auf herkömmliche Weise, flügelschlagend versucht, und stürzte ab. Lilienthal legte seine Forschungsergebnisse unter dem Titel: "Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst" vor und begann wie ein romantischer Naturfreund, nicht wie ein Techniker: REZITATOR: Alljährlich, wenn der Frühling kommt, und die Luft sich wieder bevölkert mit unzähligen frohen Geschöpfen, wenn die Störche, zu ihren alten nordischen Wohnsitzen zurückgekehrt, ihren stattlichen Flugapparat, der sie schon viele Tausende von Meilen weit getragen, zusammenfalten, den Kopf auf den Rücken legen und durch ein Freudengeklapper ihre Ankunft anzeigen, wenn die Schwalben ihren Einzug gehalten, und wieder in segelndem Fluge Straße auf und Straße ab mit glattem Flügelschlag an unseren Häusern entlang und an unseren Fenstern vorbei eilen, wenn die Lerche als Punkt im Äther steht, und mit lautem Jubelgesang ihre Freude am Dasein verkündet, dann ergreift auch den Menschen eine gewisse Sehnsucht, sich hinaufzuschwingen, und frei wie der Vogel über lachende Gefilde, schattige Wälder und spiegelnde Seen dahinzugleiten, und die Landschaft so voll und ganz zu genießen, wie es sonst nur der Vogel vermag. SPRECHERIN: Es war eine sehr einfache, und doch sehr wirkungsvolle Beobachtung, die Lilienthal auf den richtigen Weg brachte: REZITATOR: Die Beobachtung der fliegenden Tiere lehrt, dass es möglich ist, mit Hülfe von Flügeln, welche eigentümlich geformt sind, und in geeigneter Weise durch die Luft bewegt werden, schwere Körper in der Luft schwebend zu erhalten, und nach beliebigen Richtungen mit großer Geschwindigkeit zu bewegen. SPRECHERIN: Vielleicht kann man sagen, dass Technik dann funktioniert, wenn sie sich der Natur anverwandelt. Sie ist Nachahmung. Mimesis. So ist ja auch schon Dädalus vorgegangen. SPRECHER: Und der Mensch liegt mit ihr im Kampf. So sehen es die Pioniere, die Helden der Luftfahrt, die, wie der leidenschaftliche Flieger Antoine de Saint-Exupery das Abenteuer als Kampf mit den Elementen suchen. Für ihn war das Flugzeug ein Gerät, mit dem er sich in die Luft einschrieb wie ein Bauer mit dem Pflug in die Erde: REZITATOR: Die Erde schenkt uns mehr Selbsterkenntnis als alle Bücher, weil sie uns mehr Widerstand leistet. Und nur im Kampfe findet der Mensch zu sich selber. Aber er braucht dazu ein Werkzeug, einen Hobel, einen Pflug. Der Bauer ringt in zäher Arbeit der Erde immer wieder eines ihrer Geheimnisse ab, und die Wahrheiten, die er ausgräbt, sind allgültig. So stellt auch das Flugzeug, das Werkzeug des Luftverkehrs, den Menschen allen alten Welträtseln gegenüber und wird uns zum Werkzeug der Erkenntnis und der Selbsterkenntnis. SPRECHERIN: Bis zu Otto Lilienthal war die Geschichte der Luftfahrt eine Geschichte der Ballonfahrer. Ihr lag der Gedanke zugrunde, dass sich nur das erheben könne, was leichter ist als Luft. Der Heißluftballon der Brüder Montgolfier beruht auf diesen Überlegungen. Sie glaubten, ein besonderes Gas entdeckt zu haben, das aus der Verbrennung von Stroh und Papier entstand. Dabei war es nur heiße Luft, die für den Auftrieb sorgte. Goethe war wie alle Zeitgenossen begeistert, nur ein wenig betrübt darüber, dass er die Sache mit dem Schweben nicht selbst entdeckt hatte. REZITATOR: Die Luftballone werden entdeckt. - Wie nah ich dieser Entdeckung gewesen. - Einiger Verdruss, es nicht selbst entdeckt zu haben. - Baldige Tröstung ... SPRECHERIN: Und doch war die Ballonfahrt eine Sackgasse in der Geschichte des Fliegens und verzögerte womöglich die Erfindung der Flugzeuge, weil die Entdeckerleidenschaft in die falsche Richtung ging. SPRECHER: Jules Vernes erster Roman, erschienen 1863, hieß "Fünf Wochen im Ballon". Darin geht es um einen Erfinder, der behauptet, das Problem des lenkbaren Ballons gelöst zu haben und sich zum Beweis auf eine Ballonfahrt quer durch Afrika begibt. Der Ballon trägt programmatisch den Namen "Victoria". SPRECHERIN: Die gefährlichsten Momente des Fliegens sind Start und Landung. Das galt auch für die Ballonfahrt, die eher ein Schwimmen in der Luft gewesen ist als ein Fliegen. Man sprach ja auch von Luftschiff, Jules Vernes Victoria hat einen Anker, um am Boden festzumachen, verheddert sich damit aber immer wieder in Bäumen und Gebüsch. SPRECHER: In Norbert Gstreins Erzählung "In der Luft" ist die Gefahr plötzlich eine ganz andere. Da geht es um den Physiker und Stratosphärenforscher Auguste Piccard, der mehrere Höhenweltrekorde mit dem Ballon aufstellte. Im Jahr 1931 erreichte er 15.785 Meter. Doch dann gibt es technische Probleme an Bord, die es unmöglich machen, den Ballon zu steuern. Die Männer müssen fürchten, allzu lange da oben festzuhängen, so dass ihnen bald der Sauerstoff ausgehen wird. Die Sonne brennt auf ihre Kanzel, es ist unerträglich heiß. Sie können nur darauf hoffen, dass der Ballon nach Sonnenuntergang, wenn es abkühlt, sinken wird. REZITATOR: Inzwischen waren wir den Bergen sehr nahe gekommen. (...) Weiter weg Schnee, einmal weiß, einmal bläulich schimmernd, einmal, schien es, golden, schien es gelb. Darüber waren in allen Himmelsrichtungen, in allen Höhen Wolken zu sehen, in allen Formen, in allen Farben des Regenbogens, und tatsächlich, vor uns breitete sich die Natur in ihrer ganzen Künstlichkeit aus, es wirkte wie eine Fata Morgana, (...) und wir warteten auf einen Kippeffekt, mit dem alles umschlagen würde, ins Bodenlose, ins Leere, in den Zenit, ins Zentrum einer anderen Welt. SPRECHERIN: Die Natur hat sich entfremdet. Sie entzieht sich dem Menschen umso mehr, je tiefer er in sie einzudringen versucht. SPRECHER: Und aus dem Traum vom Fliegen ist die Billigroutine des Tourismus geworden SPRECHERIN: Fliegen ist nichts anderes mehr als ein Fortbewegungsmittel, und während wir durch de Luft fliegen, vertreiben wir uns die Zeit mit Filmen und Computerspielen. MUSIK: Bob Dylan, Idiot Wind (Refrain 1) Idiot wind, blowing every time you move your mouth, Blowing down the back roads headin' south. Idiot wind, blowing every time you move your teeth, You're an idiot, babe. It's a wonder that you still know how to breathe. SPRECHER: Das Fliegen hat allen Freiheitszauber verloren. Die Luft ist kein Element mehr, sondern eine Müllhalde. Sie wird geschändet und ausgebeutet, die Atmosphäre mit CO2 vergiftet, und auch wenn jeder weiß, dass dieser Weg in die Katastrophe führt, hat noch keine Klimakonferenz etwas daran geändert. REZITATORIN: Diese Schornsteine, die wie Kanonenrohre in den Himmel zielen und ihre Dreckladung Tag für Tag und Nacht für Nacht auf die Stadt schießen, nicht mit Gedröhn, nein, sachte wie Schnee, der langsam und sanft fällt. SPRECHER: So beschrieb Monika Maron 1981 die Luftlage in Bitterfeld, im Chemiezentrum der DDR. Und auch wenn sich dort die Luft ebenso wie im Ruhrgebiet oder in den Großstädten seither wieder verbessert hat - weltweit gesehen hat sich die Bedrohung der Luft weiter verschärft. SPRECHERIN: Vielleicht sollten wir sie wiederentdecken, als ein Element, das von den Göttern belebt wird und aus dem auch wir unseren Lebensatem schöpfen. MUSIK: Bob Dylan, Idiot Wind (Refrain 3) Idiot wind, blowing through the buttons of our coats, Blowing through the letters that we wrote. Idiot wind, blowing through the dust upon our shelves, We're idiots, babe. It's a wonder we can even feed ourselves. SPRECHER: Hölderlin war wohl der letzte der Dichter, der mit den Göttern vertrauten Umgang pflegte. Sein Hyperion ist auch ein Hymnus an die Luft als das Element der Liebe. Mit der Luft feiert er die ganze weite Natur und das emphatische Dasein im Einklang mit ihr. SPRECHERIN: Ach, Hölderlin. REZITATOR: Wie, wenn die Mutter schmeichelnd frägt, wo um sie her ihr Liebstes sei, und alle Kinder in den Schoß ihr stürzen, und das Kleinste noch die Arme aus der Wiege streckt, so flog und sprang und strebte jedes Leben in die göttliche Luft hinaus, und Käfer und Schwalben, und Tauben und Störche tummelten sich in frohlockender Verwirrung untereinander in den Tiefen und Höhn, und was die Erde festhielt, dem ward zum Fluge der Schritt. über die Gräben brauste das Ross und über die Zäune das Reh, und aus dem Meergrund kamen die Fische herauf und hüpften über die Fläche, allen drang die mütterliche Luft ans Herz, und hob sie und zog sie zu sich. Und die Menschen gingen aus ihren Türen heraus, und fühlten wunderbar das geistige Wehen, wie es leise die zarten Haare über der Stirne bewegte, wie es den Lichtstrahl kühlte, und lösten freundlich ihre Gewänder, um es aufzunehmen an ihre Brust, atmeten süßer, berührten zärtlicher das leichte klare schmeichelnde Meer, in dem sie lebten und webten. O Schwester des Geistes, der feurigmächtig in uns waltet und lebt, heilige Luft! wie schön ist's, dass du, wohin ich wandre, mich geleitest, Allgegenwärtige, Unsterbliche! MUSIK: Jimmy Hendrix, Wind cries Mary, (4. Strophe) Will the wind ever remember The names it has blown in the past And with its crutch its old age and its wisdom It whispers "no, this will be the last" And the wind cries Mary - 25 -