DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 02.12.2014 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 ? 20.00 Uhr Wiederholung: 01.12.2015 19.15 ? 20.00 Uhr Axt und Feder Wie der aserbaidschanische Schrifsteller Akram Ailisli vom lebenden Klassiker zum Volksfeind wurde Von Ernst von Waldenfels URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Musik 1. Übersetzer als Zitator Erst vor zehn oder fünfzehn Tagen hatte Doktor Farsani eine sehr komplizierte Operation an einem vierzehn- bis fünfzehnjährigen armenischen Mädchen durchgeführt, das wie durch ein Wunder ins Krankenhaus eingeliefert worden war. In der U-Bahn, die immer voller Menschen ist, hatten sich mehrere Aserbaidschanerinnen auf sie gestürzt und vor den Augen Hunderter Menschen zusammengeschlagen. Und wenige Tage davor war irgendein degenerierter Dichter ins Krankenhaus gestürmt, hatte einen Arzt verprügelt und aus dem Sprechzimmer gejagt, nur weil dieser das Pech hatte, als Armenier geboren zu sein. Nach diesem Zwischenfall gab es im Krankenhaus keinen einzigen Armenier mehr ? weder einen Arzt noch einen Pfleger. Die einen hielten sich zu Hause verborgen, die anderen hatten Baku für immer verlassen. Erzähler Ende 2012 veröffentlichte der aserbaidschanische Schriftsteller Akram Ailisli die Novelle ?Steinträume?. Darin beschreibt er die Pogrome an den Armeniern, die 1989 in Baku stattfanden. Wegen dieser Veröffentlichung wurde ihm die Rente gestrichen, seine Bücher aus den Bibliotheken entfernt und öffentlich verbrannt. Ailislis Frau und die beiden Söhne haben ihre Arbeit verloren, und im Parlament forderten Abgeordnete, man möge doch untersuchen, ob der Schriftsteller armenische Gene habe. O-Ton Ailisli (Russisch) 1. Übersetzer Wissen Sie, das gesamte Unglück besteht darin, dass niemand, der über die ?Steinträume? und ihren Inhalt schrieb, bemerkt hat, dass es in diesem Werk nicht um den Karabach Konflikt geht, sondern um das menschliche Schicksal und die Moral und die Seele des Menschen. Sprecherin Axt und Feder Wie der Schriftsteller Akram Ailisli vom lebenden Klassiker der aserbaidschanischen Literatur zum Volksfeind wurde Ein Feature von Ernst von Waldenfels Erzähler Baku erreiche ich über einen riesigen, hochmodernen, doch menschenleereren Flughafen. Auf dem Weg in die Innenstadt durchquere ich ein neues Stadtviertel mit einem gewaltigen Stadion, und dann passieren wir immer wieder Hochhäuser mit postmodernen Fassaden und zahllosen Erkern und Ecktürmen. Am auffälligsten ist ein gewaltiges, rundes, fensterloses und beinahe eiförmiges Gebäude aus hellem Metall. Es ist das Museum für Gaidar Alijew, den Vater und Vorgänger im Amt des heutigen Staatspräsidenten Ilham Alijew. Einige Kilometer weiter folgt das ausgedehnte, historische Zentrum der Millionenstadt am kaspischen Meer. Überall sieht man die Spuren des ersten Öl Booms, der das Land reich gemacht hat. Er hat Ende des neunzehnten Jahrhunderts stattgefunden, als die Hälfte der Weltförderung vom kaspischen Meer kam. Mächtige Villen im Jugendstil, ein Opernhaus wie aus Tausend und einer Nacht und schattige Plätze mit Cafés, kleinen Restaurants und Boutiquen, die alle aus dem hiesigen hellen Sandstein errichtet sind. Ganz im Stadtkern schließlich findet sich eine hervorragend restaurierte orientalische Altstadt mit engen Gassen und an ihrem Rand ein großer Park, der sich am Ufer des kaspischen Meeres entlang zieht. In Unterführungen findet man Zitate eingemeißelt, sowohl von Gaidar Alijew, der 1993 zum Staatspräsidenten gewählt wurde, wie auch von seinem Sohn Ilham, der ihm zehn Jahre später nachfolgte. Auch Bilder der beiden Staatspräsidenten sind allgegenwärtig. Der Vater mit ernster würdiger Miene, der Sohn mit einem leichten Lächeln um den gepflegten Schnurrbart. Akram Ailisli treffe ich in einer Vierzimmerwohnung im zehnten Stock eines Hochhauses aus der Sowjetzeit. O-Ton Ailisli (Russisch) 1. Übersetzer Mein Hauptheld, das ist ein vergeistigter Mensch, der sich von seiner Umgebung darin unterscheidet, dass er wahrhaft gläubig ist. Er glaubt nicht an irgendeinen Gott, den irgendjemand zu seinem eigenen Vorteil erfunden hat, er glaubt an einen wahren Gott. Es tut mir weh, dass sich die Leute nie mit dieser, der wesentlichen Seite der Geschichte befasst haben, die von einem Menschen handelt, der inmitten des Hasses und der Barbarei verzweifelt und zum Wahnsinn getrieben wird. Es geht hier überhaupt nicht um das Karabach Problem. Es geht um die psychische Situation eines Menschen, der einfach den Verstand verliert als er sich daran erinnert, wie man ihm früher von dem unmenschlichen Massaker erzählt hat und jetzt sieht, wie sich alles wiederholt. Musikalischer Akzent Sprecherin Budapest, 19.Februar 2004. Polizeihauptquartier. Aus der Aussage des aserbaidschanischen Staatsangehörigen Ramil Safarow. 2. Übersetzer Meine Armee hatte mich zu diesem Training geschickt und ich war nun damit konfrontiert, dass zwei Armenier mit mir studierten. Sprecherin Der Aserbaidschaner und die beiden Armenier sind Offiziere aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Das Seminar, das sie besuchen, wird von der NATO organisiert und ist Teil des Programms ?Partnerschaft für Frieden?. Die Offiziere sind in Budapest in einem Wohnheim der ungarischen Armee untergebracht. 2. Übersetzer Ich verspürte Ihnen gegenüber Feindschaft. Am Anfang grüßten sie mich, aber ich erwiderte nicht. Danach murmelten sie irgendetwas auf Armenisch, wenn sie in meine Nähe kamen und lachten mir ins Gesicht. Da beschloss ich, dass ich den beiden Armeniern die Köpfe abschlagen werde. Ursprünglich wollte ich es am 26. Februar tun, dem Jahrestag des Massakers von Hodschani. Sprecherin Am 26. Februar 1992 hatten Armenier während des Karabachkrieges in Hodschani ein Massaker an aserbaidschanischen Zivilisten verübt. Mindestens 600 Menschen wurden dabei getötet. 2. Übersetzer Doch weil sie mich angelacht hatten, wurde ich immer wütender und ich beschloss es sofort zu tun. Darum habe ich gestern um 19 Uhr eine Axt und einen Schleifstein gekauft. Ich kehrte in mein Zimmer zurück und lernte Englisch. Danach verschloss ich die Tür und begann die Axt zu schärfen. Bis 5 Uhr früh war ich wach, dann nahm ich die Axt. Ich wählte eine so frühe Zeit, da dann der Mensch am tiefsten schläft. Ich öffnete die Tür, machte das Licht an und sah, dass der Armenier in dem Bett auf der linken Seite des Zimmers lag, mit dem Gesicht zur Wand. Als das Licht anging, drehte er sich um und versuchte die Augen zu öffnen. Da schlug ich ihn mit der flachen Seite der Axt auf die Stirn. Sein ungarischer Zimmernachbar wachte auf. Ich sagte ihm, das ginge ihn nichts an, dies sei eine Sache zwischen Armeniern und Aserbaidschanern. Der Ungar störte mich nicht. Ich konnte sehen, dass er weiß war und am ganzen Körper zitterte. Er lief hinaus. Danach drehte ich die Axt auf die scharfe Seite und schlug genau auf die Mitte des Halses und ich weiß nicht wohin noch. Insgesamt könnten es sieben oder acht Schläge gewesen sein, aber ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Als ich das Zimmer verließ, lebte er noch, aber ich wusste, dass ich ihm eine tödliche Verletzung zugefügt hatte. Der Kopf war fast vollständig vom Körper abgetrennt. Sprecherin Die Tür zum Zimmer des zweiten Armeniers ist verschlossen. Bei dem Versuch, sie aufzuschlagen, wird der aserbaidschanische Offizier von anderen Kursteilnehmern aufgehalten. Widerstandslos übergibt Ramil Safarow die Axt und lässt sich abführen. Das Verhör beginnt sieben Stunden nach der Tat. 2. Übersetzer Ich bin jetzt seit 14 Jahren Soldat. Die Frage, ob ich Armenier töten würde, wenn ich Zivilist wäre, kann ich nicht beantworten. So lange sie leben, werden wir leiden und daher ist es meine Aufgabe, sie alle zu töten. Musikalischer Akzent Erzähler Die Tat erregte weltweit Aufsehen. Die armenische Presse forderte lebenslange Haft für den Täter, und auch in Aserbaidschan herrschte zunächst Betroffenheit. Doch das änderte sich, als Ramil Safarow seine erste Aussage zurückzog. Nun sagte er, er sei von den Armeniern zu seiner Tat provoziert worden. Sie hätten auf die aserbaidschanische Fahne uriniert und Tonbänder mit weinenden aserbaidschanischen Frauen abgespielt. Atmo aserbaidschanische Nachrichtensendung Erzähler In Aserbaidschan wurde Ramil Safarow in einen Helden verwandelt. In einem Fernsehbericht über den Prozess sieht man ihn zuerst in Handschellen vor Gericht. Dann ertönt Musik und das Gesicht des Angeklagten füllt den ganzen Bildschirm. Oben rechts ist eingeblendet: ?Freiheit für Ramil Safarow?. Der Mann im eleganten Anzug ist ein breitschultriger, schwarzhaariger Hüne mit großen, buschigen Augenbrauen und einem angenehmen, gutmütigen Gesichtsausdruck. O Ton Safarow 2. Übersetzer Ich habe nicht nach einem Plan gehandelt, sondern in einem Moment der Erregung. Psychologen können diesen Zustand besser beschreiben. Hätte ich die Tat geplant, hätte ich sie anders ausgeführt. Erzähler Der Nachrichtensprecher des aserbaidschanischen Fernsehens schließt mit der Bemerkung: Von vier Gutachtern kamen zwei zu dem Ergebnis, dass er unzurechnungsfähig war, als er die Tat beging; doch weil der armenische Advokat auf der besonderen Grausamkeit der Tat bestand, bekam er lebenslänglich. Im April 2006 trat Ramil Safarow seine lebenslängliche Haft an. Doch bereits sechs Jahre später, am 31. August 2012 wurde er entlassen und nach Baku ausgeflogen. In der ungarischen Presse konnte man damals lesen, Aserbaidschan habe versprochen, im Gegenzug ungarische Staatsanleihen im Wert von zwei bis drei Milliarden Euro zu erwerben. Armenien brach daraufhin die Beziehung zu Ungarn ab. In Aserbaidschan wurde die Rückkehr Ramil Safarows wie ein Sieg gefeiert und die wichtigste Fernsehstation des Landes brachte eine Sondersendung. Atmo ? Nachrichtensendung 1. Übersetzerin Trotz der Massenmedien, die von der armenischen Diaspora beeinflusst werden, ist Rafil Safarow jetzt nach Aserbaidschan entlassen worden. Präsident Aliyew hat ihn durch einen Erlass begnadigt. Der Präsident hat sich den Armeniern psychologisch überlegen gezeigt und Ramil Safarow ist in Baku angekommen. Erzähler Der Erlass des Präsidenten wird in voller Länge verlesen. Danach begleitet die Kamera Ramil Safarow zum Wiedersehen mit seinen Eltern. Auch der Vater dankt dem Präsidenten. Als nächstes wird gezeigt, wie Ramil Safarow einen Kranz am Grabmal von Gaidar Alijew, dem Vater des Präsidenten niederlegt; einen Kranz am Grabmal der Mutter des Präsidenten und schließlich noch einen Kranz für die Gefallenen im Krieg gegen Armenien Anfang der neunziger Jahre. Diese Inszenierung ist in Aserbaidschan nicht ungewöhnlich. Von jedem Staatsangestellten wird erwartet, dass er die Gedenkstätten zwei Mal im Jahr besucht, am Todestag und am Geburtstag von Gaidar Alijew. Sprecherin Der Kult um Gaidar Alijew reicht in die Zeit zurück, als Aserbaidschan zur Sowjetunion gehörte. Damals war Gaidar Alijew Generalsekretär der Partei in Aserbaidschan und später Mitglied des Politbüros in Moskau. Mit der Perestroika verlor er seine Macht. Doch als Aserbaidschan nach dem verlorenen Krieg gegen Armenien von inneren Unruhen erschüttert wurde, holte man Gaidar Alijew zurück, und wählte ihn 1993 zum Präsidenten. Der frühere Generalsekretär ließ sich zwar von niemandem in antiarmenischer Rhetorik übertreffen, doch er schloss einen Waffenstillstand mit dem Nachbarland. Zugleich entmachtete er die nationalistischen Milizen, die sich mit Waffengewalt in die Politik eingemischt hatten. Bis kurz vor seinem Tod 2003 regierte er mit diktatorischen Vollmachten. Gaidar Alijews letzte Amtshandlung war die Einsetzung seines Sohnes Ilham als seinen Nachfolger. Er setzte die Politik des Vaters nahtlos fort: Höchste verbale Aggressivität gegen Armenien und gleichzeitige Unterdrückung jeder unabhängigen politischen Bewegung. Erzähler Seit dem Waffenstillstand von 1993 hält Armenien 20 Prozent des aserbaidschanischen Territoriums besetzt. 600 000 Aserbaidschaner leben immer noch in Flüchtlingslagern. Und so hat in der Nachrichtensendung einer ihrer Vertreter das letzte Wort. Er kommt aus dem Ort Kubale, der vor 20 Jahren von Armeniern erobert worden war, an genau dem Tag als in Baku die Rückkehr des Ramil Safarow gefeiert wurde. . 3. Übersetzer (Flüchtling aus Kubale) Ramil Safarow ist nicht mehr in Ungarn, sondern in Baku. Der Präsident hat eine große Sache vollbracht, die alle Menschen aus Kubale und alle Aserbaidschaner freut. Das hat unsere Trauer erleichtert. Darum wünschen wir dem Präsidenten viele Lebensjahre und Erfolg bei seiner Arbeit. Erzähler Die Befreiung des Ramil Safarow ist in den nächsten Wochen beständiges Thema. Der Held der Nation bekommt den gesamten Sold nachgezahlt, wird zum Major befördert und schließlich schenkt ihm Präsident Ilham Alijew sogar ein Haus. Als Ramil Safarow einige Monate später heiratet, wird seine Hochzeit im Fernsehen übertragen. Einige wenige Menschenrechtler empören sich, doch ihre Stimmen dringen nicht an die Öffentlichkeit. Musikalischer Akzent O-Ton (Ailisli) Russisch 1. Übersetzer Ich sah, wie wir in einen Abgrund gehen, in einen geistigen Abgrund. Erzähler Der 75 Jahre alte Akram Ailisli ist nicht irgendein Schriftsteller. Er ist der lebende Klassiker der aserbaidschanischen Literatur. Seine Werke sind Schullektüre, seine Dramen werden an den wichtigsten Theatern des Landes aufgeführt. Er ist hoch dekoriert. Den Orden ?Istigal? auf Deutsch ?Unabhängigkeit?, die zweithöchste Auszeichnung des Landes, hat ihm noch Gaidar Alijew persönlich um den Hals gehängt. Akram Ailisli trägt den offiziellen Titel ?Schriftsteller des Volkes? und von 2005 bis 2010 war er Abgeordneter im aserbaidschanischen Parlament. Er hat alles erreicht, was ein Schriftsteller in Aserbaidschan erreichen kann. O-Ton (Ailisli) Russisch 1. Übersetzer Als ich sah, wie weit man ging und wie man aus diesem wahren Mörder einen Held machte, da ertrug ich es nicht länger. Erzähler Im Februar 2013 veröffentlicht Akram Ailisli die Novelle ?Steinträume?. O-Ton (Ailisli) Russisch 1. Übersetzer Ich habe sie 2006 geschrieben, aber nicht veröffentlicht. Ich dachte, das ist es vielleicht nicht wert. Es war wohl eine Vorahnung dessen, was sich später ereignete. Erzähler Akram Ailisli hatte bereits 1989 Erfahrungen mit dem wütenden Nationalismus gemacht, der in Aserbaidschan herrscht. Damals, als der Krieg um Bergkarabach noch nicht begonnen hatte, die Leidenschaften aber bereits hochkochten, hatte die Moskauer Literaturzeitschrift ?Völkerfreundschaft? die Schriftsteller beider Völker aufgerufen, einen Appell zum Frieden zu verfassen. Akram Ailisli war der einzige, der dem nachkam. O-Ton Russisch (Ailisli) 1. Übersetzer Ich schrieb, dass man den Krieg zwischen den beiden Völkern mit allen Mitteln vermeiden muss und auf keinen Fall die Waffe in die Hand nehmen darf. Es wäre der Untergang für beide Völker. Ich fühlte, dass es sehr unangenehm werden würde, denn ich sah, wie der Nationalismus den Kopf hob und dass das, was in der Sowjetunion als Schande gegolten hatte, auf einmal als Heldentum galt. Erzähler 1989 wurden dann zum ersten Mal Bücher von Akram Ailisli verbrannt. O-Ton (Ailisli) Russisch 1. Übersetzer Das war noch zur Zeit der Volksfront. Es gab da einen Menschen, mit dem ich offen sprechen konnte, einen Arzt, der dann auf der Welle der Demonstrationen nach oben getragen und zum stellvertretenden Minister für Staatssicherheit ernannt wurde. Ich fragte ihn, wie konnte so etwas mit mir passieren? Die Zeitschrift ?Völkerfreundschaft? bekommen vielleicht nur zehn Menschen in Aserbaidschan. Woher dann die Wut des ganzen Volkes? Er sagte zu mir, ich solle mich freuen, dass man mich nicht umgebracht habe. Es wird Krieg geben und du sagst als einziger, dass es keinen Krieg geben darf. Das bedeutet doch, dass alles von langer Hand organisiert und vorbereitet war. Bekanntermaßen kann man mit dem Nationalismus alles Mögliche begründen. Der Nationalismus ist eine schreckliche Maske, hinter der man jede Scheußlichkeit begehen kann. Man bringt Menschen um, und dies ist angeblich eine Großtat für die Nation. In Wahrheit mordet man damit die Seele der Nation. Erzähler ?Steinträume? erschien nicht in Aserbaidschan, sondern in Moskau und nicht auf Aserbaidschanisch, sondern auf Russisch. . O-Ton (Ailisli) Russisch 1. Übersetzer Hätte ich es auf Aserbaidschanisch veröffentlicht, dann wüsste vielleicht niemand, dass es so ein Buch überhaupt gibt. Oder man hätte alles Mögliche behaupten können. Dass es ein neofaschistisches Werk sei oder was auch immer. Außerdem, wäre es auf Aserbaidschanisch und nicht auf Russisch veröffentlicht worden, dann hätten sich gar keine Verteidiger gefunden. Das wäre so schrecklich geworden, wie ich es mir lieber gar nicht ausmalen will. Musikalischer Akzent Erzähler Schauplatz des Romans ist Baku im Herbst 1989. Noch ist Aserbaidschan eine Sowjetrepublik und noch leben in der Millionenstadt am kaspischen Meer über hunderttausend Armenier. Doch dreihundert Kilometer weiter, in der Bergregion Karabach hat ein blutiger Bürgerkrieg zwischen Armeniern und Aserbaidschanern begonnen. In Baku treffen täglich Züge mit aserbaidschanischen Flüchtlingen ein, die nicht mehr bei sich haben, als sie am Leib haben. Während die Armenier eine Schlacht nach der anderen gewinnen zerfällt die Sowjetunion und die staatliche Ordnung löst sich auf. An die Stelle des Sozialismus tritt ein hysterischer Nationalismus und auf den Straßen herrscht der Mob. 1. Übersetzer als Zitator Seltsam war, dass man nun schon seit mehreren Monaten auf den Straßen von Baku nicht nur abends keine Menschen einzeln oder zu zweit sah, sondern auch tagsüber. Jetzt waren die Menschen in Scharen unterwegs, in Massen. Und das volle Recht zu sprechen, zu schreien und zu jubeln war nur diesen Massen gegeben. Noch seltsamer war, dass die Anzahl der Wörter, die diese Geschöpfe hinausschrien, den wenigen Wörtern entsprach, die wohl die Urmenschen bei der Jagd benützt hatten. Frei-heit! Rück-tritt! Ka-ra-bach! In den letzten Tagen hatten diese Menschen ihren Wortschatz noch um drei kurze Sätze ergänzt: Du bist Ar-me-nier! Du musst sterben! Aus und Schluss! Erzähler Der Held des Romans ist ein Schauspieler namens Sadaj Sadygli. Er erzählt seiner Frau, was er auf den Straßen von Baku erlebt. 1. Übersetzer als Zitator Asja, auf dem Bahnhof haben sie eine junge Frau verbrannt! Sie haben sie mit Benzin übergossen und bei lebendigem Leib angezündet!? ?Wer hat das getan??, fragte Asada Chanum und wischte sich die Tränen ab. ?Die Frauen, Asja. Straßenhändlerinnen. Die ganze Masse, als wären sie keine Menschen, sondern eine Rotte von Dämonen.? Erzähler Der Schauspieler vereinsamt. Seine Freunde schweigen aus Angst oder passen sich opportunistisch der neuen Ideologie, dem Ultranationalismus an. Der Direktor des Theaters, an dem der Schauspieler angestellt ist, erklärt ihm, was die Stunde geschlagen hat. 1. Übersetzer als Zitator Deine Naivität erschlägt mich, Ehrenwort! Siehst du denn nicht, was diese scheinheiligen ?Frontkämpfer?, die überall ?Karabach, Karabach!? schreien, anrichten? Karabach ist denen doch egal. Sie haben das Ziel, diese Macht zu stürzen und selbst zu ergreifen. Und der Pöbel auf der Straße hört heute nur denen zu, die auf die Armenier schimpfen. Was sollen die in der Regierung in diesem Fall tun? Sie müssen für ihre Zwecke auch die armenische Karte ausspielen. Das ist die Politik, Meister. Und die Politik hat immer viele Gesichter. Erzähler Eines Tages sieht der Schauspieler, wie ein Mob einen alten Armenier in einen Brunnen wirft und ihn ertränken will. Bei dem Versuch ihm zu helfen, fällt Sadaj Sadygli selbst der Menge zum Opfer. Das ist noch nicht das Ende des Buches, aber das seines ersten drastischsten Kapitels. Das Kapitel, das am meisten Aufmerksamkeit erregen sollte. Musikalischer Akzent Atmo Nachrichtensendung O-Ton Aserbaidschanisch 1. Übersetzerin Nach Informationen der Agentur Azertash hat Präsident Ilham Alijew auf vielmalige Bitten der Öffentlichkeit und besonders der Flüchtlinge aus Karabach die Anordnung herausgegeben, Akram Ailisli alle Stipendien und den Ehrentitel Volksschriftsteller zu streichen. Atmo Nachrichtensendung Erzähler Kaum war das Buch in Moskau erschienen, erhob sich ein Sturm. Alle Zeitungen Aserbaidschans stürzten sich auf Akram Ailisli. Überall fanden Demonstrationen statt und seine Bücher wurden öffentlich verbrannt. In den Fernsehnachrichten war Akram Ailisli das Hauptthema. Gezeigt wurden vor allem aufgebrachte Bürger, die gegen den Volksverräter protestierten. Die Bücher des Schriftstellers werden aus allen Bibliotheken entfernt, Akram Ailislis Frau und die beiden Söhne verlieren ihre Arbeit. Der Höhepunkt der Kampagne ist erreicht, als Hafiz Hajiew, der Führer einer ultranationalistischen und regierungsnahen Partei 13.000$ für denjenigen auslobt, der Akram Ailisli die Ohren abschneidet. In einem Interview mit dem aserbaidschanischen Fernsehen wird er später bedauern, dass es nicht dazu gekommen ist. Musikalischer Akzent Erzähler In Baku will niemand mit mir über die Übergriffe von Aserbaidschanern gegen Armenier sprechen, schon gar nicht über den Terror des antiarmenischen Mobs während des Kriegs um Bergkarabach im Jahre 1989. Ich finde nur zwei alte russische Frauen, die sich daran erinnern, wie man damals Menschen aus Hochhäusern geworfen oder auf offener Straße erschlagen hat. Als ich das Gespräch aufzeichnen will, verstummen sie sofort. Eine der beiden fängt sogar an zu zittern und bittet mich inständig, nirgendwo ihren Namen zu erwähnen. Akram Ailisli hat mit seinem Buch ein mächtiges Tabu gebrochen. Und das war auch seine Absicht. O-Ton (Ailisli) Russisch 1. Übersetzer Ich habe das für die Aserbaidschaner geschrieben. Ich wollte ihnen damit sagen, dass man nicht immer andere beschuldigen darf, sondern auch bei sich selbst suchen, sich selbst nüchtern betrachten und manchmal schuldig sprechen muss. Den Armeniern möchte ich sagen, bitte denkt nicht, dass wir wilde Tiere sind. Wir sind genau solche Menschen wie ihr, lasst uns zusammen leben. Erzähler Doch es geht nicht nur um die Gefühle der einfachen Aserbaidschaner. Der Konflikt Aserbaidschans mit Armenien wird längst innenpolitisch instrumentalisiert. O-Ton (Burtin) Russisch 4. Übersetzer Der Hass wird sehr stark von der Propaganda angeheizt, denn die Macht von Alijew beruht auf diesem Hass. Dieser Konflikt kommt den Machthabern in Aserbaidschan sehr gelegen. Erzähler Shura Burtin ist ein bekannter russischer Journalist und Menschenrechtler. Sein Spezialgebiet ist der Kaukasus. O-Ton (Burtin) Russisch 4. Übersetzer Natürlich wäre es den Leuten von ganz alleine nicht in den Kopf gekommen, Akram Ailisli die Ohren abzuschneiden. Das haben hundertprozentig die Machthaber angeheizt. Aserbaidschaner sind im Allgemeinen freundliche Menschen, völlig normale Leute. Sprecherin Aserbaidschan ist ein Öl-Land. Jeden Tag werden mehr als eine Million Barrel Rohöl aus den Vorkommen im kaspischen Meer gepumpt und auf den Weltmärkten verkauft. Mit diesem Geld hat man aus Baku ein zentralasiatisches Dubai gemacht. Doch der Reichtum ist extrem ungleich verteilt. Während die Verwandten und Günstlinge Ilham Alijews im Zentrum Bakus ungeniert ihren Reichtum zur Schau stellen, leben hunderttausende von Flüchtlingen aus den von Armenien besetzten Gebieten weiter in hoffnungsloser Armut. Weitere hunderttausende von Aserbaidschanern sind in die Nachbarländer ausgewandert, weil sie in ihrer Heimat keine Zukunft sehen. Das Land in einer antiarmenischen Psychose zu halten ist das beste Mittel, um alle diese Widersprüche zu verdecken. Erzähler Nach dem Erscheinen von ?Steinträume? und der Medienkampagne gegen Akram Ailisli ging Shura Burtin in den zentralen Park von Baku, um die Stimmung der Bevölkerung zu erkunden. O-Ton (Burtin) Russisch 4. Übersetzer Ich fragte die Menschen dort nach zwei Personen, nach Ramil Safarow und nach Akram Ailisli, denn noch war es nicht so lange her, dass man Ramil Safarow aus Ungarn nach Aserbaidschan zurückgebracht hatte. Wenn ich den Namen Safarow aussprach, dann lächelten alle und sagten, das ist unser Held, wie gut, dass er zurückgekommen ist. Wenn ich nach Ailisli fragte, dann zögerten alle und es war ihnen unangenehm irgendetwas zu sagen, denn er hatte tatsächlich ein Tabu verletzt. Auf diesem Tabu gründet sich der gesamte Gesellschaftsvertrag Aserbaidschans, der die Folge des verlorenen Krieges ist. Dieser Nationalismus läuft darauf hinaus, dass wir im Recht sind. Sie können unmöglich nicht im Recht sein, und es ist unmöglich, dass die Situation komplizierter ist. Als Akram Ailisli in dem Buch über die Pogrome an den Armeniern schrieb, da verletzte er den gesamten Gesellschaftsvertrag. Das war absolut revolutionär. Er sagte eine Wahrheit, die die Leute nicht hören wollten, doch nachdem sie ausgesprochen war, da konnte man schon nichts mehr machen. Musikalischer Akzent Sprecherin Aserbaidschanisch und Türkisch sind eng verwandt und gehören beide zur Gruppe der Turksprachen. Daraus hat sich eine enge kulturelle Beziehung zwischen beiden Ländern ergeben. Obendrein ist die Türkei das einzige Nachbarland, das im Konflikt mit Armenien voll auf der Seite Aserbaidschans steht. Aus Dankbarkeit dafür leugnet Aserbaidschan wie die Türkei den türkischen Völkermord an den Armeniern. Musikalischer Akzent Erzähler Doch auch dieses Tabu hat Akram Ailisli hat mit seinem Buch ?Steinträume? verletzt. Er ist der erste Schriftsteller einer Turksprache überhaupt, der es gewagt hat, den Völkermord künstlerisch zu verarbeiten. Nachdem der Held der Novelle vergeblich versucht hat, einen Armenier vor der wütenden Menge zu retten, wird er selbst zum Opfer und schwer verletzt in ein Krankenhaus geschafft. Bevor er stirbt, erinnert er sich in langen Passagen an seine Kindheit in dem Dorf Ailis. Dort hatte es 1918 ein Massaker an den Armeniern gegeben. Die Täter waren türkische Soldaten. 1. Übersetzer als Zitator Sadai Sadygly hatte kein einziges Mal gehört, dass sich jemand ohne Grauen und Mitleid an jenes Massaker in Ailis erinnert hätte. Die muslimischen Frauen erzählten immer wieder von diesen tragischen Ereignissen. Der türkische Befehlshaber hatte einen schwarzen Rappen. Nachdem er ?Feuer!? geschrien hatte, schlug er das Pferd mit der Peitsche und galoppierte davon. Dann regnete es sofort Kugeln, es war, als stürze der Himmel ein und riesele Asche von oben. Auf einen Schlag begannen alle Hunde in den Höfen zu bellen. Alle Raben in den Bäumen fingen an zu krächzen. Es war, als hätte sich die Hölle aufgetan und die Sonne würde im nächsten Augenblick auf die Erde stürzen. Das Wasser in sämtlichen Kanälen war die ganze Woche rot von Blut. Sprecherin Ailis ist das Dorf aus dem Akram Ailisli stammt und nach dem er sich benannt hat. Sein gesamtes Werk dreht sich um jenen Flecken in den Bergen der aserbaidschanischen Provinz Nachitschewan. In seinen Geschichten und Erzählungen kommen immer wieder dieselben Menschen vor und man lernt sie kennen und verstehen, wie eigene Freunde oder Nachbarn. Wie der amerikanische Schriftsteller William Faulkner mit dem Landkreis Yoknapatawpha hat Akram Ailisli mit seinem Heimatort die menschliche Existenz abgebildet. Erzähler Ailis heißt auf Armenisch Agulis und ist ein altes Zentrum der armenischen Kultur. Jahrhundertelang lebten hier eine armenische Mehrheit und eine aserbaidschanische Minderheit friedlich zusammen. Bis 1918, als die türkische Armee in das heutige Aserbaidschan eindrang und alle Armenier ermorden wollte. Wie der Held seiner Novelle, so ist auch Akram Ailisli mit Erzählungen über das Massaker aufgewachsen. Die wenigen Einwohner von Ailis, die sich an dem Morden beteiligten, wurden von ihren Mitbürgern gemieden. O-Ton (Ailisli) Russisch 1. Übersetzer Für neunzig Prozent der Einwohner war es schrecklich und widerwärtig, das mit anzusehen. Dass es Armenier waren, spielt dabei gar keine Rolle. Es geht um eine Sünde, eine sehr große Sünde, die dir Gott nicht verzeiht. Das sagt Ihnen zwar kein Politiker oder Nationalist, aber in Ailis jeder normale Mensch. Erzähler In ?Steinträume? spielen die Ruinen der armenischen Kirchen von Ailis eine wichtige Rolle. 1. Übersetzer als Zitator Die noch erhaltenen Kirchen waren zwar von Gott verlassen und ohne Aufsicht, hatten jedoch ihre einstige Erhabenheit noch nicht völlig eingebüßt. Wie diese Kirchen gebaut worden waren, hinter denen jeweils im wörtlichen Sinne ein Berg aufragte, hatte die muslimische Bevölkerung von Ailis natürlich nie erlebt. Um jedoch die harmonische Einheit zu erkennen, die die jeweilige Kirche mit dem Berg hinter ihr bildete, brauchte man kein Armenier zu sein. Jede Kirche hatte dieselbe Farbe wie der Berg hinter ihr, als wäre sie aus eben diesem Berg herausgehauen und dort aufgestellt worden, wo Gott sie bequem betrachten konnte. Und jede Kirche für sich schien das Kind des Berges zu sein, an dessen Fuß sie erbaut war. Musik Erzähler Vor seinem Tod träumt sich der Held der Novelle, der Schauspieler Sadaj in eine dieser Kirchen zurück. 1. Übersetzer als Zitator Innerhalb der hohen dicken Kirchenmauern herrschte eine besondere Atmosphäre, die nichts mit der realen Welt gemein hatte ? es war eine Welt der Stille und des Schweigens, eine Welt ohne Menschen und außerhalb der Zeit. Sogar die Luft in der Kirche war unirdisch ? nicht von dieser Welt. Und die langen rechteckigen Lichtstrahlen, die durch die vier schmalen Fenster in der Kuppel einfielen, schienen nicht das Licht von Ailis zu sein ? es strahlte gleichsam aus fernen unbekannten Welten herein. Sogar das Licht, das durch einen kürzlich entstandenen Mauerriss unterhalb der Kuppel herein sickerte, erzeugte in der Kirche das Gefühl, in einer jenseitigen Welt zu sein. O-Ton (Burtin) Russisch 4. Übersetzer Ich war in Ailis 20 Minuten und dann wurde ich vom aserbaidschanischen Geheimdienst festgenommen. In dieser Zeit konnte ich mich davon überzeugen, dass es in dem Ort keine einzige Kirche mehr gab. Es hatte zwölf Kirchen gegeben und nicht eine war mehr da. Erzähler Im Frühjahr 2013 - die Novelle ?Steinträume? machte international Schlagzeilen - reiste der russische Journalist und Menschenrechtler Shura Burtin illegal nach Ailis. Illegal, weil die gesamte Heimatregion von Akram Ailisli heute Sperrgebiet ist. O-Ton (Burtin) Russisch 4. Übersetzer Sie wollten, dass ich weg fahre. Weil sie Angst haben, dass berichtet wird, was sie dort zerstört haben, lassen sie keine ausländischen Journalisten hin. Alles, was an die Armenier erinnern könnte, wurde zwischen 2005 und 2006 abgerissen. Das war natürlich ein unglaubliches, beispielloses Verbrechen gegen die Kultur. Es gab ungefähr 300 armenische Kirchen und eine große Zahl von Friedhöfen und das alles wurde mit schwerer Technik zu Schotter zermahlen. Erzähler Auch in Ailis hatte man nach Veröffentlichung der Novelle den Volkszorn inszeniert und die Bücher von Akram Ailisli verbrannt. Im Internet ist zu sehen, wie sich eine große Menschenmenge in dem Heimatort des Schriftstellers versammelt. Doch vor Ort erfuhr Shura Burtin, dass auch diese Demonstration lediglich eine Inszenierung war, an der sich die Einheimischen nicht beteiligt hätten. O-Ton (Burtin) Russisch 4. Übersetzer Mir gelang es dort, mit einer Gruppe alter Männer zu sprechen, die mir sagten, dass Akram ein guter Mensch sei, dass hier niemand über ihn ein schlechtes Wort sagen würde. Er hat diesem Dorf zur Berühmtheit verholfen und sie haben ihn ihr ganzes Leben lang geliebt. Wenn man im Fernsehen sagt, dass er ein Scheusal sei, dann werden sie das nicht glauben. Da wo die Leute zusammen mit Armeniern gelebt haben, hat man zu ihnen natürlich ein anderes Verhältnis als Leute, die noch nie einen Armenier mit eigenen Augen gesehen haben. Sie wissen, dass diese völlig normale Leute sind, genauso gewöhnliche Menschen wie sie selbst, bevor sie plötzlich zu Feinden wurden. Erzähler Zwei Jahre nach Erscheinen von ?Steinträume? ist es um Akram Ailisli ruhiger geworden. Die staatliche Propaganda hat sich neuen antipatriotischen Verbrechern zugewandt. Im August 2014 hat man Laila Yunis, die wichtigste Stimme der Opposition, als angebliche armenische Spionin verhaftet. Die ehemalige stellvertretende Verteidigungsministerin hatte sich für politische Gefangene eingesetzt und sich gegen illegale Enteignungen im Zentrum Bakus engagiert. In einem Moment, da alle Welt mit der Ukraine-Krise beschäftigt war, hatte man die Gelegenheit genutzt, ein für alle Mal mit ihr abzurechnen. Dass sich die Propaganda der Regierung anderen angeblichen Feinden zugewandt hat, bedeutet nach Einschätzung von Shura Burtin allerdings nicht, dass Akram Ailisli und seine Familie außer Gefahr sind. O-Ton (Burtin) Russisch 4. Übersetzer Um seine Familie sorgt er sich nicht umsonst. Die aserbaidschanischen Geheimdienste haben sich nicht nur einmal in einem üblen Licht gezeigt. Da war zum Beispiel der bekannte Linguist Kyamran Mammadov, der der nationalen Bewegung der Talysch angehörte. 2009 beschuldigte man ihn des Landesverrats, bezeichnete ihn als iranischen Spion und nahm ihn fest. Vorher jedoch brachte man seine zwei Söhne um. Den einen erschlug man auf der Straße und der andere wurde vom Auto überfahren. Um seine Feinde einzuschüchtern ist der aserbaidschanische Geheimdienst zu solchen Dingen durchaus imstande. Das sind Leute mit Erfindungsgeist. Die können auf Sachen kommen, die wir uns auch im Traum nicht vorstellen können. Es gibt Verwandte, es gibt Freunde. Sie können zum Beispiel irgendetwas tun, was einen Herzanfall auslöst und dann das Opfer nicht ins Krankenhaus lassen. Und dann gibt es keinen Schuldigen. Musikalischer Akzent Erzähler Der sterbende Held der Novelle ?Steinträume? träumt sich nicht nur in die Kirchenruinen in Ailis, er erinnert sich auch an die alte Armenierin Aikanusch, die das Massaker überlebte. Sie hatte eine Enkelin, die in Erewan, der Hauptstadt der damaligen armenischen Sowjetrepublik, Kunst studierte. 1. Übersetzer als Zitator Ljussik war wieder hier, im Hof der Zierde aller Kirchen ? der Vang-Kirche: die Malerin Ljussik, Enkelin von Aikanusch, ein Mädchen von dreizehn oder vierzehn Jahren. Vom ersten Tag an hielt sie sich vom Morgen bis zum Abend im Kirchhof auf. Wie oft kann man denn ein und dieselbe Kirche malen? Vielleicht war die Kirche auch nur ein Vorwand? Vielleicht erblickte auch Ljussik in diesem des Morgens und Abends auf der Kuppel erscheinenden rosig-gelblichen Licht das Lächeln Gottes und glaubte, dass sie es zeichnen könne, und zeichnete deshalb im Kirchhof, den sie zum Stammplatz erwählt hatte, tagelang ein und dasselbe? O-Ton (Ljussik) Armenisch/Russisch 2. Übersetzerin Ich ging damals in die erste Klasse der Kunstschule. Ich war vierzehn und fuhr nach Ailis, um die Toma Kirche zu zeichnen. Erzähler Ljussik ist heute eine stattliche Frau von über sechzig Jahren mit großen, dunklen, ausdrucksvollen Augen und lebt in Armenien. Sie ist eine bekannte Künstlerin geworden und hat sich den Namen Agulec gegeben. Agulec bedeutet auf Armenisch das gleiche, wie Ailisli auf Aserbaidschanisch. Jemand, der aus jenem Ort kommt, der auf Aserbaidschanisch Ailis und auf Armenisch Agulis heißt. In einem Interview mit dem russischen Fernsehen erinnert sie sich an ihre Begegnung mit Akram Ailisli. O-Ton (Ljussik) Armenisch/Russisch 2. Übersetzerin Zu uns kam ein junger Mann. Ein sehr kluger Mensch. Ich erinnere mich an ihn, wie er 25 Jahre alt war, also schon erwachsen. Er sprach zärtlich und sehr gewählt. Wissen Sie, er sprach mit meiner Großmutter, als wäre er ihr Sohn. Er hat mich nur einmal gesehen, aber so wunderbar beschrieben. Es war wirklich so. Ich sah in dieser Kirche das Licht Gottes. Musik O-Ton (Ljussik) Armenisch/Russisch 2. Übersetzerin Es war unmöglich, diesen Ort zu vergessen. Seine Farben, den Sonnenuntergang und den Sonnenaufgang. Ich denke das ist die Liebe zur Heimat, zu dem Ort, wo man geboren wurde. Akram Ailisli ist dort geboren und ich bin dort auch geboren. Die Natur hat ihn dazu gemacht, was er geworden ist. Solche Leute wie ihn gibt es nur wenige. Der, der seine Heimat liebt, trägt ihren Namen. Nach den Pogromen wurde, wie er selbst erzählt, aus Agulis Ailis. Um die Erinnerung an seine Heimat wach zu halten, trägt er den Namen Ailis, genauso wie ich. Erzähler Heute lebt Akram Ailisli zurückgezogen im Zentrum von Baku. Seinen Heimatort Ailis hat er seit Erscheinen der ?Steinträume? nicht mehr besucht. Er hat Angst, dass ihm dort ? weitab von jeglicher schützenden Öffentlichkeit - etwas zustoßen könnte. Seine materielle Lage ist schwierig. Dazu kommt die Unsicherheit über die Zukunft. Keiner weiß, ob es nicht vielleicht neue Angriffe gegen ihn geben wird. Hat er die Veröffentlichung jemals bereut? O-Ton (Ailisli) Russisch 1. Übersetzer Ich bedaure nicht, dass ich die Novelle veröffentlicht habe, es ist Teil meiner Biographie. Um der Ruhe und um meiner Kinder willen, hätte ich es sehr gern nicht getan. Doch ich konnte nicht anders. Wer will schon, dass seine Söhne arbeitslos sind, dass man seine Bücher verbrennt, dass man ihn in allen Theatern verbietet und seine Bücher aus den Bibliotheken herauswirft. Natürlich wollte ich das nicht. Aber stellen Sie sich die heutige Situation vor. Wenn ein Mensch auch nur ein Lied auf Armenisch singt, weiß ich nicht, was man mit ihm anstellen würde. Lieder das ist doch keine Politik. Die hat doch kein Sarkisan oder Alijew geschrieben, die hat das Volk erfunden. Gefällt dir ein Lied, so singe es. Das ist eine derartige Barbarei. Als die Berliner Mauer fiel, habe ich mich so gefreut. Wenn man genau so eine Mauer zwischen Armeniern und Aserbaidschanern baut, kann ich als Schriftsteller doch nicht sagen, ihr seid Prachtkerle, das habt ihr gut gemacht. Im Gegenteil, ich muss versuchen, irgendwie aus dieser Mauer einen Stein herauszuschlagen. Diese Berliner Mauer zwischen Armeniern und Aserbaidschanern wird früher oder später fallen. Mir scheint, ich bin sie recht kräftig angegangen und habe ein ganzes Stück aus ihr herausgeschlagen. Musik Absage Axt und Feder Wie der aserbaidschanische Schrifsteller Akram Ailisli vom lebenden Klassiker zum Volksfeind wurde Ein Feature von Ernst von Waldenfels Es sprachen: Michael Weber, Katrin Degenhardt, Reinhart Firchow, Susanne Flury, Richard Hucke, Thomas Balou Martin, Volker Risch und Katharina Schmalenberg Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Angelika Brochhaus Regie und Redaktion: Hermann Theißen Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2014. Die deutsche Übersetzung von Akram Ailislis Novelle ?Steinträume? erschien im März 2015 im Osburg Verlag. 1