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An einem Ort, an dem es eigentlich keine Rutschen gibt, an dem kein Gras wächst, an dem überhaupt nur ein paar windschiefe Hütten darauf hindeuten, dass er bewohnt ist... O-Ton 1 Großmutter (Orig. kurdisch) Unsere Kinder haben kaum Spielzeug. Wenn diese Rutsche nicht hier ist, können sie nicht spielen. Aber leider kommt sie nicht sehr oft zu uns, es gibt ja so viele Dörfer, die auf sie warten... Autorin: Die alte Kurdin wischt sich mit dem Kopftuchzipfel die trüben Augen, starrt ungläubig auf die tobenden Kinder vor sich. Die tragbare Plastikrutsche steht in der Region Halabja. Genau dort, wo der irakische Ex-Diktator Saddam Hussein im März 1988 Giftgasbomben abwarf, die Tausende Kurden töteten, nichts als verseuchte, öde Landschaft zurückließen. Bis heute hat sich die Region nicht von dem Trauma erholt, lachende Kinderstimmen sind eine Ausnahme in Halabja, erklärt eine junge Frau, die zwischen den Kindern umher eilt. Chinur Karim Fettah gehört zu den Überlebenden von damals. Inzwischen arbeitet sie für die deutsch-irakische NGO Wadi. Eine Organisation, die unter anderem jeden Tag die rote Rutsche in einem anderen der rund 100 umliegenden Dörfer aufstellt. Die 29-Jährige Chinur kniet gerade neben einem Jungen mit struwweligen Haaren, klebt ihm ein Pflaster auf den hoch gestreckten Daumen. O-Ton 2 Chinur (Orig. kurdisch) Wir lesen vor, wir zeigen neue Spiele, wir machen ihnen eine schöne Zeit... Diese Kinder hier wollen genau wie andere einfach nur ganz normale Kinder sein! Autorin: Sie selbst, erzählt Chinur mit leiser Stimme, kann sich nicht daran erinnern, in ihrer Kindheit auch nur ein einziges Spielzeug gehabt zu haben. Den ersten Golfkrieg und die Giftgasangriffe - mit denen Saddam Hussein die angeblich rebellischen Kurden im Nordirak strafen wollte - überlebte sie auf dem Rücken ihres Vaters, der mit ihr in die Berge flüchtete. Eine Rutsche sieht Chinur zum ersten Mal als erwachsene Frau. Diese Kinder hier, sagt sie, sollen es besser haben. O-Ton 3 Chinur (Orig. kurdisch) Sie mögen besonders die Schaukel, die Rutsche und die Wippe. Wir müssen sie fast jeden Monat erneuern, sie sind ja aus Plastik. Stabile Gerüste aus Eisen können wir nicht täglich transportieren, wir brauchen Sachen, die sich leicht tragen lassen. Autorin: Wie zur Erklärung deutet Chinur auf einen kunterbunt angemalten alten Schulbus, der hinter den spielenden Kindern in der Sonne steht. Mit dem "Spielmobil" fahren sie und ihre Kolleginnen Tag für Tag über die Dörfer der Umgebung, besuchen die Kinder einer Gegend, die sich neun Jahre nach dem Ende der Saddam-Diktatur nicht von Giftgas, Krieg und Verwahrlosung erholt hat. "Wie auch?", fragt plötzlich ein untersetzter Kurde im strahlend weißen Hemd, der bisher schweigend am Rand gestanden hat. Falah Muradkhins Englisch ist fließend, er ist der Projektkoordinator des Spielmobils. O-Ton 4 Falah (Orig. englisch) Bis heute wurde nicht richtig untersucht, ob die Region um Halabja sauber ist. Erst letzten Monat haben sie eine Chemiebombe von damals gefunden, fünfzehn Leute wurden verletzt. Alle hier leben in ständiger Angst: Ist unsere Umgebung vom Gift befreit? Ist das Wasser, das wir trinken, sauber? Autorin: Falah Muradkhin geht zu einem silberfarbenen Auto, das etwas abseits der spielenden Kinder im Schatten steht. Mit jedem Schritt wirbelt er kleine Staubwölkchen auf, die schicken schwarzen Schuhe verschwinden unter einer grauen Schicht... Der Besucher aus der Stadt und sein Wagen wirken zwischen den unverputzten, schiefen Hütten, den in Tücher und Pluderhosen gehüllten Dorfbewohnern, genauso fehl am Platz wie die knallrote Plastikrutsche. Atmo 2 Autotür knallt zu, losfahren Autorin: Doch Falah Muradkhin schüttelt den Kopf. "Eigentlich", murmelt er, während die spielenden Kinder im Rückspiegel zu Punkten werden, "bin ich einer von ihnen." Atmo 3 im Auto O-Ton 5 Falah (Orig. englisch) Ich war 14 Jahre alt, als das Gift kam und wir von hier fliehen mussten. Die ganze Gegend wurde heftig bombardiert, überall um mich herum sind die Menschen gestorben. Wir haben nur überlebt, weil wir es an einen Platz in den Bergen geschafft haben, da vorne... Atmo im Auto kurz frei O-Ton 6 Falah (Orig. englisch) Drei Monate lang sind wir in den Bergen geblieben. Wir kennen die Gegend und konnten uns in Höhlen verstecken. Nachts sind immer einige von uns hinunter ins zerstörte Halabja geschlichen, um Essen zu besorgen. Dort war ja alles verlassen, und ob das von den Bomben vergiftet war oder nicht, das war uns damals egal. Autorin: Falah Muradkhin ist inzwischen Anwalt, lebt im 75 km entfernten Suleymaniah, der zweitgrößten Stadt des Nordirak. Er ist einer der wenigen Bewohner von Halabja, der mehr als nur einfach überlebt hat: Er hat es geschafft! Doch auch ihn lässt die Katastrophe von damals nicht los, resigniert zuckt er mit den Schultern. Atmo 4 kurdisches Autoradio/ Sprecher Autorin: 24 Jahre sind seit den Angriffen vergangen, die Diktatur des Kurdenfeinds Saddam Hussein ist Geschichte. Und während sich der restliche Irak in einer endlosen Gewaltspirale dreht, herrscht im Norden vorsichtige Aufbruchstimmung. "Kommen Sie nach Kurdistan", heißt gar das Motto des kurdischen Tourismusministers, "erleben Sie den anderen Irak!" Auch im Westen gilt die Region - nur etwas größer als Nordrhein Westfalen - plötzlich als Musterkind: Als beispielhaft in Sachen Sicherheit, Demokratisierung und Fortschritt. "Aber hier", murmelt Falah und macht eine Kinnbewegung nach links, wo ein vielleicht 10-jähriger Junge mit ein paar abgemagerten Schafen vorbeitrottet, "hier herrscht immer noch die Vergangenheit." O-Ton 7 Falah (Orig. englisch) Ich bin immer noch traumatisiert. Wir haben ja nie irgendwelche psychologische Betreuung erfahren. Alle hier sind betroffen. Indirekt auch die junge Generation, weil jedes Jahr Erinnerungsveranstaltungen stattfinden, bei denen alle um ihr Halabja weinen und die Katastrophe beklagen. Keiner denkt dabei daran, was das jedes Mal wieder für psychologische Auswirkungen hat. Atmo 5 kurdisches Autoradio Musik, Text drauf Autorin: Falah Muradkhins Wagen passiert den Ortseingang von Halabja, einer gut 50.000- Einwohnerstadt, die der Region ihren Namen gibt. Am Fenster ziehen jetzt halbfertige Betongerippe vorbei, ein paar Jungs spielen am Straßenrand Fußball mit einer verrosteten Cola-Dose, Männer in Pluderhosen sitzen rauchend vor heruntergekommen Teehäusern, verkaufen gebrauchte Fahrradschläuche oder türkisches Toastbrot. 17 Prozent der irakischen Öleinnahmen fließen in den Nordirak, ständig werden neue, eigene Ölquellen entdeckt. Wo ist dieses Geld, fragt sich, wer rechts und links aus dem Fenster schaut. Es gab eine Zeit, da galt diese Region als eine der fruchtbarsten des Irak, ja der ganzen Welt. Die Kurden lebten vom Tabakanbau, von Datteln, Feigen und Baumwolle. Doch nicht nur Plantagen und Felder, sondern auch Traditionen und Wissen rottete Saddams Regime erfolgreich aus. Das einzige, was hier heute noch floriert, sagt Falah Muradkhin mit spöttisch nach unten gezogenen Mundwinkeln, sind die Moscheen. Mit dem Finger zeigt er auf mehrere riesige Neubauten ringsherum. O-Ton 8 Falah (Orig. englisch) In den Neunzigern war Kurdistan drauf und dran ein zweites Afghanistan zu werden. Sie haben Friseursalons in die Luft gesprengt, wo den Männern die Bärte rasiert wurden. Und die Alkohol-Shops. Nicht mal Fußballer durften kurze Hosen tragen. In dieser Stadt hat jeder irgendeine Verbindung mit Islamisten. Das ist auch ein Grund, warum Saddam Halabja so sehr hasste. Autorin: Wieder zieht ein Minarett am Autofenster vorbei, dann noch eines und noch eines. Im Verhältnis ist Halabja die Stadt mit den meisten Moscheen im ganzen Irak. Die Islamisten, die Saddam Hussein hier einst auf Kosten aller Kurden bekämpfte, sind längst wieder erstarkt. Die Vergangenheit ist, wenn auch im demokratischen Gewand, zurück: Bei den Wahlen 2009 wurden die Islamisten in Halabja ganz offiziell zur stärksten Kraft. Atmo 6 Autotür, aussteigen Atmo 7 draußen Autorin: Der Wagen hält vor einem unscheinbaren Haus am Rand von Halabja. "Radio Dange Nwe" steht auf einem Aluschild, kurdisch für "Radio Neue Stimme". Hinter einer Gartentür liegen vier Notstromgeneratoren im trockenen Gras. Die "Neue Stimme" soll auch erklingen, wenn in Halabja mal wieder der Strom ausfällt. Jetzt über Mittag allerdings stehen die Generatoren still. Sendepause. Das einzige unabhängige, überparteiliche Community-Radio des Nordirak kann sich kein Vollprogramm leisten. Atmo 8 Türklingel, Tür öffnen Atmo 9 Mann führt durch Redaktionsräume Autorin: Qaesar Ahmad ist der Manager der "Neuen Stimme". Ein freundlich lächelnder Mann, der stolz durch die spärlich eingerichteten Räume führt. Ein Computerarbeitsplatz in der Ecke, ein Studio mit Mikrofon und Mischpult, ein Konferenzraum mit bunt zusammen gewürfelten Stühlen. Fotocollagen an der Wand zeigen die Leichen, die nach den Giftgasangriffen vor 24 Jahren wie hingestreut in den Gassen des alten Halabja liegen. Auch hier ist die Vergangenheit allgegenwärtig. Qaesar Ahmad hebt fast entschuldigend die Schultern: "Ob wir wollen oder nicht", sagt er, "es ist das bestimmende Thema." O-Ton 9 Qaesar (Orig. kurdisch) Wir bekommen regelmäßig Anrufe von Hörern, die wirklich psychische Probleme haben. Wenn hier ein Psychologe herkäme, würde er sofort merken, dass die Menschen von Halabja traumatisiert sind, dass sie psychisch instabil und anders als die Anderen sind. Atmo 10 Radio Dange Nwe, Kurdische Stimmen Autorin: Radio Dange Nwe sendet seit 2005. Hier, wo fast 50 Prozent der Frauen nicht lesen und schreiben können, wo auch ein Fernseher nicht weiterhilft, wenn ganze Dörfer keinen Zugang zum Stromnetz haben, hier kann ein Radioprogramm Welten verändern, erklärt Qaesar Ahmad mit wichtiger Miene. Es geht um sexuelle Aufklärung, um häusliche Gewalt, um Frauenrechte. Aber auch um kurdische Gedichte, Modethemen und Kochrezepte. O-Ton 10 Qaesar (Orig. kurdisch) Von Anfang an haben wir mit einem Unterschied zu allen anderen Radioprogrammen begonnen: Wir spielen nicht den Koran - etwas, was sonst alle TV- und Radiostationen tun. Wir haben auch versucht, den Musikgeschmack zu verändern: Wir sind der einzige Sender, der Popsongs spielt! Und während der jährlichen Erinnerungsfeiern für den Genozid, den Giftgasangriff auf Halabja, versuchen wir möglichst nicht zu übertreiben, um die Depression nicht noch mehr zu steigern. Autorin: Doch gerade das klappt nicht immer. Eine junge Frau kommt mit einem Tablett voller kleiner Teegläser herein, beginnt auf Qaesar Ahmad einzureden, noch bevor sie abgestellt hat. Nawa ist Moderatorin bei Radio Dange Nwe. Immer wieder, berichtet sie, rufen Hörer während ihrer Sendung an, beschweren sich, dass die Musik zu fröhlich klinge - in einer Region, in der man doch keinen Grund zur Fröhlichkeit habe. Nawa seufzt. Die Vergangenheit abzuschütteln, ihren Hörern zu zeigen, dass es mehr geben muss als nur schreckliche Erinnerungen, das ist ihre Mission. O-Ton 11 Nawa (Orig. kurdisch) Sie haben hier neulich eine Fernseh-Umfrage gemacht, um herauszufinden, welche Farben die Bewohner von Halabja gern tragen. Das Ergebnis war, dass fast alle dunkle Sachen anziehen - schwarz, braun, dunkelgrau. Wenn Sie hier auf den Basar gehen, dann werden sie kaum lebendige Farben sehen. Und wenn es doch jemand trägt, dann starren ihn alle an. Autorin: Wie zum Beweis zeigt Nawa auf den orangenen Schal, der ihr lose um den Hals liegt. Dann plötzlich stellt sie ruckartig das Tablett mit den Teegläsern auf den Konferenztisch. Eine rote Lampe leuchtet über der Tür auf: Der Strom ist zurück, das Nachmittagsprogramm kann beginnen. Nawa verschwindet durch eine kleine Tür und taucht Sekunden später hinter einer Glaswand wieder auf. Kopfhörer auf, Mikrofon hoch, Ton ab. "Zukunft" heißt das Thema der Sendung. Atmo 11 Radio, etwas frei stehen lassen, dann ausfaden, Text drauf Autorin: Für die einen ist die Vergangenheit etwas, was es zu überwinden gilt, etwas, was wie ein Schatten auf Kurdistan liegt. Für Lolan Sipan, ist es andersherum. Überblenden in Atmo 12 Textil-Museum Autorin: Fast 300km von Halabja und seinen traumatisierten Bewohnern entfernt führt der 53- jährige Anthropologe ein Wettrennen gegen die Zeit: In seinem Textilmuseum in Erbil, der Hauptstadt der Region Kurdistan, versucht er festzuhalten, was Zerstörungswut auf der einen und Fortschritt auf der anderen Seite auszurotten drohen. O-Ton 12 Lolan (Orig. englisch) Die Idee ist, das kulturelle Erbe dieses Landes zu bewahren. Wenn wir von Saddam Hussein sprechen, dann sagen wir, er war ein Diktator und er war gegen die Menschen. Er hat tausende Dörfer zerstört, Tiere getötet und Stämme zwangsumgesiedelt. Sogar das Kunsthandwerk, die Webe-Tradition, das Geschichtenerzählen Autorin: Lolan Sipan will die Vergangenheit festhalten, die sie beim Radio "Neue Stimme" in Halabja so gern überwinden wollen. "Ohne die Vergangenheit", meint er, "haben wir keine Zukunft". Der Anthropologe - dunkle, lichter werdende Locken, nachdenklicher, ernster Blick - sitzt in einem historischen Haus mitten im Zentrum von Erbil. Die Wände ringsherum sind über und über mit bunten, handgewebten Teppichen, Vorhängen und Kleidern behängt. 400 Ausstellungsstücke, erzählt Lolan Sipan, hat er hier erst privat dann mit Unterstützung der Regierung aus allen Winkeln Kurdistans zusammen getragen. Nachdenklich steht er auf, tritt an eine hüfthohe Glasvitrine, in der 33 bunt bestickte Hütchen aufgereiht sind. Jeder Hut steht für einen Stamm, über den er geforscht hat. O-Ton 13 Lolan (Orig. englisch) Jeder Stamm hat sein eigenes, besonderes Design. An den Mustern kann man sehen, welches Kleidungsstück zu welchem Stamm gehört. Die Webarbeiten der Nomadenstämme sind besonders farbenfroh, weil sie bis hoch in die Haylan- Berge hinaufziehen, wo es alle möglichen Pflanzen gibt, die sie dann zum Färben der Stoffe nehmen. Autorin: Lolan dreht sich lagsam auf dem Absatz um die eigene Achse, deutet auf Baby- Tragetücher, Satteltaschen und Pluderhosen - alles aus Schafswolle handgewebt, natürlich gefärbt mit Früchten, Insekten oder Kräutern. Über tausend Jahre lassen sich die Nomadentraditionen der Region zurückverfolgen. Doch Lolan winkt ab: Heute ziehen nur noch ein paar wenige Stämme durch die Berge Kurdistans, weiß er. Und in Zeiten, in denen sogar sie billige Plastiklatschen made in China an den Füßen tragen, gehen auch die letzten Traditionen im Eilschritt verloren. Genau das, soll das Textilmuseum verhindern. O-Ton 14 Lolan (Orig. englisch) Wir haben alle überlebenden Nomaden-Weberinnen als Lehrerinnen zusammen geholt - und junge kurdische Mädchen als ihre Schülerinnen. Wir produzieren nur kleine Mengen - und alles per Handarbeit. Es ist wichtig für die nachkommenden Generationen, dass sie unsere Traditionen kennen. Das ist Teil unseres Erbes - und auch ein Teil des Welterbes. Atmo Textilmuseum etwas hoch (kurdische Musik), Text drauf Autorin: Doch Lolan Sipan muss sich beeilen. Die Zeit arbeitet gegen ihn und nicht viele seiner Landsleute teilen sein Interesse an der Vergangenheit. Satellitenfernsehen, Internet und Globalisierung ziehen auch an den fast 5 Millionen Bewohnern des Nordiraks nicht spurlos vorbei. Während ihre Großväter noch in Pluderhosen durch die Gassen schlurfen, stolziert die junge Generation in knallengen Jeans, glänzenden Synthetik- Hemden und polierten Schuhen daher. Statt Turbanen tragen sie jede Menge Gel in den Haaren, statt mit klickernden Gebetsketten, spielen ihre Finger mit blinkenden Handys. Atmo 13 Shoppingmall Autorin: Bestes Beispiel für den Wandel sind die unzähligen Shoppingmalls, die in Kurdistans Städten wie Pilze aus dem Boden schießen. Atmo hoch Autorin: Am Donnerstagabend, wenn das islamische Wochenende beginnt, herrscht am Eingang der "Kurdistan Mall" Hochbetrieb. Fast ehrfürchtig stehen die Besucher am Sicherheitscheck Schlange, lassen sich mit ausgestreckten Armen wie am Flughafen durchleuchten und abtasten. Um sie herum glänzt und glitzert es. Ein paar Filipinos in orangenen Ganzkörperanzügen sorgen mit ihren Wischern dafür, dass der Marmorboden nie aufhört zu blitzen, während die Damen der neuen kurdischen Oberschicht mit riesigen Sonnenbrillen unter den Kopftüchern vorbei trippeln, Familien samt asiatischem Dienstmädchen in Richtung Restaurantetage die Rolltreppe hinauf gleiten. Atmo 14 Blue Cafe (Gedränge, Musik) Autorin: "Willkommen im Neuen Kurdistan", ruft Mirwan mit breitem Grinsen, zeigt auf die jungen Besucher in Jeans und Turnschuhen, die sich um ihn herum an den Tischen drängeln. Mirwan sitzt mitten in Europa. So jedenfalls sieht es aus im szenigen Blue Cafe, mit seiner futuristischen blauen Einrichtung, den Latte Macchiato Gläsern, den Cheesecake- Vitrinen. O-Ton 15 Mirwan (Orig. englisch) Das hier ist ein völlig neues Design - jenseits von allem Kurdischen. Immer nur Kurdisch und wieder Kurdisch - das bringt nichts, so verändert sich nie etwas. Ich spiele hier zum Beispiel griechische Musik, oder türkische, oder Jazz... Nur keine kurdische, weil ich den Leuten, die hier herkommen, etwas anderes zeigen will. Autorin: Cafébesitzer Mirwan setzt sich an einen seiner Tische, schlägt eine bunte Getränkekarte auf. Statt zuckersüßem kurdischen Tee gibt es bei ihm Smoothies und Capuccino, Brownies und Sandwiches. Dinge, die die meisten seiner Gäste bisher nur aus amerikanischen Filmen kannten. "Es sind Dinge", sagt der 32-Jährige, "von denen wir hier jahrzehntelang nur geträumt haben." Während die meisten jungen Kurden weg wollen, ist Mirwan Hurmuz nach 10 Jahren in England zurückgekehrt - hat mitten in einer Kultur von Alt-Männer-Teehäusern und kurdischen Pluderhosen das Blue Cafe eröffnet. O-Ton 16 Mirwan (Orig. englisch) Ich wusste, dass ich am Ende Erfolg haben würde. Aber der Anfang war schwer. Die Leute hier sind an ihre traditionellen Wasserpfeifen-Cafés gewöhnt. In den ersten Tagen haben sie einfach nur über mich gelacht, sie konnten sich nicht vorstellen, wie anders ein Café auch sein kann. Autorin: Mirwan springt auf, verschwindet hinter der Theke um Kaffeebohnen aufzufüllen. "Wir müssen selber aktiv werden," erklärt er, als er kurz darauf mit zwei Erdbeersmoothies vorbeikommt, "sonst passiert hier überhaupt nichts." Die blutige Vergangenheit beklagen, wie sie es im traumatisierten Halabja tun? Alles Alte konservieren, Traditionen wiederbeleben, wie es Lolan Sipan im kurdischen Textilmuseum versucht? Mirwan winkt ab. "Vergesst die Vergangenheit, schaut nach vorn". Das sagt er jedem, der auf einen Latte Macchiato in sein hippes Blue Cafe kommt. O-Ton 17 Mirwan (Orig. englisch) Ich habe nichts gegen Traditionen. Aber seit 2003, seit dem Ende Saddams, haben die Kurden endlich angefangen die Welt zu sehen - und damit den Unterschied zwischen unseren Städten und zum Beispiel London oder Paris. Die Leute, die wie ich zurückkommen, bringen jetzt immer neue Ideen mit, sie wollen etwas verändern! Autorin: Zwei Alte in kurdischen Pluderhosen und Plastiklatschen schlurfen draußen am Fenster vorbei, starren mit großen Augen auf Mirwan und den Erdbeer-Smoothie in seiner Hand. Mirwan prostet ihnen grinsend zu. Keine Reaktion. Doch dann, schon im Weitergehen, spuckt einer von ihnen plötzlich auf den frisch gewienerten Marmorboden. So, als wolle er daran erinnern, dass längst nicht überall im Nordirak die Böden poliert sind, dass längst nicht überall glitzernde Cafés eröffnet werden. Mirwan zieht abschätzig die Mundwinkel nach unten. "Die und wir", murmelt er noch, "werden nie zusammen passen. Wir leben in unterschiedlichen Welten!" Dann beißt er in einen seiner Blaubeer-Muffins, made in Kurdistan. 1