DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hhörspiel Redaktion: Ulrike Bajohr Tel. (0221) 345 1503 Dossier Margarethe Loebenstein und Hedwig Bollhagen Eine alltägliche Geschichte aus dem Dritten Reich Von Rosemarie Mieder und Gislinde Schwarz Sprecherin: Isis Krüger Sprecher: Bernt Hahn Redaktion/Regie: Ulrike Bajohr Ton und Technik: Dagmar Schondey und Eva Pöpplein URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? DeutschlandRadio Sendung: 4. Januar 2008 M1: CD Lost in the Stars/Kurt Weill/ 6006725/ Track 8: Youkali Tango (Die ersten 10? verdreifachen, als "Flirren? unter 01) Hudson-Wiedenmann: Es gab immer in einem Bereich ihres Schrankes, diese alten Teile, wie sie das immer nannte. Oder die alten Pötte von der Vorgängerin und die gabs da. Und ich hatte die ehrenvolle Aufgabe und auch die Freude, diese Kiste mit diesen Stücken, von denen man auch erst mal gar nicht wusste, was es ist, hatte ich die Freude abzuholen, was noch an Hael-Keramik sich bei Hedwig Bollhagen gefunden hatte nach vielen Jahren. Und ich holte die Kiste, packte diese Kiste aus, stellte alle die Stücke auf ein Fensterbrett und traute meinen Augen kaum: Was ich dort sehen konnte, waren genau diese Stücke aus der Schreckenskammer. M1 hoch, darauf Ansage Sprecher Margarethe Loebenstein und Hedwig Bollhagen Eine alltägliche Geschichte aus dem Dritten Reich Ein Feature von Rosemarie Mieder und Gislinde Schwarz M1 weg, bei ca. 35" Bollhagen: Erst mal als Kind mocht ich so furchtbar gern kleine Puppentöpfe, so richtig Bauerntöpfe. Und die sammelte ich. Und dann hatte ich eine sehr nette und prima Lehrerin, und die hatte ne Töpferei. Und als ich das nun zum ersten Mal sah, wie das dann ging und wie die drehten und die Töppe da - also ich hat zwar noch andere Gelüste was zu werden, aber nee, da war das fest, dass ich das werden wollte. Sprecherin: Marwitz, ein kleiner Ort bei Velten, am nord-westlichen Rande Berlins. Hier verbrachte die Unternehmerin und Künstlerin Hedwig Bollhagen nahezu ihr gesamtes Leben. Als Leiterin der keramischen Werkstätten hat sie fast sieben Jahrzehnte Gefäße und Schalen, Kannen und Vasen, Tassen und Teller entworfen und ist mit ihren Formen und Dekors zu einer der bekanntesten deutschen Keramikerinnen und Designerinnen des 20. Jahrhunderts geworden. Bollhagen: Ich habe angefangen in einer kleinen Bauerntöpferei in Hessen; und zwar nicht als Lehrling, sondern sozusagen als Volontär, weil ich keine Lehrstelle krichte, weil ich ein Mädchen war. Und Lehrstellen bekamen damals in unserer Branche nur Jungs. .... Und da aber die Konkurrenz in dem Emaillegeschirr ganz groß war, mussten die sich schon auf andere Dinge einstellen und hatten Salbengefäße frei gedreht auf der Töpferscheibe - Salbengefäße in verschiedenen Größen, die ganz genau maßhaltig sein mussten und ganz furchtbar billig, aber nur dadurch konnten die sich aufrecht erhalten. Sprecherin: Hedwig Bollhagen wird 1907 in Hannover geboren. Ihr Vater, ein Arzt, stirbt als sie drei Jahre alt ist. Die Mutter zieht Hedwig und die beiden Brüder allein groß; sie fördert deren künstlerische Bildung - und steht dem ungewöhnlichen Berufswunsch der Tochter aufgeschlossen gegenüber. Bollhagen: Nachdem ich die Fachschule beendet hatte, bekam ich eine Stelle in der Steingutfabrik Velten-Vordamm. Das war an und für sich mein großes Ziel, weil ich gerne nich` Töpfern und Einzelstücke machen wollte, sondern lieber Entwürfe für Gebrauchskeramik. Damals hieß das noch nicht Designer, aber Entwerfer. Und das war also der Betrieb, an den ich am liebsten kommen wollte.... und da habe ich ungefähr vier Jahre Entwürfe gemacht für Formen und Dekore und habe auch Einzelstücke ne ganze Menge gemacht und Arbeitszeitstudien für die Akkordsätze der Malerei; es waren immerhin ungefähr 100 Malerinnen da. Und war da so `n bisschen Mädchen für alles, weil mich auch alles interessierte, die Zusammenhänge und nicht nur eine Abteilung. Der Leiter der Firma, Dr. Harkort, der ja die die ganze Fabrik mit der Absicht gegründet hatte, eben einen Unterschied zu machen zu den damals üblichen Entwürfen, der hatte mehrere Leute vom Bauhaus im Betrieb und mehrere andere junge Leute, die von der Akademie in Berlin kamen, so dass das eine sehr frische, neue Atmosphäre da war. M2/M6: CD Lost in the Stars/Kurt Weill/ 6006725/ Track 20, In No Mans Land, 1. Teil, Sprecherin: Die Steingutfabrik Velten-Vordamm zählt in den 20er Jahren nicht nur zu einer der traditionsreichsten, sondern auch der wichtigsten Adressen in der deutschen Keramikindustrie. Es ist fast ein Muss für junge angehende Designer, in dieser angeregten Atmosphäre ein Praktikum zu absolvieren. Eine von ihnen ist die Bauhausschülerin Margarethe Heymann, später verheiratete Loebenstein. Schon Jahre vor Hedwig Bollhagen arbeitet sie bei Harkort. Hudson-Wiedenmann: Grete Loebenstein ist im August 1889 geboren. Sie stammt aus einer sehr assimilierten, wohlhabenden jüdischen Tuchhändlerfamilie in Köln. Da gab es immer schon englische Verbindungen. Sie ist mütterlicherseits mit Heinrich Heine verwandt und hat einige namhafte Vorfahren; also es war eine sehr wohlsituierte, assimilierte jüdische Familie. Als Kind ist sie aufgefallen durch vielseitige Begabungen im künstlerischen Bereich. Und für Grete Loebenstein war wohl sehr attraktiv das neu gegründete Bauhaus zu besuchen. Auch dieser konzipierten Gleichstellung von Männern und Frauen in der Ausbildung und der moderne Ansatz. Sie ging dann als eine der allerersten Studentinnen ans Bauhaus und hat sich zunächst für den Vorkurs bei Johannes Itten eingeschrieben, arbeitete dann noch unter Gerhard Marcks in der Werkstatt in Dornburg und hat aber das Bauhaus frühzeitig wieder verlassen. Das mag daran liegen, dass sie Auseinandersetzungen hatte mit Gerhard Marcks, in künstlerischen Belangen, aber ebenso auch wegen eines latenten Antisemitismus, wie sie es empfand, zumindest retrospektiv empfand. Sprecherin: 1923 gründet Margarethe Heymann-Loebenstein zusammen mit Ehemann und Schwager in einer stillgelegten Ofenfabrik in Marwitz bei Velten einen eigenen Betrieb für künstlerische Keramik. Der Ökonom Dr. Gustav Loebenstein und dessen Bruder Daniel sind fürs Geschäftliche zuständig; Grete Loebenstein hat die künstlerische Leitung. Der Name des jungen Unternehmens leitet sich aus den phonetisch geschriebenen Anfangsbuchstaben ihrer Nachnamen ab: Hael- Werkstätten. Hudson-Wiedenmann: Sie waren sofort Mitglieder des Werkbunds, was gewissermaßen die Richtung vorgab und zu einer modernistischen, avantgardistischen künstlerischen Haltung verpflichtete. Ihre keramischen Waren sind in der zeitgenössischen Presse hoch gerühmt, aufgrund ihrer soliden Herstellung, ihrer Formgebung, ihrer Glasuren. Die Glasuren waren das ganz Besondere. Was mich fasziniert, sind die für Grete Loebenstein typischen modernistischen Formen. Das bekannteste ist das konische Teeservice mit den Scheibenhenkeln. Sie müssen sich das wie einen Zylinder vorstellen, in sehr intensiven Farben innen und außen anders glasiert. Das ist wirklich extrem expressiv, ausdrucksstark, mit aus Keramik geformten Scheibenhenkeln und das Nächste im Vergleich ist dann, was in den 80er Jahren Alessi gemacht hat aus Metall. M2/M6: kurzes Signal Sprecherin: Innerhalb kurzer Zeit werden die Hael-Werkstätten zu einem in Deutschland wie im Ausland renommierten Betrieb. Und zu einer ernsthaften Konkurrenz für die benachbarten Steingutfabriken Velten-Vordamm. Das große traditionsreiche Unternehmen gerät zunehmend ins Schlingern und meldet schließlich Konkurs an. Sprecher Mit Fortschreiten der Weltwirtschaftskrise leidet die gesamte Feinkeramikindustrie Deutschlands. Die Ausfuhr ihrer Produkte sinkt dramatisch und verschlechtert sich von noch 171 518 Tonnen 1931 auf 110 151 Tonnen 1933. Auch die Kaufkraft im Inland sinkt. CD Lost in the Stars/Kurt Weill/ 6006725/ Track 20, In No Mans Land, 1. Teil, Forts. Sprecherin: Hedwig Bollhagen ist Anfang zwanzig, als sie sich auf die Suche nach einem Ort für ihre künstlerische Arbeit macht. Sie geht auf Wanderschaft; arbeitet für einige Zeit an der Majolika-Manufaktur in Karlsruhe, bei Rosenthal und schaut sich in der keramischen Industrie im Rheinland um. Bei den Hael-Werkstätten in Marwitz dagegen wird gebaut: Neben den Betriebstätten für die keramische Produktion entsteht ein Verwaltungsgebäude. In dem gibt es auch eine Wohnung. Die Loebensteins - inzwischen eine Familie mit zwei Kindern - bleiben aber erst einmal in der lebendigen Millionenstadt Berlin. Hier haben sie Freunde, Bekannte, Kontakte, hier findet Margarethe Loebenstein unendlich viele Anregungen für ihre Arbeit. Hudson-Wiedenmann: Also diese ganz schlichten abstrakten Linen und Formdekors. Oder etwas, was an ihre Übungen in den Vorkursen am Bauhaus erinnert; also diese rhythmischen Studien bei Itten, Kandinsky-Abstraktionen und dann aber auch ....- eigentlich hat man das heute wieder in der Küche aus dem japanischen her für die ganze Sushi-Küche, das hat sie in den 20er Jahren gemacht - aus ganz, ganz leichtem Ton, die liegen fast gewichtslos in der Hand und sind zum Teil nur einfarbig glasiert, zum Teil aber mit aufwändigen Dekor, Gold, man sieht, wenn man da so ein bisschen ungenau drauf schaut, fast Klimtsche Malerei. Sprecherin: Neben dieser farbigen Extravaganz, für die Margarethe Loebenstein berühmt ist, wirkt die schlichte Gebrauchskeramik der Hedwig Bollhagen fast ein wenig bieder: Bauchige Kannen, flache Teetassen, runde Dosen - in fast zurückgenommenen Farben gestaltet. Dunkel- und blassblaue Streifen, ein erdiges Rot dazwischen, unaufdringliche geometrische Muster. Gorka-Reimus: Hedwig Bollhagen war eine Frau, die schon sehr früh gewusst hat, was sie wollte. Ihre Keramiken zeichnet vor allem aus, dass bei ihr wirklich die Funktionstüchtigkeit, die Funktionalität an oberster Stelle stand. ...Das ist die Vollendung des Einfachen. Denn ihre Dinge sind nie besonders spektakulär, extravagant, sondern es war ihr Wunsch, keine modischen Schlager, keine Modernismen, sondern einfache, zeitlose Dinge herzustellen. - Bei Hedwig Bollhagen auch immer der Wunsch, möglichst materialgerecht zu arbeiten, das heißt, es wäre für sie undenkbar gewesen, ein Service zu entwerfen, das dann auch in einem anderen Material, zum Beispiel in Metall, hergestellt werden kann. .. Sprecherin: Fotos zeigen Hedwig Bollhagen - das blonde, später weiße Haar zu einem strengen Knoten zurückgekämmt - in ihrem blauweiß karierten Kittelkleid. Ihre Entwürfe aus den 30er, 40er und 50er Jahren sind nicht nur in Katalogen und Kunstbänden zu finden. Sie werden zu einem großen Teil noch heute produziert. Und finden begeisterte Kunden. Moden hat sich Hedwig Bollhagen lebenslang verwehrt. Ganz anders als Grete Loebenstein. Hudson-Wiedenmann: Adressiert hat sie sich eigentlich an die moderne Käuferin, die moderne Frau der Zeit. Also solche trat sie auch auf. Und ich glaube das war auch der Lebensstil der Loebensteins: Kurzhaarschnitt, Krawatte, Leinenanzug. Internationale Anbindung. Man verkaufte ins Ausland, ganz viel, bis nach Südamerika, nach Amerika und die beiden Loebensteins reisten auch sehr viel. Also das war eine Frau mit einem internationalen Flair, die wirklich die Moderne der Zeit der 20er Jahre so gut repräsentiert hat, wie viele andere sicher, aber ganz außergewöhnlich. M3: CD Lost in the Stars/Kurt Weill/ 6006725/ Track 6, The Great Hall, die ersten 8?, evtl. wiederholen Sprecher : Veltener Zeitung, Sonntag, den 26. August 1928: Am Freitag ereignete sich auf der Chaussee Marwitz-Hennigsdorf ein Automobilunfall, dem Herr Dr. Gustav Loebenstein, der Inhaber der Hael- Werkstätten für künstlerische Keramik in Marwitz, und sein Bruder Herr Daniel Leobenstein, zum Opfer gefallen sind. Die tödlich Verunglückten ....wollten zur Leipziger Messe fahren, wo die Hael- Werkstätten größere Ausstellungsstände mit ihren Waren beschickt haben. Etwa auf dem halben Wege nach Hennigsdorf, wo die Chaussee im Walde eine starke Rechtskurve macht, muss Dr. Loebenstein, der selbst lenkte, die Gewalt über seinen Kraftwagen verloren haben. Der Wagen fuhr über den Sommerweg gegen einen Baum und wurde völlig zertrümmert. ... Hudson-Wiedenmann: Es ist in der Veltener Geschichtsschreibung dieses Jahr in 1930 geändert worden, manchmal liest man 1932. Was ich immer sehr eigenartig finde, vor allem wenn man sehen kann, dass es einen Totenschein gibt, der eben 1928 ausweist. Also warum hat man das gemacht? Das hat man gemacht, um die bis heute eben nachlesbare, auch im Jahr 2007 nachlesbare Konstruktion, die besagt: Ehemann starb spät, Ehemann und Schwager waren fürs Geschäftliche zuständig. Die hilflose Frau Loebenstein, in geschäftlichen Dingen unerfahren, wirtschaftete den Betrieb in Grund und Boden und musste schließen. Sprecherin: 1930 kauft Margarethe Loebenstein für knapp 20 000 Reichsmark einen modernen vierten Brennofen. Ihre Auftragsbücher sind voll genug, um ihn über die nächsten vier Jahren abschreiben zu können. So kalkuliert die Unternehmerin. Ihre Produktion stellt sie teilweise um und produziert mehr massentaugliches Gebrauchsgeschirr. Hudson-Wiedenmann: Die Verkaufszahlen waren großartig, der Betrieb florierte und dieser Betrieb - das muss man eben auch sehen - hat den Einbruch der ökonomischen Krise Ende der 20er überstanden. Das große Velten-Vordamm Werk, die Harkort-Werke, die gingen ein. 31 musste Harkort zumachen, 31 hat Grete Loebenstein immer noch Gewinne gemacht. Sprecher: Berlin ist - gemessen an der Anzahl der Beschäftigten - das Wirtschafts- und Finanzzentrum des Deutschen Reiches und Europas größte Industriemetropole. Hier trifft sich die internationale kulturelle Avantgarde. In der Zeit der Weimarer Republik wächst die Jüdische Gemeinde der Hauptstadt zur größten des Landes an. Anfang der 30er Jahre lebt ein Drittel der deutschen Juden in Berlin. M3: CD Lost in the Stars/Kurt Weill/ 6006725/ Track 6, The Great Hall, darauf: Sprecher/ rechts: 30. Januar 1933: Die Nationalsozialisten übernehmen die Macht 28. Februar: Mit einer Verordnung des Reichspräsidenten werden sieben Artikel der Verfassung "zum Schutz von Volk und Staat" außer Kraft gesetzt. 12. März 1933: Die NSDAP gewinnt die Berliner Kommunalwahlen mit 38,5 Prozent. (Musik weg) Schreiber: Man kann davon ausgehen, dass es im Grunde gleich nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten massive terroristische Elemente gegeben hat, die Leute um ihr Leben bedroht haben und die ersten großen Verhaftungswellen rollten an. Es gab verstärkte Übergriffe auf jüdische Unternehmen und zwar noch vor diesem bekannten Boykott am 1. April 1933. M3 hoch, darauf Sprecher/von rechts: 1. April 1933: Boykottaufruf der NSDAP - "Kauft nichts in jüdischen Geschäften und Warenhäusern! Geht nicht zu jüdischen Rechtsanwälten! Meidet jüdische Ärzte! Zeigt den Juden, dass sie nicht ungestraft Deutschland in seiner Ehre herabwürdigen und beschmutzen können!" (Musik hoch, weg) Hudson-Wiedenmann: Da muss man wirklich sagen, nach dem was man bisher weiß, denn das ist noch nicht abgeschlossen, hat es sich so verhalten, dass unglücklicherweise Grete Loebensteins jüngerer Sohn, der 1927 geborene, im Frühjahr 1933 tragisch umkam. Das Kind hat mit seinem älteren Bruder gebastelt. Martinslampen oder irgend so etwas. Also Laternen aus Karton und Transparentpapier. Und im Streit der beiden Kinder hat sich der Jüngere, hat sich diese Laterne geschnappt, rannte ins Bad und hat sich an dem Durchlauferhitzer, wollte er die Kerze da drin entzünden. Das Kind hatte aber zu der Zeit ne Erkältung, ne Halsentzündung. Und die Halsentzündung wurde wie damals üblich mit einem Gänsefett- und Wollumschlag um den Hals therapiert. Und bei dem Versuch dieses kleinen Kindes, 33 war er vielleicht gerade sechs, hat sich nicht nur die Kerze entzündet, sondern die Laterne und dann auch sofort dieser Fettschal. Und er hatte sich eingeschlossen; das Kind selber hat Feuer gefangen, bis die Tür aufgebrochen war, hatte das Kind so hohe Verbrennungen, dass es zwei Wochen später im Krankenhaus verstarb. Dies zog eine noch nicht aufgefundene, noch nicht aktenkundige aber in der Familiengeschichte Loebenstein immer wieder kolportierte Denunziation nach sich. Frau Loebenstein wurde denunziert wegen Vernachlässigung ihrer Aufsichtspflicht, die angeblich zum frühen Tod dieses Kindes führte. Darauf hin hat sie wohl die Atmosphäre, gegen sie gerichtet, sehr wohl wahrgenommen, und versucht, ihren Betrieb zu verkaufen, ihn zu schließen. M3 hoch, darauf: Sprecher: Frühjahr 1933: Eine regionale SA-Standarte richtet in einem leer stehenden Fabrikgebäude im Stadtzentrum von Oranienburg ein Konzentrationslager ein. Rund 3000 Menschen werden bis zur Schließung des Lagers im Juli 1934 hier inhaftiert. Oranienburg ist etwa zehn Kilometer von Marwitz entfernt. (Musik weg) Schreiber: Es fand also ein Umschwung statt, ein politischer Umschwung, der sofort direkte Auswirkungen auch materieller, finanzieller Art auf als Juden definierte - so muss man es ja beschreiben, denn es traf auch Leute, die seit zwei Generationen getauft waren - als Juden definierte Menschen sofort verfolgt worden sind. Die einen massiv, indem ihnen die SA an die Kehle sprang. Die anderen dadurch, dass sie ihren Arbeitsplatz verloren oder nicht genau wussten, ob sie sich noch raustrauen dürfen, weil es gab immer wieder die Erscheinung, das man auf der Straße einfach zusammengeschlagen worden ist. Und es bestand gleichzeitig für Selbständige und Unternehmer ein enormes Risiko, dass einem zum Beispiel die Kredite gekündigt werden. Hudson-Wiedenmann: Grete Loebenstein muss man sich vorstellen, war nicht nur sehr begabt, sondern auch sehr feinfühlig und hat diese den keimenden Ungeist und die Bedrohung, die gegen Außenseiter gerichtet war, und als solche konnte sie sich als Frau, Firmeninhaberin, Jüdin, alleinerziehende Mutter, Witwe, da konnte sie sich eines mehrfachen Außenseiterstatuses versichert sein. Dieses alles gewärtig, muss man wohl davon ausgehen, dass sie Grund genug sah, ihren Betrieb zu schließen und zu gehen. Veranlassung, wirtschaftliche Veranlassung, den Betrieb zu schließen, hatte sie gar keine. Denn die Auftragsbücher waren nach wie vor voll und es gab ein Warenlager und Bestellungen noch im Jahr 1933. Sprecherin: Aktenkundig ist: Margarethe Loebenstein wird von einem ihrer Angestellten denunziert. Der Vorwurf lautet: Verächtlichmachung des Systems und minderwertige Behandlung ihrer Mitarbeiter. Hudson-Wiedenmann: Also die Verächtlichmachung des Systems geht dahin, dass sie keine großen Stücke auf das System hält und vor allen Dingen - und das ist natürlich für die Rezeption heutzutage wichtig, bereits 1933 Aussagen dahingehend gemacht hat, dass Angehörige der nicht mehr opportunen Parteien in den Konzentrationslagern um die Ecke gebracht würden. Das hat die neuen Machthaber sehr erbost. Das war der eine Vorwurf und der andere Vorwurf, sie hätte ihre Arbeiter schlecht behandelt, willkürliche Arbeitszeiten, grausame Behandlung, Ausnehmen der Öfen bei zu hohen Temperaturen und vor allen Dingen Beschimpfungen. Sie hat wohl auch gesagt, dass sie in der gegenwärtigen Atmosphäre keinen Sinn mehr darin sähe, den deutschen Arbeiter zu beschäftigen. Sprecherin: Der Denunziation folgt ein Haftbefehl. Margarethe Heymann-Loebenstein flieht mit ihrem Sohn auf die dänische Insel Bornholm. Als der von ihr eingesetzte Verwalter versucht, einen Teil der bereits produzierten Waren zu verkaufen, wird das gesamte Lager im Wert von über 10 000 Reichsmark beschlagnahmt. Sprecher April 1933. Die "Gewerkschaftsorganisation" der NSDAP, die NSBO, fordert die "Arisierung" von Unternehmen. "Kommissare" entlassen jüdische Angestellte und übernehmen das Kommando bei der Führung der Geschäfte. Sprecherin: Hedwig Bollhagen erfährt aus dem engsten Freundeskreis von der Situation in Marwitz. Die jüdische Keramikerin Nora Herz, die mit Margarethe Loebensteins Bruder befreundet ist, erzählt ihr von den Verkaufsabsichten Margarethe Loebensteins . Bollhagen: Und dann hatte ich die Möglichkeit, hier diesen Betrieb, der still lag, zu erwerben mit einem Teilhaber, der sehr gut Bescheid wusste über alle wirtschaftlichen, kaufmännischen Belange, über die ich noch nicht viel wusste. Sprecherin: Dieser Teilhaber ist der Volkswirtschaftler Dr. Heinrich Schild, ein Freund der Familie Bollhagen. Als Generalsekretär des Reichsstandes des Deutschen Handwerks hat er eine bedeutende Position. Und schon seit 1932 auch das richtige Parteibuch in der Tasche. Hudson-Wiedenmann: Auf der einen Seite wollte Hedwig Bollhagen einen Betrieb und hatte ihren väterlichen oder familiären Unterstützer Heinrich Schild im Rücken. Und Heinrich Schild war für Hedwig Bollhagen glücklicherweise in der Position für die Gleichschaltung des Handwerkes zuständig zu sein und war natürlich der Ansprechpartner der NSDAP-Ortsgruppe Velten, die aus diesem Betrieb einen arischen Betrieb machen wollte. Und sich in dieser Phase an den obersten zuständigen im Land wandte. Der oberste Zuständige war nun zufällig der Mentor von Hedwig Bollhagen, na und dann war es eben so weit. M5: CD September Songs/Kurt Weill/LC6868/ Track 7, Speak Low (Die ersten 3 Sekunden verdreifachen, "Signal", dumpf) Schreiber: Arisierung ist im Prinzip der zwangsweise Verkauf oder das zwangsweise Überlassen von Vermögensgegenständen, Grundstücken, Kunstwerken, Häusern, Unternehmen, so dass man also davon ausgehen kann, dass es sich also um einen Vermögensverkauf handelt unter einer Verfolgungssituation, dass dieser Vermögenstransfer nicht stattgefunden hätte, wenn diese Verfolgung nicht vorliegen würde. Es ist generell bei diesen frühen Arisierungen immer unterstellt worden, dass es sich um Folgen der Weltwirtschaftskrise handelt. Und dass man eigentlich davon ausgeht, dass diese Firmen alle schon total pleite waren und dass man die verkauft hätte aufgrund der Weltwirtschaftskrise. Da muss man aber mal ganz deutlich sehen, dass man als Unternehmer sein Unternehmen nicht verkauft wie `n altes Paar Socken, sondern solche Betriebe gehen ordnungsgemäß in den Konkurs. Hudson-Wiedenmann: Und Heinrich Schild hat ein Verkaufsangebot gemacht in Höhe von 35 000 RM. Grete Loebenstein hat angegeben schriftlich, dass sie noch vor der Machtübernahme bei der Suche nach einem Käufer ein Angebot von 300 000 RM als zu niedrig ausgeschlagen habe. Auf dieses Erstangebot von Schild wollte weder Grete Loebenstein noch, in ihrem Auftrag handelnd, der Herr Silberberg eingehen. Das zog sich dann lange hin. Die Betriebsgruppe um Harkort hat sich wieder eingeschaltet, wollten den Betrieb als einen kleinen wieder anfangen in einer Zeit, in der sie die großen Werke noch nicht wieder in Betrieb nehmen könnten. Herr Schild gab in diese Verhandlungen irgendwann mal an Harkorts Unterhändler zu erkennen, dass er sich von Kauf wieder zurückziehen würde, er es aber sehr schön fände, wenn Harkort und seine Gruppe dieses Werk übernehmen würden und merkt auch an, in einer Frage, ob denn dann für Fräulein Bollhagen eine Position in künstlerischer Leitung vorgesehen sei. M5 / Signal Sprecher: Aus einem Bericht der Gemeinnützigen Auswandererberatungsstelle in Berlin über den Zeitraum von April bis Juli 1933: "Die deutsche Auswanderung, die in den letzten Jahren immer geringer geworden ist, hat sich in eine jüdische Auswanderung von ungewöhnlichem Ausmaß gewandelt." Im April hatten 1230, im Mai 1554 und im Juni 1383 Berliner Juden um Beratung gebeten. Sie sind vor allem Freiberufler und selbständige Unternehmer. Nach einem Jahr nationalsozialistischer Herrschaft haben rund 37000 Juden Deutschland verlassen. Mitte 1935 sind in Deutschland schätzungsweise 20 bis 25 Prozent aller "jüdischen Unternehmen" liquidiert oder arisiert worden. Hudson-Wiedenmann: Der Ton wurde schärfer, bis hin zu ner Bedrohung, man könne auch andere Mittel ergreifen und Wege gehen, um diese Firma zu übernehmen. - Es gibt einen sehr interessanten Brief, der genau besagt, was Schild eigentlich erwerben möchte, nämlich Grund, Gebäude und so weiter, einschließlich der gesamten Betriebsmittel, und er merkt in diesem Brief an: " ... also die Firma" möchte er zu diesem Betrag haben. Interessanterweise ist im Kaufvertrag dann vom 26. April 1934 dieser ganze Briefpassus dann mehr oder weniger identisch übernommen, nur die Anmerkung "also die Firma" ist weggelassen. Grete Loebenstein war pragmatisch, hellsichtig, weitsichtig genug um zu wissen: Wenn sie jetzt nicht verkauft, dann wird das ihr sowieso abgenommen. Sie hat auch immer gesagt, Herr Schild sei zu dieser Verhandlung in seiner Uniform gekommen, mit den Insignien seiner Position und Macht. M5: CD September Songs/Kurt Weill/LC6868/ Track 7, Speak Low "Signal? Sprecher: 26. April 1934. Aus dem Kaufvertrag über die Hael-Werkstätten für künstlerische Keramik: Die Hael-Werkstätten für künstlerische Keramik GmbH Berlin, ... verkauft die ihr gehörigen in Marwitz ... gelegenen Grundstücke ... , auf denen ein Fabrikgebäude und mehrere Lagerschuppen und ein Wohn- und Bürogebäude errichtet sind, wie sie stehen und liegen, einschließlich aller vorhandenen Waren ... , Rohstoffen, sowie Einrichtungsgegenstände ... sowie ferner der für den kaufmännischen Betrieb in Frage kommenden Kundenlisten, Kartotheken und Lieferantenlisten, sowie des im Büro- und Wohngebäude vorhandenen Mobiliars. Hudson-Wiedenmann: Endgültig gekauft wurde zu 45 000 RM. Wovon 25 000 eine Hypothek waren und dann 20 000 in irgendeiner Form an Grete Loebenstein gingen. Man kann nicht behaupten, dass sie das nicht bekommen hätte. Dass sie davon unter Umständen gar nichts mehr mit ins Ausland nehmen konnte, war dann wieder eine andere Geschichte. Und steht auf einem anderen Blatt. Reichsfluchtsteuer und die Unmöglichkeit, materielle Werte ins Ausland zu transferieren für Juden in dieser Zeit das ist allgemein bekannt und insofern hatte sie natürlich am Ende nichts mehr. Sprecher: Zur Entrichtung der Reichsfluchtsteuer war jedermann vor der Auswanderung aus Deutschland verpflichtet. Bis 1934 war sie ab 200 000 Reichsmark Gesamtvermögen fällig. Ab dann wurde diese Grenze auf 50 000 Reichsmark gesenkt. Abgeführt werden mussten 25 Prozent des steuerpflichtigen Vermögens. Sprecherin: Der Kaufvertrag trägt die Unterschriften von Dr. Heinrich Schild und Margarethe Heymann-Loebenstein. Hedwig Bollhagen hat an keiner der Verkaufsverhandlungen teilgenommen. Sie übernimmt ab 1. Mai 1934 die künstlerische Leitung des neuen Betriebes. Er heißt HB-Werkstätten für Keramik. Bollhagen: Ich konnte nu die Kräfte, die ich kannte, aus der alten Fabrik Velten- Vordamm, die waren zum Großen Teil noch arbeitslos oder berufsfremd eingesetzt. Und da konnte ich die, die ich am besten fand und die gerne kamen, einstellen. So dass wir also ein ganz - sehr gutes Kollektiv hatten. Und ich brauchte mich wirklich um nichts zu kümmern. Wir hatten einen guten Techniker und eben einen guten Kaufmann, so dass ich mich nur um die Entwürfe kümmern konnte und da ungefähr im halben Jahr die Messe mit einer großen Kollektion beschicken konnte und wir dann schon ähnliche Dinge gemacht haben, wie ich jetzt mache: etwas simple Gebrauchssachen, die möglichst auch einen guten Gebrauchswert hatten. Hudson-Wiedenmann: Hedwig Bollhagen ist auf die Leipziger Messe mit einem ersten Warensortiment gegangen, das - also ich bin mir ganz sicher - zu einem ganz großen, wenn nicht dem allergrößten Prozentsatz aus Waren bestand, die sie vorfand. Es wurde ja auch das ganze Warenlager mit übernommen, die Designs wurden mit übernommen. Das gehörte ja alles mit zum Kaufvertrag - eines Grundstückes, wie später mit argumentiert wurde. M5: CD September Songs/Kurt Weill/LC6868/ Track 7, Speak Low, weiter unter Sprecher Sprecher: Der Angriff, Zeitung der Berliner NSDAP, am 22. Mai 1935: "Kennen Sie Marwitz kurz hinter Velten? ... Als der Sturm der nationalsozialistischen Revolution so manche morsche Mauer in Deutschland umlegte, blieben nämlich auch in dieser `Fabrik für keramische Erzeugnisse` die Räder stehen. Juden hatten die Produktion geleitet, sie zogen es vor, im Februar 1933 das Werk zu verlassen. ... Die Arbeiter verloren ihr Brot ... sie mussten stempeln, den Unternehmer kümmerte ihr Schicksal nicht. ... 14 Monate lang suchten hier Ratten und Fledermäuse nächtliches Vergnügen, bis das große Reinemachen begann. Seit 1934 hat der Betrieb einen neuen Herrn. Junge Kräfte schufen im Zuge des Aufbaus in wenigen Monaten ein neues Werk. Fast 40 Männer und Frauen aus Marwitz und der nahen Umgebung stehen unter den Symbolen der Deutschen Arbeitsfront seit dem 1. September 1934 wieder am Werktisch ... eine junge Frau zwischen ihnen als Leiterin des Werks. ... Sie hat die Fabrik und die Grundstücke mit der Absicht erworben, hier die alte in Marwitz und Velten einst blühende Töpferkunst neu zu befruchten, hochwertige kunstgewerbliche Gegenstände zu fertigen, die aus deutscher volkstümlicher Empfindung entstehen. ... Jedem Gegenstand und auch dem geringsten wird hier Überlegung und künstlerisches Gefühl mitgegeben. Das war in dieser Fabrik nicht immer so. Beweis: Die wenigen Überreste, die man in mürben Schränken vorfand. ... Was ehemals die Hand mit feiner Empfindung formte, das entartete unter einer falsch verstandenen Sachlichkeit und verlor Farbe und Form, verlor in der Zweckbestimmung die schlichte, gesunde Bodenständigkeit und damit die Schönheit, die den deutschen Landschaften und dem deutschen Menschen entspricht. ... In Marwitz hat man diese Dinge in die Schreckenskammer gestellt. Grauen erregen sie bei dem Betrachter, zumal er in den Sälen nebenan edlen Formen begegnet." (Musik weg) Sprecherin: Für die begabte Hedwig Bollhagen stellen sich sehr schnell Erfolge ein. 1936 werden ihre Keramiken im Rahmen der Ausstellung "Deutsche Kunst und deutsches Kunstgewerbe der Gegenwart" in Belgrad, Sofia, Athen, Ankara und Istanbul gezeigt. 1937 erhält sie eine Goldmedaille bei der Pariser Weltausstellung. Grete Loebenstein sucht lange nach einem Emigrationsort für sich und ihren Sohn. 1936 geht sie nach England. M6: CD Lost in the Stars/Kurt Weill/ 6006725/ Track 20, In No Mans Land, Bollhagen: Des waren eigentlich wenig richtig goldene Zeiten, denn zuerst in den Jahren vorm Krieg - ich meine, es hat einem immer sehr Spaß gemacht und wenn man irgendwelche Erfolge hatte, denn war man natürlich stolz da drauf. Aber da war es eben furchtbar schwierig, reinzukommen, denn es gab furchtbar viel Konkurrenz. Und zwar nicht Konkurrenz, die nun dasselbe machten wie wir, aber "Teekanne ist Teekanne", sagten die Kunden, nich`? Ob die so oder so ist, die darf nicht mehr als so und so viel kosten. Sprecherin: Hedwig Bollhagen ist nicht nur eine begabte Entwerferin, sie setzt auf Vielfalt. So beschäftigt sie Künstler wie Werner Burri und auch den von den Nazis als "entartet" stigmatisierten Charles Crodel. Neben der Gebrauchs- und Zierkeramik fertigen die HB-Werkstätten baukeramische und gartenkeramische Elemente und arbeiten für die Denkmalpflege. Während des Krieges werden im Marwitz Keramiköfen für Luftschutzkeller hergestellt. Und als es nach dem Krieg keine Farben gibt, macht HB aus der Not eine Tugend und entwickelt aus grüner Ofenkachelglasur ganz eigene Dekore. Bollhagen: Man musste natürlich, um nich` pleite zu machen, irgendwelche andern Dinge machen. Und dann kam der Krieg, kam die Nachkriegszeit, die natürlich auch ganz schwer zu verkraften war, in jeder Hinsicht. Sprecherin: Bei Kriegsende scheidet Heinrich Schild als Teilhaber aus, Hedwig Bollhagen führt den Betrieb allein weiter. Bis 1972 gelingt es ihr auch im "Arbeiter- und Bauern-Staat" ihre Werkstätten als Privatunternehmen zu führen. Dann werden sie - wie alle Betriebe mit mehr als zehn Angestellten - verstaatlicht. Die künstlerische Leitung jedoch behält Hedwig Bollhagen immer - und ihr wird fast völlig freie Hand gelassen. Ihre "Pötte" stehen im Alltagseinerlei der DDR hoch im Kurs. Verkauft werden sie in den Galerien des Staatlichen Kunsthandels und sind dort "Bückware". Bollhagen: Ach Gott, das soll man nu immer sage, es ist schwer zu sagen: Was ist überhaupt Kunst? Also es nennen manche Kunst und ich eigentlich nenne es Teekanne oder Teller oder Tasse. M6: CD Lost in the Stars/Kurt Weill/ 6006725/ Track 20, In No Mans Land, (auf Ende legen, mit letztem Ton!) Sprecherin: Hedwig Bollhagen ist fast 84 Jahre alt, als sie am 17. Juni 1991 die Rückübertragung der HB-Werkstätten beantragt. Einbl. 31 Gorka-Reimus: Sie wurde damit konfrontiert, dass, als sie den Antrag auf Reprivatisierung stellte, sie - gemeinsam mit ihrem Rechtsberater Lothar de Maizière - von diesen Ansprüchen der Jewish Claims Conference Kenntnis bekam. Und Lothar de Maiziere hat das ja sehr deutlich dargestellt, dass sie dieser Vergleichszahlung an Jewish Claims nur zugestimmt hat, weil sie wusste, dass es sonst kaum möglich gewesen wäre, den Betrieb in Marwitz wieder zu gründen und wieder neu aufzubauen, weil sich die rechtliche Auseinandersetzung sonst über Jahre hingezogen hätte. Sie hat aber stets darauf hingewiesen, dass das nicht bedeutet, dass das für sie eine Art Schuldanerkenntnis sei. Sprecherin: Der Vergleich sieht die Zahlung eines Entgeltes von 5000 DM durch Hedwig Bollhagen vor. Dafür tritt die Jewish Claims Conference alle etwaigen Ansprüche ab. Nun ist der Weg frei: 1993 werden die HB-Werkstätten für Keramik GmbH neu gegründet. Hedwig Bollhagen ist Teilhaberin und künstlerische Leiterin. Hudson-Wiedenmann: Und da habe ich sie dann besucht, ich war auf der Suche nach den Unterlagen und ich wollte auch gerne wissen, in welcher Form die Schreckenskammer ihr bekannt war, bzw. hatte sie aktiv Anteil daran? Es ist ja nicht vorstellbar, dass das erfunden ist und dass man in Marwitz eine Schreckenskammer hatte, von der sie nichts gewusst haben kann. M6/ kurzer Ton Sprecherin: Hedwig Bollhagen ist eine hoch betagte Frau, als sie noch einmal den Neuanfang wagt. Sie will ihre Werkstätten in Marwitz auf diesen neuen Markt führen und soviel Arbeitsplätze wie möglich erhalten. Das bringt der längst bundesweit bekannten Künstlerin große Achtung ein. Als "älteste Jungunternehmerin" Deutschlands geht sie durch die Medien. 1997 wird HB das Verdienstkreuz I. Klasse der Bundesrepublik Deutschlands verliehen. Hudson-Wiedenmann: Es gab immer in einem Bereich ihres Schrankes, diese alten Teile, wie sie das immer nannte. Oder die alten Pötte von der Vorgängerin und die gab `s da. Und es ist ihrer Erbin Frau Resch zu verdanken, dass diese Stücke nach mehr als 60 Jahren an die Tochter von Grete Loebenstein nach England zurückgekommen sind. Und ich hatte die ehrenvolle Aufgabe und auch die Freude, diese Kiste mit diesen Stücken, von denen man auch erst mal gar nicht wusste, was es ist, hatte ich die Freude abzuholen, was noch an Hael-Keramik sich bei Hedwig Bollhagen gefunden hatte nach vielen Jahren. Und ich holte die Kiste, packte diese Kiste aus, stellte alle die Stücke auf ein Fensterbrett und traute meinen Augen kaum: Was ich dort sehen konnte, waren genau diese Stücke aus der Schreckenskammer. M6/ kurzer Ton Gorka-Reimus: Die Situation von Hedwig Bollhagen ist sicher auch nachzuvollziehen als die einer jungen Frau, die versuchte, ihren Traum zu leben, ihren Traum zu verwirklichen. Die aus ihrer Sicht und in der damaligen Situation die Möglichkeit hatte, diesen Traum zu verwirklichen und in dieser Zeit auch ihr damals von keiner Seite irgendwelche Vorwürfe gemacht wurden. Es war für sie mit Sicherheit ein ganz normaler Verkauf. Hudson-Wiedenmann: Was mich vielmehr an der Rezeption stört, ist eben die Fortschreibung der alten Geschichte. Der Unwille, mit diesem Thema umzugehen. Wichtig ist, dass man dieses dunkle und finstere Kapitel, das eben auch in diese schöne Geschichte Hedwig Bollhagen hineinreicht, akzeptiert und mit nimmt. Und nicht nur das Andenken von Hedwig Bollhagen würdigt, sondern auch das Andenken und die Verdienste von Grete Heymann-Loebenstein würdigt und nicht Hedwig Bollhagens Verdienste zu einem zweiten nochmaligen wiederholten Verdrängen und unrechtmäßigem Handeln gegenüber Grete Loebenstein führen. Das finde ich das Entscheidende an der Geschichte. Sprecherin: Margarethe Heymann-Loebenstein hat in England noch einmal geheiratet und trug den Namen Greta Marks. Sie eröffnete einen neuen Betrieb in Stroke-on- Tent - Greta Pottery, der aber die Kriegsjahre nicht überlebte. An ihre Erfolge der 20er Jahre hat sie nie wieder anknüpfen können. Sie starb am 11. November 1990, ohne jemals nach Deutschland zurückgekehrt zu sein. Hedwig Bollhagen lebte und arbeitete bis zu ihrem Tod am 8. Juni 2001 in Marwitz. Bollhagen: Was eben für mich, in meinem Leben - die vielen verschiedenen Abteilungen, sagen wir mal. Vorkrieg, Krieg, Nazis - also es schlimmste finde ich ja immer noch die Nazis, nich? Die waren beschämend und entsetzlich. Entsetzlich. Nachher haben die Kommunisten auch Sachen gemacht, die man nicht macht. Aber das war mehr so was Dummes, was die machten. Aber - Nazis waren furchtbar. Man konnte ja nichts dagegen tun und war natürlich immer ganz verzweifelt, dass man nichts gegen tun konnte. Man hätte natürlich was gegen tun können. Wär `n wir vielleicht tot gemacht, aber - sagt man sich auch: ach es nützt ja nichts. Ich kann ja nichts dagegen tun. Und mit seinem traurigen Gewissen lebt man dann so weiter, nich`? M1(mit "Flirren" unter letztem Satz) : CD Lost in the Stars/Kurt Weill/ 6006725/ Track 8: Youkali Tango darauf : Sprecher: Margarethe Loebenstein und Hedwig Bollhagen Eine alltägliche Geschichte aus dem Dritten Reich Sie hörten ein Feature von Rosemarie Mieder und Gislinde Schwarz Es sprachen: Isis Krüger und Bernt Hahn Ton und Technik: Dagmar Schondey und Eva Pöpplein Redaktion und Regie: Ulrike Bajohr Sprecherin: Wir danken der Kulturwissenschaftlerin Ursula Hudson-Wiedenmann, die sich seit vielen Jahren mit der Geschichte Margarethe Heymann-Loebensteins beschäftigt Gudrun Gorka-Reimus, Kuratorin der Potsdamer Ausstellung "HB - ein Leben für die Keramik" und der Historikerin Beate Schreiber, Autorin und Mitherausgeberin des Buches "Arisierung in Berlin". Die Interviews mit Hedwig Bollhagen führten die Autorinnen 1992 und 1997. (Musik weg) Sprecher Eine Produktion des Deutschlandfunks 2008 22