COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandfunk Kultur benutzt werden. Zeitfragen 19.6.2018 Die Vermessung der Aufmerksamkeit - Wirkt Werbung eigentlich noch? Von Frank Drescher "Es gibt überhaupt keinen Grund, eine Marke so zu inszenieren, indem man sagt: Hey, wir sind's, die Marke, und so sehen wir aus, weil das wissen die Leute draußen eh' schon." Meint Florian Zühlke, Managing Director der Werbeagentur Rapp Germany. "Bei der Informationsflut, mit der wir tagtäglich konfrontiert werden, baut natürlich jeder Konsument Werbefilter auf oder Kommunikationsfilter. Die Aufgabe der Marken oder der Versuch der Marken ist es natürlich, diese Filter zu durchbrechen." Sagt Thomas Witschel, stellvertretender Geschäftsführer bei Mediacom, Deutschlands größtem Einkäufer von Anzeigen und Werbespots. "Das Interessante ist eigentlich auch, selbst wenn man sieht, dass eine blanke Frauenbrust oder generell der Ausschnitt zu sehen ist, dass selbst Frauen auch dahingucken. Es ist jetzt nicht so, dass nur bei Männern der Blickverlauf dahinläuft, sondern bei Frauen sind das genau die gleichen Ergebnisse." Weiß Linda Rheinfelder, Gruppenleiterin Konsumentenanalyse bei Mediacom. Und ich? Ich staune. Mein Name ist Frank Drescher, 45 Jahre alt, Reporter aus Berlin. Worüber ich staune? Über das, was die Werbeindustrie so alles weiß. Über mich, über Sie und weitere 78 Millionen Deutsche ab 6 Jahren aufwärts. Deren Aufmerksamkeit will sie erregen, messen und verkaufen. Wie stellt sie das an? Dazu ein Selbstversuch. Morgens, kurz vor sieben. Ich lasse mich vom Radio wecken. 78,1 Prozent aller Deutschen schalten täglich ein. Ich höre heute mal fremd. Denn bei DLF Kultur läuft ja keine Werbung und das wäre schlecht für meinen Selbstversuch. 10.000 Werbebotschaften erreichen den Durchschnittskonsumenten angeblich jeden Tag. Steht sogar im Fachblatt "Absatzwirtschaft". Das will ich überprüfen. Zehn Werbespots in zweieinhalb Minuten. Vier Werbepausen bekomme ich einschließlich Autoradio morgens mit: Macht schon mal 40 Werbebotschaften. Meine Joggingrunde. Sie führt an einer Litfaßsäule vorbei, da kleben heute sieben Plakate dran. Außerdem komme ich an fünf großen Plakatwerbeflächen vorbei. Und an einer Buswartehalle. Macht weitere 13 Kontakte mit Werbung. Strenggenommen 15. "Für die Zigarette danach", kalauert es mir vom leuchtend orangenen Müllbehälter der Berliner Stadtreinigung entgegen. Und die Berliner Verkehrsbetriebe werben seit einiger Zeit für sich mit dem Slogan "Weil wir Dich lieben". Am Kiosk sehe ich Werbung für fünf verschiedene Prepaid-Anbieter, einen Paketdienst, drei staatliche Glücksspiele und die Schlagzeilen-Aufsteller von fünf Zeitungen und Zeitschriften draußen. Innen drin, am Zeitungskarussell oben, ist auch noch einmal Reklame einer Tageszeitung angebracht. Macht noch mal 15 Werbekontakte. Meine Tageszeitung, die ich wie 41 Millionen Deutsche noch gedruckt lese, enthält heute 23 Anzeigen, darunter auch Kleinanzeigen mit Bild. Macht zusammen: 93 Werbekontakte in den ersten zwei Stunden des Tages. Wenn das so weitergeht, werde ich bis zum Schlafengehen auf nicht einmal 1000 Werbebotschaften kommen - und nie im Leben auf die 10.000, von denen so viel die Rede ist. "Sie haben vollkommen recht: Wenn Sie die Kontakte zusammenrechnen, werden es mehr als 100 Kontakte sein. Aber es gibt keine belastbaren Zahlen, wie viele Werbekontakte es tagtäglich gibt." Tino Meitz von der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Er lehrt Kommunikationspsychologie an der Uni Jena. "Dazu muss man auch sagen: Solche Zahlen werden natürlich gern in die Welt gesetzt, um der Branche ein gewisses Gewicht zu verleihen." "Ich glaube, der Mythos besteht darin, dass man kultivieren möchte, dass wir in einem Aufmerksamkeitswettbewerb stehen. Diese Zahlen sind allerdings aus dem Bauch heraus schon zu hinterfragen. Wenn man seinen eigenen Fernsehkonsum sieht, dann liegen wir, je nachdem, welche Altersklasse Sie sind, bei 210, 220 Minuten. Wenn man sich dann vergegenwärtigt, wie hoch ist der Anteil an Werbung innerhalb dieses Programms, dann kommt man allein da schon nicht ran an die Bruttozahlen, die solche Werbekontakte zulassen würden." Und wenn es auch nur ein paar hundert Werbebotschaften sind: Es sind definitiv mehr, als unsere Gehirne verarbeiten können. Deswegen arbeitet Werbung mit vielerlei Aufmerksamkeitserregern. Und um die ranken sich auch wieder Mythen. Zum Beispiel: 'Sex sells', heißt es. Ob das auch in Zeiten der MeToo-Debatte noch stimmt, lässt sich mit einer sogenannten Blickverlaufsmessung erforschen. Die Probanden einer solchen Untersuchung bekommen Werbemotive gezeigt. Ein Messgerät protokolliert dabei, worauf sich die Pupillen der Probanden richten. "Generell ist es immer noch so, also, wenn man irgendwie ein Plakat hat, wo Brüste drauf abgebildet sind, dann geht der Blickverlauf dahin, ganz klar. Da haben wir letztens noch einen kleinen Test gemacht." Linda Rheinfelder, "Group Head Consumer Analytics" bei Mediacom, einer der größten Media-Agenturen der Welt. Werbe-Slogan: "Wechsel jetzt und kassiere bis zu 150 Euro!" Kerngeschäft einer Media-Agentur ist die Platzierung von Werbung. Markenfirmen beauftragen Mediaagenturen mit der Verteilung ihrer millionenschweren Werbebudgets. Zu viel Geld, um sich auf Mythen zu verlassen. Darum untersuchen Menschen wie Linda Rheinfelder mit immer tiefergehenden Methoden, wie Werbung wirkt. Ob blanke Brüste, wenn sie schon Blicke auf sich ziehen, auch beim Verkauf helfen? "Das ist nämlich auch gar nicht unbedingt positiv für die Marke. Weil auch meistens da der Blick hängenbleibt, dass man oft gar nicht die Marke oder das Produkt oder das Logo wahrnimmt. Wir hatten auch schon mal eine Kampagne evaluiert, die 'sexistisch' bezeichnet werden könnte. Da hat man halt gesehen, dass extrem viele Leute total die Abneigung dagegen haben und extrem viele Leute das extrem gut fanden, wo man als Marke dann entscheiden muss: Wo will man sich eben platzieren?" Werbe-Slogan: "Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker." Lange bevor in einer Werbung nackte Haut zu sehen ist, beschäftigt sich die Marktforschung mit dem Produkt und seinen möglichen Käufern. Wollte ich zum Beispiel ein Deo auf den Markt bringen, sollte ich wissen: Wächst der Deo-Markt oder schrumpft er? Welche Konkurrenten habe ich? Und sind die eher teuer oder billig? Wenn ich das alles weiß, stellt sich die Frage, wer mein Deo kaufen könnte: Männer oder Frauen? Ältere oder Jüngere? Und wieviel Geld werden die vermutlich dafür ausgeben? Antworten liefern Meinungsumfragen. Aber die muss man als Werbender auch richtig deuten. Denn sonst wird's peinlich: "Eine Pepsi-Dose wird geöffnet. Auf einem Hochhausdach spielt ein junger Asiate Kontrabass. Schnitt auf eine Menge demonstrierender Zwanzigjähriger. Auf ihren Schildern stehen Losungen wie "Love" und "Join the conversation". Schnitt auf eine junge Fotografin mit Nasenpiercing, Jeansjacke und Kopftuch im Atelier, neben ihr eine offene Dose Pepsi. Schnitt auf US-Reality-Star Kendall Jenner beim Foto-Shooting. Der Anblick der Demonstranten fasziniert sie. Der Kontrabass-Mann vom Dach schließt sich der Demo an. Die Fotografin auch. Junge Schwarze tanzen Breakdance, junge Weiße packen Gitarren aus und spielen, der Kontrabass-Mann auch. Er blickt Kendall Jenner tief in die Augen. Sie reißt sich die blonde Perücke vom Kopf, wischt den Lippenstift ab und läuft auch auf die Demo. Schnitt auf eine Reihe grimmig blickender Polizisten. Schnitt auf fröhliche Transgender- Personen, Schnitt auf eine weiße Frau zwischen zwei schwarzen Männern. Kendall Jenner bringt einem der Polizisten eine Dose Pepsi. Gespannte Stille. Dann lächelt der Polizist, nimmt die Pepsi-Dose und trinkt. Dann die Schrift: Live Bolder. Live Louder. Live for Now. Schlussbild: Ein animiertes Pepsi-Logo." Sofort ergießen sich Häme und Kritik aus den sozialen Netzwerken über den Clip - die Anbiederung an den Zeitgeist störte viele. Und die einfältige Geschichte: "Das haben wir in Baltimore auch probiert. Aber es änderte nichts" ... kommentierte ein Twitter-User und schickte dazu ein Foto, auf dem ein schwarzes Kind weißen Polizisten in Kampfmontur etwas zu trinken anbietet, aber die zeigen sich ablehnend. Die nächsten entdeckten in dem Clip eine problematische Aussage: So sehr Menschen aller Hautfarben auch demonstrieren, erst der Auftritt einer reichen weißen Frau sorge für Frieden. Nach nur einem Tag nahm Pepsi das Video aus seinen Social-Media-Profilen und erklärte: "Pepsi versuchte, eine globale Botschaft von Einheit, Frieden und Verständigung zu vermitteln. Dieses Ziel haben wir klar verfehlt, und wir bitten um Entschuldigung. Es war nicht unsere Absicht, irgendeine ernsthafte Angelegenheit zu verharmlosen." Was Pepsis PR-Desaster mit falsch verstandener Marktforschung zu tun hat? Es gibt Untersuchungen, denen zufolge ein Fünftel bis die Hälfte aller "Millennials", also der zwischen 1980 und 2000 Geborenen, sich selbst als Aktivisten sieht, für was auch immer. Gut möglich also, dass Pepsi durch solche Erkenntnisse auf die Idee mit der Demonstration, für was auch immer, in seinem Clip gekommen ist. Nun ist Pepsi nicht das einzige Großunternehmen, das sich mit seiner Werbung blamiert hat. Offenbar gar nicht so einfach, deren Wirkung zu kalkulieren. Was mag die Berliner Stadtreinigung zum Thema wissen? Welches Kalkül steckt hinter den lustigen Sprüchen auf den Mülleimern? Ich rufe da mal an: "Wenn sich die Leute schon freuen, was sie auf dem nächsten Papierkorb wieder sehen für einen Spruch, dann motiviert das auch, mal näher dranzugehen, und wenn man schon da steht, dann tut man sein Bonbonpapier auch da rein." Immerhin: Die Sprecherin kann mir eine Kampagne nennen, die wie geplant funktioniert habe. Biomülltrennung habe sich innerhalb von 10 Jahren um 40 Prozent erhöht. "Insofern sieht man schon, dass es wirkt." - "Haben Sie vielen Dank." "Gerne. Bis dann!" "Bis dann". Von den Verkehrsbetrieben heißt es, seit der launigen "Weil wir Dich lieben"-Kampagne hätten die Vandalismus-Schäden abgenommen und die gewalttätigen Übergriffe auf die Mitarbeiter. Aber das sei nur eine Vermutung, Nachweise: Fehlanzeige. Ich will's genauer wissen und begebe mich in die Uni-Bibliothek. Ich will wissen: Was lernen angehende Werbeleute über die Wirkung von Werbung? Das Standard-Werk "Handbuch Werbeforschung" nennt mir eine Vielzahl von Theorien für die Wirkung von Werbung. Ein neues Deo wird mir sympathisch, wenn ein mir sympathischer Prominenter es präsentiert, sagt die evaluative Konditionierung. Moment, da klingelt was: Evaluative Konditionierung? War wohl der Herr Pawlow, der an dieser Stelle schöne Grüße ausrichtet. Eine andere Theorie: Das neue Deo wird mir sympathisch, wenn ich es immer wieder und wieder gezeigt bekomme. Das besagt der sogenannte "Mere-Exposure-Effect". Der soll auch dann eintreten, wenn ich mich an die Deo-Werbung später weder erinnere, noch das Deo selbst wiedererkenne - sollen Experimente gezeigt haben. Schlauer bin ich durch das Handbuch nicht geworden, im Gegenteil: Ich bin verwirrt. Darum frage ich lieber einen Experten. "Was man dabei erklären muss: Es gibt keinen ganzheitlichen Werbewirkungsansatz." Oha, kein ganzheitlicher Ansatz? Tino Meitz, Medienpsychologe von der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. "Die meisten ernstzunehmenden wissenschaftlichen Modelle in der Werbewirkungsforschung fokussieren auf ganz unterschiedliche Prozesse. Das eine sind emotionale Prozesse. Es geht um Affekte, die Werbung auslösen kann. Andere Menschen beschäftigen sich in der Wissenschaft mit der Wirkung von kognitiven Prozessen, also: werden Einstellungen verändert, werden Verhaltensweisen beeinflusst dadurch? Und all diese Prozesse haben ihre Berechtigung, und vor allen Dingen, das ist das Dilemma, man kann sie nicht in einem Prozess messen, sondern man muss es halt parzellieren, zerlegen und muss sich konzentrieren." "Da muss man das Setting, in dem so etwas stattfindet, immer sehr gut betrachten und kontrollieren." Christian Bachem vom Forschungsunternehmen Markendienst. Wenn die Firma die Wirksamkeit von Werbekampagnen untersucht, dann geht es um die Frage: Ist das Produkt ihres Kunden bekannter geworden? Wollen die, die es kennen, jetzt eher kaufen? Christian Bachem hat beobachtet: Selbst wenn ein Werbefilm an sich gut ankommt, kann eine Kampagne immer noch nach hinten losgehen. Einer seiner Kunden hatte einmal ein 45 Sekunden langes Internetvideo produzieren lassen. "Man konnte sofort sehen über unsere Werbewirkungsnachweise, dass, wenn jemand das Video nur einmal gesehen hat, dann ist sofort die Marke dahinter aufgeblüht. Alle Parameter der Marke waren dann positiver als bei Personen, die das Video nicht gesehen haben. Problem war nur: Wir konnten dann sehen, wenn jemand das Video dreimal gesehen hatte, dann ist diese aufgeblühte Marke total verwelkt. Die ist in sich zusammengefallen. Warum? Weil die Menschen genervt waren. Weil, großes technisches Problem: Dieses Video konnte nicht übersprungen werden." Dumm gelaufen. Aber auch unvermeidbar? Das will ich in Düsseldorf klären. In einem kernsanierten mehrstöckigen Industriegebäude hat Mediacoms Deutschland-Zentrale ihren Sitz. Früher baute Rheinmetall hier Panzer zusammen. Jetzt sieht es hier wie in einem Startup aus: weitläufige, tageslicht-durchströmte Büroetagen, helle Hölzer und gläserne Wände. Dazwischen smarte, junge Menschen, im Schnitt um die 30, schätze ich. Viele haben Abschlüsse in BWL, Soziologie, Psychologie. Sie kennen sich aus mit Zahlen, Statistik und IT. 15 Milliarden Euro gab die deutsche Wirtschaft 2017 für die Platzierung von Anzeigen, Werbespots und Plakaten aus. Die deutsche Mediacom-Niederlassung kanalisiert davon gut ein Fünftel, knapp vier Milliarden. "Ein Bruchteil von den 4 Milliarden liegt dann auf meinem Tisch." Das ist Wiebke Utzig. Sie ist Consultant und berät Unternehmen, wo sie ihre Werbung schalten sollen. "Aktuell buchen wir ja noch sehr viel Print. Ja, ich glaube, das sind einfach bewährte Medien, um die immer noch kein Weg herumführt. Beispielsweise, wenn's jetzt um aktuelle Informationen geht oder auch Angebote, die irgendwie kurzfristig beworben werden sollen, ist eine Tageszeitung immer noch ein bewährtes Medium." Allein in den letzten fünf Jahren haben Tageszeitungen ein Fünftel ihrer Werbeeinnahmen eingebüßt. Trotzdem sind sie immer noch Deutschlands zweitwichtigster Werbeträger, nach dem Fernsehen, so Zahlen des Zentralverbands der deutschen Werbewirtschaft, ZAW. Denn gleichzeitig lesen auch immer weniger Menschen eine Tageszeitung. Radio übrigens ist als Werbeträger weit abgeschlagen, auf Platz 9. Wiebke Utzig weiß, wer wie welches Medium nutzt. Auf dem Bildschirm vor ihr ist ein Programm offen, in dem die Daten aus vielen Meinungsumfragen zusammenlaufen. Mal sehen, was sie über Menschen wie mich so in den Datenbanken hat. "So. Dann haben wir schon mal männlich und 45. Dann könnte man noch dazu nehmen: Wie steht es denn um die Schulbildung?" "Ich habe studiert." "Okay, dann nehmen wir hier noch mal das Studium dazu, und so haben wir halt die Möglichkeit, da noch weitere Fakten mit rein zu nehmen." Etwa, ob ich berufstätig bin. Ob ich verheiratet bin. Ob ich Kinder habe. Wie viel ich netto verdiene. Und noch so einiges mehr. "Meinen Body-Maß-Index können Sie da auch, das ist ja... den wüsste ich gar nicht. Körpergröße und Körpergewicht?" "Mhm. Für manche Produkte mag das ja auch interessant sein. Je nachdem, was man so an... ich weiß nicht, vielleicht so Kleidung von der Branche her. Oder Body-Maß-Index könnte auch für Ernährung interessant sein." Es gibt also Studien, die besagen, welche Sendungen Übergewichtige am liebsten im Fernsehen schauen, um ihnen gezielt Produkte anzubieten. Aber je mehr meiner Persönlichkeitsmerkmale Wiebke Utzig in ihre Software eingibt, umso weniger Informationen haben die Datenbanken über Menschen wie mich. Wollte sie eine Kampagne für ein Deo planen, das für mich interessant wäre, erfährt sie: 68 Prozent der Männer über 40 verwenden täglich eins. Wie das aber bei Journalisten aus Berlin im Alter von 45 aussieht, dazu weiß die Marktforschung nichts. Denn es gibt einfach zu wenige 45- jährige Berliner Journalisten, über die es repräsentative Daten gibt. Zurück in meinem Büro. Wenn ich ins Internet gehe, will die Werbeindustrie mich auch hier so gezielt wie möglich ansprechen. Wenn ich auf spiegel.de, faz.net oder sueddeutsche.de gehe, versteigern die Nachrichtenportale in Sekundenbruchteilen meine Aufmerksamkeit. Wir hören uns das mal in Zeitlupe an: Frank ruft eine Nachrichtenseite auf. Die erkennt eine Anfrage aus Berlin, von einem Windows-7-PC mit Full-HD-Monitor und Firefox-Browser, der aber nur die Hälfte des Bildschirms bedeckt. Cookie-Dateien im Browser zeigen der Nachrichtenseite, dass Frank heute unter anderem einen Online-Shop für handgefertigte Herrenschuhe angesehen hat. Dort hat er aber nichts gekauft. Und jetzt passiert folgendes: "Verehrte Werbetreibende! Unser nächstes Angebot: ein neuer Nutzer aus Berlin, wahrscheinlich gut verdienend und männlich, denn er oder sie ist an handgemachten Herrenschuhen interessiert! Das Mindestgebot für die Aufmerksamkeit dieses Lesers: 8 Cent. Bietet jemand 8 Cent? Der Schuhcreme-Hersteller hier vorn vielleicht? 8 Cent? 11 Cent? 11 Cent sind geboten! 11 Cent für den gut verdienenden Schuhinteressenten aus Berlin! Da höre ich 12! Zwölf Cent sind geboten! 13! 13 Cent! Bietet jemand mehr? 14! 14 Cent! Zum Ersten! Zum Zweiten! Und ... zum Dritten! Herzlichen Glückwunsch! Zeigen Sie diesem Leser jetzt ihr Werbebanner!" In Wahrheit hat dieser Vorgang gerade mal 120 Millisekunden gedauert. "Programmatic Advertising" nennt sich das. Es geht vollautomatisch. Und jetzt bekomme ich ein Werbebanner des Online-Shops für Schuhe zu sehen, auf dem ich vorhin nur mal geguckt habe. Dieses Interesse kann aber dazu führen, dass ich die Werbung für den Schuh-Shop öfter zu sehen bekomme, als mir lieb ist und ich mich ein wenig verfolgt fühle. Warum, weiß Sascha Seidl, Director Programmatic Consulting bei Mediacom: "Das ist natürlich... könnte man sagen, dass die Kampagne eventuell schlecht umgesetzt war. Weil man sollte natürlich eine gewisse Kontaktdosis berücksichtigen. Das heißt, man kann vielleicht versuchen, den Nutzer, wenn er abgesprungen ist von der Website, vielleicht noch im Nachgang zwei, dreimal anzusprechen mit dem Produkt. Und irgendwann sollte es dann tatsächlich aber auch genug sein." Je länger ich im Internet unterwegs bin, umso detailliertere Informationen halten die Cookie- Dateien in meinem Browser über mich bereit. Und umso wertvoller werde ich für die Nachrichtenseite. Kulturpessimisten reden in dem Zusammenhang sogar schon von "Überwachungskapitalismus". Dem kann ich mich aber ganz einfach entziehen: Ich habe meinen Browser so eingestellt, dass er die Cookie-Daten jedes Mal löscht, wenn ich ihn schließe. Surfe ich jetzt auf die Nachrichtenseite, bin ich jedes Mal aufs Neue ein weitgehend unbeschriebenes Blatt. Was sagen Sie dazu, Herr Seidl? "Da würde man jetzt kein konkretes Werbemittel ausspielen, wo man vielleicht da noch mal konkret aufruft mit einem bestimmten Preis oder da noch mal 'ne Erinnerung schickt mit einem bestimmten Produkt." Ich bekomme stinknormale Werbung, die einfach nur ein Produkt bekannt machen will und sich nicht um meine sonstigen Interessen schert. Das, was Sie da gerade hören, sind die platzenden Träume der Werbewirtschaft mit Online. Zwar ist das Internet inzwischen viertwichtigster Werbeträger Deutschlands, auf den ein Zehntel der hiesigen Werbebuchungen entfällt. Aber auf dem Weg dorthin verflog die naive Hoffnung, das Internet würde potentielle Kunden zielgerichtet und ohne Streuverluste erreichen: "Wenn man eben auf irgendeine Webseite geht und nicht weiter nach unten scrollt, weil einen die Seite doch nicht interessiert und sie doch wieder schließt, dann hat man die Werbung, die im unteren Teil der Webseite platziert ist, nie gesehen." Jonas Kuhnle von der Firma Meetrics in Berlin. Erhalte ich ein Werbebanner, ist darin oft ein Programmiercode von Meetrics enthalten. Das Unternehmen misst damit, ob das Werbebanner tatsächlich für mich sichtbar wird. In etwa 40 Prozent der Fälle wird es das nämlich nicht. Weil es außerhalb des angezeigten Seitenausschnitts liegt. Und sichtbar, das heißt nach international anerkannter Definition: Es braucht nur eine Sekunde lang zur Hälfte auf meinem Bildschirm erschienen sein. Oft wird es nur dann auch von den Inserenten bezahlt. Werbe-Slogan: "Jetzt auch als Siebensitzer." Werbe-Slogan: "Fotografie wird nie wieder so sein wie zuvor." Nur weil die Werbung technisch sichtbar war, heißt das aber noch lange nicht, dass das Publikum sie auch wahrnimmt. Dazu müssen wieder Umfragen her. "Okay, zeig' mal. Was sehen wir da? Geh' mal noch mal zurück. Sobald man die App aufmacht, ist man auf der Seite, quasi von dem Panel." Ich bin zu Gast bei Claus aus Berlin. Er ist 35 und regelmäßiger Proband bei Meinungsumfragen. Er ist registriert bei einem Marktforschungsdienstleister. Seit zwei Jahren, erzählt er, nimmt er ungefähr alle zwei Wochen an einer Befragung teil. "Also der Grund, warum ich mitmache, ist, weil ich's interessant finde, meine Meinung zu Dingen zu sagen. Also, wie wir's auch gerade gesehen hatten, zu sagen, welche Produkte ich kaufe, welche nicht. Welche Marken, welche nicht. Und was mir auch bei meiner Kaufentscheidung wichtig ist. Und da glaube ich, was angeboten wird, was Unternehmen machen, auch ein bisschen lenken zu können." In dieser Umfrage geht es also nicht nur um Werbung, sondern auch um sein Konsumverhalten. Irgendwann stößt Claus auf diese Frage hier: 'Haben Sie kürzlich eine Werbung oder Aktion für diese Marken gesehen oder gehört?' "Zur Auswahl haben wir hier Google, Microsoft, Edge, Firefox, Mozilla, Chrome oder keine der obigen Angaben. Und: für Marke Google auf jeden Fall. Auch gerade für andere Google- Produkte definitiv. Für den Rest kann ich mich jetzt nicht erinnern, in letzter Zeit irgendwas gesehen zu haben." Die rohen Ergebnisse solcher Befragungen haben ihre Tücken, weiß Marktforscher Christian Bachem: "Wenn Sie zum Beispiel Probanden fragen, ob sie Werbung einer bekannten Marke gesehen haben, und diese bekannte Marke hat aber, obwohl sie bekannt ist, im letzten halben Jahr gar nicht geworben, dann werden Ihnen wahrscheinlich immer zwischen 5 bis 10 Prozent sagen: Ja, sie haben diese Werbung gesehen. Warum? Weil man einer bekannten Marke immer unterstellt, dass sie wirbt. Das sind dann Scheinkorrelationen. Da muss man dann eben aufpassen als Marktforscher, dass man solchen Scheinkorrelationen nicht aufsitzt und dass man sie entschlüsselt." Eine Abhilfemöglichkeit: Die Probanden lassen sich technisch beobachten - auf welche Seiten surfen sie, welche Banner sehen sie dort. Solche Leute muss die Marktforschung erst einmal finden. Bei Marktforschungsproband Claus stellen sich schon Abnutzungserscheinungen ein: "Wenn ich irgendetwas bewusst sehe, dann denke ich schon darüber nach: Was macht das jetzt mit mir, was sagt das mir? Und denke halt schon mehr darüber nach. Also nicht, weil ich denke, ich muss es im Kopf behalten, vielleicht werde ich bald mal danach gefragt, aber weil man häufiger über diese Fragen nachdenken muss. Und irgendwann ist das so 'ne Art Automatismus, dass man das, sobald man 'ne Werbung sieht, schon direkt macht." ... das war gerade mein Werbeblocker. Ich benutze neuerdings einen - wie jeder 4. Internetnutzer in Deutschland. Bei Mediacom-Vizechef Thomas Witschel kommt da schlechte Stimmung auf: "Das ist natürlich ein Riesenproblem, dieser Trend, dass immer mehr Menschen negativ auf Werbung reagieren." "Für uns in der Agentur ergibt sich daraus gar keine Herausforderung, sondern eher 'ne Chance", sagt dagegen Florian Zühlke, Chef von Rapp Germany, einer Kreativagentur im internationalen Werbekonzern Omnicom. Die Agentur sitzt auch in einem Loft. Aber nicht in Düsseldorf, sondern in einem Kreuzberger Hinterhof. "Wir wollen Werbung anders machen. Wir wollen digitale Markenkommunikation machen. Und das bedeutet, sich von Werbung auch ein Stück weit zu lösen und zu sagen: Was ist es jetzt eigentlich, was Leute jetzt von Markenkommunikation erwarten? Also uns, jedem hier persönlich, geht's ja auch nicht anders. Wir sind auch genervt von Bannern, die sich über Seiten legen, wir sind genervt von Werbebreaks, von Fernsehspots. Das nervt ja eigentlich jeden. Deswegen ist der Anspruch, was anderes zu machen, 'ne neue Beziehung aufzubauen zwischen Menschen und Marken." "Zeigen Sie mal!" Es geht um Stand-Up-Paddling. Junger, durchtrainierter Mann mit Afro-Frisur steigt aus dem Auto und trifft junge durchtrainierte Frau. In Badekleidung laufen beide über einen Bootssteg. Wow, toller Sixpack! Beide sitzen auf jeweils einem Surfbrett und machen Gymnastik. Das Motorboot, von dem aus die Kamera die beiden filmt, macht so viel Wellengang, dass beide von ihren Surfbrettern ins Wasser fallen. Nach einer Minute ist der Spaß vorbei. 'Und? Wie hat's Dir gefallen? ... Ciao.' Der junge, durchtrainierte Mann steigt ins Auto und fährt weg. Jetzt erscheint das Logo der Automarke. "Aber das hat ja gar nichts mit dem Produkt ihres Kunden zu tun!" "Nee, genau, das Produkt wird ja dadurch platziert, dass wir mit einem ... hinfahren. Und das ist so'n bisschen dieses Lebensgefühl. Also dass der sportliche Bezug, der urbane Bezug da eben eine Rolle spielen. Es geht uns nicht darum, das Produkt mit seinen Features ins Fenster zu hängen. Das kennt im Zweifelsfall ja jeder. Sondern die Frage ist eher: Wie zeigen wir ein Produkt mal in einem Kontext, den die Nutzer bestenfalls von sich selber kennen oder kennen könnten." Auf Facebook ist das Video innerhalb eines Monats 112.000 Mal ausgespielt worden. Aus Publikumssicht hat dieser Werbeansatz einen Vorteil: Er ist unaufdringlich. Taucht das Video zufällig in meiner Facebook-Timeline auf, läuft es ohne Ton. Ob ich ihn einschalte, ist meine Sache. Aber was bringt das der Automarke? "Es geht nicht mehr darum, sich auf den Thron zu setzen und zu sagen: 'Mein Produkt ist einzigartig und mein Produkt ist total toll. Das glaubt Ihnen einfach niemand mehr. Eine Marke wird heute nicht mehr aufgebaut, indem ich sage: 'Ich bin die große tolle Marke, und jeder darf an mir teilhaben.' Es ist, eher gesagt, andersherum: Als Marke habe ich mich zu bemühen, Teil des Lebenskontextes von Menschen zu werden." Wirkt Werbung denn nun noch? Wenn es ums Bekanntmachen von Marken geht, ganz bestimmt. Wenn ich mich in meinem Haushalt so umsehe, dann gibt es schon ein paar Produkte, bei denen Werbung eine Rolle gespielt haben könnte. Die grünen Äpfel etwa, die ich immer zum Frühstück esse: Wer weiß, welchen Anteil daran die Reklame der Zahnpasta- Marke hat, die ich ansonsten noch nie benutzt habe?