COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. DeutschlandRadio Kultur Redaktion: Dorothea Westphal Madame Bovary mit Sprechblasen Vom unaufhaltsamen Aufstieg der Graphic Novels Renate Maurer O-Töne Posy Simmonds aus: TV-Interview mit Clife James, "Talking in the Library", 2007 Erzähler Erzählerin Sprecher voice over Manuele Fior, Zitate Sprecherin voice over Posy Simmonds Zitate Atmo Zeichnen Musik: CD 2 Excess Baggage, take 8, Xbag 2Abc 1. O-Ton Posy Simmonds So then you get to a bit, where: Okay Gemma, I´ve really got to commit suicide in about four episodes, and now it´s written. When I got to it - she refused to do it, her charakter had a sort of change and I have done every sort, where she does take a nerve dose, and she sits up and says: this is awful, I mean metaphorically, she wouldn´t ... I kept saying: die! And she wouldn´t do it. So then I realized, it had to be an accident, that killed her. Sprecherin An einem Punkt sagte ich: o k. Gemma, wir haben vier Episoden, in denen du Selbstmord begehen musst. Aber als es soweit war, hat sie sich geweigert, ihr Charakter hatte sich verändert, ich habe alle möglichen Vergiftungen versucht. Und sie setzte sich auf und sagte: Das ist ja schrecklich, metaphorisch gesprochen, sie wollte nicht. Und ich bestand darauf: Los, stirb! Aber sie wollte nicht. Also musste ich sie durch einen Unfall sterben lassen. Atmo Zeichnen/ Wechsel Musik CD 1, take 1 Sofronitsky Carnaval, bei 2´16 (Pierrot) Sprecher Gehüllt nur in einen schwarzen Abendmantel und in eleganten Schuhen steigt Fräulein Else die Treppe zur Hotelhalle hinunter. Es ist ihr letzter Gang. Klaviermusik ertönt, Schumanns Carnaval. Sie folgt den Klängen bis in den Musiksalon, um - plötzlich - vor den Augen der entsetzten Hotelgäste komplett nackt dazustehen. Ein hysterischer Akt der Enthüllung, ausgelöst durch das finanzielle Desaster des Herrn Papa und das schmierige Angebot eines alten, reichen Lüstlings: 30000 Gulden für den Anblick nackter Haut. Musik CD 2, Excess Baggage, take 11, Ray calls Emily Sprecherin Im langen, schwarzen Mantel über feuerroten Dessous, die Wärmflasche unter dem Arm, schleicht sich auch Gemma Bovery an grauen Novembertagen aus ihrem Haus. Weg aus der Langeweile ihres Ehe- und Provinzlebens in der Normandie, hinein in die Arme eines jungen französischen Liebhabers. Gefährliche Liebschaften, aber very british. Erzähler Fräulein Else und Gemma Bovery haben nicht nur die skandalösen Mantel-Szenen gemeinsam. Beide steuern auch - wie von Schnitzler und Flaubert vorgesehen - auf ein tragisches Ende zu und enthüllen dem Leser dabei ihre geheimsten Gedanken, Begierden und Seelenqualen. Während sich die junge Wienerin mit Veronal aus der Welt befördern wird, bleibt der Britin Gemma allerdings der grausame Suizid mit Arsen erspart. Erzählerin Sie wird an einem Sandwich ersticken. Erzähler "Fräulein Else" und "Gemma Bovary" sind die Titelheldinnen in den gezeichneten Romanen von Posy Simmonds und Manuele Fior. Zwei Graphic Novels nach berühmten literarischen Vorlagen. Die Handlung wird in Bildtafeln, panels genannt, Sprechblasen und Textblöcken erzählt und vorangetrieben. Und die beiden Zeichner zeigen, wie anspruchsvoll, kunstvoll und raffiniert diese Begegnung zwischen Literatur und Comic sein kann. Erzählerin "Fräulein Else", Arthur Schnitzlers Novelle aus dem Jahr 1924, spielt in einem Ferienort in den italienischen Alpen. Aber das war nicht der Grund, weshalb sich Manuele Fiore die Novelle vorgenommen hat: 2. O-Ton Manuele Fior j´aime beaucoup Schnitzler et j´ai presque tout lu de lui, je suis assez passioné de par cette periode de la fin de siecle vinoise, soit par les evrivain, et pour le millieu intellectuelle en generale, Freud, Musil, Schnitzler. Et donc, cést quand la maison Delcourt m´a proposé de faire un adaptement, j´ai toute suite pensé a lui. Sprecher Ich mag Schnitzler sehr und habe fast alles von ihm gelesen, ich bin fasziniert von der Epoche des Wiener Fin de Siècle, dem intellektuellen Milieu, von den Schriftstellern Freud, Musil, Schnitzler. Und als der Verlag Delcourt mir eine Adaption vorgeschlagen hat, hab ich sofort an Schnitzler gedacht. Erzählerin Manuele Fior, geboren 1975 in Cesena, lebt in Paris und hat schon einiges gesehen von der Welt. Nach seinem Architekturstudium in Venedig landete er zunächst in Berlin, wo auch seine erste Comicerzählung "Menschen am Sonntag" entstand: die Geschichte einer langen, bizarren Nacht mit verpasster Abreise aus der Stadt. Es folgten ein paar Jahre Oslo und der Comicroman "Ikarus", ein Aufenthalt in Ägypten und schließlich Paris mit "Mademoiselle Else". Die deutsche Ausgabe kam 2010 im kleinen Berliner Avant-Verlag heraus. 3. O-Ton Manuele Fior Aussi par ce que dans "Fräulein Else", il utilise le monologe interieur, et j´ai pensé, que c´était un des filles interessente a l´adaption a une bande dessine. En fait les bandes dessinés deja ... dans ce moyen de monologe interieure comme chose tu utilise souvent. Et en plus, voilà, le theme ca m´interessait beaucoup, l´éxploration un peu de psychologie feminin debut de siecle, mais apres en decouvrant des aspects qui sont tout a fait contemporain. Sprecher Auch, weil Schnitzler den inneren Monolog verwendet, dachte ich, das Mädchen sei interessant für eine Comic-Adaption. Im Comic arbeitet man viel mit inneren Monologen. Außerdem hat es mich interessiert, ein bisschen weibliche Psychologie zu erforschen und dabei aktuelle Bezüge zu entdecken. Erzähler Fior hat sich eng an Schnitzlers Vorlage gehalten. Else ist auch bei ihm die hübsche, 19jährige Advokatentochter aus Wien, die in Begleitung von Tante und Cousin Urlaub in den italienischen Bergen verbringt, und an einem Abend und in einer halben Nacht auf den Selbstmord zusteuert. Ein stolzes, kleines Fräulein. Scharfsinnig und ironiebegabt, melancholisch, etwas narzisstisch und durchaus frivol gestimmt. Musik CD 1, take 2, Zwei Gitarren nur bis 0´14 Sprecherin Er sieht aus wie ein Filou, sagte Paul. Ach Gott, ich habe nichts gegen Filous, im Gegenteil. Nach Italien würd' ich ganz gern heiraten, aber keinen Italiener. Villa an der Riviera. Marmorstufen ins Meer. Ich liege nackt auf dem Marmor. Ich bin für ein sorgloses Leben geboren. Erzählerin Kleine Anspielung auf den italienischen Comicautor. Bei Schnitzler würde Else gern nach Amerika heiraten, aber keinen Amerikaner. Erzähler Fior lässt Else ihren berühmten inneren Monolog mal in Sprechblasen, mal in Textzeilen unter den Bildtafeln führen - in Sprechblasen auch kurze Dialoge mit den anderen Figuren. Das ist für den Leser anfangs ziemlich verwirrend. An manchen Stellen drängen die Bilder Elses ironische Pointen zu sehr an den Rand. Aber die Geschichte gewinnt auch - gerade durch diese Bilder. Erzählerin Der Expressbrief der Frau Mama, der den zentralen Konflikt auslöst, ist hier in handschriftlichen Schnörkelbuchstaben über drei Seiten ins Bild gerückt. Der Papa hat Mündelgelder veruntreut, das Gefängnis droht, die Tochter soll den im selben Hotel logierenden Kunsthändler von Dorsday um 30000 Gulden bitten. Der alte Lüstling aber will für sein Geld Else eine Viertelstunde lang nackt sehen. Die junge Unschuld, die sich an einen widerwärtigen, alten Kerl verkaufen soll, ist hier allerdings keineswegs prüde. Musik, CD 1, take 2 bis 0´14 Sprecherin /Sprecher Ich bin ein Luder. Auch Paul spürt es. (Sprecher) Buona sera, Else. Auch du spürst es, mein Filou, vor dir würd' ich mich mit Wonne ausziehen. Aber ich verkaufe mich nicht. Ich schenke mich her. Ein Luder will ich sein, aber nicht eine Dirne. Sie haben sich verrechnet, Herr von Dorsday. 4. O-Ton Manuele Fior ... l´idee, que je eu, c´ést une idee, que vient en travaillant, c´ést un po de piquer ou se raprocher a l´iconographie de periode sans faire des citates, citations. Par exemple, je trouve, dans le cas de Klimt, pour le fait qu´il est tellement celebre, on n´arrive plus trop le regarder d´une facon spontanais. Je me suis dit, je vais apprendre quelque chose, je vais utisiler ca, aussi pou regarder a travers ces yeux, la forme de la femme, qui il a creé reste esthique, qu´il l y avait a l´èpoche, qui sont forcement differents que de maintenant, les formes du corps, aussi les vetements, naturalement et tous ca. Et surtout, voilà, c´ést un sensibilite qui etait passé deja a travers ces yeux et qui maitenant etait passé a travers ma main. Sprecher Die Idee war, sich ein wenig an die Ikonographie der Epoche anzunähern, ohne direkt zu zitieren. Klimt beispielsweise: der ist so berühmt, dass man seine Bilder gar nicht mehr unvoreingenommen betrachtet. Ich wollte mit seinen Augen sehen, zum Beispiel die Form der Frau. Die Ästhetik, die er geschaffen hat, ist geblieben, auch wenn die Körperformen und die Kleider damals ganz anders waren. Vor allem die Sensibilität seines Blicks hat meine Hand geführt. Erzähler Gustav Klimt und Edward Munch waren die Vorbilder für Fior. Er hat Else eine rotblonde Haarwolke à la Klimt verpasst und eine Stupsnase und führt mit seinen Aquarellzeichnungen mitten hinein in die Wiener Jahrhundertwendegesellschaft. Mit weich zerfließenden Formen und feiner Schärfe der Konturen in Jugendstilfarben von dunklem Rosa, Violett und Grau bis hin zu Ocker, Braun, Schwarz. Mit karikaturhaft zugespitzten Gesichtern, Blicken und Gesten zwischen giftig grünen und gelben Farbkaskaden in der Hotellobby und den blaugrünen, schwarzen Baumschatten draußen in der Nacht. An die 110 Seiten umfasst Schnitzlers Textpartitur. 5. O-Ton Manuele Fior quand un adapte un livre dans un bande dessiné, on remarque le premier chose qu´íl faut couper beaucoup. Mais si on fait comme ca, si on coupe trop, on va voir juste, role adaption come on dit plus statique le texte. Du coup on decouvre que, en fait il forme remplacer, ce qui on a couper dans le text ecrit, avec les images. Par exemple, si on a un description de un paysage, nous en represent le paysage, mais aussi dans l´etat d´âmes, les emotions Ill faut faire passer a travers le dessin tout ce qu´on a coupé dans le romain. Sprecher Wenn man ein Buch als Comic adaptiert, muss man als Erstes viel kürzen. Aber wenn man zuviel kürzt, wird der Text zu statisch. Man entdeckt, dass man eigentlich die gekürzten Teile durch Bilder ersetzen muss. Also zum Beispiel, wenn es um eine Landschaft geht, dann muss man die Landschaft darstellen, aber auch den seelischen Zustand und die Emotionen. Man muss in die Zeichnungen das einfließen lassen, was man aus dem Roman gekürzt hat. Musik CD 2, take 13, Emilys Phone, ab 0´24 Erzählerin Die Bilder sind Fiors große Stärke. Gerade, weil sie nicht bebildern. Wenn es etwa heißt: Sprecherin "Die Dämmerung starrt herein, wie ein Gespenst starrt sie herein", Erzählerin sieht man Else bei der Abendtoilette im erleuchteten Hotelzimmer vor dem Spiegel und eben nicht vor dem Fenster; der Blick auf die grau-violette Alpenlandschaft ist schon viel früher gefallen. Und unglaublich, wie oft sie sich verwandelt: von der anmutigen jungen Dame über das verlorene, pausbäckige Kind im Abendkleid bis zum spitznasigen, zutiefst erschrockenen Wesen in der Unterredung mit dem Schuft von Dorsday. Und dann ist sie wieder die kokette Narzisstin, die ihr Spiegelbild küsst. Erzähler Auch die Züge des alten Tränensacks von Dorsday lässt Fior immer wieder fratzenhaft entgleisen. Wenn Else vor versammelter Gesellschaft im Musiksalon den Mantel fallen lässt, erstarrt er zur Georg-Grosz- Karrikatur. Und wenn man genau hinsieht, kann man, an den Flügel gelehnt, noch einen anderen älteren Herrn entdecken, der aussieht, ja tatsächlich, wie Sigmund Freud. Musik Erzählerin Die britische Zeichnerin Posy Simmonds hatte schon einige Jahrzehnte als Zeitungscartoonistin und Kinderbuchautorin hinter sich, als sie sich mit "Gemma Bovery" plötzlich dem ernsten Fach zuwandte. Die Graphic Novel nach Flauberts berühmtem Roman "Madame Bovary" von 1857 erschien zuerst als Fortsetzungsserie im angesehenen, linksliberalen "Guardian", dort wo Simmonds schon seit den 70er-Jahren ihre satirischen Comicstrips veröffentlichte, dann als Buch. Erzähler Schon das Cover, auf dem Gemma mit fliehendem Blick, sehr roten, Lippen und verrutschtem Mantel-Dekolleté aus einem lilienverzierten Rahmen guckt ( auf dem Umschlag der englischen Ausgabe eilt sie noch vor einem Hintergrund mit VW-Bus, Haus und Leiter durchs Bild ) verrät: diese Madame Bovery ist ganz von heute. Erzählerin Die Inspiration für ihre Heldin habe sie in Italien in einem Café erhalten, erzählte Posy Simmonds in einem Zeitungsinterview mit der Süddeutschen Zeitung, 2010 Sprecherin Am Nebentisch saß eine Frau, wunderschön, umgeben von Prada- und Armani-Tüten. Und ein Mann, der die ganze Zeit um sie herumtanzte und es ihr recht zu machen versuchte. Sie war sichtlich zu Tode gelangweilt - von ihrem Mann, ihrem Leben, von allem. Purer Ennui. Und mein Begleiter sagte: "Oh, guck mal. Da sitzt Madame Bovary!" Erzähler Flauberts Romane kennt Posy Simmonds, geboren 1945 als Rosemary Elisabeth Simmonds, schon seit ihrer Studienzeit in Frankreich. Mit 17 ging sie nach Paris, um an der Sorbonne Kunst zu studieren und danach nach London an die "Central School of Art & Design". 6. O-Ton Posy Simmonds Gemma, Gemma was obviously a fragment, I thought, she must have read a lot of magazines, I made her a dentist daughter, she reads magazines Sprecherin Gemma war erst mal ein Fragment, eine Zeitschriftenleserin, ich machte eine Zahnarzttochter aus ihr, die Zeitschriften liest Erzähler Bei Flaubert verschlingt Emma, geboren im 19. Jahrhundert, sentimentale Romane. 7. O-Ton Posy Simmonds ... she reads magazines, and is always changing her cushions and remodelling things. Often, I mean, in "Gemma Bovery", I write her the plot, having casted in a way and dressed them. In a way, it´s like drawing a flm. So this was doing props, costumes and a kind of her charakter- and then I write the plot. Sprecherin ...sie liest Zeitschriften und räumt ständig um und renoviert alles. Bei Gemma Bovery habe ich den plot geschrieben, nachdem ich sie gewissermaßen für die Rolle besetzt und gekleidet hatte. Es ist eigentlich wie für einen Film: ich zeichne die Requisiten, die Kostüme, entwickle ihre Figur - und dann schreibe ich den plot Erzählerin Gemma Bovery ist Britin, eine junge Zeichnerin für die Restaurantkritik-Seiten von Zeitschriften in London, angeödet von ihrem Job und gerade von ihrem lover verlassen worden. Sie heiratet den geschiedenen Charles Bovery, von Beruf Möbelrestaurator, und überredet ihn, mit ihr in die Normandie auf´s Land zu ziehen. Dort, im verregneten Nest Bailleville, versinkt sie - wie Flauberts Heldin Emma - in qualvoller Langeweile, betrügt ihren Mann, häuft Schulden an und stirbt. Erzähler Um zu einer Verführerin à la Emma Bovary zu werden, muss Gemma bei Posy Simmonds allerdings erst eine optische Verwandlung durchmachen: 8. O-Ton Posy Simmonds Before she goes to France, she is someone, who doesn´t wax much, shave her legs, doesn't go to nail bars, she´s got splittings and she is probably one of these rather droopy Marks & Sparks summer dresses ... After she´s been in France, she changes into a creature, at the time I started it, Princess Diana was alive, and so that is actually Princess Diana suit. She is rather ninty´s suit, and a leather skirt and black tights ... Sprecherin Bevor sie nach Frankreich geht, rasiert sie sich nicht die Beine, geht nicht ins Nagelstudio und trägt diese wallenden Sommerkleider von Marks & Sparks. In Frankreich verwandelt sie sich ... als ich mit dem Comic anfing, lebte Pinzessin Diana noch, und deshalb ist es eigentlich der Look von Prinzessin-Diana. Sie zieht sich also im 90erJahre-Stil an, mit Lederrock und schwarzen Strumpfhosen. Erzähler Vor allem der fliehende Blick aus großen Augen stammt von Prinzessin Diana. 9. O-Ton Posy Simmonds ... quite often I draw dots for eyes, but with Gemma - I wanted her to look after the side of her eyes, or to do that thing that Diana did, of looking a sort of up. Sprecherin Normalerweise zeichne ich Punkte als Augen, aber bei Gemma wollte ich, dass sie so seitlich wegguckt, also so, wie Diana. Erzählerin Gegen Ende des Comics kehrt Gemma aus London auch noch mit einem Haarschnitt à la Lady Diana zurück. Simmonds Literaturadaption hat sich weit von Flauberts Vorlage entfernt und spielt doch very sophisticated mit der Handlung und den Figuren. Und ist außerdem eine feine Satire über die urbane britische und französische Mittelklasse in der normannischen Provinz. Der Roman beginnt nach Gemmas Tod: Sprecher "Gemma Bovery war seit drei Wochen in der Erde". Erzähler Erzählt wird aus der Perspektive des Bio-Bäckers und ehemaligen Lektors, Raymond Joubert, den eine geheimnisvolle Schuld mit Gemmas Tod zu verbinden scheint. Anhand ihrer Tagebücher und seiner eigenen Beobachtungen enthüllt er ihre Geschichte, die, wie er festgestellt hat, erstaunliche Parallelen mit der von Flauberts Emma Bovary aufweist. Musik CD1, take 5, Atmo Vogelzwitschern Sprecher/Sprecherin Nach unserer vierten oder fünften Begegnung stellte ich sie auf die Probe ... Sie wissen doch, Ihr Name - er 'at in Fronkraisch große Bedeutung ... literarische Bedeutung! ... le chef d'oeuvre de Flaubert! (Gemma) Oui, je sais. C´ést un film ... ... äh, non ... c'ést un livre. Erzählerin Joubert, befreundet mit den Boverys und mit dem yuppiehaften britischen Paar Ranking, ist der heimliche Beobachter von Gemmas Liebschaft mit dem jungen, französischen Aristokraten und Schloßbewohner Hervé ( Hervé, wie der Namen des Autors von Tim & Struppi ). Geplagt von wachsender Eifersucht und von der Obsession, Gemma vor ihrem bei Flaubert vorgesehenen Ende bewahren zu müssen, beginnt er, die Handlung mit anonymen Briefen zu steuern. Ohne Gemmas Tod verhindern zu können. Erzähler Der Leser, sagt Simmonds, erwartet natürlich irgendetwas mit Arsen, und es habe ihr Spaß gemacht, mit diesen Erwartungen zu spielen, sie zu enttäuschen: 10. O-Ton Posy Simmonds And she sit´s up and says: this is awful, I mean metaphorically, she wouldn´t - I kept saying: die! And she wouldn´t do it, so then I realized, it had to be an accident, that killed her Sprecherin Und sie setzt sich auf und sagt: Das ist ja schrecklich, metaphorisch gesprochen, sie wollte nicht. Und ich bestand darauf: Los, stirb! Aber sie wollte nicht. Also musste ich sie durch einen Unfall sterben lassen. Erzählerin Das alles wird im Buch mit dem größten Understatement entfaltet. In zart gerahmten panels, die sich an keine Größenordnung halten und in feinen Tusche-Zeichnungen mit viel "grey wash", Grautönung, wenig schwarz. Dazu lange Textpassagen wie in einem Roman. 11. O-Ton Ulli Lust Also, eigentlich sollte man versuchen, im Comic nicht zuviel Text einzubringen, die Sprechblasen sollten nicht mehr als sieben Sätze haben. Das ist keine Marotte von den Zeichnern, das ist ein Problem, das die Leser haben, wenn es zuviel Text im Comic gibt, dann steigen die aus. Erzähler So hat es Ulli Lust während ihres Studiums an der Kunsthochschule in Berlin Weißensee gelernt. Erzählerin In Posy Simmonds Graphic Novels aber gibt es viel Text, sehr viel sogar. Und der Leser ist entzückt von den unterschiedlichen Textsorten in verschiedenen Schrifttypen: gedruckte Textblöcke und Kolumnen, handschriftliche Tagebuchnotizen, getippte Briefe, gezeichnete Zeitungs- und Magazinseiten, Anzeigen, Photos. Und die balloons, Sprechblasen für Dialoge und Gedanken, die gibt es natürlich auch. Erzähler Die Zeichnungen führen die Geschichte fort oder erzählen einem etwas ganz anderes, genauso wie die Figuren mit ihrer Mimik und Körpersprache und mit ihrem von Simmonds haarscharf getroffenen Mode-Wohnungs-Weltanschauungsgeschmack. Erzählerin Und der Text? Ist ein Glücksfall und ein Vergnügen: mit all den Pointen, Anspielungen, Auflistungen, dem zweisprachigen Sprachwitz. Die Sprache besitzt hohen literarischen Eigenwert. Musik CD 2, take 10, lake oder CD1, take 6, ne m´oublie pas Sprecher Sie bezeichnete sie als GLÜCK, diese Nachmittage mit Hervé, bei denen sie den Staub im Salon aufwirbelten. Glück, weil sie bewiesen, dass das Leben, mit ein bisschen Organisation, perfekt sein konnte. Dass die richtige Kulisse, die richtigen Requisiten, Kostüme und Lichteffekte eine gute Darbietung zu einem überwältigenden Ereignis machen konnten. In Gemmas Vorstellung war das Glück und die Perfektion daher eine Mischung aus allem, was ausschweifend und französisch war: der Champagner und die foie gras, die sie mitbrachte; ihre Dessous; seine Dessous; die bröckelnde Strenge des Raums; das trübe Novemberlicht und all die gespenstischen Grautöne von modernder Seide und Stickerei, die ihr das Gefühl gaben, Teil eines Grisaille-Gemäldes aus dem 18. Jahrhundert zu sein. 12. O-Ton Dirk Rehm Ich fand es sehr spannend, diese Verbindung von Text und Bild bei ihr, bei ihr nimmt der Text sehr viel Raum ein, aber sie benutzt den Text in einer Art und Weise, dass er dem Bild eine weitere Ebene hinzufügt. dass eben so eine neue Dimension eröffnet wird, dass es so einen Reichtum und eine Tiefe bekommt, die findet man selten. Erzählerin Dirk Rehm leitet den kleinen Berliner Verlag Reprodukt, der jetzt nach "Tamara Drewe" auch Posy Simmonds ersten Comicroman "Gemma Bovery" herausbringt. Eine aufwendige Produktion durch die per Hand zu gestaltenden Texte. Vor 20 Jahren gegründet, hat Reprodukt von Anfang an ernsthafte, anspruchsvolle Comicromane für Erwachsene, so die gängige Definition für Graphic Novels, herausgebracht, ohne sie allerdings so zu nennen. 13. O-Ton Dirk Rehm In Amerika gibt´s den Begriff seit Ende der 70er-Jahre, der wurde von Will Eisner geprägt der, ich glaub 78, sein Buch gemacht hat "Ein Vertrag mit Gott - A contract with god". Das waren Kurzgeschichten, kein Roman, denen man das label Graphic Novel verpasst hat, um damit deutlich zu machen(dass es keine Comics sind für jugendliche Leser sind, sondern, das sind Comicinhalte, die erwachsene Leser ansprechen sollen, also die etwas Romanhaftes, einen belletristischen Ansatz haben. Erzähler Mit Art Spiegelmans Ausschwitz-Comic "Maus", der die Überlebens- geschichte seines Vaters in Sprechblasenbildern erzählte, begann Ende der 80er-Jahre der Aufstieg der Graphic Novels als eigenes Genre, neben Superhelden-Comics und Mangas. Die Exil-Iranerin Marjane Satrapi sorgte dann im Jahr 2004 mit "Persepolis" noch einmal für einen gewaltigen Schub und Prestigegewinn. Ihre gezeichnete Kindheits-und Jugendgeschichte zur Zeit der iranischen Revolution wurde weltweit in über einer Million Exemplaren verkauft. Erzählerin Die Graphic Novel ist mittlerweile bei uns im Buchhandel und in den Feuilletons so präsent wie nie zuvor. Auch die großen Belletristik-Verlage interessieren sich dafür. Von einem Boom, was den Verkauf anbelangt, sagt Dirk Rehm, kann bei den anspruchsvollen Comics aber noch nicht die Rede sein. Die Auflage liegt bei 2000 bis 5000. 15. O-Ton Dirk Rehm Für uns ist es schon eine Schwierigkeit, unsere Käufer letztendlich zu erreichen. Weil der Buchhandel nicht sehr offen ist für Comics und wir nur langsam in den Buchhandel einziehen, ist im Grunde unser Problem, dass Comics klassisch im Buchhandel neben dem Cartoon- und Manga-Bereich einsortiert werden, wir aber unsere Käufer in der Belletristik sehen. Wir haben jetzt nur zögerliche Erfahrungen gemacht, dass manche Buchhändler Tische frei räumen in der Belletristik und da Graphic Novels platzieren und wiederum dann merken: Oh, es gibt ja Käufer dafür, es wird gekauft. Aber das ist für viele Buchhändler auch nur ein Experiment. Also, es ist schon so, dass wir noch weiter Überzeugungsarbeit leisten müssten Musikakzent CD1, take 4, L´abime Erzählerin Dass Posy Simmonds "Gemma Bovery" mit zehnjähriger Verspätung endlich auch ins Deutsche übersetzt wurde, ist der Berühmtheit ihrer zweiten Graphic Novel "Tamara Drewe" zu verdanken und der Verfilmung von Stephen Frears unter dem Titel "Immer Drama um Tamara". Erzähler Wieder eine Graphic Novel, die auf dem Land spielt, dieses Mal im südlichen England, in Dorset, und im Schriftsteller-Milieu. Und die auch zunächst als Fortsetzungsgeschichte im "Guardian" erschien. Als Vorlage diente Thomas Hardys Roman "Far from the madding Crowd", "Am grünen Rand der Welt" von 1874. Erzählerin Das Spiel mit Hardys Romanfiguren, mit seiner jungen Verführerin Bathseba zum Beispiel, so Posy Simmonds 2010 in einem Fernseh- Interview von France 24 sei ihr aber erst später in den Sinn gekommen: 15 a. Posy Simmonds that came later ... I imagined a writer´s retreat, full of some unpublished writers and there would be a published writer, who is very rich and very famous and very successful and would make everybody feeel small. Into this village, this milieu, came a very beautiful woman, she became beautiful, because, she has a nose job, and basicly three men fell in love of her and she breaks their hearts really. Sprecherin Zuerst stellte ich mir ein Schriftsteller-Refugium vor mit einigen unveröffentlichte Autoren um einen sehr berühmten, sehr erfolgreichen Schriftsteller, der alle anderen klein aussehen lässt. Und in dieses Dorf, dieses Milieu, kommt eine sehr schöne junge Frau, die allerdings erst schön wurde durch eine Nasenoperation, und drei Männer verlieben sich in sie, und sie bricht ihnen die Herzen. Erzähler Beth Hardiman, die Frau des Erfolgsautors Nicholas, leitet das Bio-Schriftsteller-Hotel, eine gute Seele mit plumper Figur in Öko- Klamotten, die von ihrem Mann grandios betrogen und belogen wird. Sie ist eine der drei Stimmen, die durch ihr Tagebuch das Geschehen vermitteln. Die zweite gehört dem amerikanischen Literaturwissenschaftler Glen Larson, zum Verwechseln ähnlich dem Bäcker Joubert aus "Gemma Bovery". Erzählerin Die dritte Perspektive wird von Casey, einem Teenager aus der Gruppe der an der Bushaltestelle des Ortes herumhängenden Kapuzenpulli- Träger geliefert. Sie ist die Freundin von Jody, die sich intrigierend in die Erwachsenenwelt einmischt und ein Chaos anrichten wird. Erzähler Tamara Drewe selbst, die langbeinig, mit operierter Nase und in Hotpants in ihr Heimatdorf zurückkehrt, teilt sich nur über ihre Kolumnen in einer Boulevardzeitung mit. Und über ihre Liebesaffären: mit einem jungen Schlagzeuger aus London, mit dem Erfolgsautor Hardiman und mit einem Naturburschen und ehrlichen Kerl. Erzählerin Auf den ersten Blick sieht die Graphic Novel freundlicher und aufgeräumter aus als "Gemma Bovery", die panels sind zart koloriert und in ordentlichen Reihen angeordnet, dazu gesellen sich - minutiös gezeichnet - Titelseiten von Klatschblättern, Tamaras Zeitungs-kolumnen, Anzeigen, e-mails, Handybotschaften. Ständig wechseln die Farben, von blassen Sommertönen bis zu Blaugrau, Schwarz und Weiß. Sprecherin Ich mag es viel lieber in Schwarz und Weiß: Das ergibt eine schönere Textur, wie ein Schwarz-Weiß-Film. Ich habe die Gesichter weiß gelassen, denn wenn man Hautfarbe nimmt, sehen sie wie Marzipan aus, irgendwie bizarr, das macht alles kaputt. Musik , CD 1, take 8, pomeriggio (bis Zitat-Ende) Erzähler Anders als in der Verfilmung "Immer Drama um Tamara", in der eine Hauptfigur überleben darf, stecken in Simmonds Comic-Vorlage viel mehr Satire, schwarze Ironie und graziöse Niedertracht. Die erschließt sich einem, neben den Bildern, in Simmonds exquisiter literarischer Sprache, in überraschenden Wendungen und Pointen - vieles in Anspielung auf Hardys Roman. Aber man kann den Comic auch sehr gut genießen, ohne die Vorlage zu kennen. Sprecher Die Berichterstattung hätte Nicholas gefallen. Die schockierte Öffentlichkeit, die Ehrungen, die Vielzahl der langen überschwänglichen Nachrufe. "Er hinterlässt seine Frau Beth sowie seine Kinder Lulu und Fred", schreiben sie. Sie schreiben nicht: "Die scharfe Tamara, die Sirene und Verführerin, die Nicholas ins tödliche Verderben stürzte." Ein saftig frischer Geruch kommt vom Garten her. Normalerweise finde ich ihn köstlich, fast könnte man ihn trinken, wie Kräuterlikör. Doch heute ist er feucht und pilzig, wie Moder und Verwesung. Mir wird übel. Ich muss raus aus der Scheune, brauche frische Luft und die Weite. Musik Erzählerin Gezeichnete Romane, in denen die Bilder und Sprache auf gleich hohem Niveau sind, wie bei Simmonds, sind rar. Nichtsdestotrotz werden die meisten Neuerscheinungen des Genres in den Feuilletons gefeiert. Dabei ist die Graphic Novel inzwischen erwachsen genug, um auch Kritik zu vertragen, sagt der Berliner Comic-Zeichner Kai Pfeiffer, der auch an der Kunsthochschule in Kassel unterrichtet: 17. O-Ton Kai Pfeiffer Die Graphic Novel sollte sich eben an ihren eigenen Ansprüchen messen und gemessen werden. Mich betrübt ein wenig zur Zeit, dass sehr viel in der Berichterstattung allzu großes Wohlwollen unserem Medium entgegenbringt. Es ist natürlich auch so, dass man sich von einem Medium, in dem man sich nicht auskennt, leichter blenden lässt. Und ich glaube, es würde sehr viel ernster genommen, wenn die Feuilletons jetzt auch anfangen, nicht nur die wunderbaren Perlen zu loben, sondern auch an eine gelungenen Graphic Novel dann vielleicht auch die weniger gelungen Aspekte herauszuarbeiten. Erzähler Ein vielbeachtetes Projekt unter den deutschen Graphic Novels ist die von Peer Meter initiierte Serienmörder-Trilogie. Schon in den 80er-Jahren hatte sich der Bremer Autor mit den Prozessakten zu den Fällen Fritz Haarmann, Gesche Gottfried und Karl Denke befasst und Szenarien geschrieben, bis er jetzt mit dem Aufstieg der Graphic Novels die geeigneten Zeichner dazu fand. 18. O-Ton Peer Meter Dennoch ging es mir bei diesen Serienmördern in keinster Weise darum irgendwelche blutrünstigen Geschichten zu zeigen, sondern ich möchte hier zeigen, wie eine Gesellschaft mit diesen Menschen umgegangen ist. Wie grade auch im Fall Fritz Haarmann, im Fall Gesche Gottfried, aber auch im Fall Karl Denke es immer wieder lange vor der Verhaftung dieser Mörder konkrete Warnungen gegeben hat und diesen Warnungen nicht nachgegeben wurde. Erzählerin "Gift", der erste Band über die Giftmörderin Gesche Gottfried, entstand in Zusammenarbeit mit der Zeichnerin Barbara Yelin, geboren 1977. Die Bremer Bürgersfrau hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts fünfzehn Menschen mit sogenannter "Mäusebutter" vergiftet, einer Mischung aus Schmalz und Arsen, darunter ihre Ehemänner, Eltern und ihre drei Kinder. Darüber hinaus zahlreiche Bekannte mit einer niedrigeren Dosis Gift gequält und zum Teil treusorgend wieder gesund gepflegt. 19. O-Ton Barbara Yelin Und das zusätzlich Gruselige an diesem Fall ist eben, dass eben 13 Jahre lang aus diesem Umfeld keiner etwas bemerkt hat oder auch nicht bemerken wollte. Die Geschichte spielt im tiefsten Biedermeier, in einer liberalen Hansestadt, die für ihre Liberalität bekannt war. Und was ist da passiert? Also ein Mensch, der komplett gegen alle Gesetze, der böse handelt. Und warum ist das, dass es eben rundum eigentlich nicht wahrgenommen wird? Musik, CD 2, take 13, 0´25 Erzähler Die Geschichte ist in eine Rahmenhandlung verpackt: Eine ältere Schriftstellerin blickt auf ihren Aufenthalt in Bremen im Jahr 1831 zurück. Als junges Mädchen war sie damals in die Hansestadt gekommen, um einen Reisebericht über die Stadt zu schreiben - zufällig am Tag vor der Hinrichtung der Gesche Gottfried. Sie lässt sich in den Fall hineinziehen, beginnt zu recherchieren und erfährt vom Pastor, vom Verteidiger und von den meisten Bremer Bürgern Engstirnigkeit, Voreingenommenheit und Feindseligkeit. Sie selbst reagiert mit feministischer Empörung auf die Männerwelt, in einer Sprache ganz von heute. Als ihr ein fremder Herr die Kopien der geheimen Verhörprotokolle anbieten will, schreit sie ihm ins Gesicht: Sprecherin /Sprecher Mir scheint an solchen Abschriften etwas ganz anderes darstellbar zu sein... / dass nämlich diese Gesche Gottfried nichts anderes ist als ein auf die absurdeste Weise auf die Spitze getriebenes Beispiel/ ... einer aggressiven, rücksichtslosen und an der Seele kranken Gesellschaft! (Der Herr) Das mögen sie sehen wie sie wollen, gnädiges Fräulein. Für die geringe Summe von fünfzig Talern gehören die Abschriften ihnen. (Schriftstellerin) Was? Es gibt doch kein öderes.../und widerwärtigeres Geschöpf... /als den Mann! (immer lauter werdend) Erzählerin Überzeugender als der Inhalt der Sprechblasen sind die mit dicken Beistiftstrichen hingeworfenen Kulissen der Hansestadt Bremen - eine düstere Albtraumwelt der stürzenden hohen Fassaden und Arkaden aus Untersichten und Draufsichten, der dunklen Treppen, Weinkeller und Mansarden. Dazwischen das Fräulein im Schutenhut mit aufgerissenen Augen und das zerquälte Gesicht der Gesche - eine kranke Seele, wie die lakonischen Sätze unter den panels aus den Verhörprotokollen belegen. Musik, CD2, take 8 bei 1´40 Sprecherin Denn allein der Gedanke ... wieder Gift zu haben ...machte mich so besonders zufrieden...was ich mir selbst nicht erklären kann. Erzähler In eine noch viel schwärzere Welt der hohen Backstein-Gassen führt Isabel Kreitz mit ihren Bleistiftzeichnungen in Peer Meters zweiter Graphic Novel "Haarmann". Hannover im Jahr 1924 ist der Schauplatz. Die Zeichnerin, geboren 1967 in Hamburg, ist für ihre fast photorealistischen Illustrationen bekannt; in diesem Stil hatte sie vor ein paar Jahren eine Graphic Novel über den Spion Richard Sorge in Tokio vorgelegt. Im Falle von "Haarmann" war für sie das Milieu der eigentliche Hauptdarsteller des Comics. 20. O-Ton Isabel Kreitz In erster Linie fand ich die lokale Umgebung des Ganzen spannend, sehr schnell waren Bilder in meinem Kopf aus Fritz Langschen Stummfilmwelten, und es hat mich sehr gereizt, diese untergegangenen Stadtbilder zu erwecken. Also der Reiz beim Zeichnen liegt für mich eher in den Licht-und Schatten-Schluchten der Fachwerkwelt von Hannover. Musik, Walter Kollo: Warte, warte noch ein Weilchen geht über in CD 2, take 4, Uncle Ray und take 5 Anfang Erzählerin Das im Krieg zerstörte Armen- und Gaunerviertel hat sie anhand von historischen Photos rekonstruiert. Mit der gleichen Akribie zeigt sie aber auch das, was in Haarmanns Dachkammer im Haus einer Schankwirtschaft vor sich ging: die gierigen Liebesakte mit seinem Freund Hans Grans und das Vergewaltigen, Morden und Zerstückeln von alleinreisenden Jungen, den Handel mit Fleisch und Kleidern mit den Nachbarinnen und der Wirtin der Schänke. Etliche Szenen spielen im Polizeipräsidium, wo die Anzeigen und Verdächtigungen auf taube Ohren stoßen. 21. O-Ton Peer Meter Wir wollten ja nicht mit Haarmann eine Graphic Novel machen, was ja auch möglich gewesen wäre, wo das Blut aus den Seiten raustrieft, wenn du den Band hochhebst, wir wollten zeigen, wie die Schuld bei der Gesellschaft liegt. Und der eigentliche Horror in der Geschichte von Fritz Haarmann liegt ja in der Polizeibehörde, die diesen kranken Menschen als Spitzel beschäftigt hat, ihm einen Polizeiausweis gegeben hat und die zugelassen hat, dass er diese Freiheiten haben kann. Erzähler 24 Knaben und junge Männer hatte Haarmann allein in den letzten eineinhalb Jahren vor seiner Verhaftung ermordet. Von den letzten Monaten und seiner Festnahme handelt die Comicerzählung, die Isabel Kreitz in akribisch gestrichelte Bildfolgen umgesetzt hat. Die sauber gerahmten panels erinnern an storyboards für Filme, auch die Texte in den Sprechblasen im Kleine-Leute-Jargon lassen an Fernseh- dokumentationen denken. Erzählerin Alle Achtung vor dem Handwerk - aber die Umsetzung wirkt doch recht bieder. Das Thema ist allerdings stark genug, um auch eine konventionelle Erzählweise zu vertragen, der Comic entfaltet durchaus Spannung und einen Sog. Dass tatsächlich in keinem einzigen panel Blut fließt, fällt in der Düsterkeit der Schwarz-Weiß-Zeichnungen gar nicht auf. 22. O-Ton Isabel Kreitz Ich fange mit einer Art Drehbuch an, ich breche den Text, den ich bekomme, herunter auf kleine Seitenlayouts, so daumennagelgroß, und weiß dann anhand dieser kleinen Seiten-layouts in meinem Kopf-Kino schon genau, was, wo passiert. Und dann fang ich an mit dem Vorzeichnungen. Dann kommt die schreckliche Phase des Vorlagen- und Referenzmaterialsuchens, dann muss ich nach Bildern von Häusern suchen, Kostümen, Gegenständen, muss mir Gedanken machen, ob da Straßenbahnen fuhren oder nicht, ob es Lichtschalter gab oder nicht, also diese ganzen Details, die im Bild dann zu sehen sind. Und wenn das alles okay ist, fange ich mit dem Reinzeichnen an. Erzähler Viel Leistung für wenig Geld, steckt in so einem Band. 24. O-Ton Dirk Rehm Man macht sich keine Vorstellungen, dass so ein Buch von 250 Seiten zwei, drei bis vier Jahre braucht, von der Idee über storyboard bis zur Ausfertigung und der Arbeit mit dem Lektorat. Das ist eben so ein großer Zeitraum, der sehr viel Kraft braucht und man muss über drei Jahre, das sind ja im Grunde 30000-40000 Mark, Euro haben, um seinen Lebensunterhalt zu schaffen und das wirft so ein Buch natürlich nicht wirklich ab, das ist schon sehr mühsam. Erzählerin Nicht weiter verwunderlich, wenn der dritte Band der Serienmörder- Trilogie, gezeichnet von David von Bassewitz, noch auf sich warten lässt. Er ist dem Menschenschlächter Karl Denke aus Münsterberg in Schlesien gewidmet, der im gleichen Jahr wie Haarmann, 1924, gefasst wurde Erzähler Inzwischen genießen die Graphic Novels made in Germany auch im Ausland einen guten Ruf. Und wenn man Dirk Rehm nach Übersetzungen fragt, dann sagt er: 25. O-Ton Dirk Rehm Zum Glück ist es ja auch so, dass es mittlerweile von Isabel Kreitz Büchern aber auch von Arne, dass es Lizenzverkäufe gibt, "Baby´s in Black" haben wir mittlerweile in sieben Länder verkauft, jetzt gerade steht Amerika an, wir haben nach England verkauft, Amerika, Frankreich, Polen, Spanien, noch ein oder zwei mehr. Erzählerin "Baby´s in black" von Arne Bellstorf, erschienen 2010, erzählt in Schwarz- Weiß von den Beatles 1960 in Hamburg, der Begegnung zwischen Existentialismus und Pop und der tragischen Liebe zwischen der Fotografin Astrid Kirchherr und dem Bassisten der Beatles, Stuart Suttcliffe. 26. O-Ton Dirk Rehm Also wir haben mit allen unseren jungen Zeichnern eine sehr gute Resonanz aus dem Ausland und haben alle veröffentlichen können. Erzähler Frankreich gilt als das klassische Land des "bande dessineé", des künstlerischen Comics, mit einer riesigen Leserschaft, von der man hierzulande nur träumen kann. Und interessanterweise hat Frankreich an der Erfolgsgeschichte der deutschen Graphic Novels großzügig mitgewirkt. Erzählerin Jens Harders monumentale Evolutionsgeschichte "Alpha" fand hier zuerst einen Verlag, 2009, und bekam dann auf dem weltweit wichtigsten Comicfestival in Angoulème einen Preis. Auch Ulli Lust wurde dort für die französische Übersetzung ihres Punk-Romans ausgezeichnet. "Trop n´ést pas assez", so der Titel, "Zuviel, ist nicht genug". Das Original: "Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens" kam 2009 im Berliner Avant-Verlag heraus. Mittlerweile gibt es die zweite Auflage und demnächst Übersetzungen in Spanien und Norwegen, gefolgt von weiteren in Schweden, Holland und Italien. 27. O- Ton Ulli Lust Große Erleichterung macht sich breit bei mir, ich bin jetzt in der Lage, eigentlich die nächsten zehn, zwanzig Jahre einfach Comics zu zeichnen, ich weiß nicht, ob die finanziert sind, aber doch die nächsten zwei, drei Jahre, weil das Buch in Frankreich sehr gut ankommt und weil ich Lizenzen in diverse andere europäische Länder verkauft hab. Und außerdem einen netten Vorschuss bekommen hab, für das Buch, das ich jetzt mach. Also, man kann jetzt sagen, Comiczeichnen ist nicht nur eine Beschäftigung für prekär Dahinvegetierende, sondern ist ein ganz normaler Beruf, Gott sei Dank. Erzähler Ulli Lust, geboren 1967 in Wien, lebt seit Mitte der 90er-Jahre in Berlin und hat hier auch Graphik-Design studiert. Nebenbei zeichnete sie für Zeitungen Comic-Reportagen. Vier Jahre lang hat sie an ihrem autobiographischen Punk-Roman gearbeitet, der ca. 250 Seiten lang werden sollte. Und dann auf 460 Seiten wuchs. Musik CD 2 take 13, bei 0´09 oder CD1, 11 oder 12, Iggy Pop Sprecherin Bericht von der heldenmütigen Reise zweier Punk-Mädchen aus Wien im Jahre 1984. Wie sie bis nach Sizilien gelangten, manchem Unhold begegneten, und was ihnen widerfuhr. Wie sie ganz unten waren und trotzdem immer weiter wollten. Erzähler So die Ankündigung auf dem Umschlag im Stil eines Schelmenromans. Musik, CD 1, take 10, 11 oder 12. Iggy Pop Erzählerin Ulli und Edi heißen die 17jährigen jungen Wilden dieser Abenteuerreise, die von Wien über die grüne Grenze bis Verona und Rom und von dort nach Palermo führt. Ohne Ausweis und Geld, dafür reich gesegnet an sexuellen Abenteuern, die Edi freudig und wahllos genießt und Ulli zunehmend als Plage empfindet. 28. O-Ton Ulli Lust Es ist natürlich klar, dass wir mit unserem Aufbruch scheitern würden, das Spannende für den Leser ist vielleicht zu sehen, wie konkret wir dann scheitern ... das weiß man eh, so wahnsinnig, wie wir uns anstellen. Musik Erzähler Das freie Open-Air-Leben, in Rom auf der spanischen Treppe noch komfortabel ausgelebt, verkehrt sich für Ulli in Sizilien zunehmend in einen Albtraum. Von der Freundin unfreiwillig getrennt wird sie auf der Insel zum Freiwild für die ragazzi, muss sich mit ihrem Vergewaltiger arrangieren. In Palermo zieht Edi, inzwischen zur Mafiosibraut und Heroin-Drückerin aufgestiegen, die Freundin ins gefährliche Milieu. Eine Razzia und ein kurzer Gefängnisaufenthalt stoppen die Reise in den Abgrund. Allein fährt Ulli nach Wien zurück. 29. O-Ton Ulli Lust Aber wir wollten eben das Gegenteil von dem machen, was die Gesellschaft gerade für gut befindet und wir haben uns auch hingezogen gefühlt zu Verbrechen, zu allem Negativen, Schwarzen, Schmerz, all diese dunklen, abgründigen Aspekte der Persönlichkeit, wollten wir kennenlernen, das war nun mal so, mit 17 ist man ohnehin von Natur aus eine Borderline-Persönlichkeit, manche mehr, manche weniger, in unserem Fall, wir haben´s halt durchgezogen, das unterscheidet uns halt von anderen Jugendlichen, die auch davon träumen, einfach wegzulaufen. Erzählerin Ulli Lust hat diese Aussteigerreise minutiös und mit großer Wahrhaftigkeit nachinszeniert. In panels mit geschickt variierenden Bild-Perspektiven und originellen Bildeinfällen, die Figuren in karikaturhafter Zuspitzung, bei denen jede Stimmungslage sitzt. 30. O-Ton Ulli Lust Also die Arbeit des Comiczeichners ist ja nicht vergleichbar mit der Arbeit eines Malers, der vielleicht intuitiv gestisch etwas aufs Blatt wirft. Man braucht ziemlich viel Übung, man muss die Figuren im Griff haben, die müssen immer gleich ausschauen, die müssen immer wieder erkennbar sein, und man hat sehr viele erzählerische Stimmungen zu vermitteln. Also eine Geschichte besteht nicht nur aus den Höhepunkten, die man gerne zeichnet. Um zu diesen Höhepunkten zu gelangen, muss man sehr viele Szenarien abarbeiten, die man als unangenehm empfindet, Autos zum Beispiel zeichne ich gar nicht gern, aber ich hatte jede Menge davon. Es gehört auch technisches Können, im besten Fall auch ein gewisses Reflexionsvermögen dazu, Comiczeichner zu werden. Erzähler Für ihre Punk-Geschichte ist die Zeichnerin von Tusche und Pinsel zum Bleistift übergewechselt; die Linien wurden am Computer bearbeitet und messerscharf und tiefschwarz gezogen. Dazu kommt als Zusatzfarbe Olivgrün - so grün wie Ullis Hose, wie der Geschmack von Abenteuer, aber auch wie die Angst und Panik in der Nacht ihrer brutalsten Demütigung am Strand von Palermo. Erzählerin Was ihre moralische Ethik und sexuelle Logik anbelangt, so erinnert die junge Punkerin Ulli verblüffend an Schnitzlers "Fräulein Else". Sprecherin "Ein Luder will ich sein, aber nicht eine Dirne." Erzähler Vor allem das, was an Angst, Wut und Trotz nach ihrer Vergewaltigung in Sizilien in ihr tobt, ähnelt stark dem Aufruhr der 19jährigen Wienerin. Natürlich kennt Ulli Lust Schnitzlers Novelle und das, was Manuele Fior daraus gemacht hat. 31. O-Ton Ulli Lust Ich, als Wienerin, hätte Schnitzler natürlich völlig anders inszeniert, sehr viel herber und vulgärer, also er ist Italiener und ist auch sehr ästhetisch, also bei ihm ist das alles immer wahnsinnig schön. Und er hat ein Jugendstil-Melodram daraus gemacht, aber er hat das so gut gemacht, dass ich es goutieren kann. Also, es hat Hand und Fuß, es ist eine gute Arbeit. Erzählerin Seine zart kolorierte Ästhetik hat Manuele Fior in seinem jüngsten Comicroman "5000 Kilometer pro Sekunde" noch gesteigert. Dabei war er, als er mit 25 als junger Architekt nach Berlin kam, vom rohen, naiven Schwarz-Weiß-Stil der ostdeutschen Zeichner um Anke Feuchtenberger und ATAK angezogen. Das war im Jahr 2000. 32. O-Ton Manuele Fior Ich hab fünf Jahre in Berlin gewohnt, und ich hab in Berlin wieder angefangen, Comics zu zeichnen. Und das war für mich als Italiener eine ziemlich spannende Landschaft, Berlin für Zeichner, weil es gab diese ganze Welt vom Osten, die mir komplett unbekannt war. Wenn ich das sage, ich denke besonders an ATAK, das ist ein Berliner Zeichner, der immer noch zeichnet Erzählerin: Mittlerweile lebt Manuele Fior in Paris und spricht besser Französisch: 33. O- Ton Manuele Fior ATAK c´ést un dessinateur, il n´est pas tres connue en étranger, mais un dessinateur exceptionelle, et pour moi il a ouvert une porte d´une certaine sensibilité, qui je ne connaissait pas du tout, aussi cette façon de faire de la BD un peu "Art Brut" je dirais, ca m'a complètement fasciné Sprecher ATAK ist ein ganz besonderer Zeichner, im Ausland nicht sehr bekannt. Mir hat er eine Tür geöffnet zu einer bestimmten Sensibilität, die mir ganz unbekannt war. Auch dieser Anklang an "Art Brut", das hat mich sehr fasziniert. Erzähler Damals entstand sein erster autobiographischer Schwarz-Weiß-Comic "Menschen am Sonntag". Eine Geschichte über eine lange Absturz- und Liebesnacht vor der Abreise aus Berlin, die dann verpasst wird. In seiner Mischung aus rasantem Strich und melancholischer Text-Stimmung schon sehr "fioresk". Erzählerin Die Berliner Zeichner ATAK und Anke Feuchtenberger sind inzwischen zu Professoren an den Kunsthochschulen in Hamburg und Halle aufgestiegen. 34. O-Ton Kai Pfeiffer Dann gibt´s in Kassel Hendrik Dorgathen, seine Klasse heißt Illustration und Comic, in der ich auch unterrichte inzwischen, neuerdings gibt´s Martin Tom Dieck, der hat in Essen eine Professur. Und überhaupt der Umstand, dass wir jetzt einige Comic assoziierte Dozenten an den Hochschulen haben, das ist neu, das gibt´s vielleicht seit zehn Jahren. Erzähler Und Manuele Fior hat für sein Werk "5000 Kilometer pro Sekunde" in Angoulème die größte Auszeichnung des Festivals, den Preis für das beste Album 2011, bekommen. 35. O-Ton Manuele Fior C'est une histoire d'amour, finalement, deux personnes qui se connaissent á l'adolescence, qui vivent ensemble et après ils se séparent, il vont terminer presque opposé en Norvège et en Egypte. Et ils se retrouvent après 20 ans pour faire une bílance de leur vie, parce qu'entre temps ils ont des familles, ils ont des enfants, personne a vraiment réussi d'oublier l'autre. Et pour compliquer tout l'histoire, il y a une 3ème personne qui reste en Italie, que c'est le pays d´origine de tous les trois 3, personnages et qui a quand même des liaisons avec les deux et a la fin on va dévoller l´íntrigue assez cruelle Sprecher Das ist letztendlich eine Liebesgeschichte, zwei Menschen, die sich seit ihrer Jugend kennen, zusammenleben und sich später trennen und in Norwegen und Ägypten landen. Sie treffen sich 20 Jahre später wieder, um eine Bilanz ihres Lebens zu ziehen, inzwischen haben sie Familien, Kinder, und keinem von beiden ist es wirklich gelungen, den anderen zu vergessen. Und dann gibt es noch eine dritte Person, die in Italien bleibt, wo alle drei herkommen, und die zu beiden eine Bindung hat und am Ende wird eine ziemlich grausame Intrige enthüllt. Musik CD 1, take 13, A night in Damaskus Erzählerin Zwei unzertrennliche Freunde, Piero und Nicola, kurz nach dem Abitur, ein Mädchen, Lucia. Piero verliebt sich. Aber da geht es im großen Zeitsprung schon weiter nach Oslo und von dort nach Kairo und Assuan und wieder zurück in die kleine italienische Stadt. Eine Geschichte, die von der Trennung durch enorme geographische Distanzen und vom Scheitern der Liebe handelt - im Zeitalter der wunderbaren Kommunikationsmittel. 36. O-Ton Manuele Fior c'est l'évolution technologique des moyens de communication et qui nous donne L´íllusion être toujours en contacte, même on voit jamais l'autre personne, finalement on a l'espoir de le pouvoir tout de suite rattraper avec le téléphone, avec l'ordinateur, avec le facebook et n'importe quoi, et finalement, ça c'est l'espèce d'illusion, que la vie est vraiment passée et les personnes dans la réalité sont vraiment beaucoup changées. Et donc cette vitesse contraste avec la longeur et la distance et ils sont devenue presque étranger Erzähler Die technische Evolution der Kommunikationsmittel gibt uns die Illusion, immer im Kontakt miteinander zu sein. Selbst wenn man den anderen nie sieht, glaubt man, den anderen immer per Telephon, über mail, facebook erreichen zu können, und letztendlich ist das eine Art von Illusion. Tatsächlich ist das Leben irgendwann vorbei, und die Leute haben sich inzwischen sehr verändert. Und deshalb steht diese Geschwindigkeit im Gegensatz zur Länge der Zeit und zur Entfernung und sie sind sich letztendlich fremd geworden Musik, CD 1, take 14, Steppe Erzählerin Weshalb aber wirkt dieser Roman so ganz und gar nicht düster, sondern im Gegenteil leicht und luftig, grundiert mit sanfter Melancholie? Zum einen liegt es an den ungewöhnlichen Szenen, Ausschnitten und Aussparungen, mit denen Fior von Episode zu Episode springt, am verrückten Zusammenspiel von Bild und Dialog. Erzähler Zum anderen aber an den Zeichnungen mit ihrem schnellen, eleganten Strich und der Kolorierung. Lauter kleine Gemälde, durchzogen von Farbflächen, Farbwolken, Tupfern in transparenten, leuchtenden Acrylfarben. Farb-Kombinationen in mediterranem Gelb-Grün, nordischem Blau-Creme, arabischem Braun, Apfelgrün, Orange. 37. O-Ton Manuele Fior dans ma tète ce livre est né avec les couleurs très fortes, des couleurs que je me souviens de mon enfance en Italie donc dès que j'ai fait la 1ère page une espèce de fassade de bâtiment toute jaune ... Moi, je trouve, que dans la couleur, il y a une puissance narrative, peut être, si on utilise une couleur froide ou une couleur chaude, J'ai essayé vraiment d'exploiter toute la puissance évocative de la couleur, je voulais pas aller dans des petites nuances, je voulais vraiment que ca soit assez claire, voulais exprimer au niveau d'ambiance climatique aussi le dessin avec le soleil hyper chaud, la pluie qui batte, je voulais que ce contexte soit bien défini. Sprecher Das Buch ist in meinem Kopf in starken Farben entstanden, den Farben meiner Kindheit in Italien, deshalb ist auf der ersten Seite die Fassade des Gebäudes ganz gelb. Ich glaube, dass in der Farbe eine Möglichkeit des Erzählens steckt, zum Beispiel wenn man eine kalte oder heiße Farbe nimmt. Ich habe wirklich versucht, die Macht der Farbe ganz auszuschöpfen, ich wollte damit alles ganz klar ausdrücken, auch das klimatische Ambiente, also extrem heiße Sonne, prasselnden Regen, ich wollte, dass der Kontext klar definiert ist. Erzählerin Eine Graphic Novel als Kunstgenuss, von der eigenwilligen Geschichte und faszinierend episodischen Erzählweise bis zu den leicht schwebenden Bildern - so etwas ist unter den hierzulande veröffentlichten Bildromanen nicht leicht zu finden. Am ehesten noch beim kleinen Berliner Avant- Verlag, der in diesem Jahr sein zehn-jähriges Jubiläum feiert und auch Manuele Fiors Karriere vor sechs Jahren mitangestoßen hat. Und bei Reprodukt. Erzähler Die Bemühungen der großen Literaturverlage haben bisher nur wenig aufregende Ergebnisse hervorgebracht. Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" von Stéphane Heuet und Kafkas "Verwandlung" von Corbeyran & Horne sind schön gezeichnete Bilderbücher - für Literaturliebhaber aber eher eine Enttäuschung. An einer Literaturadaption für den Suhrkamp Verlag arbeitet zur Zeit auch Ulli Lust. Sie hat sich Marcel Beyers "Flughunde" vorgenommen, einen Roman für zwei Stimmen aus dem familiären Umfeld von Josef Goebbels. 38. O-Ton Ulli Lust Für mich ist es normal, immer was anderes zu machen, es ist auch spannend, mit fremden Texten zu arbeiten. Hier hab ich einen sehr artifiziellen Text, und ich find´s hochspannend, ihn zu inszenieren. Also ich mach keine Umsetzung von diesem Roman, ich muss natürlich etwas Neues daraus machen. Also es ist ein Comic frei nach dem Roman. Musik Iran Erzählerin Eine bemerkenswerte Initiative gibt es auch vom Knesebeck-Verlag. Im Herbst wird hier die Übersetzung des iranischen Online-Comic "Zarah´s Paradise" als Buch erscheinen. Die Graphic Novel des Exil-Iraners Amir und des arabischen Zeichners Khalil, die Namen sind Pseudonyme, erscheint seit 2010 in Fortsetzungen im Internet, mittlerweile in 12 Sprachen, darunter Persisch und Arabisch. Marjane Satrapis berühmte AutoBiografie "Persepolis" war für Amir die Inspirationsquelle. Musik Iran Erzähler "Zarah`s Paradise", der Name geht auf den großen Märtyrer-Friedhof vor Teheran zurück, beginnt mit dem 16. Juni 2009, kurz nach den iranischen Wahlen. Der 19jährige Student Mehdi ist nach der großen Demonstration am Teheraner Platz verschwunden. Sein Bruder, der Erzähler, ein Blogger, und seine Mutter machen sich auf die Suche nach ihm, wandern durch die Krankenhäuser, vor Gefängnistore, über den Friedhof. Von dieser endlosen Suche, die das System der Unterdrückung und Gewalt des iranischen Regimes in seiner ganzen Schauerlichkeit vorführt, handelt der Schwarz-Weiß-Comic. Und von den Klugen, Mutigen und Listigen im Land, darunter viele Frauen. Erzählerin Ein Web-Comicroman mit ungeheuer frechen und provokanten Bildern und Sprechblasen-Texten. Ein Acker mit Khomeini-Vogelscheuchen, eine groteske Rede von Ajatollah Chamenei oder die Sexszenen eines vollbärtigen Goliaths und Kerkermeisters aus dem Evin Gefängnis in Teheran mit seiner Geliebten, die heimlich mit dem Erzähler zusammenarbeitet. Erzähler Mit schwarzer Ironie und Sarkasmus geht der Autor auf Distanz zu den schreckliche Ereignissen in seiner Geschichte, in der nur die Figuren fiktional sind. Sprecher Das Leichenschauhaus ist die Münzanstalt der Mullahs: warum am diesseitigen Leben hängen... wenn für unsere Wächter das Leben nichts mehr wert ist und sie den Märtyrern Eintrittskarten ins Paradies verkaufen? Erzählerin Gezeichnete Zeitgeschichte, nahezu in Echtzeit - die mit den arabischen Revolutionen enorm an politischer Brisanz gewinnt. Auf 14 Kapitel ist "Zahra´s Paradise" bisher angewachsen, jede Seite wird im Blog der Website von den Lesern heftig diskutiert. Zusammen mit den Autoren. Man kann dem Buch, das von fünf europäischen Verlagen unter Federführung des jüdischen Verlegers Mark Siegel in New York herausgegeben wird, schon jetzt einen großen internationalen Erfolg prophezeien. Er wird in mindestens elf Übersetzungen erscheinen. Erzähler Gute Aussichten also für die Graphic Novel. Von Weltbestsellern oder Verfilmungen, das haben Art Spiegelmans Comic "Maus" und Marjane Satrapis "Persepolis" gezeigt, profitiert das gesamte Genre. Im Jahr 2005 widmete der britische Journalist Paul Gravett dem gezeichneten Roman ein schönes Sachbuch und zog am Ende des Vorworts folgendes Resumée: Sprecher Die Vielfalt ist größer und die Qualität besser geworden. Die Leser sind neugieriger und empfänglicher geworden, die Medien nicht mehr so übertrieben. Ein Medium ist zu sich gekommen. Atmo (Zeichnen)/Musik CD 2, take 8 oder 24 bei 1´00 Sprecher Hört gut hin! Könnt ihr sie hören? Das Kratzen ihrer Federn und Bleistifte, das Klappern der Tastaturen. In diesem Augenblick, überall in der Welt, arbeiten Leute an noch mehr Comics, noch mehr Geschichten und definieren eine Bewegung. Musik 1