Eingeschlossen zwischen sterbliche Dinge Eine Lange Nacht über das Mittelmeer Autor: Dr. Manuel Gogos Redaktion: Dr. Monika Künzel Regie: Claudia Mützelfeldt Sprecher*innen: Matthias Ponnier (Erzähler) Volker Risch (Zitator I) Franz Laake (Zitator II) 11:30-12:30 Nicole Engeln (Zitatorin) Sendetermin: 05. November 2016 Deutschlandradio Kultur 05./06. November 2016 Deutschlandfunk ___________________________________________________________________________ Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - insofern zutreffend. 1. Stunde Musikeinspielung 1 Vassilis Tsabropoulos, Akroasis Zitator Volker Risch Brichst du auf gen Ithaka, wünsch dir eine lange Fahrt, voller Abenteuer und Erkenntnisse. Die Lästrygonen und Zyklopen, den zornigen Poseidon fürchte nicht, solcherlei wirst du auf deiner Fahrt nie finden, wenn dein Denken hochgespannt, wenn edle Regung deinen Geist und Körper anrührt. Sprecher Matthias Ponnier Von der phönizischen Küste im Osten, auf der Höhe von Jerusalem, trug ein junger Stier, in den sich Zeus verwandelt hatte, die Königstochter Europa in Richtung Kreta hinaus aufs offene Meer. Der Schauplatz dieser Liebestollheit ist das Mittelmeer – ein alter Kulturraum, der nicht aufhört, sich selbst zu erneuern, sich selbst zu erzählen: geologisch, geopolitisch, geopoetisch. War nicht das Schiffstagebuch die erste Gattung der Literatur? Fing damit nicht die Literatur an: Mit Logbüchern, Routen, Reiseberichten und Hafenansichten? Zitator Volker Risch Wünsch dir eine lange Fahrt. Der Sommermorgen möchten viele sein, da du, mit welcher Freude und Zufriedenheit! In nie zuvor gesehene Häfen einfährst; Halte ein bei Handelsplätzen der Phönizier Und erwirb die schönen Waren, Perlmutter und Korallen, Bernstein, Ebenholz Und erregende Essenzen aller Art, so reichlich du vermagst, besuche viele Städte in Ägypten, damit du von den Eingeweihten lernst und wieder lernst. Sprecher Matthias Ponnier Die alten Ägypter nannten es das „große Grün“, für die Osmanen war es das „weiße Meer“, für die Römer mare nostrum – „unser Meer“: Das Mittelmeer, das Mischlingsmeer, das Meer mit den vielen Namen, ist ein eigener, ein „flüssiger Kontinent“, der von der Straße von Gibraltar bis Konstantinopel reicht. Die „Méditeranée“ ist eine physische Realität, und zugleich ein Mythos. Sie vermisst die geistige Landschaft, in der sich ein humanistisches Europa überhaupt erst selbst erfand. In einer Zeit, in der es es in einer Identitätskrise steckt, an Amnesie leidet, da lädt das Mittelmeer zu einer anderen Art der Geschichtsschreibung ein – Europa neu zu denken, von seinem Ursprung, vom Süden her. O-Ton 1 Markus M. 12:30 ... Es gab ja durchaus auch diese Phantasien in konservativen Kreisen, diesen Süden auszuspeien, ihn abzutrennen von Europa, was uns grotesk schien, weil dieser Süden, der wichtige Verständigungsraum, Europas immer war. Und es eine große Illusion ist, Europa könne sich von diesem Raum einfach abtrennen. Musikeinspielung 2 Karaindrou, Track 13 Sprecher Matthias Ponnier Ein gigantisches Kreuzfahrtschiff durchmisst das Mittelmeer, auf jener Route, die schon im Mittelalter die Schiffe des berühmten Levante-Handels nahmen – in west-östlicher Richtung, von der Straße von Gibraltar über die Straße von Sizilien ins ägäische Meer. Die „Costa Concordia“ war Schauplatz eines Filmessays des kinematographischen Altmeisters Jean- Luc Godard, ehe das größte Kreuzfahrtschiff Italiens 2012 vor der Insel Giglio auf spektakuläre Weise havarierte und unterging. O-Ton 2 Markus Messling Der „Film Socialisme“ ist ein Film, der genau das ins Zentrum der Fragestellung rückt, was uns auch interessiert hat, nämlich die Identitätskrise, die kulturelle Krise Europas. Er nimmt im Grunde die Zuschauer mit auf ein Kreuzfahrtschiff in den Mittelmeerraum, und dieses Schiff trudelt im Grunde von Station zu Station, an dessen Bord sich verschiedene Szenerien abspielen, die Europäische Erinnerung aufrufen. ... 4:15 Und dieses Schiff fährt eben nicht umsonst durch das Mittelmeer, weil das Mittelmeer in der europäischen Geschichte eigentlich immer der große Bezugspunkt war. ... Godard löst diese europäischen Gewissheiten alle nach und nach auf. Das Schiff fährt zwar die großen Orte ab, Barcelona, Alexandria, es fährt die großen Erinnerungsorte europäischer Kultur ab, aber das ist kein Ankommen mehr. Das Schiff trudelt, und die Störgeräusche sind entscheidend, das Meer, das lauter rauscht als die Stimmen. Die Stimmen verfliegen sozusagen im Wind auf Deck. Filmatmo Godard Sprecher Matthias Ponnier In einer kleinen Pariser Kneipe entwickelte der Romanist Markus Messling gemeinsam mit seinem Kollegen, dem Philosophen Franck Hofmann die Idee zu einem interdisziplinären, transnationalen Forschungsprojekt , unterstützt vom Deutsch-Französischen Jugendwerk. Ähnlich wie Godards Film ist auch „Transmed“ der Versuch einer europäischen Selbstverständigung als „tour d’horizon“ durchs Mittelmeer. O-Ton 3 Franck Hofmann 15:00 (Vielleicht können wir uns erinnern, wie Transmed funktioniert hat.) Das Projekt war grundlegend damit verbunden, eine Umkehrung der Blickrichtung zu betreiben. Es ging darum, Europa vom Süden aus zu denken. Und dabei auch die Problembezirke zu vermessen, die Krisen ernst zu nehmen, und seismographisch aufzunehmen, dabei aber auch die Frage zu beantworten, wie kann man Europa vom Süden aus anders entwerfen. Praktisch heißt das auch, Tagungen, Gespräche an Orten im Mittelmeer durchzuführen. Insofern ist diese Schiffsmetaphorik für das Projekt Transmed wieder auch tauglich, wir haben angefangen mit einem Treffen in Marseille, also der mediterranen Stadt, wo wir diese Gruppe zusammengerufen haben mit Kollegen aus Tunis, aus Nordafrika, Istanbul, Athen, Italien. Sprecher Matthias Ponnier Dieser Route folgen auch wir nun, und diesem Bild: An Bord eines gigantischen Schiffes zu sein, das bei unfreundlichem Wetter das Mittelmeer aufwühlt, um mit der Schiffschraube immer wieder auch die Geschichte und Gegenwart, die Poesie des Mittelmeers umzupflügen. Musikeinspielung 3 Karaindrou, Track 12 Darüber Zitator Volker Risch Ungaretti, Levante Die Linie / Aus Dunst vergeht / Am fernen Kreis des Himmels. Klappern von Absätzen, Klatschen und Händen / Und grelles Clarinogedudel Und ein aschfarbenes Meer / Weich ruhelos zitternd / Wie eine Taube Am Heck wird getanzt, Emigranten aus Syrien. Am Bug ist ein Jüngling allein. / Wasser so wirr Wie das Lärmen am Heck, das ich höre Drinnen im Dunkel / des / Schlafs Sprecher Matthias Ponnier Das Land, vom Meer aus betrachtet. Das Meer, vom Land aus betrachtet: Das Mittelmeer umspannt Küsten wie die adriatischen Abhänge des Apennin, die jäh ins Meer abfallen, Italiens West- und Ostküste, die ganz dem Meer zugewandt sind, oder die afrikanischen Küste, rötlich wie die Südspaniens. Der Zagreber Romanist und Thalassologe Predrag Matvejevic beschreibt in seinem Buch „Der Mediterran“, wie man selbst mit geschlossenen Augen die verschiedenen Küsten voneinander unterscheiden kann. Zitator Christoph Wittelsbürger: Predrag Matvejevic, „Der Mediterran“ Ich habe zugehört und vermerkt, wie Küstenbewohner von den Gerüchen des Meeres reden am Nordufer des Mediterran ebenso wie an dessen Südseite. Viele Küstenstriche haben ihren besonderen Geruch, an den wir uns erinnern und den wir wiedererkennen: Vielleicht dort, wo die Wellen aus den Tiefen Meertang emporgetragen haben, der an der Sonne fault, oder dort, wo Algen eingetrocknet sind, auf Steinen, Felsen, im Hafen oder auf der Mole, auf den Planken der Boote und Schiffe. Manche meinen, dass Muscheln und Fischschuppen etwas von dem spezifischen Meeresgeruch aus der Tiefe emportragen. Musikeinspielung 4 Karaindrou, Track 10 Sprecher Matthias Ponnier Die Landschaft des Mittelmeers generiert starke Bilder, der Hafen als „Steingewordene Sehnsucht“, wie der portugiesische Dichter Fernando Pessoa ihn sah, die macchiaüberzogenen Hängen, die sich der blauen Küste entgegenschieben, duftende Feigenbäume, hineingerissen in den Taumel von Licht und Salz. Doch ist das Meer alles andere als ein Idyll. Die Witwen der griechischen Seeleute wenden sich ab von dem unheilverkündenden Blau der pikrokynatoussa – der „mit den bitteren Wellen“, der leventopichtra, „die die Tapferen ertränkt“. Und wie einst für die Witwen der Seeleute kann auch für die Flüchtlingsfamilien aus Asien und Schwarzafrika das Mittelmeer heute wieder zum Grab werden, und die Eilande von Lampedusa bis Lesbos, wo sich die Sehnsüchte Asiens und Afrikas mit Europa kreuzen, zu Inseln der Ertrunkenen. Und doch gibt es die Anziehungskraft des Meeres, das Gemeinsame von Seefahrt und Luftfahrt, Segel und Flügel: der Traum von Odysseus und Ikarus sind einander nah verwandt. So kann Odysseus auf Reisen durch das Mittelmeer auch den Heutigen noch zum Lotsen werden, zum „Portopan“, „pilote“ und „flambeau“ – oder wie all diese alten, ehrwürdigen Wörter lauten, deren Sinn kaum jemand noch versteht. Wie sie aber alle Mittelmeerdichter beschworen, von dem in Marseille geborenen Gabriel Audisio bis zu Konstantinos Kavafis – dem Griechen aus Alexandria, der die Odyssee als das Leben selbst zu verstehen lehrte. O-Ton 4 Franck Hofmann 8:50 Man kann bei dieser Kreuzfahrt natürlich an das Odysseus-Motiv denken, oder generell an die Schifffahrt, das Schiff als philosophisches Modell, wenn man an Valery denkt, „Eupalinos oder der Architekt“, in dem anderes als Godard noch diese Klarheit behauptet wird, ein klassizistischer Bezug, der eben in der Moderne aufgebrochen wird und nicht mehr normbildend sein kann. Die Odysseus-Figur ist eine wichtige Figur, die aber auch eine wichtige Uminterpretation erlebt hat, indem es eben keine gelungene Heimkehr mehr gibt in der Moderne. Und das Trudeln, wie wir es bei Godard wahrnehmen, ist vielleicht Teil dieser Umwertungen. Musikeinspielung 5 Karaindrou, Track 1/14 Sprecher Matthias Ponnier Die Reling liegt im Regen verlassen da, das Treiben der müßigen Passagiere ist nach drinnen verlegt. Wie in Godards Film driftet zuerst Steuerbord voraus Algier vorbei, Algier, die weiße Stadt. Die Stadt des Historikers Ferdinand Braudel, der mit seinem bahnbrechenden Buch „Die Méditerranée und die mediterrane Welt in der Epoche Philippes des II.“ zum ersten Mal das Meer ins Zentrum der historischen Analyse setzte, und der mit diesem Gründungsmanifest einen ganz neuen Forschungszweig der Mittelmeerforschung angestoßen hat. Zitator Volker Risch: Braudel Ich habe das Mittelmeer leidenschaftlich geliebt, vermutlich weil ich – wie so viele anderen und nach so vielen anderen – aus dem Norden kam. Lange Jahre habe ich glücklich mit seinem Studium verbracht, mehr als meine ganze Jugend. Ich hoffe, dass etwas von diesem Glück auch auf den Seiten dieses Buches spürbar wird. Das Meer. Man sollte es sich so vorstellen, wie die Alten es getan haben, es mit ihren Augen zu sehen versuchen: als eine immerzu und überall gegenwärtige, wundersame, rätselhafte Unermesslichkeit. ... Was ist das, die mediterrane Welt? Tausend Dinge auf einmal. Nicht eine Landschaft, sondern unzählige Landschaften, Zivilisationen. In der Provence und in Griechenland werden die Früchte von den Olivenbäumen geschlagen; Fischer legen ihre Netze in der stillen Lagune von Venedig oder den Kanälen von Djerba aus. Die Barken der Fischer unterscheiden sich in nichts von dem Boot des Odysseus. Der beste Leser dieses Buches wird vielleicht der sein, der mit eigenen Erinnerungen, eigene Bildern des Mittelmeeres an meinen Text herangeht, ihm eigene Farbe verleiht und mir dabei hilft, worum ich mich mit aller Kraft bemüht habe: die gewaltige Präsenz dieses Meeres erfahrbar zu machen. Sprecher Matthias Ponnier Die ersten beiden Teile des Buches sind 1940-1945 in deutscher Kriegsgefangenschaft entstanden, doch schöpfte Braudel beim Schreiben vor allem aus Erfahrungen, die er in Französisch Algerien gesammelt hatte. In Algier habe Braudel erst eigentlich zu leben begonnen, meint Manuel Borutta vom Zentrum für Mittelmeerstudien, Bochum. O-Ton 5 Manuel Borutta 12:35 Am Mittelmeer, da war Braudel glücklich. Das Mittelmeer, so fängt auch sein Buch an, hat er geliebt. Das ist der erste Satz seines Mittelmeerbuches. Und in gewisser Hinsicht ist sein Mittelmeerbuch nicht nur ein bedeutendes, bahnbrechendes wissenschaftliches Werk, sondern auch ein Dokument einer persönlichen Erinnerung an seine eigene Zeit in Algier. 8:33 ... Von 1923-32 arbeitet er als Lehrer in Algier und Constantine und entdeckt da die mediterrane Welt, also bereits die Fahrt mit dem Dampfschiff von Marseille nach Algier erfährt er als ein Erweckungserlebnis und ist völlig überwältigt von der Erfahrung dieses kolonialen Algiers, fühlt sich in eine andere Welt hineingeworfen, und diese Erfahrung verarbeitet er in seinem Mittelmeerbuch. Musikeinspielung 6 Karaindriou, Track 2 Sprecher Matthias Ponnier Braudels Buch war unendlich wirkmächtig für eine Wahrnehmung des Mittelmeers als einer Landschaft, in der die Lebensgewohnheiten der Menschen den Westen und Osten, Norden und Süden zu einem einzigen kulturellen Raum verschmelzen – Entstehung eines Mittelmeerparadigmas, als dessen „Erfinder“ Braudel gelten kann. O-Ton 6 Markus Messling 23:30 Dieses große Werk erfindet eigentlich die Mediterranee, wir benutzen ja auch bewusst diese französische Bezeichnung, weil es immer mehr ist als nur die geographische Bezeichnung des Mittelmeers, sondern es behauptet eine bestimmte kulturelle Einheit, die bestimmt ist durch eine Grammatik der Begegnung, des Austauschs, der Durchquerung dieses Raums. Woran Braudel zeigen will, dass das Mittelmeer die Wiege und das Zentrum europäischer Kultur sei. Als Neugründung Europas, wenn man so will nach den großen Kriegskatastrophen. Insofern ist Braudel für uns eine Folie, sie kann aber gerade in der Achse Marseille-Algier nicht mehr so unkritisch funktionieren. ... Wir können die Geschichte des Mittelmeers nicht mehr mit Braudel allein als Beziehungsgeschichte verstehen, sondern als eine Geschichte der schmerzhaften Beziehungen. Sprecher Matthias Ponnier Vielfach ist Braudels Buch selbst zum Gegenstand der Forschung geworden. Wo er das vorkoloniale Algerien ein „Neuland“ nennt, das von Kameltreibern, Schafhirten und Ziegenzüchtern bevölkert“ sei, wurden Elemente kolonialen Denkens ausgemacht. Fänden sich damit Spuren dieses kolonialen Denkens überhaupt in den Konzepten der Mediterranee? O-Ton 7 Manuel Borutta 4:02 Das Mittelmeer als Raumkonzept ist ein imperiales Konzept, das um 1800 bereits entsteht ... also diese Vorstellung, dass der Raum eine kulturelle Einheit bildet, die dient dazu, die koloniale Expansion zu legitimieren, zum Teil motiviert sie sie auch. Also diese Vision der Wiederherstellung der Einheit und Kontinuität des Mittelmeerraums, die durch die arabische Invasionen, die Islamisierung quasi zerstört worden sei, das ist ein zentrales Mittel der kolonialen Propaganda um eine „Wiederaneignung“ dieses Raumes zu legitimieren. Sprecher Matthias Ponnier Braudel hat später eingeräumt, während seiner Zeit in Algerien das soziale Drama der französischen Kolonialpolitik überhaupt nicht begriffen zu haben. Wie andere Vertreter seines intellektuellen Umfelds, der so genannten „Schule von Algier“, hat auch Braudel die Hellenisierung des Mittelmeerraums als erste Phase der „Europäisierung“ begriffen, den lateinischen Charakter der Region betont und die Muslime zu kulturfremden Invasoren herabgewürdigt. Anders als Gabriel Audisio, der ebenfalls zu den Erfindern eines multikulturellen Mittelmeermythos gehört. O-Ton 8 Manuel Borutta 23:50 Odysseus ist für Audisio ein Prototyp des mediterranen Menschen, Audisios Bild der Bewohner des Mittelmeerraums ist ein nautisches. 17:15 Er pendelt zwischen Paris, Algier und Marseille. In Marseille geboren, wird er in den 1920er Jahren Leiter des algerischen Tourismusbüros. Also er vermarktet den Mittelmeerraum, kann man sagen. Und arbeitet gleichzeitig als Journalist für ein wichtiges Blatt, eine sehr mondäne Zeitschrift, die 1928 in Marseille gegründet wird, „Le Cahier du Sud“. Und Le Cahier du Sud wird zum zentralen Medium eines neuen Bildes vom Mittelmeer, weniger eurozentrisch, das sich bemüht, verschiedene kulturelle und religiöse Elemente in das Bild von Mittelmeer zu integrieren. Also den Islam. Oder die arabische Kultur. 15:30 Und Audisio ist der wichtigste Vertreter dieses neuen mediterranistischen Denkens. ... Er veröffentlich 1935 dann eine Essaysammlung, „Jeunesse de la Mediterranee“, die dann auch an der südlichen Küste des Mittelmeers, in Algier, von jungen Autoren wie Albert Camus, die noch am Anfang ihrer literarischen Karriere stehen, aufgesogen wird. Zitator Christoph Wittelsbürger: Albert Camus, Hochzeit in Tipasa Einige Städte, die das Glück haben, am Meer zu liegen – unter ihnen Algier -, öffnen sich dem Himmel wie ein Mund oder eine Wunde. Die Sanftheit Algiers ist beinahe italienisch. Der grausame Glanz Orans hat etwas von Spanien. Auf einem Hügel über den Schluchten des Rummels aufragend, erinnert Constantine an Toledo. Toledo hatte seinen Greco. Die Städte hingegen, von denen ich spreche, haben keine Vergangenheit. An Malerischem bietet Oran ein Negerviertel und ein spanisches Quartier, Constantine ein Judenviertel und Algier eine Araberstadt. Algier hat eine lange Kette von Boulevards längs des Meeres. Dem sensiblen Touristen empfehle ich, falls er nach Algier geht, unter den Gewölben des Hafens eine Anisette zu trinken, des Morgens bei der Pêcherie frischgegrillten Fisch zu kosten; er höre arabische Musik an in einem kleinen Café an der Rue de la Lyre, dessen Namen ich vergessen habe. Er speise im Restaurant Padovani, einer Art Dancing auf Pfählen, im Meer, wo das Leben leicht ist. Musikeinspielung 7 Anouar Brahem, Track 3 Sadir Sprecher Matthias Ponnier Albert Camus, der manchmal selbst klingen kann wie ein Touristenführer, ist im Arbeiterviertel Belcourt im Südosten Algiers aufgewachsen, am Mittelmeer hat er seine prägenden Jahre verbracht. Camus Vorfahren waren analphabetische Landarbeiter und bereits seit der Eroberung durch die Franzosen in Algerien ansässig. 1940 geht Albert Camus nach Paris, arbeitet als Lektor bei Gallimard, übernimmt in der Zeit der Résistance die Verantwortung für die illegale Zeitung „Combat“. Doch das „intellektuelle Klima“ von Paris bekommt ihm nicht – in der „vortrefflichen Hölle“ Paris fühlt er sich immer wie im Exil. Zitator Christoph Wittelsbürger: Albert Camus, Hochzeit in Tipasa Was wir in Algier lieben gehört allen: das Meer an jeder Straßenecke, die Lichtfülle. Dieses Hingegebensein verspricht nichts und hält auch nicht mit Hoffnungen hin. Die Zärtlichkeit dieses Landes ist scheu und überwältigend zugleich. Die jungen Männer können hier gleichermaßen ihre Jugend wie ihre Schönheit ausleben. Die Jünglinge, die am Strand des Mittelmeers um die Wette laufen, reichen den Athleten von Delos die Hand. Sie fühlen sich wohl in der Sonne. Wer im Sommer regelmäßig im Hafen badet, kann man beobachten, wie die weiße Haut eines jeden Leibes zunächst goldbraun und dann bronzebraun wird, bis sie zuletzt eine gewisse Tabakfarbe annimmt. Über dem Hafen erhebt sich das weiße Würfelgewirr der Kasbah. Je heißer es nun im August wird, desto mehr blendet das Weiß der Häuser und desto dunkler wird das Braun der Leiber. Man badet im Hafen, und man ruht sich aus auf den Bojen. Schwimmt man an einer Boje vorbei, auf der bereits ein hübsches Mädchen sitzt, so ruft man den Kameraden zu: ‚Eine Möwe, sag’ ich dir!’ Welche geheimnisvollen Zeichen und Rufe mögen in dieser kurzen Zeitspanne wach werden, dass sich Algier um diese Stunde so tief meinem Gedächtnis hat eingraben können? Wenn ich eine Zeitlang diesem Land fern bleibe, erscheinen mir seine Abende wie lauter Versprechungen eines ungreifbaren Glücks. O-Ton 9 Markus Messling 28:10 Albert Camus kommt ja aus dieser so genannten Schule von Algier, die als Schule bezeichnet wird, weil sie viele Intellektuelle versammelt hat, nach dem ersten Weltkrieg insbesondere, Europa vom Süden her zu denken. Daraus ist dann etwas geworden, was Camus als die Pensee du Midi bezeichnet. Also gegen diesen zerstörerische Kulturbegriff des ersten Weltkriegs etwas zu stellen, aus dem ein neues Menschenbild erwachsen kann. (31:00 Und diese Vorstellung kommt eben aus diesem Pensee du Midi, einer Vorstellung,) dass in Anbetracht dieser Ewigkeit des Mittelmeers, Camus würde sagen schon die Elemente: das Licht, das Meer, die Küstenlinie, der Mensch sich erkennt als etwas sich Einzubettendes in diese Landschaft. Das beschreibt er vor allem in seinen Jugendessays ganz toll, wie er von der Ruinenlandschaft in Tipasa und dem Duft der Mimose in das Mittelmeer springt, und sich verausgabt und schwimmt, mit diesem Nietzschianischen Reflex der Übersteigerung des eigenen Selbst, und dann aber doch am Horizont, der brennenden Sonne, der Größe des Meers einen Moment der Stillstellung erfährt, indem er sich eingeordnet fühlt in diese Welt. Sprecher Matthias Ponnier Was nach Mittelmeerromantik klingt, ist doch der existenzielle Nährboden eines Philosophen, den Jean Paul Sartre in seinem Nachruf „einen der großen französischen Moralisten“ genannt hat. Denn hier in Algier wurde auf einfacher, alltagsweltlicher Ebene jener menschliche Anstand vorgelebt, den Camus laut Sartre später auf philosophischer wie politischer Ebene verkörpert hat. Doch hat Camus’ mittelmeerisches Denken auch Widerspruch erregt. Es klingt wie eine direkte Replik auf den zu Berühmtheit gelangten Autor, wenn der algerische Schriftstellers Mouloud Mammeri schreibt: Zitator Christoph Wittelsbürger: Camus Dich haben sie, wie alle anderen, mit ihren Reklamesprüchen gekriegt! Sie sind dir mit dem azurblauen Himmel gekommen, dem smaragdgrünen Meer, der Sonne von Algier, die allen gleichermaßen gehört, in der wir alle uns baden ohne Unterschied. Die Kolonialherren haben uns von dem Tage an die Natur zerstört, an dem sie hier eingedrungen sind. O-Ton 10 Franck Hofmann 34:15 Das Problematische an Camus Mittelmeerdiskurs ist vielleicht, dass es ein Gegendiskurs bleibt. Gegen einen dem Norden zugesprochenen Überschuss an Rationalität, Vernünftigkeit und Planung, ein Zurückbeugen in diese Kräfte der vermeintlichen Verjüngung, der Lebendigkeit, und nicht wegkommt von einer Form der Unmittelbarkeit. O-Ton 11 Markus Messling 37:15 Das Problem zieht sich bei ihm durch. Das kann man sehen bei der Rede, die er zur Verleihung des Nobelpreises in Stockholm hält, wo er versucht, eine vermittelnde Position zu finden, die aber von der bewegten Studentenschaft im Grunde als reaktionär verortet wird. Als jemand, der sich nicht klar auf die Seite der Dekolonisierung stellt, sondern der versucht, Frankreich immer noch als Teil Algeriens zu denken. ... Aus dem Dilemma ist Camus eigentlich auch nie rausgekommen. Das ist wirklich sein Lebensdrama gewesen. Sprecher Matthias Ponnier Noch in Algier entstand auch Camus frühes literarisches Meisterwerk, „Der Fremde“, der den Beweis führt, dass die Sonne nicht nur nähren, sondern auch töten kann. Der Druck der Hitze, die Endlosigkeit des sonnendurchglühten Strandes, die Morgensonne blendet den Franzosenalgerier Meursault und bringt ihn dazu, eine Waffe auf einen Araber abzufeuern. Erst jüngst hat der algerische Schriftsteller Kamel Daoud diese Leiche aus dem Keller der Weltliteratur wieder hervorgeholt und zum Gegenstand seines Romans "Meursault, contre-enquête" / "Der Fall Meursault, eine Gegenermittlung" gemacht. Der Roman rollt den Mord an dem „Araber“ neu auf – ein „literarisches Verbrechen“, das Camus’ überragendes literarisches Talent erst zum perfekten Verbrechen gemacht hat. Musikeinspielung 8 Anouar Brahem, Barzakh Zitator Volker Risch: Kamel Daoud, Der Fall Meursault Ich sag es dir gleich, der Tote, der Ermordete, ist mein Bruder. Mein Bruder Moussa, der 66 Jahre lang immer nur gestorben ist, durch zwei Kugeln, abgefeuert von einem Franzosen. Stell dir das mal vor, es ist eines der meistgelesenen Bücher der Welt, mein Bruder hätte berühmt werden können. Doch während der Mörder berühmt geworden ist, ist von meinem Bruder nichts mehr übrig. Von Moussa gab es ja nicht einmal einen Leichnam. In dem Buch steht kein Wort darüber. Das ist eine Verleugnung von schockierender Brutalität, findest Du nicht? Das ist auch deine Schuld, mein Freund. Ihr habt Eurer Mitgefühl ausgedrückt für die Einsamkeit des Mörders. Aber das Absurde tragen mein Bruder und ich auf unseren Schultern, und nicht dieser Typ. Sprecher Matthias Ponnier Camus beschrieb das Geschehen in seinem berühmten Roman aus der Perspektive des Täters, des kaufmännischen Angestellten Meursault. So fremd bleibt dieser Fremde der Welt, dass er selbst die Nachricht vom Tod der eigenen Mutter in vollkommener Teilnahmslosigkeit entgegennimmt. Jean Paul Sartre war der erste, der den bahnbrechenden literarischen Rang dieses „Fremden“ wahrgenommen hat, der die Welt wahrnimmt wie hinter Glas, ein existenzielles Lebensgefühl der Absurdität, das L’Étranger für Generationen von Intellektuellen zu einem Schlüsselwerk der literarischen Moderne machte. Zitator Volker Risch: Kamel Daoud, Der Fall Meursault Ich kenne das Buch in- und auswendig, ich kann es dir wie den Koran vollständig rezitieren. Ich habe es zwanzig Jahre nach seinem Erscheinen gelesen und es hat mich umgehauen wegen seiner erhabenen Lüge und seiner magischen Übereinstimmung mit meinem Leben. Die Welt seines Autors ist sauber, wie erfüllt von der Klarheit des Morgens. Von nichts anderem redet er als von Sonne, Meer und alten Steinen. Nur der „Araber“ wirft Schatten. Dein Mörder-Schriftsteller hat sich geirrt. Mein Bruder und sein Kompagnon hatten keineswegs die Absicht, ihn zu töten. Warum sich Moussa an diesem Tag am Strand befand? Er ging für sein Leben gern schwimmen! Er kam dann immer gebräunt zurück, unbesorgt, glücklich, frei. Er starb, weil er das Meer so liebte. Vielleicht ist das die richtige Frage: Was machte dein Held an diesem Strand? Sprecher Matthias Ponnier Daoud stattet den „Araber“ in einer Bewegung nachholender Gerechtigkeit mit einem Namen aus, einer Lebenswirklichkeit, einer Geschichte. Die Brüder Moussa und Haroun werden Ouled El Assase gerufen – Söhne des Wächters – weil ihr Vater in einer Fabrik im Viertel Bab-El-Oued früher als Nachtwächter gearbeitet hat. Damals, ehe er seine Familie verließ und sich nach Frankreich absetzte, weil das Leben in der algerischen Heimat das reduzierte, das unerfüllte, das uneigentliche Leben ist. Zitator Volker Risch: Kamel Daoud, Der Fall Meursault Alles geschieht ohne uns. Es gibt keine Spur unserer Trauer. Ich erinnere mich an den Tag, an dem wir endlich am Meer angekommen waren, bei diesem letzten Zeugen, den man befragen konnte. Mama hat mir beigebracht, die viel zu angenehme Sogkraft des Meers zu fürchten, so sehr, dass sich der Sand für mich bis heute so anfühlt, als würde ich schon anfangen zu ertrinken. Der Himmel war grau und ich stand einige Meter vor diesem unermesslich großen Rivalen unserer Familie. Das Meer war wie eine Mauer. Es sagte uns nichts und Mama blieb niedergeschlagen und wie an ein Grab gelehnt am Ufer sitzen. Dann erhob sie sich, sah aufmerksam nach rechts und nach links und sprach mit heiserer Stimme: ‚Möge Gott dich verfluchen!“ Sprecher Matthias Ponnier Nach der Unabhängigkeit Algeriens ändern sich die Zeiten. Die Jungen spielen auf den Friedhöfen Fußball mit den Schädeln der ehemaligen Kolonialherren. Die Befreiungskämpfer der FLN besetzen ihre Villen. Auch die Mutter der 'Söhne des Wächters' besetzt das Haus, in dem sie früher als Putzfrau gearbeitet hat. Am ersten Tag trauen sie sich kaum, die Wohnräume mit Beschlag zu belegen, beeindruckt streichen sie mit den Fingerspitzen über das Tafelgeschirr. Und dann gibt es in den Tagen des Waffenstillstands von 1962 den finalen Akt ausgleichender Gerechtigkeit: Haroun begeht einen Mord an einem beliebigen Franzosen, einem „dicken Mann in kariertem Hemd" namens Joseph. Dessen Tod in den ersten Tagen der Unabhängigkeit genauso vergebens, unerwartet und „absurd“ erscheint wie einst der Mord an dem „Araber“. Zitator Volker Risch: Kamel Daoud, Der Fall Meursault Es war in den ersten Tagen der Unabhängigkeit, und die Franzosen liefen davon wie die Hasen. Ich drückte auf den Abzug und schoss zwei Mal. Zwei Kugeln. Eine in den Bauch und die andere in den Hals. Mama stand hinter mir, mit ihrem endlich gestillten Verlangen nach Rache. Das war kein Mord, sondern eine Restitution. Am Tag nach dem Mord war alles unversehrt. Der Duft von Kaffee weckte mich. Mama sang vor sich hin. Der Zitronenbaum tat so, als hätte er nichts mitbekommen. Es war doch nur ein Franzose. Ich dachte, dass er kein Moslem war und sein Tod deshalb nichts Verbotenes. Ich wusste, dass man mich nicht richten oder mich verhören würde. Niemand tötet jemand bestimmtes im Krieg. Es handelt sich nicht um Mord, sondern um einen Befreiungskrieg. Sprecher Mattias Ponnier 1975 zählte man in Algerien 400 zerstörte und geplünderte französische Schulen, über 6.000 zerstörte und geplünderte landwirtschaftliche Betriebe, 50.000 umgelegte Telegraphenmasten und nahezu 80.000 geraubte oder geköpfte Tiere, Millionen herausgerissene Weinstöcke. Heute ist Algerien ein Land, in dem religiöser Fanatismus grassiert. Daouds Helden Moussa und Haroun gehören zu jenen Ouled El Houmma – diesen jungen Männern aus den Armenvierteln Algier – zu den jungen Narbengesichtern und Nichtsnutzen, die sich als Taschendiebe, Schürzenjäger und Kettenraucher die Zeit vertreiben, die mit ihren Messern spielen und ihre Tatoos zeigen. Zitator Volker Risch: Kamel Daoud, Der Fall Meursault Was willst du mit solchen Leuten machen, mhmm? Je öfter ich nach der Unabhängigkeit die Bücher deines Helden gelesen habe, desto mehr hatte ich das Gefühl, mir die Nase am Fenster eines Festsaales platt zu drücken. Wie wir uns die Nase platt drücken am Schaufenster des Lebens, mit unseren flehentlichen Bitten. Sprecher Mattias Ponnier So scheint es kein Zufall, dass sich Daoud in einem Artikel in der New York Times auch zu den Ereignissen in der Kölner Silvesternacht äußerte, als die jungen Nordafrikaner per SMS gebrochene Sprachbotschaften tauschten wie „Große Brüste“, „Ich will fucken“ oder „Ich will töte dich küssen“. Europa und insbesondere Deutschland wird von Nordafrika aus zum Paradies verklärt. Als könnte man da schon die Jungfrauen finden, die der Isam dem Jenseits vorbehält. Die Trauer ungelebten Lebens gehört ans Mittelmeer, ebenso wie die Wut und der Hass. Am 26. Juni 2015 schoss im tunesischen Port El-Kantaoui am Golf von Hammamet am Badestrand vor dem Hotel Imperial Marhaba ein Attentäter mit einer Kalaschinikow um sich und ermordete 38 Menschen. Erst nach 35 Minuten konnte die Polizei den Attentäter Seifeddine Yacoubi mit zwei Schüssen töten. Am Abend des 14. Juli 2016 überfuhr Mohamed Lahouaiej Bouhlel auf der Promenade des Anglais von Nizza mit einem Lieferwagen 84 Menschen, 200 weitere wurden verletzt. Auch das gehört heute zum Mittelmeer, dass die französischen Badegäste unter Polizeibewachung stehen. Musikeinspielung 9 Keith Jarret, Gurdjieff, Sacred Hymns Sprecher Matthias Ponnier Wir landen an einem Hafen, einer der wichtigsten Pforten des Nachbarschaftsmeers, wo griechische Kolonisatoren einst ihre Handelspräsenz Massalia gründeten: in Marseille, der ältesten Stadt Frankreichs. An einer Mole, mit ihrer Patina kaum von einem Felsen zu unterscheiden, ihre Hafenpoller als Zeugen eines Jahrtausende alten Lebens im Hafen, in den alles hineinströmt, durch den alles hindurchfließt. Ein Landgang in Marseille birgt eine ganz besondere Ladung von Stimmungen und Entdeckungen, Gabriel Audisio. Zitator Christoph Wittelsbürger: Gabriel Audisio Die Place Lenche unter den Platanen: der Geschmack des Sommers. Es sind weniger Sonne und Hitze, die dies vermitteln als die abgestuften Schatten, ihre Dichte, ihre Verteilung. Die mediterrane Menge ist hier im gewohnten vertrauten Umgang miteinander vereint. Das seltsame Dicht-an-Dicht gewinnt etwas vollkommen Natürliches: Kleine Mädchen in Kommunionskleidung – Teilnehmerinnen einer Prozession – laufen hinüber zum Eisverkäufer, mischen sich dann unter seneglaische Tirailleure und Prostituierte, auf einfachste Weise, mit Unschuld. Auf See dann ein rauer Abend. Trotz des Sommers bläst der Mistral mit aller Macht über den Golfe du Lion. Die Pferde des 5. Regiments der Chasseurs d’Afrique im Zwischendeck sind wirklich zu bedauern. Ihr melancholisches Wiehern scheint vom gischtverhangenen Mondlicht herzurühren: Zu dieser Stunde lässt sich an große Seepferde glauben. Sprecher Matthias Ponnier Ob Andalusien in Spanien oder der Mezzogiorno in Italien – der Süden galt immer als rückständig, als Grenz- und Übergangsregion. (Dasselbe galt auch für Frankreichs Süden: den Midi.) (Auch) Zwischen Frankreichs Norden und Süden schien eine imaginäre Grenze zu verlaufen, der „Midi“. Und die Südfranzosen, die jenseits dieser Grenze lebten, verunglimpfte man aus der Pariser „Zentralperspektive“ als „Hinterwäldler“, ungehobelte Bauern oder, wie die Korsen, gleich als geborene Kriminelle. O-Ton 12 Manuel Borutta 32:15 Das Konzept des Südens ist ein paradoxes Konzept. Wenn man sich das 19. Jahrhundert anschaut, dann wird die Südküste Europas mal in Südeuropa gezogen und gleichzeitig auch in Nordafrika. Also Südeuropa, also Länder wie Spanien, Südfrankreich, Italien, der Mezzogiorno, aber auch der Balkan, die werden aus Europa ausgegrenzt, als Vorboten Afrikas oder Asiens beschrieben, und vom industrialisierten, ökonomisch fortschrittlichen Norden abgegrenzt, gleichzeitig findet aber eine Verschiebung der Südgrenze Europas nach Nordafrika über das Mittelmeer hinaus statt. Also eine paradoxe Grenzziehung, die die Südgrenze Europas mal diesseits, mal jenseits des Mittelmeeres zieht. Sprecher Matthias Ponnier Es waren die frühsozialistischen Saint-Simonisten, die in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts davon träumten, Kraft einer technischen Vernetzung durch Eisenbahn, Dampfschifffahrt und Telegraphen Nord und Südeuropa aber auch Orient und Okzident einander näher zu bringen. Südfranzösische Städte wie Marseille spielten für die Eroberung, Erschließung und Besiedelung Algeriens eine zentrale Rolle. Marseiller Bürger betrieben den Kolonialismus ganz aktiv mit. 1828 rief der Marseiller Pierre-Honore de Roux in der Pariser Abgeordnetenkammer zum Krieg gegen Algerien auf, vorgeblich, um die algerische Piraterie zu bekämpfen. Den Eroberungsfeldzug 1830 unterstützten Marseiller Reeder mit 600 Schiffen und 50.000 Matrosen, außerdem mit Kompassen, Karten und nautischen Instrumenten. Marseiller Zeitungen hielten mit Kriegsberichtserstattung ihre Leser in Atem, und als am 9. Juli die Nachricht vom Fall Algiers die Runde machte, brach unter den Marktfrauen und Hafenarbeitern Marseilles kollektiver Jubel aus. O-Ton 13 Manuel Borutta 41:35 Marseille ist der größte Profiteur dieser Kolonisierung Algeriens, (die Stadt monopolisiert den Algerienhandel, man kann zugespitzt sagen, dass Marseille Algerien kolonisiert.) M. kolonisiert Algier und wird durch die Monopolisierung dieses Algerienhandels zur Metropole des Mittelmeers und rückt vom Rand in das Zentrum mediterraner Verbindungen. Sprecher Matthias Ponnier 1853 eröffnete der neue Hafen, Port La Joliette. Marseilles Aufstieg zum wichtigsten Hafen Frankreichs stand nichts mehr im Wege. 400 Segelschiffe verkehrten nun regelmäßig zwischen Marseille und Algier, um Seife, Mehl und Zucker nach Algerien zu bringen, und umgekehrt das algerische Getreide und Wein nach Frankreich einzuführen. Seit 1857 verband ein Schnellzug von Paris über Lyon nach Marseille Frankreichs Norden und Süden, die ersten regelmäßigen Dampfschiffverbindungen nach Algerien wurden eingerichtet. O-Ton 14 Franck Hofmann 18:05 Marseille ist ja gebunden zum einen an Algier, die südlichen Küsten des Mittelmeers, durch die Stadtgeschichte und die Kolonialgeschichte, gleichzeitig als eine der wichtigsten Hafenstädte Frankreichs an eine mondiale Situation: Marseille als die Hafenstadt, wo das Mittelmeer zum Teil des Weltganzen wird. Und wir haben versucht das in unserer Anthologie „Leeres Zentrum“ dann auch literarisch abzubilden. O-Ton 15 Franck Hofmann 19:20 Wir haben bei Anna Seghers „Transit“, was ja mittlerweile ein klassischer Marseille- Roman geworden ist, wirklich diese Situation der europäischen Krise vor dem Hintergrund des Faschismus und der Besetzung Frankreichs, der Flucht, in der man Marseille einfach als Nadelöhr der Hoffnung auf ein Entkommen geschildert bekommt. Zitator Volker Risch: Anna Seghers, Transit Ich kam von oben her in die Bannmeile von Marseille. Bei einer Biegung des Weges sah ich das Meer tief unten zwischen den Hügeln. Etwas später sah ich die Stadt selbst gegen das Wasser. Sie erschien mir so kahl und weiß wie eine afrikanische Stadt. Ich wurde endlich ruhig. Die große Ruhe kam über mich, die dann immer über mich kommt, wenn mir etwas sehr gut gefällt. Ich lief mit der Menge herunter im Wind, der Licht und Schauer trieb über uns in rascher Folge. Und meine Leichtigkeit, die vom Hunger herrührte und von Erschöpfung, verwandelte sich in eine erhabene, großartige Leichtigkeit, wie geschaffen für den Wind, der mich immer schneller die Straße hinunter blies. Wie ich begriff, dass das, was blau leuchtete, am Ende der Cannebiére, bereits das Meer war, der Alte Hafen, da spürte ich endlich wieder nach so viel Unsinn und Elend das einzig wirkliche Glück, das jedem Menschen in jeder Sekunde zugänglich ist, das Glück zu leben. Sprecher Matthias Ponnier Im 19. Jahrhundert war Marseille der große Koloniale Umschlagplatz Frankreichs. Im 20sten Jahrhundert wird sein Hafen zum Sprungbrett für unzählige Flüchtlinge vor der nationalsozialistischen Herrschaft. In Anna Seghers Text „Transit“ sind es die so genannten „Achsenmächte“ des Zweiten Weltkriegs, die sich ganz Europa bis zum Mittelmeer unterwerfen. Über Marseille fließen die Flüchtige ab, und mit ihnen das Elend der Flucht, des Heimatverlusts. Die jüdischen Flüchtlinge wollen nach Oran und Casablanca, oder sie versuchen, sich ein Visum für Kuba, Siam oder Martinique zu organisieren. Zitator Volker Risch: Anna Seghers, Transit Der Teil des Cafés, in dem ich saß, stieß an die Cannebiére. Ich konnte von meinem Platz aus den Alten Hafen übersehen. Ein kleines Kanonenboot lag vor dem Quai des Belges. Die grauen Schornsteine standen hinter der Straße zwischen den dürren Masten der Fischerboote und den Köpfen der Menschen. Die Nachmittagssonne stand über dem Port. Hatte der Mistral wieder begonnen? Die vorübergehenden Frauen hatten ihre Kapuzen hochgezogen. Die Gesichter der Menschen, die durch die Drehtür hereinkamen, waren gespannt von Wind und von Unrast. Kein Mensch bekümmerte sich um die Sonne über dem Meer, um die Zinnen der Kirche St. Victor, um die Netze, die auf der ganzen Länge des Hafendamms zum Trocknen lagen. Sie schwatzen alle unaufhörlich von ihren Transits. Ich saß ruhig und ziemlich allein in dieser Horde abfahrtssüchtiger Teufel. Ich trank meinen bitteren Kaffee-Ersatz und horchte entzückt auf das Hafengetratsch, das mich gar nichts anging. Uraltes Hafengeschwätz, so alt wie der Alte Hafen selbst und noch älter. Wunderbarer uralter Hafentratsch, der nie verstummt ist, solang es ein Mittelländisches Meer gegeben hat, phönizischer Klatsch und kretischer, griechischer Tratsch und römischer, niemals waren die Tratscher alle geworden. Das Stück blauen Wassers da unten am Rande der Cannebiere, das also war der Rand unseres Erdteils. Der Rand der Welt, die, wenn man will, vom Stillen Ozean, von Wladiwostok und China, bis hierher reicht. Sie heißt nicht umsonst die Alte Welt. Ich fühlte mich uralt, Jahrtausende alt, weil ich alles schon einmal erlebt hatte, und ich fühlte mich blutjung, begierig auf alles, was jetzt noch kam. Sprecher Matthias Ponnier Einst war Marseille Startpunkt europäischer Auswanderer in alle Welt. Die Einwanderung in die Metropole beginnt 1907 mit Kabylen, sie sollten die streikenden italienischen Arbeiter in einer Fabrik ersetzen. Doch schon in den 1920er Jahren wird die „bonne invasion“ der Nordafrikaner zur „invasion de sidi“ uminterpretiert: Marseille erscheint als französisches „Chicago“ als Zentrum des globalen Drogenhandels und Hotspot sozialer Konflikte. Der jamaikanische Romanautor Claude McKay hat in den Zwanzigerjahren in Marseille gelebt. In seinem Text „Banjo“ tummeln sie sich alle gemeinsam zwischen Marseilles Güterwaggons, Trampschiffen, Bistros und Bordellen: die Migranten aus Italien und Malta, aus Schwarzafrika und Westindien, die Spitznahmen tragen wie „Dengel“ oder „Ginger“ – alle gestrandet in diesem grandiosen Hafen der Provence, wo sie die Reisenden anschnorren oder von den farbigen Matrosen den schmissigen „Black Bottom“ tanzen lernen, um Eindruck zu machen auf die weißen Darlings, mit denen sie ausgehen. O-Ton 16 Franck Hofmann 19:45 Insofern ist es eine Gegenfigur zum Roman des Einreisens, wie wir es bei „Banjo“ erleben – Claude McCay ist ja einer der Hauptakteure der Harlem Renaissance in New York gewesen, also der Black Conscience / der schwarzen Selbstbewußtseinsbewegung, der dann diese Thematiken in der Marseiller Szenerie diskutiert. Diese ganzen Texte entwerfen so etwas wie eine literarische Landschaft der Mediterranee, die über Autoren wie Audisio hinausreichen. Zitator Volker Risch: Anna Seghers, Transit Bis dahin kannte Banjo von Europa lediglich ein paar Handelshäfen aus seiner Zeit als bulliger Heizer. Im großen Hafen aller Seemänner jedoch, in Marseille, war er nie gewesen. Kein Plan, kein festes Ziel, keine besondere Absicht führten ihn dorthin. Es war einfach der Hafen, von dem alle Seefahrer schwärmten – grandios, gefährlich, reizvoll, groß, weit, offen. Banjo war ein großer Streuner in den Niederungen des Lebens. Er hatte die Eigenart, neue Orte und Dinge auf der Stelle in sich aufzusaugen, hitzig und wie unsinnig berauscht. Sein Instinkt trieb ihn zur „Gosse“, und wie von selbst fand er dort ein Mädchen. Die stickige, düstere Gasse, durch die sie gingen, war gesäumt von winzigen Speiselokalen aus allen Mittelmeerländern – griechischen, jugoslawischen, neapolitanischen, arabischen und korsischen, dazu noch armenischen, tschechischen und russischen. Hier blühte er auf, das Leben und Treiben rund um das behäbige, düstere Bürgermeisteramt am Quai du Port, der ein stinkendes, schleimiges Gewusel von Fisch und Gemüse, Mädchen und blutjungen Schleppern, Katzen, Kötern und tausenderlei Waren aus zweiter Hand zu bieten hatte, elektrisierte ihn. Sein wunderbares Marseille! Noch wunderbarer als in allen Erzählungen. Sprecher Matthias Ponnier Als Drogenumschlagplatz und Schauplatz von Bandenkriminalität wurde Marseille auch zum Prüfstein französischer Integrationspolitik. Dagegen versuchte die Kulturhauptstadt 2013 mit kulturpolitischen Großprojekten wie dem MUSEUM, Musée des civilisations de ‚l’Europe et de la Mediteranée wieder an die große multikulturelle Tradition und das kulturelle Gedächtnis der „Mediterranee“ anzuknüpfen. O-Ton 17 Franck Hofmann 21:45 Gleichzeitig gibt es gerade aktuell in Marseille heute auch Bemühungen, ... jenseits dieser historischen Dimension, eine sehr aktuelle Auseinandersetzung mit der Mediterranee zu setzen, durch Museumsgründungen wie das MUSEM, oder auch die Villa Mediterranee, die ein Ort der Verhandlung Europas mit dem Süden sein möchte. Sprecher Matthias Ponnier An diesem Ort endet die erste Etappe der Reise: in der Villa Mediterranee, einem in den Boden gerammtes Winkeleisen, dessen obere Seite in schwindelnder Höhe frei über dem Wasser schwebt. Das Mittelmeer ist als integraler Bestandteil in die Baukonstruktion dieses künstlichen „Docks“ einbezogen, dessen Konferenzzentrum tatsächlich unter dem Meer liegt. Seit 2013 bietet die Villa hier den Raum für die Begegnung und den Austausch unterschiedlicher Mittelmeerkulturen, und insbesondere für disziplin- und grenzüberschreitende Forschungsaktivitäten, wie sie „Transmed“ von Messling und Hofmann initiiert hat. O-Ton 18 Franck Hofmann 45:00 Diese Villa Mediterranee reagiert nämlich nicht mehr auf dieses Erbe des Blicks auf die Antike, sie reagiert auf die Krisen, die Katastrophen im Mittelmeer, Ausgangspunkt dieses Gebäudes ist eine Schiffskatastrophe vor Sizilien, eine Verwandlung des Mittelmeers in eine Krisenlandschaft, auf die wir heute im Bezug auf Lampedusa im Stundentakt erleben. Musikeinspielung 9 Souad Massi - Ghir Enta 2. Stunde: Lampedusa / Tunesien Musikeinspielung 10 Sizilien Araba Sprecher Matthias Ponnier Die Bewohner des Mediterran unterscheiden sich: Den einen liegt das Meer fern, den anderen ist es nah. Pier Paolo Pasolini, im italienischen Hinterland, im Friaul groß geworden, hatte ein besonderes Verhältnis zum Mittelmeer. Schon im Alter von zehn Jahren las er begeistert die Abenteuerromane Emilio Salgaris über Freibeuter der Weltmeere und erklärte seiner Mutter, er wolle Dichter und Meereskapitän werden. Im Jahre 1959 umfuhr er die ganze italienische Küste, 3000 Kilometer, immer am Wasser entlang. 1970er Jahren unternahm er viele Reisen nach Nordafrika und in den Maghreb, auf der Suche nach jenen herberen, authentischeren Gesichtszügen, die er für seine Filme brauchte, und die er in Italien Kaum noch fand. Zitator Volker Risch Ali mit den blauen Augen, einer der vielen Söhne der Söhne wird von Algier kommen, auf Schiffen mit Segeln und mit Rudern. Sie werden heraufkommen, nach Neapel, nach Barcelona, nach Saloniki und Marseille, in die Städte des Verbrechens. Sie werden vom Grunde des Meeres auftauchen, um anzugreifen, Rom zu zerstören. Um die Freude zu lehren, wie man frei ist. Sprecher Matthias Ponnier Von Sizilien aus richtete sich Pasolinis Blick voller Hoffnung nach Nordafrika. Die Sizilianer selbst waren immer eher auf der Hut vor dem und denen, die das Meer ihnen bringt. Sizilien, Italiens Schlussstein, letztlich nichts anders als eine Insel im Mittelmeer, galt den Herrschern in Rom immer als eigenwilliges, schwer zu verstehendes, schwer zu regierendes Land. In seiner Geschichte versuchten andere, dieses Land unter ihre Gewalt zu bringen. Die Einwohner wurden darüber zu Experten des Fremden. Entsprechend eisern fällt ihre Selbstbehauptung aus. So bedürftig das Land war, so reich ist die Literatur, die es hervorgebracht hat. Die für Leonardo Sciascia, den großen Erzähler des sizilianischen Realismus, von einem Inselbewusstsein zeugt, das sich über Jahrhunderte erhärtet hat. Zitator Volker Risch: Leonardo Sciascia, Mein Sizilien 1039 Kilometer Küste – 440 am Tyrrhenischen Meer, 312 am Afrikanischen Meer, 287 am Ionischen Meer: und doch scheint diese große Mittelmeerinsel in ihrer Art, in ihrem Leben ganz nach innen gewandt zu sein, angeklammert an Hochebenen und Berge, darauf bedacht, sich dem Meer zu entziehen, als sei Sizilien keine Insel, als gelte es das Meer nicht zu sehen, damit es uns nicht sieht. Aber das Meer sieht uns, auf seinen Wogen trägt es von allen Seiten alle Arten von Invasoren an unsere Strände. Das Meer ist Siziliens ewige Unsicherheit, so wird es vom Volk wenig besungen. Der Seemann erscheint als nichts anderes, als der durch die Not aufs Meer hinausgetriebene Bauer. Oder das Meer wird zum Sinnbild erhoben, wie in den Redensarten: „Lu mari é amaru“ – „das Meer ist bitter“, „Loda lu mari, e afferrati a li giummari“ – „Lobe das Meer, aber halte dich an den Tauen fest“ oder „Cui pó jiri pri terra, nun vaja pri mari“ – „Wer über Land gehen kann, der fahre nicht übers Meer.“ Fern ist die Welt der Odyssee: das Wunder der Morgendämmerung auf dem Meer, das Gefühl von Abenteuer und Freiheit. Von den Küsten der Insel, von ihren Häfen aus ist kein Sizilianer je zu einer Eroberung, zu einem Abenteuer aufgebrochen. Ihr Meer ist bitter. Doch nicht dem Meer, das sie umgibt, misstrauen sie, sondern dem Meer, das Berber- und Normannenritter, lombardische Söldner, die verhassten Barone Karls von Anjou, die Abenteurer, die aus der ‚kargen Armut Kataloniens’ kamen, die Armeen Karls V. und Ludwigs XIV, die Österreicher, Garibaldiner und Piemontesen an ihre Strände trugen; und jahrhundertelang, als ständige Geißel, die algerischen Piraten, die einfielen, um Güter und Menschen zu rauben. Musikeinspielung 11 Sicilia Araba Sprecher Matthias Ponnier Die arabische Herrschaft im frühmittelalterlichen Südeuropa hat Spuren hinterlassen. Vor allem in Spanien und Portugal ist in der Sprache, Kunst und Architektur der Einfluss arabischer und maurischer Kultur unübersehbar. Über die Wirkung der arabischen Vorherrschaft auf die Kunst und Kultur der Mittelmeerinsel Sizilien hingegen wird wenig gesprochen. Die Ausdehnung der muslimischen Herrschaft auf Marokko, Spanien und schließlich auch Sizilien machte die südliche Hälfte des Mittelmeers um das Jahr 1000 nach Chr. zu einem muslimisch beherrschen Meer. Zitator Volker Risch: Leonardo Sciascia, Mein Sizilien Die Entfernung meines Geburtsorts Racalmuto zum afrikanischen Meer beträgt kaum 16 Meilen, und doch ist es, als läge er inmitten eines Kontinents. Erstaunlich, ein Staunen erregend, das an Furcht heranreicht, so war das Meer in den Jahren meiner Kindheit. Racalmuto in der Provinz Agrigent ist eine Insel inmitten einer Insel. Man kann lange Erörterungen anstellen über dieses System: das Dorf als Insel innerhalb der Insel Provinz, die Familie als Insel innerhalb der Insel Dorf, das Individuum als Insel innerhalb der Insel Familie. Mein Aufenthalt hier, der meiner Geburt weit vorausgehende Aufenthalt hat mit den Arabern, bei den Arabern begonnen. Racalmuto steht für „Rahal-maut“, totes Dorf, anscheinend, weil die Araber es von der Pest verwüstet vorfanden. Sprecher Matthias Ponnier Als im Jahre 827 unter der Führung des Feldherren Asad ibn al-Furat eine Flotte aus dem nordafrikanischen Kairouan auf der Insel landete und sie von den Byzantinern eroberte, begann für Sizilien mit neuen Bewässerungssystemen und Agrarkulturen sowie der Expansion der Städte Palermo, Syrakus und Marsala eine kulturelle Blütezeit. Der Handel gedieh, weil muslimische Herrscher ihre Städte jüdischen Kaufleuten öffneten. Auch die Literatur erhielt einen Schub, wie durch den sufistischen Dichter-Mystiker Ibn at-Tubi, oder den in Syrakus geborenen Ibn Hamdi, der in Noto seinen großen „Diwan“ schrieb. Maurische Elemente sind bis heute auch in der sizilianischen Musik typisch. Die Sängerin und Komponistin Etta Scollo hat gemeinsam mit ihrem Bruder, dem Lautenisten Sebastiano Scollo und dem Polyinstrumentalisten und Ethnomusikologen Fabio Tricomi die Werke der arabischen Dichter auf Sizilien vertont – zarte Gedichte wie das von der Liebe eines älteren Mannes zu einer 30 Jahre jüngeren Frau, die ihn so entzückt, dass er sich wünscht, rückwärts auf seiner Nasenspitze zu ihr zu laufen. Musikeinspielung 12 Etta Scollo Pirati a Palermu Sprecher Matthias Ponnier Italiens Stiefel ist vom Mittelmeer umgeben, Sizilien sein Absatz. Viel südlicher aber, noch viel verlorener im Meer liegt noch eine andere, viel kleinere Insel, rau, unbändig, entlegen: Lampedusa. O-Ton 19 Ulrich Ladurner 0:45 Die Insel ist näher an Afrika als an Europa, sie ist Teil der afrikanischen tektonischen Platte, insofern ist es zwar ein Teil Italiens, aber geographisch gesprochen ein Teil Afrikas, und das fand ich immer faszinierend, dass wir von einer Insel reden, die eher auf der anderen Seite des Mittelmeers liegt. Sprecher Matthias Ponnier Lampedusa ist 210 km von der sizilianischen, aber nur 120 km von der afrikanischen Küste entfernt. Häufig wurde die Insel darum als „Außenposten“ Europas beschrieben. Im jahrhundertelangen Ringen von Christen und Muslimen um die Vorherrschaft im Mittelmeer war die Kontrolle über Lampedusa und Tunis von zentraler Bedeutung. Die Straße von Sizilien bildet die engste Stelle zwischen Europa und Afrika. So suchte z. B. der arabische Heerführer Musa ibn Nusair im Jahr 703 bei seinem Eroberungsfeldzug Lampedusa als „Brückenkopf“ und „Sprungbrett“ nach Sizilien zu nutzen. O-Ton 20 Ulrich Ladurner 4:50 Die meisten Inseln im Mittelmeer haben natürlich auch militärisch eine Rolle gespielt. Auch bei der Besiedlung des Mittelmeers haben die Inseln eine Rolle gespielt.... . Als die Seefahrt noch nicht so entwickelt war, hat man die Inseln einfach benutzt als Etappenziele. Aber so Inseln wie Lampedusa sind immer wieder in den Blick geraten von Militärs. 6:20 Die Insel ist ja auch in jüngerer Zeit mal beschossen worden, nämlich von dem libyschen inzwischen gestürzten Diktator Gadaffi, das war im Jahr 1983, damals hatten die Amerikaner Tripolis bombardiert und versucht, Gaddafi umzubringen. Und Gaddafi hat darauf reagiert indem er das – wie er sagte – „Spionagenest“ Lampedusa bombardieren ließ. Er schoss zwei Scud-Raketen ab aus Libyen, die sind kurz vor Lampedusa im Meer abgestürzt und haben keinen Schaden angerichtet. Musikeinspielung 13 Jordi Savall, Mare Nostrum, Nana Andaluza Sprecher Matthias Ponnier Seit Kolumbus Amerika entdeckt hatte und ganz Spanien von El Dorado träumte, verkam Nordafrika zum Hinterhof – einem rechtslosen Raum, in dem Korsaren versuchten, in ihren Piratennestern in Tunis und Tripolis schnelles Geld zu machen. So poetische Namen ihre Schiffe im 16. Jahrhundert auch trugen – wie die „Schöne von Tunis“ oder „Rose von Algier“ – so gnadenlos war das Geschäft der so genannten „Barbareseken“, die überall im Mittelmeer auftauchten und zustießen wie aus dem Nichts, Städte in Schutt und Asche legten und Menschen entführten, um Lösegeld zu erpressen oder sie auf dem Sklavenmarkt von Algier zu verkaufen. O-Ton 21 Ulrich Ladurner 7:45 Die Piraterie hatte ja verschiedene Einkommensquellen. Überfall von Schiffen, dann hat man die Güter geraubt, und das Zweite war: man hat Geiseln genommen. ... Eine der berühmtesten Geiseln war ja auch der Autor von Don Quichotte, Cervantes, der war 7 Jahre lang Geisel in Algier, zeitweise auch als Galeerensklave, angekettet wie all die anderen – wenn das Schiff sank, sanken sie mit. Zitator Volker Risch Ich nun war einer, von denen, deren Loskauf als sicher galt. Da man nämlich wusste, dass ich Hauptmann war. Nichts desto trotz legte man mir eine Kette an, und so lebte ich in diesem Gefängnis mit vielen anderen Vornehmen Herren und Edelleuten, die zur Auslösung bestimmt waren. Und so sehr wir unter Hunger und Blöße litten, so litten wir doch am meisten darunter, dass wir jeden Augenblick die nie erhörten und nie gesehenen Grausamkeiten hören und sehen mussten, die mein Herr gegen die Christen verübte. Sprecher Matthias Ponnier Einige der Korsaren stammten von Griechen ab, die vom christlichen Glauben abgefallen waren, andere waren kalabrischer, albanischer, jüdischer oder Genueser Herkunft. Der wohl Brillanteste und Grausamste unter ihnen, der unbestrittene Fürst der Barbaresken war Hayrettin, zu Zeiten Mehmeds des Eroberers als Sohn eines Janitscharen auf Lesbos geboren. Hayrettin – seines rot gefärbten Bartes wegen auch „Barbarossa“ genannt – machte 1503 die Insel Djerba zu seinem Stützpunkt, später operierte er von Algier aus und machte das ganze Mittelmeer zu seinem Jagdgrund. Barbarossa stand im Ruf äußerster Grausamkeit, die Inselbewohner des Mittelmeers ertranken lieber, als seinen roten Bannern zu begegnen. Viele von ihnen zwischen Mallorca und Menorca, Sardinien und Sizilien verlegten ihre Dörfer darum um mehrere Kilometer ins Binnenland. Die Bevölkerung an den Küsten wie auch auf den Inseln des Mittelmeers übte sich jahrhundertelang in Flucht und Täuschungsmanövern. Die Seeleute segelten nur nah der Küste, und wenn ein Piratenschiff auftauchte, retteten sie sich an Land, liefen in die Felder und überließen ihre Schiffe mitsamt ihrer ganzen Fracht anstandslos den Piraten. Außerdem war Hayrettin Barbarossa ein geschickter Politiker, der exzellente Verbindungen zum Hof von Tunis unterhielt. Es war der osmanische Sultan selbst, der ihm den Ehrentitel „Beschützer des Glaubens“ – Hayrettin verlieh und der ihn an den Hof von Konstantinopel berief, um sich seinen Rat einzuholen, wie mit den spanischen Rivalen im westlichen Mittelmeer zu verfahren sei. 1535 entführte Hayrettin an der italienischen Küste die Herzogin von Fondi, Julia Gonza, die in dem Ruf stand, die schönste Frau Italiens zu sein, um sie als Trophäe dem Sultan zu übergeben. Musikeinspielung 14 Jordi Savall, Mare Nostrum, La Armada Turca Sprecher Matthias Ponnier In Algerien kam es zu einem Zermürbungskrieg zwischen muslimischen und christlichen Freibeutern aus Katalonien, die sich in Melilla, Oran und Algier festgesetzt hatten. Zum großen Gegenspieler Hayrettins wurde dabei der Admiral Andrea Doria, Spross einer alten Genueser Familie, der im Auftrag Karls des V. zum großen christlichen Gegenangriff überging. Auch christliche Ritter wurden gefürchtete Plünderer, wie Romegas, Pirat des Johanniter-Ordens auf der Insel Malta, einer der besten Kapitäne des Mittelmeeres zu seiner Zeit und „Stachel im Fleisch des Osmanischen Reiches“ – über Jahrhunderte terrorisierten christliche wie muslimische Barbaresken das Mittelmeer von Algier bis Saloniki. Erst viel später, im 19. Jahrhundert, errangen die Seemächte der europäischen Staaten die unbestrittene Vorherrschaft im Mittelmeer. O-Ton 22 Ulrich Ladurner 8:45 Und dieses Geiselgeschäft zieht sich weit bis ins 19. Jahrhundert. In gewisser Weise kann man sagen: auch Gaddafi hat Geiseln genommen. ... Auch heute, wenn Sie nach Libyen schauen, in dieses zerstörte Land, wir reden von Migration, aber in Libyen haben wir es im Grunde genommen mit Sklavenhandel zu tun. Das ist in gewissem Sinne eine Rückkehr der Geschichte. Sprecher Matthias Ponnier In seinem Buch über Lampedusa trägt der Autor Ulrich Ladurner Schicht für Schicht dieser kleinen Insel ab, die doch eine große Geschichte hat. Um auch jene Geschichten zu Tage zu fördern, die hinter den Meldungen der Tagespolitik verborgen liegen. O-Ton 23 Ulrich Ladurner 3:40 Es ist auch nicht ganz klar, woher der Name Lampedusa kommt. Es gibt da unterschiedliche Auffassungen. Die, die mir am besten gefällt, ist dass Lampedusa eine Insel ist, die immer vom Sturm umtost war, von Blitzen und dicken schwarzen Wolken, darum heiße sie Lampedusa, nach „Lampo“ – was auf Italienisch „Blitz“ heißt. 2:15 ... Shakespeare kannte den „Orlando Furioso“ von Ariosto, ein Versepos aus dem 15ten Jahrhundert, ... es gibt die Theorie, dass Shakespeare über diese Verbindung von Lampedusa gehört hat, und dort sein Drama „Der Sturm“ spielen ließ, wo der Zauberer Prospero auftaucht, und der Sklave Caliban, und während des Stücks gibt es einen Schiffbruch an der Küste von Lampedusa, das ist ein Hinweis darauf, dass diese Insel eben eine gefährliche, sturmumtoste Insel ist. Zitator Volker Risch Das Schiff bricht auseinander Lebt wohl, meine Frau und Kinder! Leb wohl, Bruder! Es bricht, es bricht, es bricht! Sprecher Matthias Ponnier Aktueller könnten die Bezüge von William Shakespeares Stück „Der Sturm“: kaum sein: König Alonso befindet sich auf dem Heimweg von Tunis, wo er seine Tochter dem dortigen Herrscher vermählte. Auf dem Meer, nehmen wir an auf der Höhe der Insel Lampedusa - gerät der König dann mit seiner Flotte in einen Sturm. Der Zauberer Prospero steht auf einer Klippe der Insel, gemeinsam mit seiner Tochter Miranda, die Mitleid zeigt mit dem Hilferuf eines Matrosen aus dem Inneren eines der Schiffe, die vor ihren Augen untergehen. Zitatorin Nicole Engeln Falls ihr, mein geliebter Vater, durch eure Kunst die wilden Wasser in diesen Aufruhr versetzt habt, besänftigt sie wieder. Oh, habe ich gelitten mit denen, die ich leiden sah... Sprecher Matthias Ponnier In den 1990er Jahren stand Ulrich Ladurner zum ersten Mal an der Küste Lampedusas, mit vielen anderen Journalisten und Fotographen aus ganz Europa. Damals waren die Bilder die er dort sah noch ganz neu, von einem Boot mit Flüchtlingen, das auf die Insel zusteuert. Dass Lampedusa zum Symbol werden würde für eine ganz neue Wanderungsbewegung von geopolitischer Dimension, das ahnte niemand, auch Ulrich Ladurner nicht. O-Ton 24 Ulrich Ladurner 20:10 Lampedusa ist ja eine Felseninsel. 22 Quadratkilometer, so gut wie keine Bäume, es gibt den Hafen, sehr klein und dann gibt es diesen Kaninchenstrand, das ist ein ganz weißer Strand, man hat das Gefühl man wäre irgendwo in der Karibik, der ist auch nicht mehr als 200 Meter lang, und vor diesem Strand, wo im Sommer die Leute dann in der Sonne liegen, 300-400 Meter vor diesem Strand ist damals, im Oktober 2013, dieses Schiff gesunken mit knapp vierhundert Toten. 12:16 Es ist ja auch eine Insel der Ertrunkenen inzwischen. Weil sehr viele Leute vor der Küste Lampedusas am Meeresgrund liegen. Sprecher Matthias Ponnier Schon im Sommer 1991 nutzte die Lega Nord das Bild des rostigen Frachtschiffs Flora, mit dem sich tausend Albaner gerettet hatten, zur Stimmungsmache. Das Wort „Invasion“ fand wieder Eingang in den Wortschatz Europas. Schon damals hysterisierte sich die Einwanderungsdebatte in Italien. Doch es ist erst der erste Vorbote in einer langen Reihe unrühmlicher Ereignisse, die der Sozialwissenschaftler Helmut Dietrich in den Kontext der italienischen Einwanderungspolitik der Ära Berlusconi stellt: Zitator Christoh Wittelsbürger Am 25. Dezember 1996 sterben bei einem Schiffsunglück mindestens 286 Menschen. Ein Fischkutter, der zwischen Sizilien und Malta Boat People von einem großen Frachter namens ”Iohan” übernimmt, stößt dabei mit diesem zusammen und geht unter. Einen Monat lang leugnen die italienischen See- und Polizeibehörden dieses Ereignis. Engagierte Journalisten der italienischen Zeitung „Il Manifesto” bringen diese Nachricht mit Hilfe von Flüchtlingsunterstützern auf die erste Seite ihrer Zeitung und beginnen eine Recherche. Sie stellen fest: Mehr als hundert Überlebende befinden sich in italienischen Polizeigefängnissen oder sind – da eines der am Unglück beteiligten Schiffe weitergefahren war – in griechische Haft gekommen. Die Tatsache, dass sie alle in den polizeilichen Befragungen den Hergang des Unglücks übereinstimmend beschrieben hatten, bestätigt, dass zu Weihnachten 1996 die größte Tragödie der Mittelmeerschifffahrt seit 1945 stattgefunden hat. Nur in Griechenland, das damals noch nicht auf Kurs der Schengen-Politik gebracht war, wagt es ein Staatsanwalt, eine Klage wegen Massenmords zu erheben. Die zweite Schiffstragödie passiert am vierten Tag der italienischen militärischen Adriablockade im März 1997. Am 28. März rammt um 19 Uhr das italienische Kriegsschiff ”Sibilla” das albanische Flüchtlingsschiff ”Kater i Rades” im Kanal von Otranto, 35 Kilometer vor der italienischen Küste. 110 Flüchtlinge, vor allem Frauen und Kleinkinder, sind an Bord. Fast alle ertrinken, nur 16 Personen werden gerettet, die in den folgenden Jahren zusammen mit den Verwandten der Ertrunkenen einen Prozess gegen die verantwortlichen Militärs anstrengen. Das Verfahren wird über Gebühr in die Länge gestreckt, der wichtigste Anwalt stirbt vor einem wichtigen Termin auf mysteriöse Weise, schließlich verläuft die Initiative im Sand. Sprecher Matthias Ponnier Die Regierung Berlusconi hatte noch mit dem libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi vor dessen Entmachtung eine Vereinbarung getroffen, die Flüchtlinge wieder zurück zu nehmen. Auch mit anderen afrikanischen Staaten wie Marokko, Algerien, Tunesien, Ägypten und zuletzt mit der Türkei hat Europa in der Folge ähnliche Vereinbarungen getroffen. Da die internationale Zusammenarbeit in der Überwachung im Mittelmeer ausgebaut wird, verschwindet das Phänomen der großen Flüchtlingsschiffe. Der Schmuggel nutzt seine eigenen Transportmittel. Die kleinen Fischer Nordafrikas werfen ihre Netze nach wie vor zumeist jenseits der staatlich kontrollierten Schifffahrt aus. Zum Know-how der Fischerdörfer gehört, wie man Holzboote selber baut. Die Boote, mit denen Flüchtlinge übersetzen, stammen häufig aus den Restbeständen der lokalen Fischerei. Für Helmut Dietrich macht es darum nicht viel Sinn, hier von transnationaler Organisierter Kriminalität zu sprechen. Doch auf den kleinen Schiffen, die nur für die Überquerung von Buchten und Meerengen taugen, vergrößert sich für die Reisenden die Lebensgefahr. Auch der so genannte „Arabische Frühling“ verstärkt die Migration. Ausgelöst von der Selbstverbrennung eines tunesischen Straßenhändlers sprang der sein revolutionärer Funke über das Mittelmeer auf Spaniens Empörte und Griechenlands Verzweifelte über, wie es die Journalisten Andrea Di Nicola und Giampaolo Musumeci in ihrem Buch „Bekenntnisse eines Menschenhändlers“ beschreiben: Zitator Volker Risch: Di Nicola / Musumeci, Bekenntnisse eines Menschenhändlers Schon früh haben Schiffe von Tunesien aus nach Lampedusa abgelegt: Die Insel liegt ja direkt gegenüber, zum Greifen nah. Doch dann, während der Jasminrevolution von 2010 / 2011 reißen die Flüchtlingswellen nicht mehr ab. An manchen Februartagen in jenem Jahr kommen dort Tausende Verzweifelte an. Tunesien „spuckt“ Flüchtlinge aus. In Libyen legen zwar auch Schiffe ab, aber die beliebtesten Abfahrtsorte bleiben Sfax, Kerkenna, Zarzis und Djerba. Unser Schleuser will uns die Strecke nach Lampedusa zeigen. Wir gehen mit ihm und seinem Adjutanten an Bord. Emir besitzt einen Fischkutter mit 30 PS Motor. Die Insel liegt vierundsechzig Seemeilen entfernt, bei ruhiger See erreicht man sie in zehn Stunden. Es ist acht Uhr in der Früh, vor dem Ablegen kaufen wir noch schnell Baguette, Thunfisch in Dosen, Wasser und Zigaretten ein. Drei Stunden später sind wir schon auf dem offenen Meer. Emir ist nun in seinem Reich, seine Zunge löst sich, er hat Lust zu reden. Er erzählt von haushohen Wellen weiter draußen, in internationalen Gewässern, von Kunden, die heulen und kotzen. Keiner der Kunden traut dem anderen, sie streiten und bedrohen sich. Die Schwarzafrikaner sind die Ruhigsten, schüchtern, still. Sein Finger geht zum Horizont: ‚Da ist Lampedusa.’ Sprecher Matthias Ponnier Das Boot, das am Morgen des 3. Oktober 2013 auf Lampedusa zusteuert, ist wie eine lebende Landkarte, die die Kriege und Krisen des Nahen Ostens und Afrikas abbildet. Es ist vollgepfercht mit Syrern, Somaliern, Eritreern – Menschen, die sich aufgemacht haben in Richtung eines Kontinents, der seit 1945 in weiten Teilen keinen Krieg mehr kennt und darüber offenbar vergessen hat, was Flucht für Menschen bedeutet. Bald schon geht auf der Fahrt der Name der Insel dort vorne von Mund zu Mund: Lopadusa, Lapadusa, Lipadusa, Lipidusa, Lopadosa, in der Hoffnung, dass dort ihre schreckliche Odyssee bald ein Ende haben wird. O-Ton 25 Ulrich Ladurner 13:40 Es war der 3. Oktober 2013. Damals ist ein Boot kurz vor Lampedusa gesunken, mit knapp vierhundert Toten. Zu dem Zeitpunkt war das die größte Anzahl von Toten die man je hatte, das hat tagelang die Presse dominiert. ... Es war früh morgens, 4 oder 5 Uhr, sie waren sehr nah an der Küste, sie haben die Lichter gesehen des Dorfes Lampedusa, es hat ja nur 5000 Einwohner, und irgendjemand hat dann auf dem Schiff ein Feuer entzündet in dem Gedanken jetzt würde jemand kommen und sie retten. Das Feuer hat dann um sich gegriffen, die Leute sind in Panik ausgebrochen, und das Schiff ist gesunken und sie sind ertrunken. Filmatmo Lampemusa: La tempesta https://www.youtube.com/watch?v=8o8D72JaHLo Darüber Sprecher Matthias Ponnier Keiner weiß, wie viele Menschen in den letzten zwanzig Jahren im Mittelmeer ertrunken sind. Schätzungen gehen allein seit der Jahrtausendwende von mindestens Zwanzigtausend aus. Ohne Zweifel ist das Mittelmeer das größte Massengrab Nachkriegseuropas. Bei seinem Aufenthalt auf Lampedusa erzählte ein Fischer dem deutschen Journalisten Ladurner, einmal habe er in seinem Netz eine halb zerfressene Leiche gefunden. Und tatsächlich erlebten auch an jenem 3. Oktober 2013 die Einheimischen Lampedusas, was das Mittelmeer heute in seinen Untiefen bereithält – und wie der Traum von seinen wogenden Wellen in einen Alptraum umschlagen kann. O-Ton 26 Ulrich Ladurner 14:55 Frau Miliosini, eine Frau, die auf Lampedusa einen Souvenirladen betreibt, die ist mit ihren Freunden nachts im Segelboot rausgefahren, um die Nacht unter dem Sternenhimmel zu verbringen. Und plötzlich, erzählte sie, hat sie morgens Schreie gehört, und ihr Freund sagte: das sind nur die Möwen. Und dann haben sie gesehen, dass ihr Schiff umgeben war von Ertrinkenden, und sie haben dann noch über 40 Leute aus dem Wasser ziehen können, aber nicht mehr, um nicht selber unterzugehen. Frau Melosini ist dann, das war sehr eindrücklich, gleich nachdem sie in Lampedusa angekommen war, vom Fernsehen interviewt worden, sie stand offenbar noch ganz unter dem Eindruck dieses Ereignisses und offenbar auch unter Schock, und sie sagte: „Es ist genug, basta, basta, basta – das kann nicht mehr so weitergehen.“ Die traurige Wahrheit ist: Es ist so weitergegangen und es wird so weitergehen. Im Buch habe ich die Tatsache aufgenommen, dass Frau Melosini diesen Souvenirladen hat, der heißt „Dinge des Meeres“, also mit Gegenständen, die sie aus dem Meer fischt, und wenn man denkt, dass Frau Melosini Menschen aus dem Meer gefischt hat, dann ist das doch sehr, wie soll ich sagen, berührend. Musikeinspielung 15 Jordi Savall, Mare Nostrum, Shar Petach Dodi Sprecher Matthias Ponnier Lampedusa ist heute ein touristischer Ort: der Kaninchenstrand, der längste Sandstrand der Insel, gerade einmal 200 Meter vom Ort der Tragödie entfernt, wurde auf Tausenden von Postkarten vervielfältigt. Wäre da nicht eine Abneigung der Lampedusianer zu verstehen, wo sie um ihre Einkünfte durch den Tourismus fürchten müssen? Stattdessen hört man von Demonstrationen, auf denen die Inselbewohner für die Migranten eintreten, von Szenen der Verbrüderung. Ein wenig so wie in dem Film „Terraferma“ des italienischen Regisseurs Emanuele Crialese, wo sich die Fischer einer kleinen italienischen Mittelmeerinsel versammeln und beschließen, gegen ihre Regierung zu opponieren, die Flüchtlinge kriminalisiert und auch die Flüchtlingshilfe unter Strafe stellt. Denn sie sind überzeugt: Flüchtlinge sind unter allen Umständen aus Seenot zu retten, so ist das altangestammte Gesetz des Meeres. O-Ton 27 Ulrich Ladurner 22:50 Sie haben nie abweisend reagiert auf die Fremden. Es gab nie rassistische Ausfälle. Man muss auch wissen, dass die Lampedusaner sich verstehen als Meeresbewohner. Und sie selber haben auch eine Migrationsgeschichte. Als Lampedusa besiedelt wurde im späten 19. Jahrhundert, da gab es Hunger auf der Insel, da gab es – man staunt – eine Migration aus Lampedusa nach Nordafrika. Und es gibt in Tunesien und Libyen Gemeinschaften, die sich auf eine Auswanderung aus Lampedusa zurückführen. Zitatorin Nicole Engeln Ich bin die neue Bürgermeisterin der Insel Lampedusa. Im Mai bin ich gewählt worden, am 21. November sind mir bereits 21 Leichen übergeben worden. Diese Menschen sind ertrunken, als sie versuchten, Lampedusa zu erreichen. Das ist für mich unerträglich. Für Lampedusa ist es eine immense Bürde und ein Schmerz. Wir hatten für diese armen Seelen keinen Platz mehr auf unserem Friedhof. Wie groß soll der Friedhof meiner Insel noch werden? O-Ton 28 Ulrich Ladurner 12:25 Die Bürgermeisterin Nicolini hat einen offenen Brief geschrieben, schon im Jahr 2011, wo sie genau das sagte: Ich nehme heute wieder Särge in Empfang, es wird weitergehen und ich weiß nicht mehr, wo ich sie begraben soll. Das war ein Aufschrei, und die Position fand ich immer interessant, weil sie immer gesagt hat: Wir haben es hier nicht mit einem Ausnahmezustand zu tun, das wird nicht vorbei gehen. Sie hat Recht behalten. Sprecher Matthias Ponnier Viele der Berichte über die „Neuen Boat-People“ im Mittelmeer klingen wie Frontmeldungen aus einem nichterklärten Krieg. 2004 wurde „Frontex“ gegründet, eine europäische Grenzagentur aus modernen Schiffen, Hubschraubern und Überwachungstechnik. Auf Lampedusa gibt es neben einer Bevölkerung von knapp 6000 Personen mindestens 1000 Sicherheitskräfte. Doch die zentrale Aufgabe dieser Grenzwächter Europas besteht – selbst in vergleichsweise menschenfreundlichen Programmen wie „mare nostrum“ – im Grenzschutz. So geht das Sterben im Mittelmeer weiter – ein himmelschreiendes Faktum, mit dem zu leben man sich in Europa aber anscheinend gewöhnt hat, als wäre der Tod eben das Schicksal vieler Migranten, gewissermaßen ihr „Berufsrisiko“. Zitatorin Nicole Engeln Ich kann nicht begreifen, wie eine solche Tragödie als normal hingenommen wird. Ich bin empört über die Gewöhnung, die alle erfasst zu haben scheint. Wie kann man aus unserem Alltag die Wahrheit verdrängen, dass vergangenen Samstag wieder elf Menschen starben, darunter Mädchen und Jungen. Ich bin empört über das Schwiegen Europas, das soeben den Friedensnobelpreis erhalten hat. Alle sollen wissen, dass Lampedusa, seine Einwohner und alle Menschen, die für die Rettung und Aufnahme zuständig sind, die Würde der Flüchtlinge bewahren. Sie sind es, die unser Land und Europa die Würde geben. Ich will für jeden dieser Toten ein Beileidstelegramm erhalten. Ganz so, als hätte er eine weiße Haut, als wäre es eines unserer eigenen Kinder, das während eines Urlaubs ertrunken ist. O-Ton 29 Ulrich Ladurner 26:00 Ich weise darauf hin, dass diese Toten, die man begraben konnte, gefunden hat im Meer, die sind begraben im Friedhof der Lampedusaner, mitten unter den Lampedusanern, und das finde ich eigentlich ein Statement dieser Insel, die sagt: die kennen wir nicht, die kommen vielleicht aus Zentralafrika oder Marokko, wir wissen es nicht, aber sie sind hier gestorben und ertrunken und sind damit Teil unserer Geschichte. Das ist mir wichtig zu sagen auch im Hinblick auf die Masseneinwanderung: Das ist Teil unserer Geschichte. Die Leute sind schon bei uns begraben. Das ist Teil von uns und damit müssen wir uns beschäftigen. Musikeinspielung 16 Giacomo Sferlazzo Una conclusione non c'è https://www.youtube.com/watch?v=0ej930acS1I Sprecher Matthias Ponnier Wer gibt diesen Toten ihre Geschichte zurück, ihren Namen? Nicht erst das „Zentrum für politische Schönheit“ wies mit seinen spektakulären Begräbnis-Aktionen im Regierungsviertel von Berlin auf das Massensterben im Mittelmeer hin; schon 1998 gab es italienische Gruppen, die das Thema der toten Boat People aufgriffen. Auch das Künstler-Kollektiv „Askavusa“ auf Lampedusa stellt sich selbst – und damit ganz Europa – schon jahrelang die Frage, wie mit dem Unerträglichen dieses ständigen Sterbens im Mittelmeer umzugehen wäre. Die anarchistischen Aktivisten sammeln Erinnerungsstücke der Migranten – einen Schuh, ein Familienfoto, eine Musikkassette, einen Koran, dann wieder eine Bibel, um zu verhindern, dass die Lebensgeschichten der Migranten in den Tiefen des Mittelmeers und damit in der Vergessenheit versinken. So der Gründer des Kollektivs, der 35-jährige Künstler und Sänger Giacomo Sferlazzo. Sferlazzo sucht den Dialog mit den in Lampedusa geretteten Migranten. Und will verhindern, dass die Schiffswracks, die an seinen Küsten angespült werden, alle eingestampft werden – wozu sich die Bürgermeisterin Giusi Nicolini gezwungen sieht. Sferlazzo wurde selbst auf Lampedusa geboren, und die Insel hat für ihn immer etwas Magisches gehabt, „alles rundherum ist Meer und Himmel, als befinde man sich in der Unendlichkeit“, sagt er. Mit 12 Jahren sah Sferlazzo dann zum ersten Mal vom Strand aus ein Flüchtlingsboot in Seenot. Wenn er heute in Italien seine Konzerte gibt und in der Tradition italienischer Barden seine melancholischen Lieder von Freiheit und Liebe vorträgt, dann singt er von der Schönheit des Mittelmeers, aber auch von diesen Abgründen. O-Ton 30 Ulrich Ladurner 28:05 Niemand will, dass Leute im Mittelmeer ertrinken. Ich auch nicht. Und ich würde alles dafür tun, dass es nicht geschieht. Aber das nicht zu wollen bis zu einer guten Politik ist ein weiter Weg. Und den Weg müssen wir erst einmal beschreiten. Sprecher Matthias Ponnier Am Ende seines Buches nimmt Ladurner einen Perspektivwechsel vor: von der Zinne der Festungsmauer Lampedusas richtet sich sein Blick wie mit einem Kameraschwenk plötzlich nach Norden. Und was er da sieht, sind nicht die angeblichen „Invasoren“ Afrikas, sondern ein dekadentes Rom, das – während es den Migranten räuberische Absichten unterstellt – sich selbst alles erlaubt. Wie in der so genannten Bunga-Bunga Affäre, in der sich der ehemalige italienische Staatschef Silvio Berlusconi Liebesdienste gekauft haben soll von einer minderjährigen Marokkanerin namens „Ruby“. Zitator Volker Risch Wenn man also von der Festungszinne Lampedusa ins Innere blickt, sieht man, dass die Zentren der Macht bevölkert sind von eigensüchtigen, rechthaberischen, kleinmütigen und kaltherzigen Figuren, und das die Bevölkerung durch das jahrelang eingeträufelte Gift erstarrt ist in ihrer Abwehrhaltung. Wie sehr das alles meinen Blick auf das Meer verändert hat! Ich nehme das flirrende Farbenspiel am Horizont nicht wahr. Ich lasse mich nicht vom Anblick des schäumenden Meeres verführen. Nein, das Meer, die Wellen, der Wind, der Horizont, alles wird beherrscht von der Frage: Ist da draußen ein Boot, vollgestopft mit Menschen? Sprecher Matthias Ponnier Europa ist heute von einem schrecklichen "Burggraben" umgeben, in dem die Toten treiben. Was wird da aus dem Mittelmeer als einer idealen Gegenwelt? Was geschieht mit den Stränden des Mittelmeers, an dem sich die Touristen tummeln, mit diesem Idyll, wo die Aussteiger auf Zeit ihren Eskapismus vom Alltag praktizieren, wenn der Blick auf den Horizont überlagert wird mit einer ganz anderen, grausamen Wirklichkeit? O-Ton 31 Ulrich Ladurner 17:45 Ich bin ja auch aufgewachsen mit dem Sehnsuchtsort Mittelmeer. Wenn man in den Urlaub fuhr, fuhr man an das Mittelmeer. Wir fuhren eher an die Adria. Ich habe ja auch Geschichte studiert, und das Mittelmeer war für mich immer auch ein Kampfplatz. Ob das jetzt die Römer waren oder die Punier. Es war für mich immer auch ein umkämpfter Platz, es war immer auch ein Friedhof. Ich glaube, im öffentlichen Bewusstsein ist das vergessen worden. Heute haben wir es nicht mit einem Krieg zu tun, heute haben wir es mit einer Migration zu tun. Und die Leute ertrinken einfach auf dem Weg nach Europa, und das ist etwas, was wir schwer fassen können. Wir haben den Abschied vom Sehnsuchtsort Mittelmeer. Ich glaube, das ist neu. Das kennen wir so nicht. Die Europäer haben die größte Mühe, damit zurecht zu kommen. Weil man nicht weiß, wie man es einordnen, wie man damit umgehen soll. Die Leute ersaufen jeden Tag vor den Küsten deines Landes. Das übt natürlich auch einen großen psychischen Druck aus. Insofern verschwindet das Mittelmeer als Sehnsuchtsort. 21:00 Man hat die Idylle, und man hat den Tod, man hat die Idylle, und man hat den Schrecken. O-Ton 32 Markus Messling 50:10 Ich würde sagen: Es überlagern sich eben Realitäten. Das ist wirklich zur Kenntnis zu nehmen. Gleichzeitig findet der Tourismus ja noch statt, auch jetzt in der Krise. Die Leute suchen die Sonne, beschreiben die selbe romantische Bewegung ... im Grunde doch eine Lebensfülle zu suchen. 51:10 Daraus resultiert eine Haltung, die uns ja auch im Transmed-Projekt interessiert hat, die nicht mehr einfach von einer bestimmten Betrachtung des Mittelmeers ausgehen kann, sondern man muss von der Lebensrealität des Mittelmeers selber ausgehen. O-Ton 33 Markus Messling 51:35 Wir haben ja auch mit der Transmed Gruppe diesen Schock selbst erlebt. Wir hatten eine Tagung in Tunis, vor drei Jahren glaube ich, war das, da saßen wir zusammen und diskutierten mit Kollegen aus Tunis verschiedene Probleme des arabischen Frühlings. Und dann kam die Nachricht von dem Tod und Ertrinken Hunderter Flüchtlinge vor Lampedusa, und diese Flüchtlingskatastrophe war für uns eigentlich nochmal ein Moment des Zusammenfindens, fast der Solidarität innerhalb der Gruppe. O-Ton 34 Markus Messling 52:30 Wir haben damals einen offenen Brief geschrieben, an die deutsche und französische Regierung, auch an die europäischen Institutionen, mit welcher Wirkung auch immer, aber es war für uns ein Moment zu sagen: Jetzt müssen wir Lampedusa als Emblem nehmen, dass eine Betrachtung des Mittelmeers nicht mehr unter romantischen oder idealistischen Gesichtspunkten. Sondern wir müssen dieses Sterben der Leute in den Mittelpunkt rücken und handeln. Wo wir eigentlich der Argumentation folgen: So wie wir hier als Forscher durch den Mittelmeerraum reisen können, so muss das eigentlich für viele Menschen möglich sein. Musikeinspielung 17 FARD - "MITTELLOS AUF DEM MITTELMEER" Sprecher Matthias Ponnier Auch einen anderen eigenen Menschenschlag sollte man nicht vergessen, der auf dem Mittelmeer zu Hause ist: die Schleuser, die die Journalisten Di Nicola und Musumeci in ihrem Buch „Bekenntnisse eines Menschenhändlers“ beschreiben. Menschen wie Aleksandr, ein Ukrainer, der in Wladiwostok die Marineschule besucht und später in Japan gearbeitet hat. Der dann von einer der großen Schleuserbanden kontaktiert wird, eine Art „Vorstellungsgespräch“ absolvieren muss und endlich die Flugtickets und das Geld erhält, um sich ein Schlauchboot zu besorgen – ohne seine Auftraggeber je zu sehen. Zitator Volker Risch: Di Nicola und Musumeci, „Bekenntnisse eines Menschenhändlers“ Obwohl ich mich auf dem Meer unglaublich frei fühle, bin ich eigentlich ihre Geisel. Sie sagen mir: wenn du nicht einunddreißig Leute mitnimmst, hast du ein echtes Problem. Die Koordinaten die sie mir geben führen mich an eine felsige Küste. Kein Dorf, kein Hafen, kein gar nichts. Ein guter Schleuser braucht ein gutes Ohr, man muss dem Meer lauschen. Wenn man nachts fischt, machen die Schwärme nämlich Geräusche, so weiß man, wo das Meer flach ist. Ich fahre näher heran, klebe fast an der Klippe, berühre schon den Felsen. Da kommen die Bastarde an Bord, wie Billardkugeln kullern sie blitzschnell unter Deck. Tum, tum, tum“ sie wollen nach Sizilien, aber ich nehme Kurs auf Apulien. Sprecher Matthias Ponnier Viel eher als die Migranten wären die Schleuser dem Odysseus zu vergleichen, einem modernen Trickser, dem es statt mit dem trojanischen Pferd mit ausgehöhlten Armaturenbrettern gelingt, in die Festung Europa vorzudringen. Der immer wieder flexibel und listenreich auf alle Maßnahmen der Grenzschutzes aus Mauern, Patrouillen und versperrten Routen reagiert, um sich im Netzwerk der Schleuserbanden aus Telefonshops und Reisebüros, Vertrauensleuten und Ehrenwort blitzschnell neu zu strukturieren. Schleuser sind nicht eigentlich Menschenhändler, aber Menschenschmuggler. Erfahrene Seeleute auch sie. Wie der georgische Skipper Giorgi Dvali, der Flüchtlinge mit Jachten übersetzt. Eine erfolgreiche Geschäftsidee der Firma Argolis Yacht LTd, die unter griechischer Flagge an der türkischen Küste Mittelmeerkreuzfahrten organisiert. Zitator Volker Risch: Di Nicola und Musumeci, „Bekenntnisse eines Menschenhändlers“ Angeblich sollen seine nächsten Kunden eine amerikanische Familie aus Seattle sein, ein Ehepaar mit zwei erwachsenen Kindern, die ein paar Wochen zwischen der türkischen Küste und den griechischen Inseln herumschippern wollen, um eine mavi yolculuk, eine „blaue Reise“ machen. Wie hunderte solcher Segeljachten, die von April bis September zwischen Antalya und Korfu kreuzen: Segeltörns, die in Izmir oder Tekirdag ablegen und mit acht Knoten / fünfzehn Kilometern übers Meer tuckern, fernab von überfüllten Stränden, Tourismus für Auserwählte. Sprecher Matthias Ponnier Als Beamte der Küstenwache von Porto Selvaggio an der apulischen Küste eine Routinekontrolle vornehmen, weil das Boot einen größeren Tiefgang hat als normal, da schlägt ihnen unter Deck scharfer Schweißgestank entgegen: Vierzig afghanische Männer zwischen sechzehn und zweiunddreißig Jahren drängen sich dort, 4000 Euro haben sie pro Kopf für die Überfahrt bezahlt, gekommen über Istanbul, den größten Verschiebebahnhof für Flüchtlinge aus aller Welt. Hinter manchen dieser Schiffe, die in Lampedusa, Agrigent oder Crotone anlegen, wie auch hinter jedem LKW aus Griechenland, der in Bari von der Fähre rollt, steht eines der weltweit einträglichsten Geschäfte. Wo früher die albanischen Mafia den Schmuggel von Zigaretten und Drogen kontrollierte, verlegten sich erst kroatische, dann griechische und türkische, afghanische und iranische Schleuserbanden auf den Menschenschmuggel. Laut einem aktuellen Bericht der Vereinten Nationen erwirtschaften allein die Schleuserringe, die Flüchtlinge von Afrika nach Europa bringen, heute einen geschätzten Jahresgewinn von 150 Millionen Dollar. Schleuserbanden sind heute die erbarmungslosesten Reiseveranstalter der Welt. Wenn ein LKW sich in der Wüste verirrt, mit Flüchtlingen, die schon gezahlt haben: wen sollte es kümmern? Und wenn ein Schiff mit 31 Menschen absäuft, die ihr „Ticket“ schon gelöst haben: Wen interessiert das? In den Jahren vor 2015, als die mittelmeerische Migration ihren einstweiligen Höhepunkt erreichte, hat die griechische Insel Lesbos Italiens südlichster Insel den Rang abgelaufen. Heute, da die Flüchtlingsrouten über die östliche Ägäis durch das deutsch-türkische Flüchtlingsabkommen blockiert ist, kommen die Menschen wieder verstärkt über Lampedusa. Und wieder wird die Fahrt ins gelobte Land Europa für Tausende von ihnen zur „Jenseitsfahrt“. Für die französisch-algerische Kulturwissenschaftlerin Nora Lafi, ebenfalls Teil des Transmed-Teams, wird Lampedusa damit zur Nagelprobe für Europa, einen Kontinent, der sich als Geburtsstätte und Hort der humanistischen Tradition versteht. Vielmehr werde, so Lafi, mit dem Versuch, Europas Grenzen in den Süden zu verschieben, um die Migration aus Afrika in Richtung Norden zu stoppen, genau dieses europäische Selbstverständnis ad absurdum geführt. Es braucht nicht unbedingt eine neue, populistische Rechte Europas, die fordert, die Migranten auf Inseln zu „konzentrieren“. Hier, im Mittelmeer, gelangt die für europäische Bürger so zentrale Ideologie der Bewegungsfreiheit insgesamt an ihre „Grenze“. Zitatorin Nicole Engeln Seit mindestsens zwei Jahrzehnten stößt sich Europa an der Frage, wo es zu Ende ist, und welche Beziehung Europa haben möchte zu dem, was es nicht mehr als sich selbst ansieht. Bei solchen Fragestellungen steht der Mittelmeerraum immer wieder im Zentrum der Debatte. Der spektakulärste Aspekt dieser Krise im Selbstverständnis betrifft selbstverständlich die Migrationspolitik. Vom Bau einer veritablen Mauer an der stark befestigten balkanischen Grenze mit Griechenland und Bulgarien auf der einen und der Türkei auf der anderen Seite, wo tausende Iraker, Afghanen, Palästinenser und Syrer unter Lebensgefahr stranden, nachdem sie vor der Destabilisierung ihrer Länder geflohen sind, zu der Europa maßgeblich beigetragen hat, bis zur Situation an der maritimen Grenze in der Straße von Sizilien, wo zwischen der libyschen Küste, Kap Bon und der Insel Lampedusa jedes Jahr tausende Migranten verenden, darunter zahlreiche Jugendliche, Frauen und Kinder, erscheint Europa als eine gleichzeitig anziehende und abschreckende Festung. Die Dichotomie eines Schengen- Europas ohne Grenzen im Innern, aber mit befestigten Grenzen nach außen, ist fast schon schizophren. Man kann sogar noch weiter gehen und sagen, dass in der Idee der europäischen Zivilisation, so wie sie im 19. Jahrhundert entwickelt wurde, eine Art Drang zur ethnischen Säuberung begründet liegt. Am Ende müsste jedes Volk idealerweise mit einem Territorium übereinstimmen. Um das zu erreichen, hat man Griechen, Türken, Bulgaren und Juden, Serben und Albaner umgesiedelt. Die Hochphase der Nationalstaaten war auch die der Negation der Vielfalt und Pluralität. Insofern besitzt die europäische Geschichte auch ihre Vergessenen, namentlich die Roma, die nie ihren Platz in diesem Mosaik gefunden haben, und die Juden, die zwischen dem 15. und 20. Jahrhundert zu Hunderttausenden vor religiöser Verfolgung flohen, von der iberischen Halbinsel nach Algier, Tunis, Tripolis oder Saloniki, aus Frankreich oder Italien nach Jerusalem oder Alexandria. Musikeinspielung 18 Mare Nostrum, LaMoledet Shuvi Roni Zitatorin Nicole Engeln An allen Brennpunkten in seinen Randgebieten von Libyen nach Syrien agiert Europa nach Modalitäten, die verwickelter sind als allgemein zugegeben wird. Das Bild ist um vieles komplexer als das eines Ensembles von universellen Werten auf der einen Seite und von Orten auf der anderen Seite, die dahin gebracht werden müssen, diese Werte empfangen und anwenden zu können. Das Mittelmeer muss anders gedacht werden denn als Pufferzone, die den Kontinent vor migratorischen Anstürmen schützt. Was die maritime Grenze der Straße von Sizilien, diesen Ort endloser Tragödien betrifft: Diese Dimension muss neu gedacht werden. Den Opfern dieser Konzeption muss eine andere Art von Beziehung angeboten werden. Musikeinspielung 18 Mare Nostrum, LaMoledet Shuvi Roni 3. Stunde Musikeinspielung 19 Mikroutsikos, Oi efta nanoi Zitator Christoph Wittelsbürger: Predrag Matvejevic Wir alle wenden uns Griechenland zu, jeder hält es für seine Heimat, aber keinem gehört es. Es liegt nicht nur am Meer, es nennt auch Gebirge mit schneebedeckten Gipfeln sein eigen. Das Meer umspült seine Gestade, dringt in sie ein, doch nicht überall gleich tief. Weder Meer noch Ufer haben sich verändert, die Inseln sind noch immer am selben Platz, dort, wo sie zur Zeit der Antike waren. Die Farbe des Himmels ist wie einst und doch: die Vergangenheit kehrt nicht wieder, sie wiederholt sich nicht: Griechenland und die Magna Graecia habe sich lange getrennt, Byzanz und das westliche Reich fanden sich nicht wieder. Tiefe, schmerzhafte Brüche, wobei die Verluste zu Lande von jenen auf dem Meer überboten werden, ihre Armut auf den Inseln war noch bitterer als auf dem Festland. Die Griechen blieben zu Hause und waren unzufrieden, oder sie verließen ihr Land und hatten Heimweh. Das Wort Nostalgie ist zutiefst griechisch. Das Schicksal des Mediterran verfließt mit dem Schicksal Griechenlands. Sprecher Matthias Ponnier Die Griechen und ihr Meer: das ist eine lange Geschichte. Griechen, das waren einmal die Schwammtaucher von Kalymnos, die Aussätzigen von Spinalonga, die sephardischen Hafenarbeiter von Saloniki. Jahrhundertelang erfand die griechische Literatur Wundergeschichten von jenen, die das Meer erfuhren: von rachsüchtigen Galionsfiguren, die die Wellen teilen, als würden sie auf dem Sarg ihres toten Kapitäns reiten; oder von Schiffbrüchigen, die auf wundersame Weise bis an ihr heimatliches Gestade treiben. O-Ton 35 Gunter Gebauer 0:15 Bei mir war’s in erster Linie die Geschichte des Odysseus. Das ist der Held meiner Kindheit. ... 1:00 Dieser schlaue Odysseus. Und dann diese Irrfahrten des Odysseus. Das waren Dinge, die mich immer fasziniert haben. Und in diesem Projekt habe ich diese Faszination wiederbelebt. Sprecher Matthias Ponnier Gunter Gebauer war ebenfalls ein Teil des Transmed-Projekts von Franck Hofmann und Markus Messling. Mit ihnen gemeinsam machte der Philosoph sich auf die Reise, der Mediterranee nachzuspüren. O-Ton 36 Gunter Gebauer 17:20 Odysseus ist in dem Sinne Erfinder des Mittelmeeres, als er das Meer zum ersten Mal in seiner Weite erforscht und durchquert und auch die Geschichten sammelt. O-Ton 37 Gunter Gebauer 5:00 Wenn man sich die Odyssee vergegenwärtigt als großen Wurf des Losfahrens, des Herumirrens und wieder Ankommens, ist das ja eine Art Rundfahrt. Das ist faszinierend und modellgebend für die europäische Literatur, vielleicht sogar bis heute, insofern als jemand aufbricht von zu Hause, Abenteuer erlebt, im Laufe der Zeit reift, und dann wieder nach Hause zurück kehrt, mit einer Geschichte, die sich inzwischen rund um das Mittelmeer verbreitet hat. Sprecher Matthias Ponnier In der von der Allgegenwart der Ägäis geprägten Welt der Griechen war es leicht und natürlich, zur See zu fahren. Als mobile Gesellschaften begannen griechische Stadtstaaten früh damit, Kontakte zu anderen Ufern zu knüpfen. Erst von Euböa aus, das 750 v. Chr. bis nach Frankreich vorstieß, um in Marseille einen Handelsposten zu errichten, später war es Korinth, das den Mittelmeerraum in alle Himmelsrichtungen durchmaß, und im 5. vorchristlichen Jahrhundert dann Athen. Es ist dieser „erweiterte Horizont“, der dem Dichter von Ilias und Odyssee vor Augen stand. Zitator Volker Risch Erzähle mir, Muse, von dem Mann der vielen Wege, der so oft // in die Fremde verschlagen wurde, nachdem er Troias heilige Festung geplündert hatte; // die Städte vieler Menschen sah er und lernte ihre Denkart kennen, // auch litt er viele Schmerzen auf dem Meer in seinem Sinn, // da er sein Leben und die Heimkehr seine Gefährten retten wollte. Sprecher Matthias Ponnier Die Odyssee hebt an mit einer Anrufung der Kalliope, der Muse des Epos. Odysseus sitzt fest, gehalten von der Nymphe Kalypso, sieben Jahre als Gefangener ihrer Liebe, unterstützt von Poseidon, der die Heimkehr des Helden behindert, weil der seinen Sohn, den Kyklopen Polyphem geblendet hat. Odysseus sitzt am Ufer des Meeres und der Held des Trojanischen Krieges weint vor Heimweh. Bis er Kalypso leid tut, die ihn instruiert, sich ein Floss zu bauen. Der Dichter beschreibt im Detail, wie Odysseus mit einer zweischneidigen Bronzeaxt zwölf hohle Bäume fällt, sie nach einer Schnur glättet, mit Bohrern durchstößt, mit Bolzen und Klammern zusammensetzt und am Ende mit Weidenruten verstärkt, um den Wellengang abzuhalten. Kalypso bringt Tücher zum Segelmachen, und sie rüstet ihn aus mit Brot, Wasser, Wein und günstigen Winden, „harmlos und sanft“. Zitator Volker Risch Herrin, Göttin, sei mir deswegen nicht böse! Ich weiß doch selbst /// alles ganz genau, weswegen die kluge Penelope // an Aussehen und Größe unansehnlicher wirken muss als du - // trotzdem, auch so wünsche und verlange ich Tag für Tag // nach Hause zu kommen und den Tag der Heimkehr zu sehen. // Selbst wenn mich jetzt irgendein Gott auf dem weinfarbenen Meer zerschmettert, // will ich’s ertragen. Sprecher Matthias Ponnier Odysseus sticht in See und Poseidon wird zornig. Mit seinem Dreizack ballt er Wolken zusammen, rührt das Meer auf. Meeresgöttin Ino rät Odysseus, sich nackt auszuziehen und auf einem einzelnen Balken wie auf einem Pferd zu reiten – was ihm das Leben rettet, als ihn eine turmhohe Welle gegen die Inselklippen der Phäaken schmettert. O-Ton 38 Gunter Gebauer 18:30 Ich habe die Geschichte der Nausikaa, der Königstochter, die am Strand Ball spielt mit ihren Gespielinnen eigentlich immer so gelesen, dass hier die große Rettung naht. Odysseus wird an den Strand gespült, liegt da und ihm fällt der Ball so zu – da gibt es einen Hollywoodfilm, den ich mit 12 gesehen habe, und den ich bis heute nicht vergessen habe, und er steht auf und reicht den Ball der Nausikaa, einer schönen Prinzessin... Einspielung Filmausschnitt „Odysseus“ https://www.youtube.com/watch?v=hj8h9vAD6eo Dienerinnen: „Nausikka was ist denn, gibt doch den Ball weiter. Nausikaa: Seht doch, da liegt ein Mann! Er lebt ja, er lebt. Odysseus: Wo bin ich? Nausikaa: Im Reich des Königs Akinoos, ich bin seine Tochter. Odysseus: Aber wo liegt dieses Land? Nausikaa: Auf der Insel der Phäaken, kennst Du die nicht? Sie liegt nicht weit von Ithaka. Hast Du noch nie von Ithaka gehört? O-Ton 39 Gunter Gebauer 18:30 ... und natürlich ist er sofort gefangen, und wird auch sofort von den Mädchen hofiert, ist der Mittelpunkt der Gesellschaft – das ist die rettende Küste, aber nicht rettend natürlich insofern, als er immer noch an seine Frau denkt und den inneren Auftrag hat: Ich muss wieder nach Hause. Sprecher Matthias Ponnier Odysseus beginnt seinen langen Bericht vor dem Vater Nausikaas, dem König Alkinoos. Von den Inseln der Lotophagen, wo er alles vergessen hat, seinen Namen wie seine Mission. Wie er in den Strudeln von Skylla und Charybdis Schiffbruch erleidet und von den Göttern vor dem Ertrinken bewahrt wird –Homer hat das Mittelmeer um Wundergeschichten erweitert, und Odysseus sein Seemannsgarn von den nach Menschenfleisch hungernden Kyklopen und liebestollen Zauberinnen gesponnen. O-Ton 40 Gunter Gebauer 7:15 Alle diese Geschichten gehören zu den Zaubern der Meere, das ist etwas, was wir in der Seefahrt und der Seefahrerliteratur bis zu Melvilles Moby Dick immer wieder vorfinden: Das große Meer, das unbekannte, das bis dahin noch nicht exploriert war, von dem es noch keine Karten gab, keine Land- oder Seekarten, ausgesetzt in kleinen Schiffen, dem Wind und den Wellen, all dies sind Dinge, die auch eine Erprobungsfahrt des Menschen darstellen. Sprecher Matthias Ponnier Eratosthenes, Leiter der berühmten Bibliothek von Alexandria, Herausgeber der homerischen Gedichte, hielt die Geographie der Odyssee für überwiegend fiktiv. „Den Schauplatz der Irrfahrten des Odysseus wirst du finden, wenn du den Schuster findest, der den Sack für die Winde genäht hat“, meinte er. Dagegen schrieb der griechische Geograph Strabon: „Wie ein Mann umgießt mit feinem Golde das Silber, so hat Homer den tatsächlichen Ereignissen nur die Fabel hinzugefügt – bloß Wunderdinge zu erzählen, ist Homers Sache nicht.“ Noch jüngst hat sich der amerikanische Wissenschaftshistoriker John Freely in seinem Buch „Zurück nach Ithaka“ ins „Kielwasser des Odysseus“ begeben, um in Homers Erzählung Einträge der wirklichen Ägäis-Topographie zu finden: Ist es Zufall, dass Aphrodite, die Schaumgeborene, vor dem brandungsreichen Zypern geboren wurde? Könnte die Ziegeninsel des Kyklopen Polyphem wirklich die tunesischen Insel Chergui gewesen sein, wo Berberstämme sich vor Invasoren in Erdhöhlen versteckten? Dass es zumindest möglich ist, bei Homer Korrespondenzen zu finden zwischen Wirklichkeit und Fiktion, meint auch Gunter Gebauer. O-Ton 41 Gunter Gebauer 3:20 Also bei den Griechen kann man eigentlich immer davon ausgehen, dass die literarischen Denkmäler, die sie hinterlassen haben, sehr welthaltig sind. Es gibt immer irgendwelche Anknüpfungspunkte an die Geschichte. An Kriege, Macht und Vormachtkämpfe. An Techniken, Kampftechniken, ... der Geographie des Mittelmeers, die sich ja in östliches und westliches Mittelmeer differenzieren lässt. Dann sicher auch die Techniken der Seefahrt, die den Schiffen zur Verfügung standen, das Mittelmeer zu überqueren, bei ungünstiger See – das ist ja nun auch ein großes Kunststück. Es gibt unterschiedliche Winde, die jahreszeitlich wehen. In der einen Jahreszeit eher von Osten nach Westen, in der anderen Jahreszeit von Westen nach Osten. Dann gibt es Strömungen im Mittelmeer, die man kennen muss, um zu navigieren. Zitator Volker Risch: Matvejevic, Der Meridian Ob Bora oder Tramuntana, Schirokko oder Levanat - Die Winde waren und sind vielleicht immer noch die unangefochtenen Götter am Mediterran. Es gibt Winde, die sich verändern, je nachdem, ob sie landeinwärts blasen oder ob sie aufs Meer hinaus wehen. Meeresströmungen sind wie große Flüsse, ob sie fließen oder schwimmen ist nicht bekannt, das Meer selbst ist ihr Bett. Nicht selten bestimmt der Wind die Farbe des Meeres. Die starken Winde aus den Bergen entblößen den Meeresgrund und verändern unsere Beziehung zur Tiefe. Doch in der Dramaturgie des Meeres spielen auch die Wellen eine wichtige Rolle. Es gibt Wellen der Flut oder der Ebbe, sie wogen aus der Tiefe oder von der Seite, es gibt Wellen mit Kamm oder ohne. Von der Schiffsbrücke aus gesehen, sind ihre Höhe, Kraft und Richtung am wichtigsten, je nachdem, wo sie an das Schiff schlagen – an die Flanke, den Bug oder das Heck. Das sind die Eigenheiten, die uns hier interessieren: Wie brechen sie sich am Gestade, wie lange dauert die Brandung im Widerschein des Meeres oder vor den Augen der Betrachter? Wie brausen und rieseln sie, wenn sie an die Klippen schlagen? Wie dringen sie in die Träume der Menschen ein? O-Ton 42 Gunter Gebauer 8:40 Das ist ja auch eine ganz eigene Landschaft. Eine Landschaft, die ein Becken darstellt. D.h. wenn man losfährt, kommt man immer auf eine Landküste, egal in welche Richtung man fährt ...17:55 Man bekommt ja eine sehr komplette Geographie des östlichen Mittelmeers, die man auch kartographieren kann und die man auf bestimmte Orte auch zurückführen kann, man kann sie zurückübersetzen in materielle Wirklichkeiten von diesen wundersamen Geschichten. Musikeinspielung 20 Nikos Kavvadias – Federico Garcia Lorca? Sprecher Matthias Ponnier Der Autor Nikos Kavvadias hatte unter seinen zahlreichen Tätowierungen eine Meerjungfrau, die jede Nacht ins Meer sprang und ihn mit Poseidon betrog. Er hat sich immer gefragt, was die Seeleute antreibt, sich den Körper tätowieren zu lassen und was die Landratten, Bücher zu schreiben. Kavvadias hat beides getan. 1910 in der Mandschurei geboren, einige Jahre später mit seiner Familie nach Griechenland zurückgekehrt, legte auf die Gründung einer bürgerlichen Existenz keinen Wert. Stattdessen heuerte er mit kurzen Unterbrechungen bis zu seinem Tod 1975 auf verschiedenen Frachtschiffen an. An Bord irgendwelcher Seelenfänger las er Baudelaire und Federico Garcia Lorca, hier begann er im Geiste des heiligen Genet Gedichte zu schreiben, die heute in Griechenland – von Thanos Mikroutsikos vertont – ‚volkstümlich’ sind. Musikeinspielung 21 Nikos Kavvadias, Yara yara Sprecher Matthias Ponnier In seinem einzigen Roman Vardia / Die Wache von 1954 ist die Pytheas im Chinesischen Meer unterwegs. Die Geschichte dreht sich um den Funker des Schiffes, in dem Kavvadias ein zurückhaltendes Portrait seiner selbst entwirft. In den unendlichen Stunden der Wache erzählen ihm die Seeleute ihr Leben: Der Heizer, der Steuermann, der Funker, alle sind sie Einzelgänger. Doch sonst verschlossen wie ein Grab, fangen sie in der Nacht mit einer diffusen Sehnsucht an zu ‚singen’. Vertrauen sich mit plötzlich aufflackernder Zärtlichkeit einander an. Sprechen über die merkwürdige Berufung zum Seemann, über Jugendsünden und Desillusionierungen, über Gestapo, Haschisch und Syphilis, den „großen Orden“. Zitator Volker Risch: Nikos Kavvadias, Die Wache Die Kammer des Funkers. Niedrige Decke, eine ungemachte Koje. Ein dreckiges Waschbecken, an der Wand ein Tisch, überhäuft mit Büchern, einer chinesischen Tabakdose und verstreuten Zigaretten. Die Wände waren bedeckt von Farbabbildungen aus der Life. Die Konsole über dem Waschbecken beladen mit Arzneimitteln: Opobyl, Karlsbader Salz, Fruit salt und Lodone. „Runter damit!“ „Was?“ Diamantis war verdutzt. „Jetzt mach schon. Wir sind doch alle Männer hier. Bring die Taschenlampe her, damit wir uns das mal ansehen können. Wann warst du das letzte Mal mit n’er Frau zusammen?“ „In Algier, als wir Kohlen gebunkert haben.“ Im trübe flackernden Licht der Lampe schimmerte der Körper des Jungen, von der Hüfte abwärts war er schneeweiß. „Wie alt bist du?“ „Achtzehn ... werd ich bald.“ „Glückwunsch. Sag mal, Diamandis, war es eine Araberin?“ „Ja.“ „Schön?“ „Sehr schön.“ „In nem Bordell?“ „Nein. Ich ging gerade die Stufen zur Kasbah rauf. Da oben, in der Straße des roten Meeres, wollte ich meiner Schwester nen Armreif kaufen. ‚Sema ...Taale’, rief sie mir zu. Ich ging rein. Na ja, war ne schnelle Nummer... Meinst du, das ist was Schlimmes?“ „Ach was.“ Der Funker, mit nacktem Oberkörper, streute Talkumpuder auf den Pickel des jungen Diamandis. „Vom Meer können einem auch die Haare ausfallen, hast du nie davon gehört. Wenn wir erst mal im Hafen sind, brauchst du dir keine Sorgen mehr zu machen, wir gehen zusammen zum Arzt. Und danach gibst du einen aus. Und wenn dir im Traum ein Mädchen erscheint, jag es fort...“ Sprecher Matthias Ponnier Die griechischen Seeleute spinnen ihr Seemannsgarn wie die Erinnyen ihre Schicksalsfäden. Dabei sind es immer wieder die Frauen – Ehefrauen, Mütter, Huren, die ihnen nicht aus dem Kopf gehen. Die erste Geliebte, süß wie Loukoumi. Die Mutter – ach könnte sie ihrem Sohn doch in der schwarzen Fremde wieder die Wäsche waschen; die Prostituierten aus Alexandria, Saloniki und St. Pauli, die sich mit Korinthen bezahlen lassen und den Matrosen manchmal ihre Hemden flicken. Die Männer haben vor nichts Angst, außer vor den Frauen. Ihre Augen sind es, in deren Untiefen sie ertrinken; ihre Haare die Tentakel, die sie in die Tiefe ziehen. Musikeinspielung 22 Thessaloniki II, Nikos Kavvadias Sprecher Matthias Ponnier Vom Schicksal des ungelebten Lebens der Frauen, die die Seeleute zu Hause zurücklassen, hat Ioanna Karystiani in ihrem Buch Die Frauen von Andros erzählt. Die Strohwitwen fühlen sich wie amputiert, wie ausgeschlossen aus dem Leben ihrer Männer, die sie nur alle paar Jahre zu Gesicht bekommen. Die dann heftig die Ehe vollziehen und Nachkommen zeugen, welche die Mütter wiederum allein erziehen. Die Frauen hüten ihre Wunden eifersüchtig und im Verborgenen. Doch unter den Jüngeren, die Stickereien hassen und wie die Schlote rauchen, unter ihnen kann auch Nähe entstehen. Zitatorin Nicole Engeln Sie pilgerten jeden Nachmittag zum Haus der Mourena, höllisches Geschnatter, sie thronten im Wohnzimmer, verschlangen Mürbeteighörnchen, ohne zu kauen, und die Mourena, betrunken von Raki, Mastix und Likörchen, gab Bosheiten und Anzüglichkeiten von sich: Er sagt, ich gehe hin und stecke meine Nase in alle Angelegenheiten der Nachbarn, ich aber sage, er geht hin und steckt sein Ding in alle Häfen der Welt. Sein Schwanz wie ein Mastbaum, dreißig Mann Besatzung gleich sechzig Hoden, und sie denken nur ans Bett. Längs der Küsten umzingeln sie die Ozeane, alles Huren, und die Erzhure ist das Meer selber... – Und die Kinder aus der Nachbarschaft krochen auf allen Vieren heran, verbargen sich hinter dem Mäuerchen, lauschten heimlich und lernten die Glanzlichter auswendig, schon in der Volksschule beherrschten sie diesen Stoff fehlerfrei: das hab ich alles von den Bräuten erfahren. Sprecher Matthias Ponnier Das Schicksal spielt – wie je in griechischen Tragödien – mit den Menschen Schiffe versenken. Die Männer erleiden Schiffbruch, die Frauen nicht minder. Und das Meer, in das all diese Erzählstränge münden, ist alles andere als idyllisch. Viele der Männer wurden von den schwarzen Fischen gefressen. Nun weigern ihre Frauen sich, schwimmen zu gehen oder Meeresfrüchte zu essen. Trennen die Delphinchen aus den Leintüchern ihrer Aussteuer, um die Seefahrtstragödien der Insel darauf zu sticken. Stehen auf den Höhen der Insel und wenden sie sich ab vom unheilverkündenden Blau: Ihr Andros liegt mitten in einem Massengrab. Musikeinspielung 23 Dionyssios Savvopoulos, To Perivoli tou Trellou, Track 3, Thalassografia Sprecher Matthias Ponnier Liest man die großen griechischen Lyriker Kaváfis, Seféris, Rítsos, scheint es, als könne es nicht anders sein: Versuche, das Meer zu beschreiben, werden Gesang. Odysseas Elytis, Literaturnobelpreisträger von 1979, wurde am 2. November 1911 als Odysseas Alepoudhelis geboren, als Lyriker gab er sich selbst den bedeutungsschweren Namen „Elytis“ nach „Ellada“ – Griechenland. Sein Brot hat Elytis Jahrzehntelang als Programmdirektor des Athener Rundfunks verdient, doch seine freie Zeit mochte er nur auf den ägäischen Inseln verbringen. Elytis wurde in Iraklion auf Kreta geboren, seine Familie aber stammte von Lesbos. 1938 hat er seinen Gedichtszyklus „Sporaden“ veröffentlicht, aus den „Kleinen Kykladen“ hat Mikis Theodorakis wunderschöne Lieder gemacht. Auf Paros schreibt Elytis im Sommer 1954 den größten Teil seines epochalen Werkes "Axion Esti" / „Gepriesen sei“ – ein Hauptwerk, das ebenfalls Mikis Theodorakis sinfonisch vertonte. Elytis sah die griechischen Inseln aus dem Wasser gehoben, geschöpft, im Meer blühen wie Lotusblüten. Bewachsen von Olivenbäumen, die „mit ihren Händen das Licht sieben“, auf spärlichem Erdreich, „dass du nicht Wurzeln schlägst“, versorgt mit sehr wenig Wasser, „damit du es achtest wie Gott“: das ist die ägäische Inselwelt, wie sie Elytis noch vor Augen stand. Zitator Volker Risch Das Meer war geschaffen nach meinem Gleichnis. Amphoren der Stille, gekrümmte Delphinrücken. Ios Sikinos Seriphos Milos. Auch jedes Wort eine Schwalbe. ... Auf Berge bin ich gegründet. Meines Volkes Gedächtnis: dein Name ist Pindos dein Name Athos. Die Frauen tragen vor dem Kalkweiß der Inseln wie ein Gewand ihren Schatten. Sprecher Matthias Ponnier Elytis hat sich als einen Erforscher der Helligkeit gesehen, Albert Camus’ Mittelmeeressays liegen damit in direkter Nachbarschaft zu Elytis’ ägäischer Imagination. Oder der britische Schriftsteller Lawrence Durell, der einen Teil seiner Kindheit auf den Ägäisinseln verbrachte, Sizilien, Rhodos, Korfu und Zypern umschiffte und dabei zu jeder Insel Notizen machte. In griechischen Inseldörfern der 50er Jahre gingen noch Wasserträger durch die kleinen Orte, um die Gärten zu bewässern, und Radioapparate spielten den Swing. Regelmäßige Fährverbindungen zum Festland gab es nicht, auch keine touristischen Sonnenschlürfer. Durell gräbt einen alten Begriff aus, den der Isolomania, der “Behexung der Seele“. Isolomanen seien die direkten Nachkommen der Atlantier, und immer sei es das verlorene Atlantis, dass das Unbewusste in jeder Insel wiederzuentdecken hofft. Musikeinspielung 24 Dionyssios Savvopoulos, Thalassa mikri O-Ton 43 Markus Messling 48:10 Das ist eine ganz wichtige Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie in diesem Archipel. Griechenland ist nicht Athen, sondern es ist dieser Inselarchipel, der ganz viele kleine Aufsplitterungen in sich trägt. Sprecher Matthias Ponnier Ihr Name ist Legion, derer, die erregt von der Philosophie des ägäischen Lichts, Gedanken des Mittags und der Schönheit, in leichte Delirien verfielen. Zu ihnen gehört neben Hölderlin und Heidegger, Jean Grenier und Albert Camus auch Roland Barthes. Zitator Volker Risch: Roland Barthes, In Griechenland Griechenland besitzt so viele Inseln, dass man bei keiner weiß, ist sie Mittelpunkt oder Rand eines Archipels. Es ist auch das Land der Wanderinseln: man meint, jene wieder zu erreichen, die man gerade verlassen hat. Ich entsinne mich, wie klein mir alles erschien: bei Delos glaubten wir, an einem Vorfels anzulanden, es war die Insel selbst. Beim Besteigen des Kynthos, einem ausladenden Hügel, so hoch wie der Montmartre, kann das Auge den gesamten Umriss der Insel verfolgen. Zwischen den beiden Lagunen da unten – aus der Höhe kaum sandkastengroß – befand sich der heilige Hafen. Und der nahe Fels dort, den ich erreichen könnte, indem ich ein wenig zu schwimmen vorgebe? Nein, der gehört nicht mehr zu Delos, das ist bereits eine andere Insel, die ihren Namen, ihre Geschichte und andere Kulte besitzt. Dann plötzlich hebe ich die Augen, die Insel gewinnt an Größe. Sie wird zum Mittelpunkt des Kessels der Zykladen, die sich um sie reihen wie blaue Bänder: Naxos, Paros, Andros, Tinos. Hochzeit von Himmel und Erde, und die Insel ist der Mittelpunkt eines lodernden Sonnenbrandes. O-Ton 44 Markus Messling 46:25 Der reist als junger Philosophiestudent mit einer Theatergruppe auf diese griechischen Inseln, und entdeckt dort tatsächlich die Geburtsstunde des Logos, also der ersten ursächlichen Idee der Vernunft, der genauen Begründungsszenerie dieses Rationalismus, und das, was sich jetzt bei Barthes abspielt, ist eigentlich das Interessante: er entdeckt bei einer Bergbesteigung diese Sonne zugleich als ein in den Körper hinein brennendes Element, was sozusagen unmittelbar mit der Entdeckung der Vernunft auch den Schmerz des Körpers betont. Was er entdeckt, ist also die Verdrängung des Körpers, man könnte sagen: des Lebens, der Realität auch aus diesem Rationalismus. ... Damit tritt etwas auf den Plan, was für den heutigen Blick auf das Mittelmeer wesentlich ist: nämlich das Leben, die Realität zu sehen, auch in ihrer Schmerzhaftigkeit, Katastrophenhaftigkeit. Musikeinspielung 25 Dionysis Savvopoulos - Dimosthenous lexis o. Karaindrou, Track 4 Sprecher Matthias Ponnier Angesichts der KZ-Insel Jaros zur Zeit der griechischen Militärjunta 1967 bis 1974 erfährt die Welt, dass Griechische Inseln im ägäischen Licht auch die „Hölle“ sein können. Der Autor Aris Fioretos hat in seinem Roman „Mary“ diese Insel Jaros, deren Name auf griechischen Karten nicht verzeichnet ist, auf der Landkarte poetologischer Orte eingezeichnet. Als Ort der Verbannung, wo sich die Einsamkeit der Protagonistin roh und ungeschützt anfühlt, und wo das Brüllen der Brandung selbst im Schlaf noch unausweichlich ist. Zitatatorin Nicole Engeln: Aris Fioretos, Mary Schaue ich hinaus, sehe ich die Gräber, und dahinter Meile für Meile die See. Mal ist sie grau, mal stählern glänzend, meist blau oder grün und ruppig. Die Wellen donnern so regelmäßig, dass ihr Geräusch in meinen Körper eingezogen ist. Als würde die Brandung wie eine riesige Lunge in mir atmen. Ich darf auch die Gerüche nicht vergessen. Von Müll, Tang, faulem Fisch, schimmelndem Putz. Aber vor allem von Salz. Der Wind trägt den Meerschaum überraschend weit. Wenn er sich schließlich legt, klebt er im Haar und auf den Kleidern. Das Salz ist trocken, fast pudrig, es riecht erstaunlich schlecht, wenn man es zwischen den Fingern verreibt. Im Winter wollte die Feuchtigkeit nie ganz verschwinden. Dann schlug das Wetter um, und heute, am letzten Apriltag 1974, ist nur das Salz geblieben. Musikeinspielung 26 Dionysios Savvopoulos, To dentro Sprecher Matthias Ponnier Im Sommer 1974 setzte die griechische Junta gewaltsam die linke Regierung Zyperns ab, etablierte auch auf der Insel ihr Terrorregime. Eine Flotte der Türkei wird in Athen als „Übung“ fehlgedeutet, so kommt es am Morgen des 20. Juli 1974 auf Zypern zu einer ungestörten türkischen Invasion. Noch heute ist Zypern geteilt. Und immer wieder gibt es in der östlichen Ägäis Grenzstreitigkeiten zwischen Griechenland und der Türkei. Musikeinspielung 27 Nikos Ksilouris – Xilia Myria Kymata? o. Thanasis Papakonstantinou, San Michele / Agrypnia Sprecher Matthias Ponnier Was die Griechen „Mesogeios“ – „Mittelmeer“ – nennen, ist für die Türken das „Yam Gadol“, das „weiße Meer“. Jahrhundertelang waren die Osmanen die Herren des östlichen Mittelmeers. Laut Markus Koller, Osmanist und Leiter des Bochumer Zentrums für Mittelmeerstudien, ist das Mittelmeer für die Osmanen eher von strategischem Interesse gewesen. O-Ton 45 Markus Koller 32:30 Wir müssten uns auch die Frage stellen, welche Rolle spielte eigentlich das Meer für die angrenzenden Küstengebiete, oder war das Meer evtl. von geringerer Bedeutung, als wir es uns heute gerne vorstellen. O-Ton 46 Markus Koller 5:35 Das Know how kam durch die Eroberung kleinerer Fürstentümer an der südlichen Ägäis, die auch intensiven Handel betrieben mit Genua, die auch in Konflikten mit vor allem italienischen Stadtstaaten standen. Dazu kam natürlich auch Byzanz, das oströmische Reich, das ja auch immer eine Seemacht darstellte, so hat man eine eigene Flotte erworben und konnte auch modern gesprochen komplexe See- Landoperationen durchführen, eine der berühmtesten bei der Eroberung Konstantinopels 1443. O-Ton 47 Markus Koller 4:30 Es ging auch um ein Konkurrenzverhältnis einer anderen großen Seemacht im Mittelmeer und der Adria, nämlich Venedig, es gibt natürlich um die Kontrolle von Handelsrouten, die über das Mittelmeer verliefen. Wo Zypern und Kreta natürlich auch wichtige Haltepunkte der Schiffsrouten waren. Ganz wichtig auch: die Pilgerrouten. Es war die Frage nach Etablierung von Seemacht und Seeherrschaft. Sprecher Matthias Ponnier Das Mittelmeer als globalpolitischer Aushandlungsraum von Machtinteressen, wie auch von dem religiösen Ringen um Vorherrschaft: Diese strikte Dichotomie sieht Markus Koller insbesondere durch die regen Handelsbeziehungen zwischen Ost und West wieder stark relativiert. O-Ton 48 Markus Koller 39:15 Dann wurden die Osmanen auch physisch präsent in Venedig, einmal durch die Gesandtschaften, prunkvolle Gesandtschaften, wie übrigens auch die venezianischen Gesandtschaften in Istanbul Eindruck hinterließen. Dann gab es Händler und Kaufleute, man kennt heute noch den „Bazar de Turki“, also das Haus, in dem die türkischen Händler untergebracht waren, da wurden Tuche gehandelt, da wurde mit Wolle gehandelt, es wurden Gewürze, Luxusgüter gehandelt, Venedig war da ein wichtiger Umschlagplatz. Sprecher Matthias Ponnier Und auch die religionshistorische Beziehungsgeschichte im Mittelmeerraum wiederspricht einer strikten Trennung einer westlichen und einer östlichen Sphäre: 1492 ergeht in Spanien das königliche Dekret an die Juden, sich entweder zu taufen oder das Land zu verlassen. 50.000 entscheiden sich für die Scheintaufe, fünf mal so viele ziehen die Verbannung vor. Die meisten von ihnen zog es in den östlichen Mittelmeerraum. O-Ton 49 Markus Koller 10:10 Einerseits haben wir eine große Zuwanderung ab 1492 dem Ende der Reconquista, von der iberischen Halbinsel in die osmanischen Gebiete, also die Zuwanderung der sephardischen Juden, die sich in Izmir, Istanbul und Thessaloniki ansiedelten, und dort eine der größten jüdischen Gemeinden in ganz Europa etablierten. Sprecher Matthias Ponnier Auch in Saloniki erweisen sich die sephardischen Juden in ihrer diasporischen Lebensform als besonders geschickt darin, schnell ein Netz aus Handelsbeziehungen zu knüpfen. Von den Händlern des berühmten orientalischen Tabaks bis hin zu den einfachen Hafenarbeitern ist Saloniki jüdisch geprägt. Die Juden bilden nun unter den Türken, Griechen, Albanern und Bulgaren bis ins Zwanzigste Jahrhundert die Bevölkerungsmehrheit – ein Sonderfall in der gesamten Geschichte der jüdischen Diaspora. Zwischen 1730 und 1790 versechsfacht sich die Frequenz ausländischer Schiffe im Hafen der Stadt, Saloniki wird zum wichtigsten Umschlagplatz für den Balkan-Handel, aber auch für militärische Auseinandersetzungen zwischen dem „Orient“ und „Europa“. So hat es jener Katalane Agustí Calvet beschrieben, der sich Gaziel nannte und 1915 nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs als Reporter nach Saloniki kam. Zitat Volker Risch: Gaziel Nach Saloniki und Serbien. Eine Reise in den Ersten Weltkrieg Am frühen Abend läuft der Dampfer Hellenia in den Golf von Saloniki ein. Sofort offenbart uns Saloniki seine orientalische Melancholie. Aus dem Häusermeer ragen verstreut rund dreißig Moscheen mit ihren gewölbten Kuppeln und Minaretten hervor. Im Licht der Abenddämmerung bildet ihr matter Farbton einen Kontrast zu der samtigen Masse der Zypressen, die sich in der Ferne erheben, zu den großen israelitischen Friedhöfen hin, die das Städtchen säumen wie Seen der Stille. Die Stadt ist überragt von einer venezianischen Zitadelle, auf den Hügeln haust eine bizarre Gemeinschaft tanzender Derwische, am Horizont die bläulichen Berge Mazedoniens wie sanft sich wellende Schatten. Aufgrund seiner Lage ist Saloniki der wichtigste Hafen des Balkans. Neben den beiden jüdischen erscheinen in Saloniki auch zwei französische Zeitungen, dazu drei türkische Gazetten und zwei griechische. Selbst einen „Deutschen Club“ gibt es hier. Als die Hellenia im Hafen Anker wirft, ist es bereits dunkel. Sofort spüren wir die eigentümliche Atmosphäre. Schiefe Melodien ertönen: Santure oder türkische Gitarren, Akkordeons, Panflöten, metallene Kastagnetten, Drehorgeln, und leibliche Flöten der Schlangenbeschwörer. Wollte ein Autor – zum Beispiel Walter Scott oder Gustave Flaubert – die düsteren Tage Babels schildern, er fände in Saloniki das perfekte Modell für Sprachverwirrung und Völkergemisch. Insgesamt wirkt die Menschenmenge wie der Chor aus einer bunten Theaterrevue, die Straßen der Stadt haben sich in einen wundersamen Laufsteg für die Völker dieser Welt verwandelt: Turbane, Militäruniformen, türkische Fese, jüdische Talare, maurische Umhänge und die pittoresken Kleider der Inselgriechen. Dazu eine ungewöhnliche Fülle eleganter, europäisch gekleideter Frauen mit geschminkten Gesichtern und zweifelhaftem Äußeren, die über alle Maßen nett sind und Französisch mit Marseiller Einschlag oder das Italienisch von Capri und Sorrent sprechen. Die Marseillerinnen mit ihrem legendären Ruf bilden eine eigene Zunft und stellen den Rest in den Schatten. Alle sind regelrecht in Schminke und Farbe getüncht: die Augen fiebrig, die Lippen purpurn, die Wangen gepudert, die Haare gefärbt und die Hände lang und mit Flitterkram bestückt. Staunende Verehrer – Albaner aus einsamen Bergregionen, halb zivilisierte Bulgaren, europäisierte Türken, aus ihrem Erdwinkel an der Grenze des Orients katapultierte Franzosen und Engländer und der eine oder andere spanische Jude – umschwärmen sie fleißig, bewundern sie verträumt, und spendieren ihnen nach strikt festgelegter Reihenfolge eine Unzahl von Likören, Sorbets, Cocktails und Aperitifs, die einen Riesen umhauen würden. Musikeinspielung 28 Sotiria Bellou, Sinefiasmeni Kiriaki Sprecher Matthias Ponnier Steht man heute am weißen Turm, dem Wahrzeichen von Thessaloniki, nunmehr einer griechischen Stadt, dann öffnet sich vor dem Blick die Ägäis. Am anderen Ende des Mittelmeers liegt eine andere berühmte Hafenstadt, Alexandria, wo vor 150 Jahren Konstantinos Kavafis geboren wurde – jener griechische „Nationaldichter“, der das griechische Stammland kaum je betreten hat. Oder Israel, wohin Tausende von Saloniki-Juden auswanderten, um den Hafen von Haifa zu bauen oder in Tel Aviv eigene Wohnviertel zu gründen. Saloniki, über Jahrhunderte eine jüdische Stadt, wurde griechisch. Und auch für jene Griechen, die im Zuge des so genannten Bevölkerungsaustauschs nach dem Lausanner-Vertrag von 1922/23 ihre angestammte Heimat in Kleinasien verlassen mussten, hatte der Aufstieg der nationalstaatlichen Ideologie dramatische Konsequenzen: Smyrna, wo in den 1920er Jahren noch mehr Griechen lebten als in Athen, wird türkisch. An die Juden von Saloniki wird man in Griechenland nicht gern erinnert. Umso lebendiger ist die Erinnerung an die „kleinasiatische Katastrophe“: 700.000 griechische und armenische Flüchtlinge, die vor dem Anrücken der türkischen Truppen und dem Feuer, das sie in Smyrna legten, im Hafen Zuflucht suchten. Rettung wäre möglich gewesen. Doch die vor Anker liegenden britischen, französischen, italienischen und amerikanischen Kriegsschiffe waren alle nur darauf bedacht, die Interessen ihres jeweiligen Heimatlandes zu schützen, eine „Neutralität“, die die Soldaten unerbittlich machte: An Bord der britischen Kriegsschiffe ließ man während des Essens in der Offiziersmesse schwungvolle Seemannslieder spielen, um die schrecklichen Schreie zu übertönen, die von den Verbrennenden der Kais wie den Ertrinkenden im Hafenbecken herüberdrangen. Musikeinspielung 29 Imam Baldi, Cookbook, Ta Pedia Tis Gitonias Sou o. Minore Tou Tekke (instrumental) O-Ton 50 Markus Messling 54:55 Ein Autor, der für uns auch im Zusammenhang mit dieser Anthologie „Leeres Zentrum“ sehr wichtig geworden ist, ist Seferis, ein griechischer Autor, der eigentlich aus Kleinasien stammt, der Westtürkei, aus Izmir, und dort in der so genannten griechischen Katastrophe 1922, als unter Atatürk die türkische Republik gründet und auch als Gewaltakt gründet, nichttürkische Bevölkerungsteile von sich spaltet, fliehen muss. In Izmir brennen viele griechische Häuser, und auch die Familie von Seferis muss fliehen Zitator Volker Risch: Giorgos Seferis, Ionische Reise Kiefernwald, die Grillen, die Luft angefüllt mit Harzduft, ein Wind vom Meer. Dann das Meer selbst. Danach Smyrna: vertraute Luft, ein vertrauter ländlicher Stil und der Duft der Kräuter. Dann tritt dir ganz allmählich, von innen her, die in der Erinnerung so bekannte, jetzt so unbekannte Stadt ins Bewusstsein – mein Gott, was mache ich nur. O-Ton 51 Markus Messling 55:35 Und das Interessante an Seferis ist, der kehrt dann zurück in diese Welt seiner Kindheit, es ist keine Rückkehr einer Odyssee, weil diese Welt nicht mehr existiert, sie ist ihm sozusagen entrissen worden. Es ist aber auch keine Geschichte der Ranküne oder des Hasses, sondern was er tut, er liefert eine sehr poetische Beschreibung dieser versunkenen griechischen Welt, die aber noch ihre Spuren hat in der Gegenwart. Und in diesem poetischen Verfahren einer Überlagerung von Erinnerungen und Wirklichkeitssprengseln und Details mit dieser türkisch gewordenen Welt, zeigt er, dass es eine Möglichkeit gibt, diese Spannung ertragbar zu machen, diese Möglichkeit ist für ihn der poetische Realismus. Und darin liegt eine ungeheure Kraft. Das Mittelmeer zeichnet sich eben durch diese vielen Bezüglichkeiten aus, die spannungsgeladen ist. Marseille Algier, Athen und die Westtürkei, diese Verhältnisse kann man überall finden. 57:10 Und eine Haltung die uns darin fasziniert hat in Seferis, dass es keine Nostalgie ist, die hier geboren wird, die melancholisch ist. Es ist eine Form der Nostalgie, die sich überlebensfähig zeigt. Zitator Volker Risch: Giorgos Seferis, Ionische Reise Ich drehte eine Runde, ging auf der Hafenmole bis zum Leuchtturm; gewiss, jetzt sieht sie wie mit Salz besprenkelt aus. Hier habe ich, als ich noch ganz klein war, zum ersten Mal einen Schiffskompass gesehen, ein Überbleibsel eines Segelschiffs, das mein Großvater einmal besaß. Die Einheimischen werden eine ganze Weile brauchen, um sich an das Meer zu gewöhnen. Sie haben es, und es hat den Anschein, als wüssten sie nicht, was sie damit anfangen sollen. Die kleinen Häfen, die die Griechen hinterlassen haben, verwaist. Am Ende der Mole habe ich mich plötzlich zu den Häusern umgedreht, die mich ansahen wie kranke Tiere. Wir befanden uns auf dem Weg, der parallel zur Hafenmole verläuft und den Garten meiner Großmutter vom hinteren Teil unseres Hauses trennt. Der Ort war das Innere einer Kugel, und die Dinge, eingeschlossen in dieser Kugel wie ich selbst, wurden immer kleiner, schmaler und schrumpften, bis sie nur noch ein zerknittertes Modell waren des Vergangenen, liegengeblieben in einem Regal. Schließlich unser Sommer-Häuschen. Die Fensterläden im Obergeschoß morsch, die Mauer leprös, die schmiedeeiserne Tür ganz verrostet. In Athen habe ich immer noch den Schlüssel dazu. Musikeinspielung 30 „I palia Athina“ („Das alte Athen“) Sprecher Matthias Ponnier Am Ende gehen wir in Athen an Land. Um von Athen zu lernen, wie es die Documenta 2017 fordert. Oder von Petros Markaris. Als Kind einer griechisch-armenischen Ehe in Istanbul geboren, hat er in Wien studiert, ehe er 1964 nach Athen kam. In Petros Markaris ist der Charme der alten Zeit lebendig, als auf den Flachdächern Athens des Nachts noch „Matratzenlager“ errichtet und in den berühmten Cafés seines Viertels „Unterseeboote“ gereicht wurden – kleine Löffelchen mit Mastix oder Vanille, in Wasser getaucht. In seinem Buch „Quer durch Athen“ hat sich der passionierte Flaneur auf die Suche nach dieser verlorenen Zeit gemacht, ist an jeder Haltestelle der Straßenbahn ausgestiegen und dem jeweiligen Genius Loci gefolgt. Zum Beispiel in Piräus. 22:00 Atmo Straßenmusiker Bousouki-Musik Darüber Sprecher Matthias Ponnier Zu der Zeit, als sich Petros Markaris in Athen niederließ, da verströmte Piräus noch ungleich mehr Hafenatmosphäre. Reisen auf die Inseln erfolgten nicht auf Tragsegelbooten, sondern auf alten Pötten. Seeleute flogen nicht mit dem Flugzeug zu ihren Einsatzorten, sie warteten vor Ort auf die nächste Heuer und verkürzten sich die Zeit zwischen den Roten Laternen des verruchten Troumba-Viertels. Diesen Sündenpfuhl wollte zur Juntazeit der Bürgermeister Aristeidis austrocknen, die Halbwelt-Etablissements wurden niedergerissen, die Bouzouki-Kneipen mit ihren angeblich „orientalischen“ Amanedes-Gesängen geschlossen. Selbst die traditionellen Holzstühle mussten per Dekret modernen, sterilen Plastikstühlen weichen. Musikeinspielung 31 O Kafes Sprecher Matthias Ponnier Am liebsten aber geht Markaris in Thiseio spazieren, am Rand des historischen Zentrums um Akropolis und Plaka, wo noch heute, überschrieben von einem dichten Palimpsest aus Straßengraffities, der Athener Buch- und Antiquitätenmarkt die digitalen Zeiten überdauert. Hier treffen alle Widersprüche Athens aufeinander: alte Geräteschuppen und neoklassizistische Prachtbauten, großartige historische Panoramen und abstoßende Ecken. Illustres Volk aus aller Welt tummelt sich hier. Doch dass die Migranten zum Verfall des Athener Stadtviertels beigetragen hätten, kann Markaris nicht finden. Er begrüßt es, wenn die einst so zahlreichen Kioske oder „pantopoleia“ – Tante-Emma-Läden der Stadt nun von Migranten wieder eröffnet werden. O-Ton 52 Petros Markaris Athen II 8:00 Migranten, die hier wohnen, kommen eigentlich aus dem französischsprachigen Afrika. Senegal. Elfenbeinküste. Und die haben auch Jobs, die arbeiten. Man sieht sie abends um sechs, sieben Uhr da sitzen und plaudern. Die meisten sprechen französisch. Und ich sehe junge schwarze Mädchen auf der Straße, zusammen mit jungen griechischen Mädchen, die sprechen so fließend Griechisch, wenn ich die Augen zumache, da kann ich nicht sagen, wer die Afrikanerin und wer die Griechin ist. 11:25 Wenn die Griechen jetzt staunen, dass man diesen Migranten gegenüber diesen Rassismus entwickelt, dann sage ich immer, ja, die Einwanderer aus Kleinasien hatten auch kein besseres Schicksal, und auch die Pontos-Griechen, alle. Entschuldige, das ist gar nicht neu. Ich hatte mütterlicherseits eine Tante, die kam aus Kleinasien mit dem Bevölkerungsaustausch. Die lebt nicht mehr, die Tante Marika, wenn die erzählt hat, was sie alles durchmachen musste. Das ist zum schaudern! 47:45 ... Und wenn ich ihnen sage: Ihr habt doch Verwandte in Amerika, Verwandte in Deutschland, Verwandte in Australien, in Kanada, die sind doch auch Migranten gewesen, dann sagen sie: Ja, aber wir sind keine Pakistanis. ... Es ist ja zum Heulen! ... Es war wunderbar, vor zwei Jahren, im Sommer, es war ein heißer Sommer, Gott, man konnte nicht schlafen, ich habe die Klimaanlage wenn ich schlafe nie an, und ich habe geschwitzt die ganze Nacht, und erst um drei Uhr morgens kam ich ins Schlummern, und da höre ich einen solchen Krach unten auf der Straße, die Leute schreien. Ich gehe auf den Balkon, so wie ich bin, und sage: Leute, es ist doch so heiß, wo nehmt ihr noch die Kraft her, dass ihr Euch streitet, dann folgt eine Pause, zwei Augen sehen zu mir hinauf, und eine Stimme sagt: Excuse moi, Monsiour! (lacht) Musikeinspielung 32 Imam Balidi, Cookbook, Argile Mou Giati Svinis Sprecher Matthias Ponnier Die Mittelmeerländer waren die ersten, die im neuen Jahrtausend mit den riesigen Flüchtlingsströmen aus Afrika und Asien fertig werden mussten. Erst in der Finanzkrise 2008 und dann in der Flüchtlingskrise mit den Bildern aus Lesbos und Idomeni sannen führende Politiker Europas öffentlich darüber nach, Griechenland von Europa abzukoppeln, es auszuscheiden aus der Europäischen Union. Gunter Gebauer: O-Ton 53 Gunter Gebauer 36:25 Die Verlagerung des Schwerpunkts Europas in den Norden bedeutet eine Hinwendung zu einer Kultur der Industrie, der Wirtschaft, ... des Kapitalismus. Es gab einen mittelmeerischen Kapitalismus schon sehr früh, im 14 / 15ten Jahrhundert, der von den Mittelmeerstädten entwickelt worden ist, Venedig, Genua usw., also besonders italienischen Renaissancestädten, der eine bestimmte Art der Kapitalbildung bereits vorgesehen hat. Aber der moderne Kapitalismus hat sich entwickelt als eine unbremsbare Maschinerie des Geldverdienens, ... 38:40 die nirgendwo geerdet ist, rückgebunden an den Menschen. Und da kann uns natürlich die mittelmeerische Welt der Antike aber auch der späteren Jahrhunderte ein Beispiel geben, einer Kultur des Maßes, Camus hat ja immer wieder darauf hingewiesen, einer Bindung an den Menschen, das Leben der Menschen – inwiefern betrifft es unser Leben, macht es uns glücklich. Sprecher Matthias Ponnier Ist es das, was es bedeuten könnte, Europa vom Süden aus zu denken? – Glücksforschung zu betreiben? O-Ton 54 Manuel Borutta 1:01:30 In gewisser Weise hat der Norden ein paradoxes Verhältnis zum Süden. Er will das mediterrane Laissez-faire und dolce farniente, wenn Menschen aus dem Norden dort Urlaub machen, wollen sie auch, dass sich da möglichst nichts ändert, es soll keine Industrie am Mittelmeer geben, das sollen möglichst alles beschauliche Fischerdörfer sein, in denen noch von Hand gefischt wird, alle Zeichen von Modernität werden ehr als störend empfunden. Und gleichzeitig wirft man dem Süden genau das vor in ökonomischer Hinsicht: ihr kriegt es nicht hin, seid in euren alten Mustern befangen. Ein Doublebind nennt man das, glaube ich, in der Psychologie. Sprecher Matthias Ponnier Heute erscheint die griechische Inselwelt winzig, und der „Binnensee“, der sie umgibt, erscheint aus dem All wie ein kleine, zarte Spindel: Das Mittelmeer ist sicher nicht mehr der Nabel der Welt. Was also bleibt von ihm? Nichts, als eine „Pathosformel“? O-Ton 55 Manuel Borutta 50:00 Das Mittelmeer wird in gewisser Weise banalisiert, durch diese Raumrevolution, die schon im 19. Jh. beginnt, ... mit dem Aufkommen der Dampfschifffahrt wird das Mittelmeer nicht mehr als gefährlich empfunden. Es entstehen neue Raumbilder, die das Mittelmeer nichtmehr als gefährliche Kluft, sondern als See darstellen, ... eine maritime Verbindung Europas. 52:55 Insofern ist der Mittelmeerraum eine Region, in der Globalisierung auf kleinem Raum schon stattgefunden hat, eine Vermischung zwischen Europa, Afrika und Asien, auch weiterhin dort stattfindet, also muss man den Mittelmeerraum gar nicht so sehr im Gegensatz zu Prozessen der Globalisierung sehen, sondern er ist ein Raum, in dem sich diese Prozesse schon vorher abgespielt haben, überlagert haben mit immer neuen Verbindungen. O-Ton 56 Franck Hofmann 58:10 Das Mittelmeer ist bestimmt nicht mehr der Fokus, um den herum als Zentrum der Lauf der Welt geordnet wäre, das Mittelmeer ist im planetarischen Blick dezentriert, eine kleine Badewanne gegenüber ganz anderen Weltzonen und Weltmeeren, von denen aus Europa ganz anders in den Blick genommen wird. Gleichzeitig ist die Mittelmeerwelt in ihrer historischen Tiefenstaffelung auch ein Brennglas, in dem weltweite Probleme zu besonderer Sichtbarkeit kommen. Und in dieser Funktion, Brennglas zu sein, und die Probleme vor Augen zu führen, Lebenswirklichkeiten, auf die wir reagieren können, oder reagieren müssen, in dieser Funktion ist das Mittelmeer weiter ein ganz zentraler Bezugspunkt für die Selbstverständigung über Europa. Sprecher Matthias Ponnier Bescheiden sollte man mit dem argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges gestehen: Das Meer ist eine uralte Sprache, nicht zu enträtseln. Zitator Volker Risch Immer halte Ithaka im Sinn. Dort anzukommen ist dir vorbestimmt. Doch beeile nur nicht deine Reise. Besser ist, sie dauere viele Jahre; Und alt geworden lege auf der Insel an, reich an dem, was du auf deiner Fahrt gewannst, und hoffe nicht, dass Ithaka dir Reichtum gäbe. Ithaka gab dir die schöne Reise. Du wärest ohne es nicht auf die Fahrt gegangen. Nun hat es dir nicht mehr zu geben. Auch wenn es sich dir ärmlich zeigt, Ithaka betrog dich nicht. So weise, wie du wurdest, in solchem Maße erfahren, wirst du ohnedies verstanden haben, was die Ithakas bedeuten. Musikeinspielung 33 Imam Baldi, Cookbook, Logia Adallaxame Varia Remix Absage Christoph Wittelsbürger: Eingeschlossen zwischen sterbliche Dinge Sie hörten eine Lange Nacht über das Mittelmeer von Manuel Gogos Es sprachen: Matthias Ponnier Volker Risch Christoph Wittelsbürger und Nicole Engeln Für den guten Ton sorgten Michael Morawietz und Die Regie hatte Claudia Mützelfeldt Redaktion: Monika Künzel