COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Das Stadion als Volkshochschule Die Sozialarbeit der Premier League setzt im europäischen Fußball Maßstäbe Autor: Ronny Blaschke Redaktion: Hanns Ostermann  Der Stadtrand von Manchester. Touristen in roten Trikots verlassen mit großen Tüten den Fanshop des Stadions „Old Trafford“. Auf der anderen Seite eines Flusses erheben sich Glastürme, daneben liegt ein Kulturzentrum mit Kinos und Restaurants. Hier wird der Wandel von der Industriestadt zur Dienstleistungsmetropole deutlich. Beim  Bruttosozialprodukt belegt Manchester in England den dritten Platz, hinter London und Birmingham.   „In jeder großen Stadt in der westlichen Welt ist die Lage zwiespältig. Auch in Manchester. Wir haben Sehenswürdigkeiten, schicke Hotels, saubere Straßen. Aber es gibt auch eine Schattenseite, es gibt auch das andere Manchester.“ John Shields ist Lehrer. Heute arbeitet er als Geschäftsführer der Manchester United Foundation, der sozialen Stiftung des englischen Rekordmeisters. Shields sitzt im „Hotel Football“, einem belebten Treffpunkt direkt am Stadion. Der Schaum seines Milchkaffees ist mit einem Vereinswappen aus Kakaopulver verziert. Er lächelt – und er ist skeptisch.  „Wir arbeiten in diesem anderen Manchester. Und in diesem Manchester leben 33 Prozent der Kinder an der Armutsgrenze. Sie leben in den Vororten in einer Zehn-Minuten-Welt. Ihr Fußweg dauert nie länger als zehn Minuten. Sie waren nie im Stadtzentrum, nie in der Bibliothek oder im Theater. Viele Städte haben solche Probleme, aber die Welt schaut nicht genau hin, denn es sind keine guten Schlagzeilen.“ Für sein Lehramtsstudium war John Shields 1979 aus Nottingham nach Manchester gezogen. Der einstige Welthandelsplatz für Textilien war da längst Geschichte, die Bevölkerungszahl sank um ein Drittel, die Arbeitslosenquote stieg auf zwanzig Prozent. John Shields war damals Anfang zwanzig. Er besuchte die Heimspiele von Manchester United und las in der Zeitung über die Pläne einer Vereins-Ikone. Bobby Charlton, der hoch dekorierte Rekordtorschütze von United, eröffnete Fußballschulen im ganzen Land. John Shields bewarb sich und organisierte bald darauf Ferienprogramme für Schüler aus sozial benachteiligten Familien.  „Bis heute bin ich dem Thema treu gebliebnen. Damals gab es kaum Verbindungen zwischen Fußballklubs, Schulen und Kommunen. Aber in den vergangenen dreißig Jahren sind unsere sozialen Strukturen professioneller geworden. Durch die Hingabe der Jugendlichen für den Verein können wir eine Verbindung mit ihnen herstellen. Wir geben ihnen das Werkzeug, damit sie unabhängig und selbstbewusst durchs Leben gehen können.“ In den Neunziger Jahren erholte sich die britische Wirtschaft. Alte Fabriken und Warenhäuser in Manchester wurden in schicke Wohnungen oder Bürokomplexe umgebaut. 2003 bescheinigte die Europäische Union der Stadt den effektivsten Strukturwandel der europäischen Großstädte. (Reportage: Manchester gegen FC Bayern 1999) Als Werbeträger der aufblühenden Region etablierte sich Manchester United. Unvergessen zum Beispiel der Sieg im Champions-League-Finale gegen den FC Bayern 1999. (Reportage:  Manchester gegen FC Bayern 1999) Auf dieser Erfolgsbasis konnte der Klub andere Ziele verfolgen. Die Stiftung des Serienmeisters wurde 2006 gegründet, inzwischen mit 55 hauptamtlichen und 90 freien Mitarbeitern. Die meisten von ihnen arbeiten in den Außenbezirken, gemeinsam mit 13 Schulen. Trainer und Sozialpädagogen ergänzen dort den Unterricht mit Gesundheitsvorsorge, Gewaltprävention, Fußballtraining. „Football in the Community.“ Fußball in der Gemeinde. Unter diesem Leitmotiv bündelt die Premier League ihre Gesellschaftspolitik. Insgesamt 2.500 Mitarbeiter engagieren sich in 850 Projekten. Sie erreichen eine halbe Million Teilnehmer. In Deutschland befindet sich diese Entwicklung erst am Anfang. Der am besten ausgestatte Verein ist der SV Werder Bremem, mit zehn Angestellten für soziale Projekte. John Shields, Geschäftsführer der Manchester United Foundation.  „Am Anfang waren es Ex-Spieler, die hin und wieder auf Jugendliche zugegangen sind, aber das war nicht wirklich systematisch. Dann sind die Einnahmen der Premier League rasant gestiegen. Die Regierung erhöhte den Druck und forderte von den Vereinen mehr Engagement. Dann haben sich die Klubs zusammengesetzt und eine langfristige Strategie entwickelt. Das war das Fundament für unsere Stiftungen.“ Doch wie beeindruckend ist dieses Fundament tatsächlich? Für ihre Fernsehrechte erhält die Premier League in den kommenden Jahren umgerechnet fast zehn Milliarden Euro. Allein in der Saison 2014/2015 kamen die englischen Klubs auf einen Gesamtumsatz von 4,4 Milliarden. Für Gemeindearbeit aber wurden nur sechzig Millionen aufgebracht. 60 Millionen, die allerdings nicht direkt von den Vereinen kommen, wie Manchester verdeutlicht. 2016 bezeichnete das Unternehmen Brand Finance den Klub als wertvollste Fußballmarke weltweit. Allein der Zehnjahresvertrag mit Adidas beschert United fast eine Milliarde. Und die Stiftung? Die muss mit einem Budget von lediglich 3,5 Millionen Euro auskommen, berichtet dessen Chef John Shields.   „Wenn wir mehr Geld hätten, könnten wir viel mehr Arbeit leisten. Was wir machen, machen wir mit großer Leidenschaft. Aber da geht immer noch mehr. Deshalb werben wir Gelder ein, auch mit unseren Partnern.“ Aus deutscher Perspektive mag das unverständlich klingen. Selbst der Tabellenletzte der Premier League erzielt höhere TV-Einnahmen als der Meister der Bundesliga. Doch die englischen Stiftungen sind eigenständige Organisationen. Niemand solle Verdacht schöpfen, dass Spenden über Umwege in Spielergehälter fließen. In Manchester kann die Stiftung immerhin auf die Buchhaltung und Informationstechnik des Klubs zurückgreifen. Doch der Lehrer John Shields ist vornehmlich damit beschäftigt, Geld einzuwerben.  „Wir können regelmäßig ins Stadion. Eine Hauptsäule unseres Fundraising sind Benefizspiele, die meist im Sommer stattfinden, gegen Real Madrid oder den FC Bayern. Das bringt uns mehr als eine Million. Während der Saison kaufen tausende Fans Lose, um Trikots oder Bälle zu gewinnen. Die Erlöse gehen an die Stiftung. Dazu kommen viele Sonderaktionen mit unseren Sponsoren.“ (Atmo             Tour auf den Kilimandscharo) In einer Spendenaktion erklomm der ehemalige United-Teamkapitän Bryan Robson mit 26 Bergsteigern den Kilimandscharo. In Großbritannien drücken Bürger ihren Gemeinschaftssinn traditionell durch großzügiges Spenden aus. Schon im Jahr 1601 hatte ein Gesetz die „Charity“ geregelt, die wohltätige Einrichtung. Zurzeit nehmen 250.000 gemeinnützige Organisationen im Vereinigten Königreich jährlich fünfzig Milliarden Euro ein. Das Geld fließt in Gesundheitsvorsorge, Sozialarbeit, Umweltschutz. Auch in Museen oder Orchester. In Bereiche, die in Deutschland mehrheitlich der Staat abdeckt. Auch im englischen Fußball hat sich ein komplexes Spendensystem entwickelt. Einmalig in Europa. Der einzige Klub der Premier League, der für seine Gemeindearbeit eine Abteilung innerhalb seiner Vereinsstrukturen geschaffen hat, ist im Norden von London zu Hause. Der Bezirk Islington zählt zu den unterprivilegierten Regionen in Großbritannien. 42 Prozent der Einwohner leben in Sozialwohnungen, die Kinderarmut ist die vierthöchste in England. Auch die Mittelschicht kann sich die steigenden Lebenskosten kaum noch leisten. Die Wohnungspreise steigen im zweistelligen Prozentbereich. Der Nenner, auf den sich die meisten Menschen in Islington noch einigen können, ist der FC Arsenal. Mark Gonella ist der Kommunikationsdirektor des Vereins. „Wir erreichen durch Fußball viele Menschen, die staatliche Institutionen nicht erreichen. Durch unsere Verwurzelung in der Gemeinde wächst bei vielen Fans die Identifikation für den Verein. Sie bemerken genau, wofür wir einstehen.“ (Atmo             Arsenal Song) Der FC Arsenal ist beheimatet im Emirates-Stadion, in einer der teuersten Arenen der Premier League, erbaut für 600 Millionen Euro. An einem spielfreien Nachmittag ist der Fanshop der am besten besuchte Ort in einem Umkreis von 500 Metern. Er ist so sehr mit Kleiderständern voll gestellt, dass man von einem Ende kaum das andere erkennen kann. Vor der Arena posieren Fans vor Kanonenattrappen, einem Symbol des FC Arsenal, dessen Spieler den Beinamen „Gunners“ tragen. Auch in der Klub-Geschäftsstelle trifft die idealisierte Vergangenheit auf die getaktete Geschäftswelt des Fußballs. In einem Großraumbüro mit der Ausdehnung eines Handballfeldes sitzen Mitarbeiter dicht an dicht, getrennt durch Stellwände. Pressechef Mark Gonnella.  „Die Tradition unserer Gemeindearbeit geht zurück bis zur Geburt des Klubs. Arsenal wurde 1886 von Rüstungsarbeitern gegründet. Durch Fußball wollten sie die Eintönigkeit ihrer Fabrikarbeit aufbrechen. Die ersten Stadionprogramme verkauften sie für einen Penny, ein Teil der Einnahmen ging an Heime von minderjährigen Arbeitern. Das soziale Denken gehört zur DNA unserer Organisation.“ Im April 1912 hatte der FC Arsenal sein erstes Benefizspiel organisiert. 100 Pfund erhielten Hinterbliebene der Opfer des Untergangs der Titanic. Nach dem ersten Weltkrieg 1918 bezahlte der Verein Betten für ein Krankenhaus. Es folgten weitere Wohltätigkeits-Aktionen, die aber nicht koordiniert wurden. Mit der Rezession Anfang der Achtziger Jahre wuchsen soziale Spannungen in London. Es kam zu Gewalt zwischen Demonstranten und Polizisten. Landesweit wurden Konzepte entwickelt, um benachteiligten Menschen zu helfen. Im Fußball machte der FC Arsenal den Anfang. Mit einer eigenen Abteilung für Sozialarbeit, gegründet 1985.  „Unser Aktionsradius führt fünf, vielleicht sechs Kilometer um das Stadion herum. In Gegenden, wo die Armut in London mit am höchsten ist.“ Von den 500 Angestellten beim FC Arsenal sind vierzig in der Community-Arbeit beschäftigt. Sie erreichen mehr als 5000 Teilnehmer. In Schulen und Kindergärten, in Büchereien und Krankenhäusern. Oder in den Stadionkatakomben, wo neben Kunstrasen und Begegnungsstätte auch Klassenräume zur Verfügung stehen. (Atmo             Stadion Sprachunterricht) Eine wichtige Säule ist der Sprachunterricht. Das Projekt heißt „Double Club“, in Anlehnung an Arsenals Doppeltriumph von 1998 mit Meisterschaft und Pokal. Im Double Club stehen 45 Minuten Lernen und 45 Minuten Fußball auf dem Programm. „Wir haben Programme zur Berufförderung und gehen damit in lokale Schulen. Viele Schüler beginnen dann bei uns eine ehrenamtliche Mitarbeit, in ihrer Freizeit oder in den Ferien. Sie erhalten Tipps und bilden sich fort. Manche erhalten später einen festen Job und prägen damit die künftigen Generationen.“ Die englischen Stadien liegen mitten in den Städten – und symbolisieren so das Gemeinschaftsdenken. Auf dem Gelände der Arsenal-Arena wurde eine Müllverarbeitungsanlage errichtet. Seitdem ist die Bereitschaft für Recycling im Norden Londons gestiegen. Kleine Organisationen aus der Umgebung halten ihre Treffen in der Arena ab. Trotzdem gehen die Meinungen auseinander. Den Traditionalisten ist das Aufgabenspektrum des Fußballs zu breit geworden. Sie wünschen sich ursprüngliche Sitten zurück. Einigen Vertretern der Politik geht das Engagement nicht weit genug. Sie fordern, dass Vereine fünf Prozent ihrer Einnahmen in Sozialarbeit stecken. Leider könne man es nicht jedem recht machen, sagt Per Mertesacker, deutscher Weltmeister in Diensten des FC Arsenal. 2006 rief er eine gemeinnützige Stiftung ins Leben.  „Wir hoffen einfach, mit diesen sozialen Projekten nachhaltig wirklich was zu entwickeln. Das ist, was uns in den Sinn gekommen ist: Nicht kurzfristig irgendwo Geld hingeben, und dann weiß man nicht, wo es hingeht. Es kommen so viele Anfragen auch, und wo wir uns ganz klar zu unserem Stiftungszweck bekennen. Wir haben uns ganz klar gesagt, wir wollen mit diesen Projekten besonders Kinder mit Migrationshintergrund unterstützen, und dazu müssen wir auch stehen.“ In seiner Heimatregion bei Hannover ermöglicht Mertesackers Stiftung mehr als fünfzig Jungen und Mädchen eine zusätzliche Lernförderung. Es geht um Sprachen und Mathematik, um Bewerbertraining und gesunde Ernährung. Durch seine Bekanntheit erhält Mertesacker zahlreiche weitere Anfragen.  „Ich kann, klar, wenn XYZ schreibt, ein Trikot geben, das mache ich gerne. Aber ich kann nicht ein Zitat oder ein Bild von mir überall hingeben. Dann würde ich mich unglaubwürdig machen. Das ist ganz wichtig, dass wir da selber die Zügel in der Hand halten. Wir stellen die Leute an, gehen zu den Kindern, sprechen mit den Eltern. Versuchen da, einen guten Weg zu finden.“ Seit 2011 spielt Mertesacker für den FC Arsenal. Als Kapitän der Londoner ist er außerhalb des Platzes vielfach gefragt. Zum Beispiel beim Sprachunterricht im Double Club. Darüber hinaus besuchen Per Mertesacker und einige Mitspieler in der Weihnachtszeit Kinder in Krankenhäusern. Zudem hat er Flüchtlinge getroffen, die in ihren Heimatländern gefoltert wurden. Und er las in einer Bücherei zwanzig Kindern aus „The Ugly Duckling“ vor, „Das hässliche Entlein“ von Hans Christian Andersen. Wie bereitet sich Mertesacker auf solche Termine vor?  „Namen habe ich mir noch mal geben lassen, und mich vorbereitet: wie heißen die Jungs. Weil das ist mir wichtig. Denn wenn man sie mit Namen anspricht, dann gucken sie ungläubig. Und wenn sie ungläubig gucken, dann sind sie beeindruckt. Das mache ich dann auch gerne.“ Engagierte Spieler wie Per Mertesacker sind rar. Wie sieht es in anderen Ländern aus? Der FC Barcelona und Real Madrid unterstützen Projekte in Übersee. Ajax Amsterdam und Juventus Turin engagieren sich ihren Stadtteilen. Der deutsche Rekordmeister bestreitet Benefizspiele und verteilt Spenden über den „FC Bayern Hilfe e.V.“ Borussia Dortmund, der FC Schalke 04 und andere Vereine unterhalten Stiftungen mit nur einem Mitarbeiter. Genügt das angesichts ihrer Finanzkraft? Abteilungen, die mit Weitblick und  Personalstärke das Gemeinwohl stützen, gibt es vor allem in England. So ist die Debattenkultur insgesamt stark ausbaufähig, findet Funke Awoderu. Sie ist Gleichstellungsbeauftragte des Englischen Fußballverbandes FA.  „Ich war auf einigen internationalen Konferenzen. Sie haben mir die Augen geöffnet. Erst wenn man außerhalb unseres Landes über diese Themen diskutiert, merkt man, wie viel wir erreicht haben. Wir haben Präsentationen gehalten, und es gab Nachfragen aus dem Publikum. Ich musste grundsätzlich antworten, weil viele Leute in anderen Ländern erst am Anfang stehen. Was gesellschaftliche Projekte im Fußball angeht, so gibt es in Europa riesige Unterschiede.“ Funke Awoderu leitet bei der FA das Equality-Management mit fünf Mitarbeitern, es wurde im Jahr 2000 eingerichtet. Der Deutsche Fußball-Bund öffnete sich für diese Themen später. Die Strukturen beider Verbände sind unterschiedlich, die Ziele sind ähnlich: Es geht um Bewusstseinsbildung gegen Rassismus oder Homophobie, in Schulungen und Kampagnen. Was FA und DFB verbindet, sind Widerstände innerhalb der Verbandsbürokratie. Die unterschiedliche Bereitschaft der regionalen Vertreter und das Konkurrenzdenken zu den Profiligen. Eine Abweichung sticht noch heraus, erzählt Funke Awoderu.  „Wir stellen der Regierung in jedem Quartal einen ausführlichen Bericht über unsere Aktivitäten zur Verfügung. In anderen Ländern gibt es einen solchen Austausch mit der Politik nicht. Das ist eine wichtige Überprüfung.“ Von diesen Strukturen bekommt das breite Publikum wenig mit. Es sei denn, es gibt einen Skandal. Atmo   Nachrichtensprecherin John Terry In England löste zum Beispiel John Terry Empörung aus. Im Oktober 2011 geriet der Kapitän des FC Chelsea mit seinem Gegenspieler Anton Ferdinand von den Queens Park Rangers aneinander. Dabei soll sich Terry rassistisch geäußert haben. Die FA entzog ihm noch vor dem Richterspruch das Kapitänsamt des Nationalteams. Terry zog sich aus dem Nationalteam zurück. Der Journalist und Aktivist Leon Mann schüttelt genervt den Kopf, denn über den alltäglichen Rassismus wird noch immer selten gesprochen.   „Es ist offensichtlich, das schwarze Menschen bei uns vor allem als Athleten wahrgenommen werden. Nicht als Akademiker, Führungskräfte oder Journalisten. Schon in meiner Kindheit haben mir Leute gesagt, dass ich meine Zeit nicht mit Büchern vergeuden soll. Stattdessen wurde ich zum Fußball oder Laufen ermuntert. Zum Glück waren meine Eltern Lehrer. Sie haben immer wieder den Wert von Bildung betont. Als ich dann als Journalist zur BBC kam, konnte ich nicht fassen, wie gravierend dort der Mangel an Diversität war. Wir standen in einer Runde mit schwarzen Kollegen zusammen und flüsterten: Ist das nicht schlimm. Wir sollten mehr darüber diskutieren.“ Das Vereinigte Königreich ist von einer größeren Vielfalt geprägt als Deutschland. In der Volkszählung 2011 haben sich 87 Prozent der Briten als Weiße bezeichnet, alle anderen gehören ethnischen Minderheiten an. Und im Fußball? Laut einer Studie von 2014 sind in Profivereinen fast dreißig Prozent der Spieler schwarz. Dagegen sind bei den Cheftrainern, deren Assistenten und Nachwuchsleitern nur etwa drei Prozent schwarz oder gehören einer anderen Minderheit an. In den Führungszirkeln der Klubs liegt dieser Anteil unter einem Prozent. Leon Mann.  „In den Nachwuchszentren gehen die Zahlen schwarzer Spieler nach oben. In manchen sind es sechzig Prozent. Das ganze sieht nach Apartheid aus. Wir haben eine Branche, in der weiße Männer die Entscheidungen treffen und schwarze Männer auf den Fußball reduziert werden. Diese Dynamik strahlt weit über den Sport hinaus. Und auch die Eltern der Spieler sind deshalb unglücklich. Sie fühlen sich nicht repräsentiert, das sollten wir uns alle bewusst machen.“ Nach der Volkszählung von 2011 waren in Großbritannien fünf Prozent der Weißen arbeitslos – und 13 Prozent der Schwarzen. Leon Mann ist einer der prägenden Köpfe eines jungen Netzwerks, der Name: „Sports People’s Think Tank“. Regelmäßig wollen schwarze Sportler, Aktivisten und Journalisten über Forderungen an die Verbände diskutieren. Zum Beispiel über die „Rooney-Regel“ aus dem American Football. Seit 2003 wird in der Profiliga NFL für einen freien Posten mindestens ein Kandidat aus einer ethnischen Minderheit in Erwägung gezogen. Diese Regel wurde nach Ideengeber Dan Rooney benannt, dem Besitzer der Pittsburgh Steelers. Leon Mann.  „Wir wollen den Bossen nicht vorschreiben, wen sie einstellen sollen. Aber qualifizierte schwarze Trainer oder Manager sollten zumindest zum Vorstellungsgespräch eingeladen werden. Nur so kann es sichtbare Vorbilder für junge Schwarze geben, die sich eine Trainerlaufbahn in diesem Klima oft nicht zutrauten. Aber die Verbände sind sehr vorsichtig. Sie wollen keine Quoten, sie reden von einer organischen Entwicklung hin zu mehr Vielfalt. Aber daran glauben wir nicht. Wir müssen in die Offensive gehen, denn es geht nur langsam voran.“ Leon Mann hat viele Jahre für „Kick it out“ in London gearbeitet. Es ist die am besten ausgestattete NGO, die im europäischen Fußball gegen Diskriminierung wirkt. „Der Zugang zu Spielern war stark eingeschränkt. Wenn überhaupt, dann haben wir zehn Minuten erhalten. Schnell rein, Foto machen, und wieder raus. Wir konnten uns nicht in Ruhe mit den Profis über wichtige Themen austauschen. Das hat sich in den vergangenen Jahren verbessert. Aber einen grundlegenden Wandel sehe ich noch nicht: Die Klubs wollen ihre Spieler schützen, sie wirken fast ängstlich.“ Bis 2020 wollen Leon Mann und seine Mitstreiter den Anteil von nicht weißen Trainern auf mindestens zwanzig Prozent erhöhen. Er hat von den Mächtigen der Branche viele Versprechen gehört, die nicht gehalten wurden. Leon Mann führt eine Debatte mit konkreten Zielen und Dutzenden Partnern. Es ist eine Debatte, die es auf diesem hohen Niveau in keinem anderen Land Europas gibt, auch nicht in Deutschland. Das ist ihm bewusst. Aber ein Trost ist es für ihn nicht.