Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Dossier Kriegskinder und Kriegsenkel Die Wahrheit kann heilen Von Ursula Reinsch Redaktion: Birgit Morgenrath Produktion: DLF 2017 Erstsendung: Freitag, 03.03.2016, 19.15 Uhr Sprecher: Sigrid Burkholder, Michael Witte und Robert Oschatz Technik: Hendrik Manook, Kiwi Eddy Regie: Susanne Krings Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Musik / Atmo Sprecher: Ein Privathaus in Köln-Marienburg. Hier treffen sich alle zwei Monate Menschen, die ihr Kriegserbe erforschen, ihre Erinnerungskultur verbessern oder korrigieren wollen. Kriegskinder und Kriegsenkel. Erzählerin: Eine von ihnen ist Erda Siebert, 72 Jahre alt, im Krieg geboren, geflohen aus dem zerbombten Dresden. Heute arbeitet sie als Psychotherapeutin in Düsseldorf. Als Kind hat sie ihren Vater innig geliebt, ihn als liebevoll und humorvoll erlebt. Jahre später, erfährt sie eher zufällig: Ihr Vater war SS-Obersturmbannführer. Und hat den Tod von 300 000 Juden verantwortet. Verurteilt wurde er nicht. Er starb während eines Spanienurlaubs. Die Tochter vermutet Selbstmord. O-Ton Erda Siebert: "Nach der Wiedervereinigung ist das Berlin Document Center der Amerikaner oder der Alliierten den Deutschen übergeben worden, und wir hatten die Chance, die Akten unserer Väter zu bekommen. Das habe ich mir dann geholt. Und ja, das war dann natürlich der Hammer und viel schlimmer, als was man so in seinen Fantasien hat..." Erzählerin: Peter Pogany-Wnendt ist 63 Jahre alt und arbeitet als Arzt und Therapeut in Köln. Er wurde nach dem Krieg in Ungarn geboren. Seine traurigen Augen habe er vom Vater geerbt, sagt seine 25jährigeTochter Rahel, jüngstes Mitglied in der Runde. "Sehen Sie ihn doch an, man kann es ihm ansehen!" Das klingt fast ein wenig trotzig. Pogany-Wnendts Großeltern wurden im KZ ermordet. Eine etwa 40jährige Frau will anonym blieben. Sie ist zum ersten Mal dabei. Im Bildungsbereich arbeitet sie. Sie leidet unter der Unnahbarkeit ihrer Mutter und den Wutausbrüchen ihres Vaters, findet keine Erklärungen dafür. Bis sie Bücher über Kriegskinder und Kriegsenkel liest. Da ahnt sie, dass alles mit der Vergangenheit zusammenhängen könnte. Aber auch nach fünf Besuchen in Auschwitz fehlt ihr Klarheit. Sie sucht Menschen, mit denen sie darüber sprechen kann. Sprecher: Zehn Menschen sind an diesem Dienstag zum Austausch in der "Arbeitsgruppe Kriegskinder und Kriegsenkel" zusammengekommen. Ein Projekt des "Arbeitskreises für intergenerationelle Folgen des Holocaust". Ansage: Kriegskinder und Kriegsenkel Die Wahrheit kann heilen Ein Dossier von Ursula Reinsch Erzählerin: Warum sich immer wieder mit dem Holocaust beschäftigen? Dem Zivilisationsbruch und dem Verschweigen, dem Erbe der Kriegskinder und Kriegsenkel? Zitator: "Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären. Nur weil die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann bis heute nicht gebrochen." Sprecher: Theodor Adorno: Erzählerin Die Zeitzeugen sterben aus. Der Bann der Vergangenheit nicht. Die NS-Zeit wurde zwar akademisch-politisch aufgearbeitet, aber kaum privat in den Familien. Sehr viele Eltern und Großeltern, Onkel und Tanten, haben über das Erlebte allzu oft geschwiegen. Und so wurde der emotionale Ballast von Generation zu Generation weitergegeben. Weshalb es vielen Menschen heute noch ähnlich geht wie dem 45jährigen IT-Spezialisten Stefan Ochaba: O-Ton Stefan Ochaba: "Ich bin 1972 geboren. Ich bin so ein Kind, so typisch westdeutsches; Nachkriegsgeneration, Mittelstand, im Schwäbischen aufgewachsen... Man weiß viel über den Zweiten Weltkrieg. Aber das Spannende war, dass man trotz dieser ganzen Information, die man da hatte, nie wirklich den Bezug zur eigenen Familie hergestellt hat. Das war immer irgendwas ganz weit weg und man hat so'n bisschen... ‚Okay der Opa hat komische Geschichten erzählt aus dem Krieg.' ... Also, ich hab' keine Fragen gestellt, weil ich es nicht anders kannte." Erzählerin: Diese Fraglosigkeit, dieses "Keine-Fragen-stellen", verbindet Stefan Ochaba mit der fast 30 Jahre älteren Erda Siebert. O-Ton Siebert: "Ich bin geboren in Dresden 1944, und wir sind im Februar '45 in Dresden ausgebombt, so dass wir Flüchtlinge waren. Und der Vater war nicht da. Für mich als Kind auch nicht klar, warum nicht." Erzählerin: Die Mutter schwieg. Lange fühlte sich Erda wie eines der rund 14 Millionen Flüchtlingskinder. Irgendwann haben die Eltern sich scheiden lassen. Erda fragte nicht. O-Ton Siebert: "Ich glaube, es war so um die letzten Jahre vor dem Abitur. Und ich habe einige Leute da getroffen, die sich eben mit dem Nationalsozialismus sehr beschäftigt haben, unter anderem den Vater einer Freundin, der mir einmal gesagt hat: ‚Du weißt wohl gar nicht wer dein Vater war' oder so ähnlich oder ‚was dein Vater gemacht hat.' Und das hat mich alarmiert, und ich hab' meinen Bruder gefragt, und der hat mir dann erzählt, dass er SS-Obersturmbannführer war, und dass er in dem System mitgemacht hat. Ich weiß nur, dass er in Berlin im Reichssicherheitshauptamt war. Ich weiß, dass aus Düsseldorf - das hat mich immer am meisten betroffen gemacht - eine Gruppe von Juden nach Riga gekommen ist und hatte gleichzeitig im Hinterkopf: Wenn mein Vater zu der Zeit da war, dann wird er die, die da vorher in dem Lager waren, irgendwo beiseite geschafft haben, damit Platz wurde für diese Gruppe." Erzählerin: Als Erwachsene erfährt Erda Siebert die ganze unfassbare Wahrheit aus den Akten des Berlin Document Center der Alliierten. O-Ton Siebert: "Das war dann natürlich der Hammer und viel schlimmer, als was man so in seinen Fantasien hat. Und ich hab' dann immer so gelesen, dann wieder vier Wochen weggelegt und dann wieder gelesen. Ich habe Fotos gesehen. Meine Brüder sahen ihm schon ziemlich ähnlich. Also, es war irgendwie nah und fremd und verrückt und alles zugleich. Das war sehr, sehr schwierig." Erzählerin: Den Tod von 300.000 Juden hat Erda Sieberts Vater verantwortet oder zumindest mit verantwortet. Auch Stefan Ochaba machte sich auf die Suche nach der Wahrheit seiner Familie. O-Ton Ochaba: "Ich war in dieser Ausstellung von Hannes Heer, dieser Wehrmachtsausstellung. Per Zufall bin ich dann mitgegangen, in so einer Gruppe, die da so eine Führung durch bekommen hat. Und wo die Frau immer von den ‚persönlichen Sachen' gesprochen hat. Was es mit den Familien gemacht hat, dass die Familien so sind, wie sie waren, weil die Eltern vielleicht dramatische Dinge erlebt haben im Zweiten Weltkrieg. Und da hatte ich zum ersten Mal so das Gefühl: ‚Ups, das könnte ja auch 'was mit deiner Familie zu tun haben.' Das war so ein bisschen so die Initialzündung, warum ich angefangen habe zu forschen." Erzählerin: Solche Initialzündungen waren von den Ausstellern beabsichtigt. Besucher der Ausstellung erfuhren zwischen 1995 und 2004 durch hunderte Fotos, dass nicht nur SS und SA und einige Wenige die Gräueltaten im Zweiten Weltkrieg begangen hatten, sondern auch einfache Soldaten der Wehrmacht. Das bedeutete: Der Vernichtungskrieg war nicht nur ‚politische Geschichte'. Er war auch oft bis heute verschwiegene ‚Familiengeschichte'. Hannes Heer, wissenschaftlicher Leiter der Wehrmachtsausstellung: O-Ton Hannes Heer: "Dass also jetzt auf einmal Millionen von Männern, Ehemännern, von Onkeln, von Brüdern, von Vätern, Großvätern auf einmal als Teilnehmer eines verbrecherischen Krieges vorgestellt wurden, wo der Schluss nahelag, ‚Na ja, es war ja nicht: Das war der Krieg - und das waren die Soldaten!' Sondern der Krieg bestand eben aus den Taten, den Aktionen der Soldaten. Das war eine bestürzende, bestürzende Konfrontation. Die breite Öffentlichkeit wurde kalt erwischt." Erzählerin: Stefan Ochaba gehört dazu. Nach dem Besuch der Ausstellung will er endlich herausfinden, warum die "komischen Geschichten, die der Opa erzählt hat", ihm nie aus dem Kopf gegangen und tief in sein Gedächtnis eingebrannt sind. Unbewusst spürt er die beklemmende Energie dieser Geschichten. Der Vater weicht ihm aus, die Mutter weicht ihm aus. Wie besessen forschte er: in Archiven, in den USA. O-Ton Ochaba: "Mein Großvater, der war nicht selber im Krieg, sondern der hatte einen arisierten Betrieb. Das ist aber der Teil, der nicht erzählt wird, und den ich durch mühsame Forschungsarbeit 'rausgefunden hab'. Der hat Waffen hergestellt, also das war eine Eisengießerei, der Betrieb wurde arisiert, also hat vorher Webstühle hergestellt. Im Krieg wurde der Betrieb genutzt für die Waffenproduktion. Die haben zugeliefert für die AEG, für irgendwelche anderen Firmen. Und die Familiengeschichte, die ich erzählt bekommen hab', ist quasi, dass ich der Nachfahre eines Großgrundbesitzers aus Sudetenland bin. Das ist die Familiengeschichte. Und die dann vertrieben wurde. Und mein Großvater wurde ins Gefängnis geworfen, dann gab's einen Prozess und ein Urteil. Und der ist dann nach Deutschland abgeschoben worden, würde man heutzutage sagen." Sprecher: Zur wahren Familiengeschichte gehört auch, dass der ehemalige jüdische Geschäftsführer des arisierten Unternehmens und dessen Ehefrau im KZ Sobibor ermordet wurden. Und dass in dieser Fabrik mehr als 1000 Zwangsarbeiter schuften mussten. Statt einer Aufarbeitung dieser Verbrechen erhält der Großvater in der Bundesrepublik noch eine Entschädigung für die verlorene Fabrik aus dem Lastenausgleichsgesetz. Erzählerin: Stefan Ochaba ist über all das zutiefst empört. Er möchte nicht "Kriegsenkel" genannt werden. Er bezeichnet sich provokativ als "Nazienkel": Denn als solchen empfindet er sich, das ist seine Wahrheit. Dass seine Familie Geheimnisse hütete, hat Stefan Ochaba immer gespürt. Als emotionale Taubheit und Düsternis, die seine Kindheit überschatteten. Die ewig kranke, depressive, Mutter, der gefühllose, desinteressierte Vater. Diese Kälte im Elternhaus schmerzt ihn bis heute. Und doch fühlt er sich manchmal als "Nestbeschmutzer", wenn er beispielsweise wie hier offen über seine Familiengeschichte spricht oder wenn man sie in dem soeben erschienen Buch Der lange Schatten der Täter lesen kann. Immer noch kränkt ihn, dass sein Vater ihm trotz erdrückender Beweise unterstellt, die "Nazi-Sachen", die seien doch nur "Ideen in seinem Kopf". Aber er versteht auch, warum der Vater ist, wie er ist. O-Ton Ochaba: "Er ist ja quasi schwer traumatisiert, in Reichtum geboren gewesen, und dann mit sechs oder sieben war die Party auf einmal vorbei. Dann kam sein Vater ins Gefängnis." Sprecher: Erda Siebert und Stephan Ochaba - beide wollten irgendwann ihre Erblast des Krieges nicht mehr allein tragen. O-Ton Siebert: "Und dann bin ich eigentlich auf die Suche gegangen. Oder habe mir gewünscht, dass es noch mehr Menschen gibt, die darüber sprechen wollen. Und dann hat ja 1998 der PAKH einen Kongress gemacht. Da bin ich hin und dann bin ich dazu gestoßen." Sprecher PAKH ist das Kürzel des "Arbeitskreises für intergenerationelle Folgen des Holocaust". Intergenerationell bedeutet: Übertragen von einer Generation auf die nächste Generation. O-Ton Ochaba: "In meiner Familie wurde auch nicht viel gesprochen, also weder über meine Großväter oder Urgroßväter und dann werden die Erlebnisse mit ins Grab genommen - ob bewusst oder unbewusst, also um die Kinder zu schützen oder nicht, und ihren Erben damit eine große schwarze Wolke hinterlassen oder Gespenster hinterlassen." O-Ton Siebert: "... so eine Angst vor Gespenstern, vor irgendetwas Diffusem, was aus der Familie kommt. Das sind lange, lange Schuldgefühle, das ist lange ein Schamgefühl gewesen, diesen Vater gehabt zu haben." O-Ton Pogany-Wnendt: "Gespenster vertreibt man nur, indem man das Licht anmacht." Sprecher: Gespenster vertreiben - die Wahrheit herausfinden. Erzählerin: Erda Siebert und Stefan Ochaba, die beiden Nazi-Kinder, können sich im Arbeitskreis zuhören, verstehen, sich trösten, bereuen, trauern, ihre Gespenster ins Licht holen. Aber dort begegnen sie auch Nachkommen von Opfern, denen Nazitäter schweres Leid zugefügt haben. Menschen, die im Krieg geliebte Menschen verloren haben, ermordet von Nazis; Menschen wie Peter Pogany-Wnendt. Sprecher Der 63jährige ist in Ungarn geboren. Er ist Jude, Kind von Holocaust-Überlebenden, arbeitet als Arzt und Psychotherapeut. Sein Vater sei zeitlebens ein tieftrauriger Mann gewesen. O-Ton Peter Pogany-Wnendt: "Ich hab' immer versucht, die Trauer meines Vaters weg zu machen. Ich hab' versucht, ein gutes Kind zu sein. Ich hab' versucht, gute Noten zu haben, ich hab' versucht, mit ihm zum Fußball zu gehen. Mit ihm Spaß zu haben. Ich musste erspüren, was macht ihn glücklich? Und heute weiß ich oder verstehe ich, dass das auch nicht gegangen wäre. Weil letztlich die Trauer etwas ist, was ich glaube, mein Vater sozusagen in Verbindung mit seinen ermordeten Eltern, das brauchte er schlicht und einfach. Ich hätte es ihm ja auch nicht nehmen können. Aber ich denke, auf diese Weise hatte ich die Trauer meines Vaters in mir. Ich habe sie schlicht und einfach übernommen, so in der kindlichen Fantasie, natürlich unbewusst. Wenn ich sie in mir habe, dann braucht er sie nicht mehr zu tragen." Erzählerin: Als Erda Siebert im Arbeitskreis zum ersten Mal von ihrem Nazivater erzählte, dem Mittäter an der Ermordung von 300.000 Juden, war das für beide, für sie und Peter Pogany-Wnendt zunächst kaum auszuhalten. O-Ton Pogany-Wnendt: "Wenn ich jetzt an unsere Gruppe denke: Plötzlich kommen Gefühle hoch, die beispielsweise sehr destruktiv sind, wo eine Wut entsteht oder wo wir plötzlich Spannungen haben, die nicht mit einer Realität in einer angemessenen Weise in Zusammenhang gebracht werden können. Das sind so die Momente, wo wir anfangen, uns klar oder bewusst zu machen...oder die Fragestellung: Was passiert denn da?" Erzählerin: Dem Enkel von Nazi-Opfern, werden im Arbeitskreis seine unbewussten Reaktionen auf die Tochter eines Nazi-Täters, bewusst: O-Ton Pogany-Wnendt: "Es gab zum Beispiel eine Situation, wo Erda plötzlich von ihrem Vater erzählte. Und sie sprach davon, dass sie natürlich als Kind ihren Vater geliebt hat. Und als sie das sagte, habe ich nur gemerkt, dass in mir etwas hochkochte. Dass ich nicht...also nicht verstehen konnte, wie man einen Täter-Vater lieben kann. Und da bin ich wirklich explodiert. Aber dadurch, dass die Gruppe das tragen konnte, konnte ich mich beruhigen. Und dann fing ich auch an, darüber nachzudenken, wieso bedroht mich das so? Und dann habe ich angefangen zu lesen, habe ich gelesen, dass Täterkinder natürlich auch in diesem Zwiespalt stehen. Sie lieben ja auch ihre Eltern. Ich hab' Erda nicht mehr als Erda gesehen, als Person, sondern als Täter oder Täterkind oder so etwas, und dann habe ich die Ressentiments, die ich natürlich in mir trage, oder den Hass, den ich in mir trage, eben auf die Täter, auf Erda, übertragen." Erzählerin: Seit einigen Jahren teilen sich Erda Siebert und Peter-Pogany-Wnendt den Vorsitz des Arbeitskreises. Doch auch Erda belasteten zunächst Vorurteile: O-Ton Siebert: "Also ehrlich gesagt bin ich erst mal mit einer großen Naivität da reingegangen. Ich bin nämlich die von der Exponiertheit eigentlich die einzige, die einen so hoch dotierten Nazi-Vater hatte. Als ich da 'rein kam, haben sich alle, auch die aus Mitläuferfamilien, haben sich eigentlich alle sehr viel mehr um die jüdischen Schicksale gekümmert, was ja auch zu verstehen ist. Und ich kam da eher so rein, dass ich heute im Nachhinein sagen würde, so als wenn ich den schlechten Samen darein bringen könnte. Und bin aus meiner Naivität dann wirklich 'rausgeplatzt und habe gemerkt, was ich eigentlich verkörpere. Das war mir vorher gar nicht so klar. Das war sehr schmerzhaft. Teilweise gab es Leute, die mich dann so ein bisschen geschützt haben, die das auch gespürt haben, und dann gab es wieder etwas, das war dann für mich eigentlich das Entscheidende, die Gespräche und Auseinandersetzungen, zum Teil heftige Auseinandersetzungen mit jüdischen Kollegen, auch mit einem jüdischen Überlebenden, der mich sehr mochte, was ich erst mal gar nicht fassen konnte, nicht. Das sind dann so Bewegungen gewesen, die mir sehr, sehr gut getan haben." Erzählerin: Heute reflektiert Erda Siebert diese symptomatischen Situationen: O-Ton Siebert: "Ich glaube, dass allein durch das Miteinanderumgehen, Vorurteile und Urteile passieren. Die werden gar nicht so bewusst angesprochen, sondern die passieren einfach. Wir nennen das ein ‚acting out', da macht man irgendetwas und hinterher erschreckt man sich und denkt: Was habe ich da jetzt gemacht?" Erzählerin: Beiden Seiten wird nach und nach bewusst, dass sie alle Nachkommen und damit Opfer der Geschichte sind. Sie alle waren nicht am Krieg beteiligt und sind Träger eines intergenerationellen Traumas. Die Vergangenheit wird in diesem Prozess nicht umcodiert. Das gegenseitige Verständnis ist ein mühsamer, aber erwünschter Weg. O-Ton Pogany-Wnendt: "Wir haben Überlebende des Holocaust, wir haben Nachkommen in der zweiten Generation, also die direkten Kinder - direkte Täter haben wir natürlich nicht - aber Nachkommen auch von Tätern. Und inzwischen haben wir auch sozusagen die dritte Generation, also die Kinder der zweiten Generation, der Nachkommen." Sprecher: Dieses Zusammentreffen von mittlerweile drei Generationen hilft bei der Suche nach den Wegen der Übertragung der Erfahrungen von Nazi-Ideologie, von Vertreibungen und Vergewaltigungen. Von Flucht, Folter und Vaterlosigkeit. Von Heldengeschichten, Heimatverlust und Hunger. Von Terror und Tod, Bombennächten und Bedrohung. Musik Sprecher: Die Last des Schweigens Erzählerin: Das Ende der Sprachlosigkeit Sprecher: Kriegserbe in der Seele Erzählerin: Nebelkinder Sprecher: Jeder hat seinen Holocaust Erzählerin: Die Kraft der Kriegskinder Sprecher: Die Erblast der Kriegs Erzählerin: Allesamt Buchtitel, die die Arbeit einiger Kriegskinder und Kriegsenkel charakterisieren, die ihre Erlebnisse zu Papier gebracht haben. Sprecher: Das öffentliche Interesse am Thema Kriegserbe ist in den letzten 20 Jahren sichtbar gestiegen. An vielen Orten, in fast allen größeren Städten, tagen heute beispielsweise NS-Erzählcafés und Selbsthilfegruppen; auch bei Facebook sind sie zu finden, es gibt das Forum Kriegsenkel und den Kriegsenkel e.V. O-Ton Pogany-Wnendt: "Also es gibt einige Stellen, unterschiedliche Archive zum Beispiel. Es gibt in Berlin das Wehrmachtsarchiv, es gibt in Ludwigsburg eine Stelle, die archivieren die Geschichten, auch der Täter." Sprecher: Solche Adressen findet man gesammelt auf der Homepage von One by One Deutschland. Und auch große Konferenzen, wie zuletzt der Göttinger Kriegsenkel-Kongress, unterstützen die familienorientierte Geschichtsaufarbeitung. Dort haben Holocaustforscher berichtet, dass Kriegstraumata als besondere Stressanfälligkeit und Ängstlichkeit weitergegeben würden und sogar das Erbgut verändern könnten. Solche seelischen Schäden ließen sich aus den elterlichen und großelterlichen Verdrängungsstrategien ableiten. In der Abschlussdiskussion hieß es: Zitator: "Die Elterngeneration krempelte die Ärmel auf, um die äußeren Trümmer zu beseitigen. Die seelischen Trümmer zu beseitigen - das ist die Aufgabe der Enkel." Erzählerin: Weil die Zeitzeugen, die direkt am Holocaust Beteiligten, langsam verschwinden, müssen nun die Kriegsenkel die Aufarbeitung übernehmen. Das ist unausweichlich. Damit die Erblasten immer kleiner werden. Und nicht zuletzt, damit wir uns an die Zeit erinnern, als unsere Eltern oder Großeltern hier als Flüchtlinge ankamen. Aus aktuellem Anlass. Der Historiker Wolfgang Benz: O-Ton Wolfgang Benz: "Der Historiker sagt: ‚Ja man kann ja aus der Geschichte lernen, wenn man nur hinschaut, wenn man auf das Vorige schaut, und man wird auch sehen: So viel Neues ist da nicht, und man wird Bekanntes entdecken und kann dann überlegen: Wollen wir die Fehler wiederholen, oder wollen wir Methoden der Abwehr ersinnen?'" Erzählerin: Seit gut 20 Jahren arbeitet der Arbeitskreis für intergenerationelle Folgen des Holocaust an solchen "Methoden der Abwehr" und will mit allen Mitteln die bundesdeutsche Erinnerungskultur verbessern. Zu den Mitteln gehört: Sprecher: Vorträge halten, Bücher schreiben, Veranstaltungen und Kongresse organisieren, in Schulen gehen. Gemeinsam Auschwitz oder andere Orte des Grauens besuchen. Gemeinsam trauern, das Geschehene beweinen, genau hinsehen, nicht wegsehen, heilende Methoden erforschen. Erzählerin: Damit beschäftigt sich die Psychoanalytikerin und Ärztin Elke Horn. Sie lässt ihre kriegstraumatisierten Patienten zum Beispiel Familienbiographien erstellen und deckt so mit ihnen gemeinsam Zusammenhänge auf, findet Gemeinsamkeiten heraus: O-Ton Elke Horn: "Alles, was der Ideologie der Härte der Nazizeit nicht entspricht, wie: ‚sich schwach fühlen', ‚bedürftig sein', aber auch Dinge erlebt zu haben, die einen sich schuldig fühlen lassen oder einen beschämen, das darf nicht gefühlt werden und muss in andere externalisiert werden. Und der Andere ist in dem Fall häufig das eigene Kind. Zu solchen Haltungen, die dann vermittelt werden, gehören ja dann zum Beispiel diese Sätze wie: ‚Heul hier nicht rum!', ‚Reiß' dich zusammen!', ‚Man kann das doch mit dem Kopf regeln' oder ‚Man kann das in den Griff kriegen!' Oder auch dass Eltern sagen: ‚Du hast doch gar nichts.' ‚Du weißt doch gar nicht, was Hunger ist.' ‚Wenn du wüsstest, was wir durchgemacht haben!'" Erzählerin: Laut Ingrid Meyer-Legrande - auch sie arbeitet mit Kriegskindern und Kriegsenkeln - führen diese Lehrsprüche dazu, sich klein, schwach und arm zu fühlen. Ohne jeden Anlass im gegenwärtigen Leben folgten Kriegsenkel oft unbewusst heute noch Leit- oder Leidsätzen wie: O-Ton Ingrid Meyer-Legrande: "‚Keine großen Sprünge wagen' beispielsweise, oder eben auch ganz banal, ‚Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert', oder 'Man muss immer was auf der hohen Kante haben'. Oder auch ganz grausame Leitsätze, wie "Das war mein innerer Reichsparteitag' beispielsweise bei Freude, oder eben auch "Ich habe mich bis zur Vergasung verausgabt' - das sind Leitsätze, die - wie soll ich sagen - noch sehr, sehr lange in den Köpfen der Kriegskinder herumgewabert sind und eben bis heute noch gelten." Erzählerin: Solange solche Glaubenssätze unbewusst bleiben, können sie das ganze Leben lang ihre zerstörerische Wirkung entfalten. Elke Horn: O-Ton Horn: "Einerseits ist es so, dass wir, ob wir wollen oder nicht, solche Haltungen der Eltern in uns aufnehmen. Das heißt, die Nachkommen identifizieren sich mit solchen Aspekten. Gleichzeitig spüren die Kinder aber intuitiv die große Bedürftigkeit ihrer Eltern. Sie spüren, dass die Eltern viel brauchen. Es kommt häufig zu einer Rollenumkehr, und die Kinder haben das Bedürfnis, ihren Eltern zu helfen und sie gut zu versorgen. Das heißt, während sie einerseits dieser Ideologie der Härte oder der Verachtung für Emotionales ausgesetzt sind und darunter leiden, bleiben sie gleichzeitig an die Eltern gebunden, weil sie das Beste möchten für die Eltern. Und der Fokus liegt dann eher darauf, sich um die Eltern zu kümmern, als das eigene Leben in den Griff zu bekommen oder sich im eigenen Leben entfalten zu können." Erzählerin: Wird diese tief in die Innenwand der Seele eingeritzte Naziideologie nicht ans Tageslicht geholt, wird sie immer weiter vererbt. Sie besteht noch heute aus: Gehorsam, übertriebener Anpassung, Härte gegen sich selbst und andere, dem Unterdrücken eigenen Denkens und Fühlens. Der NS-Apparat hatte erfolgreiche Strategien, um solche Verhaltensmuster von Herzlosigkeit zum Beispiel über Erziehungsratgeber nachhaltig zu vermitteln und geradezu einzutrichtern. Sprecher: Die Mutter und ihr erstes Kind. Von Johanna Harrer. Sie war ab 1937 Mitglied der NSDAP. Auch nach Kriegsende war das Buch in sprachbereinigter Form noch lange ein beliebtes Erziehungshandbuch. Erzählerin: Die sprachliche Propaganda war das eine. Besonders subtil wirkte außerdem die zärtlichkeits- und empathielose Erziehung zu Härte und Selbstaufopferung über die Symbolik von Volksgemeinschaft, Volksfremden und Volksfeinden, über völkische Lieder, Uniformen und Strammstehen, über Zeltlager der Hitlerjugend, die Ästhetik Leni Riefenstahls, antisemitische Karikaturen in Schulbüchern und Ausstellungen zu entarteter Kunst. Sprecher: Die Nazi-Verheißung lautete, schreibt der Soziologe Dr. Sebastian Winter von der Justus-Liebig-Universität in Gießen in einem Artikel: Zitator: "Rauschartiges Dasein als Herrenmensch ohne Mangel und Begrenzung. Im Brennpunkt stand dabei der Jude als Figur vaterlandsvergessener, zersetzender Entfremdung, egoistischer Lüsternheit und Kinderfeindlichkeit." Sprecher: Eine Ideologie, die den Kindern der Nazizeit beibrachte: Zitator: "Ein großes Ausmaß von Arroganz und Überheblichkeit und die ‚Berechtigung', andere Menschen zu demütigen und zu denunzieren." Sprecher: Befördert wurde dies durch elterliches Verhalten: Zitator: "Statt Schutz die Aufforderung zum Hartwerden." Erzählerin: Spätfolgen dieser Erziehung bei Kriegskindern und Kriegsenkeln sind ein mangelndes Selbstwertgefühl. Sie wollen es stets anderen recht machen. Viele treiben sich ständig zu Höchstleistungen an. Sie haben Blockaden und träumen schlecht. Viele leiden bis ins Alter an dem Mangel an Wärme in ihren Herkunftsfamilien. Sie sind innerlich erstarrt und kaum in der Lage, ihre eigenen Bedürfnisse zu spüren. Sprecher: Viele Menschen der Nachkriegsgenerationen ahnen nicht, dass der Ursprung ihres Leidens in der Vergangenheit liegt und im Schweigen ihrer Eltern oder Großeltern. Und sie wissen nicht, dass sie ihre Störungen heilen könnten. Erzählerin: Was hilft, sind zum Beispiel persönliche Schilderungen über die verschlungenen transgenerationellen Wege der Übertragung. Peter Pogany-Wnendt: O-Ton Pogany-Wnendt: "Ich wusste, dass ich Jude bin und wie mich das geprägt hat, wie das in mir weiterhin bis heute wirkt." Erzählerin: Jene Trauer seines Vaters, dessen Eltern - vermutlich in Budapest - ermordet wurden. O-Ton Pogany-Wnendt: "Und dieses diffuse Gefühl von Panik, von Angst, die traurigen Augen meines Vaters, die versuchte ich immer irgendwie zu beleben oder glücklich zu machen. Und da ist mir das vielleicht bewusst geworden, als Rahel, meine Tochter - sie war ja fünf Jahre alt - wir saßen da beim Frühstück und plötzlich sagt sie zu mir: ‚Papa, warum hast du so traurige Augen?' Und ich war völlig wie vor den Kopf gestoßen. Ich war ja gar nicht traurig. Und da fiel mir ein, dass ich meinen Vater auch immer traurig gesehen habe." Erzählerin: Traurige Augen - ohne das dazugehörige Gefühl der Trauer. Wie können solche Schatten verschwinden? Musik Sprecher: Erster Schritt, die Kette der Übertragungen beenden. Notwendig dazu sind: Das Wissen. Die Wahrheit. Die Konfrontation. Sprecher: Der Theologe und Publizist Joachim Süss schreibt: Zitator: "Uns fehlt das Wissen, was passiert ist, und das verunsichert enorm." Erzählerin: Dazu muss man sich mit der allgemeinen Geschichte und mit der Familiengeschichte beschäftigen, sich schmerzhaften Fakten stellen, sie aushalten und erkennen wie das Kriegserbe weiterlebt, brodelt und giftet. Aber nach dem Krieg reagierten die Deutschen mit der von dem Psychologen-Ehepaar Mitscherlich diagnostizierten Unfähigkeit zu trauern. Hannah Arendt charakterisierte die Nachkriegsdeutschen als ‚lebende Gespenster', die geschäftig ihre Gefühllosigkeit ‚mit billiger Rührseligkeit kaschieren', durch die entwirklichte Trümmerwelt stapfen, getrieben von der ‚gelegentlich brutalen Weigerung, sich dem tatsächlich Geschehenen zu stellen'. Stattdessen habe sich ein manisch anmutender Wiederaufbaueifer ausgebreitet. Sprecher: Heute hat sich das Klima geändert. Recherchen zur Wahrheitsfindung sind auf vielen Ebenen möglich. Auch in einer Psychotherapie. Wenn unerklärliche Depressionen, Ängste oder Panikattacken nicht aufhören wollen, wenn man dafür keine Erklärung im eigenen Leben findet, kann man sich helfen lassen. Die Ärztin und Analytikerin Elke Horn: O-Ton Horn: "Ich erstelle mit meinen Patienten ein Familienstammbaum, in denen wir alle seelischen Erkrankungen eintragen, aber auch die geschichtlichen Ereignisse und den Kontext, in dem bestimmte familiäre Auffälligkeiten einzuordnen sind. Und häufig ist es so, dass, wenn man sich ein Familienstammbaum dann anguckt, dass transgenerationale Linien schon erkennbar werden. Ich glaube, diese Arbeit des Ordnens, die ist ganz wichtig." Erzählerin: Stefan Ochaba, IT-Spezialist, kennt den schmerzhaften Prozess des Ordnens. Die Wahrheit tut weh und gut zugleich. Die Wahrheit kann heilen! Er hat sie einmal verglichen mit dem Bild eines Tunnels: Ein langer Weg durch die Dunkelheit, an dessen Ende uns jedoch Licht erwarte. Der 45Jährige sagt, je mehr er über die Spätfolgen der Naziverbrechen in seiner Familie herausfände, desto unbeschwerter fühle er sich. O-Ton Ochaba: "Ich habe eine Zeit lang gedacht, ich habe Schuldgefühle. Ich glaube nicht, dass ich Schuldgefühle habe, ich glaube, ich habe Schamgefühle, die nicht mir gehören, die ich glaube, die mein Großvater nicht gespürt hat, die ich glaube, die mein Vater nicht spüren kann, weil er sich auch als Opfer fühlt von dieser ganzen Geschichte und vielleicht auch faktisch ist." Sprecher: "Was faktisch ist" - das findet man durch Fakten. Und dann kann man mit der Zeit vielleicht die eigenen Ängste, die Unsicherheiten und die Heimatlosigkeit verstehen Musik Sprecher: Der zweite Schritt: Alte Muster erkennen, eigene Gefühle wahrnehmen. O-Ton Horn: "Ich denke, dass das Kollektive und das Individuelle sehr stark ineinander verwoben sind. Man kann das vielleicht deutlich machen am Beispiel von Schuldgefühlen. Es gibt sehr persönliche Schuldgefühle, die zum Beispiel damit zu tun haben, dass es nicht erlaubt ist, seine bedürftigen Eltern im Stich zu lassen. Es gibt aber auch Schuldgefühle, die eher genereller Natur sind. Man spürt irgendwie, man fühlt sich schuldig, kann es aber gar nicht so genau einordnen, und es kann zum Beispiel sein, dass dann so 'was weitergegeben wurde, wie ‚wir haben Schuld am Schicksal der Juden in unserem Land.' Das vermittelt sich eher atmosphärisch. Das wäre zum Beispiel jetzt was Kollektives. Und so ein individuelles und ein kollektives Schuldgefühl kann sich mischen." Sprecher: Individuelle Schuld von kollektiver Schuld trennen. Und erkennen: O-Ton Horn: "Ich kann zum Beispiel mir klarmachen: Ich bin nicht schuld am Tod der Juden, aber ich lebe in einem Land, das große Schuld auf sich geladen hat in einer anderen Zeit, und ich bin bereit, dafür Verantwortung zu übernehmen und ein Stück daran mitzuarbeiten, dass die schlimmen Folgen dieser Zeit vermindert werden. Oder einen Versöhnungsbeitrag zu leisten." Erzählerin: Stefan Ochaba, dessen Großvater einen arisierten Betrieb führte, in dem 1.000 Zwangsarbeiter ausgebeutet wurden: O-Ton Ochaba: "Ich fühl' mich ja auch immer quasi also so 'n bisschen so: ‚Ja wahrscheinlich bist du ja auch Täter, oder du hättest da auch nicht anders gehandelt oder so 'was so.' Und es ist doch was, was sehr, sehr tief sitzt, glaube ich. So diese Angst, vielleicht auch selber - hätte ich gleich gehandelt oder nicht? Das weiß ich nicht, wie ich gehandelt hätte. Ich hoffe, dass ich anders gehandelt hätte. Ich kann's aber nicht sagen. Und für mich geht es auch nicht um diese Schuldfrage, sondern es geht wirklich um ein komplettes Bild, um uns als Menschen weiterzuentwickeln." Erzählerin: Sich weiterentwickeln. Dazu ist es notwendig, den alten Mustern die Macht zu nehmen. Sie haben vielfältige Erscheinungsweisen, aber eine große Gemeinsamkeit: Sie hindern Menschen, ihre Entwicklungspotenziale voll auszuschöpfen. Ein 69jähriger zum Beispiel litt extrem unter den Gefühlsausbrüchen seines Vaters: O-Ton: "Für mich persönlich hab' ich immer das Gefühl gehabt, dass mir wie im Märchen die böse Fee Dachau in die Wiege gelegt hat, weil mein Vater Häftling in Dachau war. Er hat schon Gewaltausbrüche gehabt, und wer ihm dann in den Weg gekommen ist oder was er einen Grund gesucht oder gefunden hat, konnte er also wirklich zuschlagen, und zwar mit einer Präzision. Und wir sind hauptsächlich auf den Po geschlagen worden. Das heißt bis hin, dass er so weit gegangen ist, dass er sozusagen uns die Hosen ausgezogen hat und auf den nackten Po geschlagen hat. Erst sehr viel später habe ich in Dachau erlebt, dass das eine der ganz klassischen Foltermethoden war, dass man die Männer auf den Bock gelegt hat, die Hose 'runtergelassen hat, man hat ihnen dann mit einem schweren Knüppel den Hintern und auch den Rücken verschlagen. Als offizielle Lagerstrafe. Leider haben wir nie drüber sprechen können, weil er sehr früh gestorben ist." Erzählerin: Erda Siebert, die 72jährige Tochter eines Nazi-Verbrechers: O-Ton Siebert: "Heimatlosigkeit. Ein extremes Einsamkeitsgefühl. Dass ich dachte, ich bin allein. O-Ton Hildegard Belardi: "‚Den eigenen Schmerz nicht richtig spüren'... ‚Ist doch normal, es tut einem doch immer irgendetwas weh.' Es ist meistens eine Fähigkeit, die fehlt, für sich selbst gut zu sorgen." Erzählerin: Hildegard Belardi, 66, deren Mutter zeitlebens ihren verschollenen jüdischen Verlobten suchte. Als Psychotherapeutin erlebt sie bei Patienten mit Kriegstrauma immer wieder Verhaltensweisen wie diese: O-Ton Belardi: "Dieses Sammeln, Sammeln, Schrauben noch zu sortieren, nicht wegschmeißen können, könnte man ja noch mal irgendwie gebrauchen. Auch mangelnde körperliche Selbstwahrnehmung, fehlende Selbstfürsorge zum Beispiel auch bei Arztbesuchen." Erzählerin: Wer diese Muster aufspürt und die dazu gehörenden Gefühle zulässt kann sich seiner selbst sicherer werden. Die vererbten Haltungen überwinden. O-Ton Horn: "Da steht noch eine bestimmte, größere Haltung dahinter, und das ist nämlich die: ‚Es gibt nur eine Wahrheit.' Ich glaube, dass diese Spaltung in ‚Richtig' und ‚Falsch', in ‚Gut' und ‚Böse', die auch von der NS-Ideologie massiv betrieben wurde, dass die bewirkt, dass den Kindern nicht nur Haltung oder Glaubenssätze vermittelt werden, sondern gleichzeitig subkutan die Idee, dass das die einzig richtige Wahrnehmung von der Welt ist. Und dass es nur so sein kann. Und das führt dazu, dass eigene Impulse oder der Wunsch, etwas Eigenes oder anderes zu fühlen, zu denken, zu leben als bedrohlich erlebt werden. Dass also der Entfaltungsspielraum für das Eigene massiv eingeschränkt wird." Musik Sprecher: Der dritte Schritt: Trauern und mit seinem Kriegs- und Holocausterbe offen umgehen. Etwas tun. O-Ton Pogany-Wnendt: "Ich war 2008 in Budapest, in dem Haus, wo ich selber geboren bin, wo meine Großeltern gelebt haben, und dort habe ich zusammen mit meinem Bruder Stolpersteine verlegen lassen. Und da ist mir meine eigene Trauer zum ersten Mal bewusst geworden. Dass ich sie auch verloren hab'. Aber nicht nur, dass mein Vater seine Eltern verloren hat, sondern dass ich Großeltern verloren habe bzw. dass ich nie Großeltern hatte wie andere Kinder. Und diese Trauer fühlte sich für mich völlig anders an. Damit konnte ich umgehen. Das war keine Last, das war keine Schwere, sondern es war eine Trauer. Und ich konnte dadurch etwas betrauern. Und dann, am nächsten Tag waren wir am Donauufer, und da sind ja diese Denkmale, so metallene Schuhe, die stehen da stellvertretend für die Juden, die umgebracht worden sind, die in der Donau erschossen worden sind. Und da habe ich zum ersten Mal für mich auch die Wut gespürt, den Hass. Aber das waren nicht die Ressentiments, die ich von meinen Eltern in mir trug, sondern mein eigener Hass. Da hat sich etwas in mir getrennt, und ich konnte genau merken, dass sich das anders anfühlt." Erzählerin: Peter Pogany-Wnendt lernte, seine eigenen Gefühle zu spüren. Nicht stellvertretend die seiner Eltern. Er lernte, den Eltern oder Tätern ihre Verantwortung und ihre Gefühle zurückzugeben, auch wenn sie schon lange tot sind. O-Ton Pogany-Wnendt: "Es ist auch traurig, solche Eltern zu haben, das ist schmerzlich. Damit kann ich umgehen, das kann ich für mich erledigen." Erzählerin Helmuth Wetzel, Psychotherapeut: Kriegskind? O-Ton Helmuth Wetzel: "Das, was ich als besonders heilsam erlebt habe, dass ich mit Leuten über diese Geschichten reden konnte und ich das Gefühl hatte, ich bin mit meinen Erfahrungen, mit meinen Gefühlen, mit meinem Gefühlswirrwarr nicht alleine." Erzählerin: Helmuth Wetzel, Psychotherapeut und Kriegskind. O-Ton Wetzel: "Das heißt, ich hab Leute, denen es in irgendeiner Form ähnlich ging. Und dass ich Leute gehabt habe, die sich für diese Geschichte interessieren. Und ich dann von denen im Zuhören und dann hinterher im Feedback Verständnis, Geborgenheit, Zuneigung und auch ein Stück Trost erfahren habe." Sprecher: Worte finden - und an Projekten mitarbeiten. Letzteres ist das Besondere am Arbeitskreis für transgenerationale Folgen des Holocaust. Anders als in Selbsthilfegruppen arbeiten die Mitglieder an ihrer eigenen Geschichte und immer auch an Projekten mit. Vereinsmitglied Hildegard Belardi: O-Ton Belardi: "Ob das die Kriegskindergruppe ist, die hat einen bestimmten Fokus, die Filmgruppe hat einen bestimmten Fokus, die Intervisionsgruppe, wo wir dann über Fälle sprechen hat, einen bestimmten Fokus." Sprecher: Monographien schreiben, nationale und internationale Veranstaltungen organisieren, Kontakte beispielsweise zu einer südafrikanischen Friedensforscherin pflegen. Das sind einige Projekte, die helfen, aus der Ohnmachtshaltung heraus zu kommen und in die Handlung zu gehen. Erzählerin: So kann der innere Prozess Wirkung im Außen haben. Das ist ein wichtiger Schritt, die Kette der Übertragungen zu unterbrechen und den Weg freizumachen für das, was Peter Pogany-Wnendts 25jährige Tochter Rahel erzählt. Er hofft, dass es ihm gelungen ist, das ungute Erbe mit seinen Nebeln und Irrlichtern nicht an seine Tochter weiterzugeben. Vor gut einem Jahr waren Vater und Tochter in Auschwitz. Sie haben dort ihrer Trauer einen Raum gegeben und Zeit. O-Ton Rahel: "Ich glaub', ich wurde da schon sehr früh schon gefühlvoll 'rangeführt. Es war nie so 'ne bedrohliche Wolke über uns, sag' ich mal. Es wirkt auf verschiedenen Ebenen. Zum einen ist es natürlich irgendwie so die eigene Bewältigung. Was möchte ich damit machen und was gebe ich möglicherweise meinen Kindern weiter, was ich eigentlich nicht weitergeben will? Wie kann ich das in die heutige Gesellschaft irgendwie übertragen, weil natürlich: Es gibt immer noch viel Antisemitismus, aber es gibt auch viel Rassismus im Allgemeinen. Und ich glaube, da ist es einfach sehr wichtig, dass man den Holocaust, der nun mal ein monströses Ereignis war und was furchtbar und schrecklich war und man gar nicht glauben kann, wozu Menschen so in der Lage sind, aber ich denke, er sollte uns eine Lehre sein. Und wir müssen gucken, wie kann man das auf heutige Situation eigentlich übertragen?" O-Ton Ochaba: "Ich glaube nicht, dass das Thema unaktuell ist oder so was, sondern es wird aktueller denn je auch mit dieser ganzen Flüchtlingsproblematik. Und bei meinem Vater ist es relativ offensichtlich, glaube ich. Der hat einfach Sorge, dass das Kalifat ausgerufen wird in 20 Jahren und seine Enkelkinder dann irgendwie Arabisch lernen müssen. Und das sind, glaube ich, Sachen, wenn die nicht bewusst sind, dann brechen die aus, in einer schlimmeren oder auch nicht so schlimmen Form." Absage: Kriegskinder und Kriegsenkel Die Wahrheit kann heilen Ein Dossier von Ursula Reinsch Es sprachen: Sigird Burkholder, Michael Witte und Robert Oschatz. Ton und Technik: Jendrik Manook und Kiwi Eddy. Regie: Susanne Krings. Redaktion: Birgit Morgenrath. Eine Produktion des Deutschlandfunks 2017. 24