Deutschlandfunk Kultur Sendung Zeitfragen 20. Juni 2017 Göttlich inspiriert Die Welt der indischen Gurus (2/2) Zwischen Ideal und Wirklichkeit: Sie sind nicht mythisch entrückte Gestalten, sondern auch machtvolle Persönlichkeiten und moderne Geschäftsleute Von Antje Stiebitz Redaktion: Winfried Sträter ______________________________________________________________________ Anmoderation: Indische Gurus erscheinen uns oft wie mythisch entrückte Lichtgestalten, die ihre Weisheit strahlend mit uns teilen und die ihre machtvollen Persönlichkeiten immer für das Wohl der Gemeinschaft einsetzen. Doch dabei rückt in den Hintergrund, dass sie außerordentlich erfolgreich Geschäftsleute abgeben und auch im politischen Geschehen eine Rolle spielen. Manchmal setzen sie ihre Macht vor allem für ihre eigenen Interessen ein, denn Gurus sind eben auch nur Menschen. Antje Stiebitz hat recherchiert. __________________________________________________________________________ Musik-01 (RamRahimLoveCharger.WAV von 00:06 bis 01:16): Pop-Musik von Guru Ram Rahim, unter den folgenden Absatz legen Erzählerin: Wenn Gurmeet Ram Rahim Singh singt, ist er in grelle Outfits gekleidet und inszeniert sich in kitschigen, psychedelisch anmutenden Umgebungen. Der spirituelle Lehrer, Popstar und Schauspieler, auch "Guru of Bling" genannt, ist eine der schillerndsten Figuren unter den Gurus Indiens. Er hat sich selbst den Namenszusatz 'Heiliger' gegeben und ist Anführer der sozialen Gemeinschaft Dera Sacha Sauda, die ihren Hauptsitz in der Stadt Sirsa im nordindischen Bundesstaat Haryana hat. Regie: "Love Charger" noch mal hochkommen lassen Erzählerin: Im August 2017 wurde Gurmeet Ram Rahim Singh der Vergewaltigung von zwei seiner Anhängerinnen schuldig gesprochen. Nach dem Schuldspruch zogen seine Jünger randalierend durch die Straßen, 38 Menschen kamen ums Leben, 250 wurden verletzt. Was macht einen Guru aus? Was steckt hinter dem Phänomen der indischen Gurus? Ram Rahim ist sicherlich ein Extremfall, aber er zeigt, wie groß die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit sein kann. Indische Gurus akkumulieren Macht. Ihre Macht korreliert mit der Größe ihrer Anhängerschaft und ihren Verbindungen in Politik und Wirtschaft. Dem "Bling Guru" Ram Rahim werden beispielsweise rund 60 Millionen Anhänger zugesprochen. Und er ist bekannt dafür, dass er seiner Anhängerschaft gegenüber Wahlempfehlungen ausgesprochen hat - zunächst für die Kongress-Partei, später für die hindunationalistische BJP. Musik-02: "Shree Shiv Sankirtan" von Suresh Wadkar Erzählerin: Einer, der die Zusammenarbeit mit Politikern und einflussreichen Persönlichkeiten nicht scheut, ist Sadhguru. Auf der Massenveranstaltung Rally for Rivers in Chennai, der von ihm initiierten Kampagne zur Erneuerung von Indiens Flüssen, steht er mit dem Ministerpräsidenten des Bundesstaats Tamil Nadu auf der Bühne. Er verkehrt mit einflussreichen Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik: Pratap Reddy etwa, dem Gründer der Apollo Hospitals Group, einer Krankenhauskette. Oder mit dem Chef der New Development Bank der BRICS-Staaten, die wirtschaftliche Macht aufbaut. In einem Interview mit der Tageszeitung Indian Express wundert sich der Guru darüber, warum Politiker keine spirituellen Führer haben sollten, schließlich hätten Könige früher auch Raj Gurus gehabt, um sie um Rat zu fragen. Regie: "Shree Shiv Sankirtan" von Suresh Wadkar noch mal hochkommen lassen Erzählerin: Zum Interview empfängt uns Sadhguru in Neu-Delhi im exklusiven Hotel Taj Palace. Zwei seiner Mitarbeiter holen uns in der Lobby ab. Vorbei an spiegelnden Flächen, exquisiten Möbeln und Bildern geleiten sie uns in den Vorraum einer luxuriösen Suite. Die Presseleute setzen sich auf eine Couch, für Sadhguru steht ein Sessel bereit. Seine Anhänger lassen sich auf dem Boden nieder, verharren auf ihren Knien oder im Schneidersitz. Wenige Minuten später betritt ein gutgelaunter Sadhguru den Raum - ein sorgfältig inszenierter Auftritt: O-Ton 01 (Sadhguru-Interview.WAV von 14:54 bis 15:36): "In body, in mind and emotions we always will be different and it's good that we are different. (...) But there is a dimension beyond that. To help people to touch that dimension is my business, to touch them, to a dimension beyond their physicality beyond their psychological structures beyond their emotional structures. There is a dimension called life which is dropping in all of us. If you touch that dimension of life, life happens differently." Übersetzer: Was Körper, Geist und Emotionen betrifft, werden die Menschen glücklicherweise immer unterschiedlich sein. Aber es gibt eine Dimension, die darüber hinausgeht. Meine Aufgabe ist es, Menschen dabei zu helfen, diese Dimension zu berühren. Ihnen begreiflich zu machen, dass es eine Ebene jenseits physischer, psychologischer und emotionaler Strukturen gibt: die Dimension des Lebens, die in allen von uns fließt. Wird diese Dimension berührt, verändert sich das Leben. Erzählerin: Die indische Journalistin Bhavedeep Kang bezeichnet Sadhguru als metaphysischen Mystiker. In seinem Ashram nahe der südindischen Stadt Coimbatore hat er eine 34 Meter hohe Büste des Gottes Shiva aufstellen lassen. Shiva als Adiyogi, den ursprünglichen Asketen, der im Himalaya sitzt und sowohl die Quelle des Yoga symbolisiert als auch für den ersten aller Gurus steht. Die Statue soll als Inspiration dienen. Der 60jährige Guru mit Turban und buschigem weißen Bart steht in der indischen Guru- Shishya-Tradition: O-Ton 02 (Interview-Sadhguru.WAV von 11:21 bis 12:20): "The speciality is, we payed enormous attention to the subjectivity of the human being. Rest of the world payed attention to the objectivity of our lifes. Subjectivity determines the quality of your life." Übersetzer: Das Besondere ist, dass wir der Subjektivität des menschlichen Seins enorme Beachtung geschenkt haben. Der Rest der Welt hat die Aufmerksamkeit auf die Objektivität des Lebens gelenkt. Aber es ist die Subjektivität, die die Qualität des Lebens bestimmt. Erzählerin: Ich will von ihm wissen, wie es kommt, dass in Indien die Anbetung eines einzelnen Menschen kulturell so tief verankert ist. O-Ton 03 (Interview-Sadhguru. WAV von 16:23 bis 16:43): "That´s not true. Even in the West you adore your rockstars who are drug adicsts and sexmaniacs but just because they make a lot of sound you adore them. Here we adore people who transform our lifes." Übersetzer: Das stimmt nicht. Im Westen verehrt Ihr sogar Rockstars, die drogenabhängig und sexsüchtig sind, nur weil sie eine Menge Töne machen. Wir hier verehren Menschen, die unser Leben verändern. Erzählerin: Verändert hat Sadhguru vor allem meine Annahme, dass Shiva, der Meister der Askese und Meditation, mit Politik, Golf und PS-starken Autos unvereinbar wäre. Sadhguru beherrscht diesen Spagat jedenfalls verblüffend. Muik-03: Baba Ramdev-Pranayam on Vimeo von 01:18 bis 02:55, Ramdev singt Erzählerin: Die nordindische Stadt Haridwar liegt am Ganges, hat rund 230.000 Einwohner und gilt als heilig. Nur wenige Kilometer entfernt, liegt der Ashram von Guru Ramdev und Acharya Balkrishna. Etliche E-Mails, SMS und Anrufe waren nötig, um vom Pressesprecher die Zusage für ein Interview mit dem Guru-Doppel zu erhalten. O-Ton (Baba Ramdev, Pranayam, on Vimeo von 02:55 bis 03:20): "How can Yoga help you to get a fit body? How can it help you to get rid of ailments so that you remain healthy till you turn hundred?" Übersetzer: Wie kann Yoga helfen; einen leistungsfähigen Körper zu bekommen? Wie kann Yoga helfen; sich von Erkrankungen zu befreien und gesund zu bleiben; bis man hundert Jahre alt wird? Erzählerin: Swami Ramdev unterrichtet Yoga via Internet auf der Video-Plattform Vimeo. Bekannt geworden ist er durch die zwei religiösen Fernsehkanäle Sanskar und Aastha, wo er die Zuschauer mit Hilfe von Fernsehshows in Yoga und Atemtechniken unterwies. Inzwischen gibt es in Indien wohl kaum noch jemanden, der den Swami mit den langen Haaren, dem dunklen Bart und leicht schielendem Blick nicht kennt. Seine orangefarbene Robe und hölzernen Schuhe weisen ihn als Asketen aus. Sein Companion Balkrishna trägt den Namenszusatz Acharya, Lehrer. Acharya Balkrishna veröffentlicht zahlreiche Bücher über die Heilkunst Ayurveda, doch vor allem ist er Geschäftsmann und leitet das Unternehmen Patanjali, das er gemeinsam mit Swami Ramdev gründet hat. Das Unternehmen ist nach dem indischen Weisen Patanjali benannt, der die Grundsätze des Yoga verfasst haben soll. Das Patanjali Ayurved verkauft von Zahnpasta über getrocknete Früchte bis zur Aloe Vera-Creme eine gewaltige Palette von Konsumgütern - alles nach ayurvedischen Grundsätzen hergestellt. Da sich Baba Ramdev einem asketischen Leben verpflichtet hat, gehören 98,6 Prozent der ständig wachsenden Firma seinem Pendant Acharya Balkrishna. Dessen Vermögen wird auf circa neun Milliarden Euro geschätzt, er gilt als acht reichster Mann Indiens. Atmo-1: Patanjali Yogpeeth-I, gedämpfte Geräusche von Verkehr und Stimmen auf dem Campus Erzählerin: Auf dem großen Eingangstor steht in goldenen Buchstaben Patanjali Yogapeeth- I. Dahinter erstreckt sich das großflächige Areal des Ashrams. Die auffällig gepflegte Gartenanlage führt genau auf den Eingangsbereich eines ayurvedischen Krankenhauses zu. Hier befindet sich das Arbeitszimmer von Acharya Balkrishna. Vor seiner Tür warten Menschen, es herrscht reges Kommen und Gehen. Er sitzt hinter einem schweren, braunen Schreibtisch, trägt eine weiße Kurta und hat das Gesicht eines Kindes. Nein, erklärt er, einen Widerspruch zwischen der Rolle eines Gurus und geschäftlichem Erfolg gebe es für ihn nicht: O-Ton 04 (AcharyaBalkrishna-Interview.WAV von 04:34 bis 04:56): "We don´t think of ourselves as owner but people who do work, we just believe in this and nothing else. ( ... )02:30 bis 02:38 What Ramdev tries to do, is to make people´s life better, not only through words but through deeds and actions." Übersetzer: Wir verstehen uns selbst nicht als Besitzende, sondern als Menschen, die ihre Arbeit machen und an sie glauben. ( ... ) Ramdev versucht das Leben der Menschen besser zu machen, nicht nur durch Worte, sondern durch Handlungen. Erzählerin: Tatsächlich leistet der Ashram vielfältige Dienste. Die medizinische Behandlung des Krankenhauses ist umsonst, eine Küche gibt an Hungrige Essen aus. Auf dem Campus wird Yoga und Ayurveda gelehrt, erforscht und weiterentwickelt. Auch ayurvedische Medizin wird hier hergestellt. Trotzdem stellt sich die Frage, wie das zusammenpasst: der angehäufte gewaltige Reichtum und die Ideale der indischen Guru-Tradition mit der Spiritualität und der Lehrer-Schüler- Tradition zur Entfaltung des Menschen. Das steht doch im Widerspruch zueinander... O-Ton 05 (AcharyaBalkrishna-Interview.WAV von 14:33 bis 14:58): "No, there is a problem with the spiritual power. There two kinds of energies, negative and positive. There is no issue if it is used for positive purposes, but when the same is used for negative purposes it is harmful." Übersetzer: Nein, aber es gibt ein Problem mit spiritueller Macht. Es gibt negative und positive Energie. Es entstehen keine Probleme, solange diese Energie für positive Zwecke eingesetzt wird. Aber sobald die Energie für negative Ziele eingesetzt wird, ist sie gefährlich. Erzählerin: Als Beispiel wählt er den Helden Ram und den Dämon Ravana aus dem indischen Epos Mahabharata: O-Ton 06 (AcharyaBalkrishna-Interview.WAV von 14:58 bis 15:10): "Both Ram and Ravanna had power. Ravana misused it but Ram did not. It happens everywhere. If I have power, I can use it and even misuse." Übersetzer: Ram und Ravana waren beide mächtig. Ravana hat seine Macht missbraucht, Ram hingegen nicht. So ist es überall. Wenn ich Macht habe, kann ich sie entweder nutzen oder missbrauchen. Erzählerin: Baba Ramdev kommt nicht zum vereinbarten Interview-Termin. Er habe anderweitig zu tun, wird uns erklärt. Dafür werden wir nach dem Gespräch mit Acharya Balkrishna bis vor die Tür des nigelnagelneuen Patanjali Forschungszentrum für Ayurveda gefahren und dort herumgeführt. Im Mai 2017 kam Premierminister Narendra Modi in den Ashram und weihte das Forschungszentrum ein. Ramdev und Balkrishna sind für ihre Verbindungen zur Regierungspartei BJP bekannt. Wenn Ramdev auf der Bühne seine Yoga- Übungen vormacht, kann es sein, dass dahinter, auf die Kulisse gemalt, der Premier und seine Parteikollegen freundlich lächeln. Denn das Unternehmen Patanjali steht für traditionelle indische Werte. Und die Schnittmenge zwischen Guru Ramdev, Acharya Balkrishna und den Politikern der BJP lautet: ein hinduistisch und national geprägtes Indien. Gurus sind keine mystisch entrückten Lichtgestalten, auch wenn sie sich oft als solche inszenieren und sich göttlich verklären. Gurus sind machtvolle Persönlichkeiten, moderne Geschäftsleute, die sich aktiv ins politische und gesellschaftliche Leben einmischen. Außerdem kommt es im Umfeld von Gurus immer wieder zu Ausbeutung von Schülern und zu dubiosen Verbrechen. Insbesondere der Missbrauch von Frauen scheint ganz oben auf der Liste der Straftaten stehen. Vor wenigen Wochen etwa wurde der 77-jährige Guru Asaram Bapu wegen der Vergewaltigung einer 16-jährigen zu lebenslanger Haft verurteilt. Sicher auch ein Extremfall, aber es drängt sich die Frage auf, wie unschuldig das Verhältnis eines Gurus zu seinen Schülern ist, was er seinen Schülern zumuten darf. Wie weit ein Guru gehen darf. Saptak Chatterjee, der seit 18 Jahren bei seinem Guru Gesang lernt, sagt: O-Ton 07 (SaptakChatterjee.WAV von 26:57 bis 27:20): "That´s the grey area which is what I am saying that the guru and the student always need to be in synch. The thought processes need to be in harmony. At every step at every point in time the guru and the disciple will need to question what is happening." Übersetzer: Das ist eine Grauzone, deshalb sage ich, dass der Guru und sein Student immer übereinstimmen müssen. Ihre Gedankenprozesse müssen in Harmonie sein. Sie müssen sich an jedem Punkt, an den sie gelangen, hinterfragen, was gerade passiert. Erzählerin: Swami Agnivesh ist ein politisch engagierter indischer Aktivist; er ärgert sich über die göttliche Verklärung, die von manchen Gurus betrieben wird: O-Ton 08 (SwamiAgnivesh.WAV von 44: 24 bis 45:10): "But what has completely got perverted is this whole concept of guru and these nowadays, modern day or with our gurus, new age gurus whom we call. They are all exploiters and this new age gurus always chanting mantras. There is a particular day, they call it Guru Purnima and on that day the guru sits on a throne like place and the shishyas and all those in their numbers, duzens or even hundreds or thousands. They come and bow down and touch the feet and they offer gifts. And the guru wants them to chant. What? Guru Brahma, Guru Vishnu, Guru Devo Mahesvarar." Übersetzer Das ganze Konzept des Gurus wurde völlig pervertiert. Moderne Gurus oder auch New Age Gurus, wie wir sie nennen, sie sind Ausbeuter. Diese New Age Gurus singen ständig Mantren. Da gibt es einen speziellen Tag, sie nennen ihn Guru Purnima. An diesem Tag sitzt der Guru auf einer Art Thron und die Schüler kommen in Dutzenden oder sogar zu Hunderten oder Tausenden. Sie kommen, verneigen sich vor ihm, berühren seine Füße und bringen Geschenke. Und der Guru möchte, dass sie für ihn singen. Und was? Guru Brahma, Guru Vishnu, Guru Devo Mahesvarar. Erzählerin: Swami, der Aktivist mit dem orangefarbenen Turban, ist wütend: O-Ton 09 (SwamiAgnivesh.WAV von 45:33 bis 45:49): "This is all mischivious, the guru cannot be god, however great a guru will be, not a god, neither an incarnation of god ... has nothing to do with god. God is supreme, cannot take any form." Übersetzer Das ist alles von Nachteil. Der Guru ist kein Gott. Wie großartig ein Guru auch ist, er ist weder Gott noch eine Inkarnation von Gott, das hat mit Gott gar nichts zu tun. Gott ist übergeordnet und formlos. Erzählerin: Viele Menschen, fährt er ironisch fort, würden sich in der Obhut eines Gurus zu Schafen entwickeln. Dabei ermutige ein echter Lehrer seine Schüler zu Zweifel, lehre die Fähigkeit zu diskutieren und zu widersprechen. Doch viele Gurus wollen offenbar ihre Autorität nicht durch andere Meinungen gefährden. Das jedenfalls erklärt der Sozialwissenschaftler Manoj Jha, den ich an der Delhi Universität treffe: O-Ton 10 (ManojJha.WAV von 09:05 bis 09:34): "Even now the idea of questioning is not found to be a very good idea. For example our entire education system rewards good answers, it doesn't reward good questions. And good answers are those who are exactly the photocopy of the image of the teacher. Replicating the image of the teacher, that teacher's ideas." Übersetzer: Etwas in Frage zu stellen, wird bis heute nicht als eine gute Idee betrachtet. Beispielsweise belohnt unser Ausbildungssystem gute Antworten, gute Fragen hingegen nicht. Und als gute Antworten werden diejenigen betrachtet, die den Lehrer kopieren, die den Lehrer und seine Ideen wiederholen. Erzählerin: In Berlin treffe ich Almuth-Barbara Renger an der Freien Universität. Die Religionswissenschaftlerin hat sich intensiv mit dem Verhältnis zwischen Meister und Schüler beschäftigt. Das menschliche Nachahmungsverhalten sei zwar die Grundlage des Lehrer-Schüler-Verhältnisses, erklärt die Professorin, doch die Nachahmung des Meisters sei auch die Ursache von Konflikten. So beschreibe es der Religionsphilosoph René Girard mit seiner Theorie vom "mimetischen Begehren": O-Ton 11 (RengerInterview.WAV von 01:00:49 bis 01:02:07): "Nach Girard verhält es sich so, dass etwas, eine Person oder ein Gegenstand, ein Wissensinhalt oder eine bestimmte Form des Könnens besonders dann Interesse erregt, wenn viele es begehren. Und das kann sowohl produktive Dynamiken freisetzen, kreatives Potential aktivieren als auch destruktives und mit Emotionen wie Rivalität, Neid, Eifersucht und so weiter und so fort einhergehen, die für Sozialbeziehungen grundsätzlich ein Potential besitzen, das zu Eskalationen führen kann." Erzählerin: Ein Beispiel. Der Yoga-Lehrer macht den Sonnengruß vor. Er hat sich die Übung selbst einmal aneignen müssen und hat sie mit den Jahren perfektioniert. Der Schüler ahmt den Lehrer nach, so gut es ihm möglich ist. Jetzt kann es zu mehreren emotionalen Dynamiken kommen. Zum einen gerät der Lehrer in den Fokus des Neids seiner Schüler - schließlich wollen sie die Übung genauso perfekt können wie er. Gleichzeitig konkurrieren die Schüler miteinander, denn jeder möchte der Beste sein. Dadurch fühlt sich wiederum der Lehrer bedroht, weil ihn die Sorge umtreibt, seine Schüler könnten über ihn hinauswachsen. Jetzt, erklärt Almuth-Barbara Renger, kommt die Double-Bind-Theorie von Gregory Bateson ins Spiel, eine Theorie der gestörten Kommunikation: O-Ton 12 (RengerInterview.WAV von 01:07:23 bis 01:07:40): "So ein Double-Bind, so eine Situation einer Doppelbindung, liegt dann vor, wenn zwei Personen in eine besonders intensive Beziehung verwickelt sind, verstrickt sind, in der die Botschaften uneindeutig sind." Erzählerin: Denn die Person A vermittelt der Person B nicht mehr wirklich das, was sie fühlt und denkt, führt die Professorin aus, sondern etwas anderes. Zum Beispiel lobe die lehrende Person A, den lernenden Schüler B: Das hast du aber schön gemacht! O-Ton 13 (RengerInterview.WAV von 01:08:05 bis 01:08:44): "In Wirklichkeit fühlt sich Person A aber bedroht von der Ähnlichkeit, die durch die Aneignung zustande gekommen ist. Fühlt sich in der Individualität, in der Könnerschaft irgendwie verunsichert, bedroht. In seiner Meisterschaft, in seiner Einzigartigkeit. Und Girard sagt, es passiert eigentlich immer." Erzählerin: Girards Theorie besagt, dass Gemeinschaften ihre negativen Gefühle und die damit einhergehende Gewaltspirale nicht beseitigen, sondern nur eindämmen könnten. Das würden sie tun, indem sie ihre negativen Impulse auf einem Sündenbock abladen. Diese Triebabfuhr, so Girard, mache es der Gemeinschaft dann möglich, weiter zu existieren. Ob Girards Theorie geeignet ist, die verstörenden Berichte zu erklären, die es immer wieder aus dem Umfeld von Meistern gibt? Emotionale Ausbeutung und Abhängigkeit, Missbrauch, Tötung und Suizid ... Auf bessere Erklärungen bin ich bei meinen Recherchen nicht gestoßen. Atmo-02 (SriSri.WAV von 00:00 bis 01:38): Stimmengewirr und Musik im Veranstaltungssaal des Berliner Maritim Hotels Erzählerin: Im Saal Maritim des gleichnamigen Berliner Hotels herrscht reges Kommen und Gehen. Rund 1.800 Menschen freuen sich auf die angekündigte Veranstaltung mit dem spirituellen Lehrer Sri Sri Ravi Shankar, von seinen Anhängern kurz Sri Sri genannt. Auf der Eintrittskarte steht "Meditation 4.0. In Konversation mit Sri Sri Ravi Shankar", sie kostet 35 Euro. Sri Sri ist Friedensbotschafter und Gründer der internationalen Art of Living Foundation, die weltweit in 155 Ländern tätig ist. Sri Sri ist ein ehemaliger Schüler des verstorbenen Maharishi Mahesh Yogi, dem Pop-Guru, der in den 70er-Jahren durch die Beatles bekannt wurde. Der 62-jährige Sri Sri setzt sich für eine gewalt- und stressfreie Welt ein und ist für die von ihm entwickelte Atemtechnik, Sudarshan Kriya, bekannt: O-Ton 14 (JuliaStenzel. WAV von 01:38 bis 01:57): "Und dann habe ich den Kurs gemacht, das Happiness Programm und diese Atemtechnik gelernt, Sudarshan Kriya und das war so eindrücklich für mich, das hat mir so gut getan, dass ich in dem ersten Kurs, jetzt genau vor fünf Jahren, schon gedacht habe, das ist was für mich." Erzählerin: Julia Stenzel ist 27 Jahre alt und im letzten Jahr ihres Medizinstudiums. Am Anfang, erzählt sie, sei es für sie wenig präsent gewesen, dass hinter Art of Living ein Guru steht. Das veränderte sich, als sie mit Meditation und Stille-Kursen begann. Inzwischen ist Sri Sri Ravi Shankar, was Meditation und Spiritualität betrifft, ein großes Vorbild für sie. Sie bewundert ihn für sein Wissen und Friedensengagement. Mit ihrer Begeisterung für Art of Living stößt Julia Stenzel in ihrem Umfeld nicht nur auf Verständnis: O-Ton 15 (JuliaStenzel.WAV von 09:20 bis 10:18): "Befürchtungen sind von Freunden, Familie, und natürlich meinen Eltern, dass ich zum Beispiel, von meinen Eltern vor allem, dass ich das Medizinstudium oder meine Karriere als Ärztin vernachlässigen könnte, weil ich sehr aktiv bin, Yoga gebe und Meditation leite bei uns im Zentrum in Berlin. Und von Freunden eigentlich ähnlich, die Befürchtung, dass meine Energie ausgenutzt werden könnte." Erzählerin: Die junge Frau lächelt freundlich: O-Ton 16 (JuliaStenzel.WAV von 10:50 bis 11:12): "Ich sehe das anders. Ich sehe, dass ich sehr aktiv bin und es mir aber auch einfach Energie gibt." Atmo-03 (SriSri.WAV von 01:38 bis 03:10): Om Nama Shivaya hallt durch den Saal Maritim unter den nächsten Absatz legen Erzählerin: Das Programm beginnt mit einer Yoga-Performance. Die Gruppe führt im Fluss der Musik ihre Yoga-Übungen aus. Atmo-04: Applaus Erzählerin: Da betritt Sri Sri Ravi Shankar die Bühne. Er ist in eine weiße Robe gehüllt und hält eine Rose in der Hand. Die Zuschauer klatschen, viele von ihnen stehen auf. Er lässt sich auf einem Podest nieder. Die indische Botschafterin Mukta Dutta Tomar richtet Grußworte an ihn. Dann setzt sie sich auf einen Stuhl und bleibt den ganzen Abend lang an seiner Seite sitzen. Sri Sri fragt das Publikum: O-Ton 17 (SriSri.WAV von 03:50 bis 03:55): "All are happy?" - "Seid ihr alle glücklich?" Erzählerin: Zunächst leitet Sri Sri seine Gäste an, sich 30 Sekunden Zeit zu nehmen und dem Nachbarn die Hand zu schütteln, weil es sich in einer herzlichen Atmosphäre besser meditieren lasse. Einer seiner Schüler übersetzt: O-Ton 18 (SriSri.WAV von 08:41 bis 08:54): "Meditation is a journey from movement to stillness and from sound to silence." - "Meditation ist eine Entwicklung von der Bewegung zur Stille, vom Klang zur inneren Stille." Erzählerin: Sri Sri leitet das Publikum zur Meditation an: O-Ton 19 (SriSri.WAV von 09:44 bis 10:05): "Again take a deep breath in with a big smile." - "Atme noch einmal mit einem Lächeln ein." - "And breath out with a smile, keep you eyes closed." - "Und atmet mit einem Lächeln aus, haltet die Augen geschlossen." Erzählerin: Seine sanfte und freundliche Stimme führt das Publikum rund 20 Minuten in Meditation. Keiner rührt sich, manchmal durchbricht ein Husten die Stille. Danach stellt das Publikum Fragen: O-Ton 20 (SriSri.WAV von 15:10 bis 15:40): "How can I cope with the terrible state of the world? Everywhere is war." - "Wie kann ich mit dem schrecklichen Zustand der Welt umgehen, überall ist Krieg."- "I know what you are talking about." - "Ich weiß, worüber Du sprichst." - "I think you are watching to much of news channels." - "Ich glaube, Du schaust zu viele Nachrichten." - "You should switch to the entertainment channel also." - "Du musst mal zum Unterhaltungsprogramm wechseln." Erzählerin: Sri Sri Ravi Shankar plaudert, mal tiefgründig, mal banal, aber immer verständnisvoll und voll lobender Worte für das Gute in der Welt. Die Wirkung ist erstaunlich: Eineinhalb Stunden später liegt auf vielen Gesichtern im Publikum ein entspanntes Lächeln, auf meinem auch. Als sich der Guru verabschiedet, bekommt er Standing Ovations. Atmo-05 (SriSri.WAV von 01:38 bis 03:10): Om Nama Shivaya Atmo-06 (Bhastrika.WAV von 00:40 bis 04:44): rhythmisches Atmen Erzählerin: In einem lichtdurchfluteten Raum in Berlin-Schöneberg üben 25 Teilnehmer die Bhastrika-Atmung. Yoga-Matte an Yoga-Matte erlernen die Anwesenden verschiedene Atemtechniken. Das sogenannte Happiness-Programm geht über drei Tage. Der anweisende Lehrer, Swami Jyothirmayah, hat die gleiche sanfte Stimme und das gleiche freundliche Lachen wie Sri Sri. Auch äußerlich sieht er seinem Guru überraschend ähnlich - er ist nur einige Jahre jünger. Glücklicherweise, erklärt der Swami, sei der Westen mit viel materiellem Komfort gesegnet, das habe er auf seinen Reisen beobachten können: O-Ton 21 (Jyothirmayah.WAV von 01:28 bis 01:50): "But sometimes at the same time there is a dissatisfaction. We can make comfort for our body but we need comfort for our mind and our spirit, so for that this vedic knowledge like meditation, Yoga and some breathing technic that really helps." Übersetzer: Trotzdem ist manchmal Unzufriedenheit spürbar. Wir können unserem Körper Komfort bieten, aber wir brauchen ebenso Komfort für unseren Geist und unsere Seele. Dabei hilft das vedische Wissen, wie Meditation, Yoga und einige Atemtechniken. Regie: Bhastrika-Atmung noch mal hochkommen lassen Erzählerin: Gut dosiert lernen wir in drei Tagen drei verschiedene Atemtechniken. Darunter die speziell von Sri Sri entwickelte Atemtechnik Sudarshan Kriya. Sri Sri Ravi Shankar gibt durch Lautsprecher die Geschwindigkeit des Atemrhythmus vor. Neben Swami Jyothirmayah, der auf einer Couch sitzt, steht die gerahmte Fotografie des Gurus. Die Teilnehmer kommen aus ganz pragmatischen Gründen hierher. Beispielsweise Jana, die etwas gegen ihren Tinnitus unternehmen wollte und nach drei Tagen Kursprogramm begeistert feststellt: O-Ton 22 (01:10 bis 01:12): "Der Tinnitus ist weg." Erzählerin: Oder Jacek, dem die Atemtechniken dabei helfen zu entspannen und strukturierter zu denken. Dann fügt er grinsend hinzu, dass er mit dem Wort Guru bislang nur in der Presse in Berührung gekommen sei: O-Ton 23 (Jancek.WAV von 09:27 bis 09:49): "Und meistens sind das negative Berichte. Also Gurus in einer Sekte und die Ausnutzung von Menschen oder die Gründung einer Sekte, wo die Menschen auf eine bestimmte Art und Weise zu leben haben und nicht anders und keine Freiheit, das war bis jetzt, was ich gehört habe." Erzählerin: Dann fügt er hinzu: O-Ton 24 (Jancek.WAV von 09:51 bis 10:13): "Wenn ich zum Beispiel von hier erzähle, dann erzähle ich nicht Guru, sondern sage Yoga-Lehrer, weil ich weiß, welche Verbindungen auch die anderen damit haben." Erzählerin: Warum will Jacek nicht über einen Guru sprechen, der immerhin als fünft einflussreichster Mann Indiens gilt und zu den 500 einflussreichsten Männern in der Welt zählt. Zahlen wie diese sprechen für ihn: 58.000 Kinder sollen durch Initiativen von Sri Sri Ravi Shankar kostenlose Bildung bekommen. 33 indische Flüsse werden mit seiner Hilfe wiederbelebt. Hygiene Camps, medizinische Camps und Stress Relief Camps, so hat die Organisation errechnet, wirken sich positiv auf 5,6 Millionen Menschen aus. Allerdings steht im Pressematerial nichts über die Nähe des Gurus zur hindunationalistischen Regierungspartei BJP und ihrer radikalen Kaderorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh, kurz RSS. Sri Sri Ravi Shankar spricht sich schon einmal für oder gegen einen Politiker aus. Oder er nimmt an einer Wahlkampfveranstaltung der hindunationalen Organisationen teil. Das Atemseminar hat gut getan: Ich habe gelernt, dass wir uns zwar viele Gedanken darüber machen, was wir täglich essen, aber kaum etwas darüber wissen, was und wie wir täglich atmen. Und das, obwohl atmen so essentiell für uns ist. Manchmal setze ich mich hin und atme den Seminarinhalt durch. Aber wenn ich daran denke, wie Sri Sri innerhalb weniger Minuten rund 1.800 Menschen in einem Saal dazu gebracht hat, gleichzeitig ein- und auszuatmen, macht mir das Angst. Während meiner Recherche hat kaum jemand meine Sorge vor Massensuggestion und Gleichschaltung geteilt. Vielleicht sollte ich dem Rat des Gurus folgen? Bewusster atmen und auf das Unterhaltungsprogramm umschalten? Aber nicht ohne an den Satz von Almuth- Barbara Renger zu denken: O-Ton 25 (RengerInterview.WAV von 01:15:26 bis 01:16:14): "Und das, was an autoritären Verhältnissen Ende der 60er, in den 70er-Jahren an Autoritätsfiguren, wie Lehrern, Eltern, Polizei, Beamten kritisiert wurde, wurde gerne in alternativ-religiösen Kontexten irgendwie gar nicht mehr beachtet und die Autorität oder Autoritätsverhältnisse, die in europäischen oder amerikanischen Verhältnissen kritisiert wurden, die fanden sich anders kanalisiert zu Füßen eines Gurus wieder."