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Grenzt hier ein Wort an mich, so laß ich's grenzen. Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder. Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land. (über/einblenden:) Erzählerin: Still ist es in der kühlen Kirche des Franziskanerklosters Kada?. Etwa einhundert tschechische und deutsche Zuhörer sitzen auf den hölzernen Bänken und Stühlen. Hinter den Kirchenfenstern ist die Sonne bereits untergegangen. Die Schauspielerin Angela Winkler ist aus Berlin angereist, um an diesem authentischen Ort das Gedicht von Ingeborg Bachmann zu lesen. Denn das tschechische Städtchen Kada?, oder Kaaden, wie es vor dem zweiten Weltkrieg hieß, liegt in eben jenem Böhmen. O-Ton Angela Winkler (läuft darunter weiter): Bin ich's, so ist's ein jeder, der ist soviel wie ich. Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehn. Zugrund - das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder. Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf. Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren. Kommt her, ihr Böhmen alle, Seefahrer, Hafenhuren und Schiffe unverankert. Wollt ihr nicht böhmisch sein, Illyrer, Veroneser, und Venezianer alle. Spielt die Komödien, die lachen machen Und die zum Weinen sind. Und irrt euch hundertmal, wie ich mich irrte und Proben nie bestand, doch hab ich sie bestanden, ein um das andre Mal. Wie Böhmen sie bestand und eines schönen Tags ans Meer begnadigt wurde und jetzt am Wasser liegt. Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land, ich grenz, wie wenig auch an alles inner mehr, ein Böhme, ein Vagant, der nichts hat, den nichts hält, begabt nur noch, vom Meer, das strittig ist, Land meiner Wahl zu sehen. Erzählerin: Es war das letzte Gedicht, was zu Lebzeiten Ingeborg Bachmanns veröffentlicht wurde und der Autorin sehr wichtig. Denn es sei ihr zugefallen. Böhmen liegt bekannterweise nicht am Meer. Doch Ingeborg Bachmann bezog sich hier auf Shakespeares Stück ?Wintermärchen?, in dem ein Böhmen am Meer vorkommt. (Musik einblenden, John Dowland) Erzählerin: Das Wintermärchen erzählt die Geschichte des Königs Leontes von Sizilien, der sich von seiner Frau Hermione hintergangen glaubt. Ihr Kind lässt er deshalb über das Meer bringen und am Ufer des fremden Landes Böhmen aussetzen. Shakespeare war hier, wohl der Handlung oder des klingenden Namens Böhmen zuliebe, geografisch nicht korrekt. Über ihren Kummer stirbt Königin Hermione. Beider Tochter wurde aber, was Leontes nicht wusste, in Böhmen gerettet. Sie erhielt den Namen Perdita ? die Verlorene. Nach zwanzig einsamen Jahren, einer in Einsicht und Reue mündenden Probezeit, findet Leontes endlich seine Tochter wieder. Auch Hermione, die sich aus Gram nur tot gestellt hatte, kehrt zu Leontes zurück. (Musik ausblenden) Erzählerin: Das unmittelbar am großen Wasser gelegene Böhmen Shakespeares wurde sozusagen zum literarischen Symbol für wiedergefundenes Glück, oder, wenn man so will, für eine wiedererlangte Identität. Ein Ufer, an dem man nicht nur landet, sondern ankommt. Leontes hätte seine Tochter sicherlich über die Jahre hin verloren, könnte er sich nicht immer wieder an sie erinnern. Das Erinnern wird zu seiner, zu ihrer Geschichte. Dieses mentale Vermögen ist eine dem Menschen eigene, seine gesamte Kultur definierende Eigenschaft. Er kann mit anderen gemeinsam in Vergangenes zurückkehren. Nur das, woran sich niemand mehr erinnert, ist unwiderruflich für immer verloren. O-Ton Labs-Ehlert: 0:05:30 Ich denke, wenn man die Geschichte einer Landschaft erzählen möchte, dann ist es mehr, als dass man die äussere Landschaft, die Form der Landschaft beschreibt, sondern die Geschichte der Landschaft sind immer die Menschen, die dort lebten oder die dort Spuren hinterlassen haben, die dort aufgebrochen sind oder die auf der Durchreise waren. Und das glaube ich, spielt heute Abend eine ganz grosse Rolle, dadurch, dass wir von einzelnen Schicksalen etwas erfahren, dort zuhören. Dass wir teilnehmen können an anderen Erfahrungen, Geschichten, dann entsteht auch eine gemeinsame Erfahrung. Erzählerin: Seit mehreren Jahren organisiert Brigitte Labs-Ehlert vom ?Literaturbüro Ostwestfalen-Lippe? das Literatur- und Musikfest ?Wege durch das Land?. In ganz Ostwestfalen strömen die Besucher zu den Lesungen und Konzerten, die in Schlössern, Klöstern, Scheunen, Ruinen, auf Wiesen und Waldlichtungen stattfinden. Für jeden dieser Orte recherchiert zuvor das Literaturbüro ganz akribisch, welcher Autor, Komponist, Interpret hier lebte oder auf diesen Platz in seinem Werk bezug nahm. Einen ganzen Sommer lang wächst ein tief in der Geschichte verwurzeltes literarisch-musikalisches Netzwerk. Eine private Einladung aus dem Kreis der regelmäßig wiederkehrenden Zuhörer führte die Organisatoren Brigitte Labs-Ehlert und Ernst Ehlert nach Nordböhmen. Hier entdeckten beide nicht nur die Schönheit der Landschaft um den Kurort Karlsbad ? tschechisch: Karlovy Vary ? , sondern sie fanden auch begehbare Spuren alter Verbindungen zu Ostwestfalen. Spontan entstand die Idee, die ?Wege durch das Land? auf Osteuropa auszudehnen und zu ?Wegen von Land zu Land? werden zu lassen. Ein Jahr später schon reisten einhundert Neugierige, gemeinsam mit Autoren, Musikern und Schauspielern wie Angela Winkler, in das reale meerlose Böhmen. O-Ton Labs-Ehlert: Ich muss schon sagen, dass ich auch ein bisschen Angst hatte oder gedacht hab, hoffentlich passiert nicht so etwas, dass wir wie eine deutsche Reisegruppe alles abfahre. Und wir haben dann eben das tschechische Publikum vor Ort, aber auch darüber hinaus von diesem deutsch-tschechischen Musik- und Literaturfest informiert. Und ich fand das am ersten Abend ganz toll, dass auf einmal das tschechische Publikum zu diesem Konzert strömte. [...] Das hat mit diesen Vertriebenen oder Vertriebenenorganisationen überhaupt nichts zu tun. Das ist auch glaube ich keiner da drunter, der hier irgendwie eine familiäre Verbindung in diese Gegend hat. Sondern das ist wirklich das Interesse, eine andere Gegend, eine andere europäische Gegend kennen zu lernen. Erzählerin: Für die meisten der aus allen Teilen Deutschlands Angereisten war das nördliche Böhmen, kurz hinter dem Erzgebirge gelegen, bis dahin ein sprichwörtliches böhmisches Dorf. (Musik einblenden: Iva Bittova) Erzählerin: Seit dem Mittelalter prägte diese Region vor allem seine deutschsprachige Bevölkerung. Es ist eine malerische Gegend. Die Städte und kleinen Dörfer, die Klöster und Schlösser liegen auf sanften Hügeln, zwischen dichten Wäldern oder neben verwilderten Obstgärten und in Flussauen verstreut. Bis zum zweiten Weltkrieg war Nordböhmen eine wirtschaftlich prosperierende Gegend. In Vale?, eine der europäischen städtischen Barockperlen, lebten an die achtzig Handwerker. Sie produzierten in fast dreißig verschiedenen Gewerken. Doch heute sucht man sie vergebens. Von ihren alten, zwei- und dreistöckigen Wohnhäusern sind nur wenige frisch renoviert, die meisten stehen verfallen oder gänzlich verlassen. Zwischen ihnen hat sich ein einsamer Fremdkörper, ein inzwischen bereits maroder Plattenbau aus der sozialistischen Aufbruchzeit, breitgemacht. Das Schloß von Vale? sichert ein Bauzaun ab, nur die über hundertjährigen Bäume in der englischen Parkanlage sind in alle den Jahren ungestört und üppig weitergewachsen. (Iva Bittova ausblenden) O-Ton Labs-Ehlert: 0:37:30 Diese Gegend war immer eine zweisprachige Gegend. Über Jahrhunderte haben die Deutschen und die Tschechen hier zusammengelebt. Es hat über das letzte Jahrhundert mehrere Vertreibungswellen gegeben. Erst die Vertreibung der hier ansässigen Juden. Dann die Auseinandersetzung zwischen den Deutschen und den Tschechen, wo die deutschen die Tschechen unterdrückt haben, vertrieben haben. Wo es dann nach dem zweiten Weltkrieg zur Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung gekommen ist, aber auch gleichzeitig die hier lebenden Tschechen mit einer ganz neuen Situation konfrontiert worden. Wo Personen angesiedelt wurden, die überhaupt keine Verbindung zu dieser Region hatten, die aus weiter östlichen Gegenden kamen und die sich auch nicht für diese Gegend hier, für dieses Land und seine Schätze verantwortlich gefühlt haben. Erzählerin: Auch die späteren Jahre nach dem zweiten Weltkrieg hinterließen bis heute ihre Spuren. Im Franziskanerkloster in Kada?, in dem Angela Winkler las, lebten fast ein halbes Jahrtausend lang Mönche. Die tschechische Staatssicherheit vertrieb die Geistlichen und ließ die Gebäude zu Lagerhallen umfunktionieren. Nach der Wende wurde das Kloster Nationales Kulturdenkmal und die vernachlässigten Gebäude begann man sorgfältig wieder zu restaurieren. Fährt man auf Kada? zu, unweit vom Duppauer Gebirge ? tschechisch: Dupovske Hory ? gelegen, sieht man im Hintergrund zahlreiche Stromleitungen den Horizont zerschneiden. Hier beginnt ein weitreichendes Abbaugebiet für Braunkohle, das sich Jahr für Jahr in die Landschaft frisst und sie zerstört. O-Ton Labs-Ehlert: 0:55:50 Ja, man braucht nur eine Hügelwelle weiterzufahren, und man guckt genau in dieses tagebauverwüstete Gebiet. Dazu dann noch dieses riesige Militärgebiet hier in der Gegend, wo zunächst das russische Militär war, jetzt die NATO sitzt. Ein Gebiet, in dem dreiundvierzig Dörfer untergegangen sind. Und wo natürlich auch da geguckt wird, wie kann so eine Erinnerung aufrecht erhalten werden. Was ich jetzt bei unserer Exkursion wichtig finde, daß wir diese Gegend kennenlernen unter einem ganz literarischen und kulturellen Gesichtspunkt. Damit natürlich auch ein bißchen frei sind von diesen vielen politischen Schwierigkeiten. Ich glaube, wenn man das über die Literatur betrachtet, ist es viel einfacher. Erzählerin: Fährt man von diesem NATO-Übungsgelände nach Karlsbad zurück und von dort in westliche Richtung weiter, gelangt man zum Schloss Vintí?ov, ebenfalls mit einem beeindruckenden Park hundertjähriger Baumriesen. Bis zur Enteignung 1945 gehörten Schloss und Land der Familie von Thurn und Taxis. Den Besitz mit seinen inzwischen völlig verfallenen Gebäuden bekam Karl Ferdinand von Thurn und Taxis nach der Wende rückübertragen. Stück für Stück baute er die Landwirtschaft gemeinsam mit ansässigen Bewohnen wieder auf und schuf so Arbeitsplätze. Im Schatten der Bäume erzählt Karl Ferdinand von Thurn und Taxis: O-Ton Thurn u Taxis: BI / 1:29:36 Meine Urgroßmutter war eine ungewöhnlich gebildete und sprachengewandte Frau, sie hat insgesamt sechs Sprachen fließend gesprochen und konnte auch vom Italienischen ins Englische die Göttliche Komödie von Dante übersetzen. Und über diese Fähigkeit ist sie eine der mehreren Musen geworden, die Rilke gehabt hat. Erzählerin: Marie von Thurn und Taxis war der eigentliche Anlass für Rainer Maria Rilkes ?Duineser Elegien?. Ihrer Familie gehörte nicht nur Schloss Vintí?ov, sondern auch ein charmantes Schloss im italienischen Duino, auf das sie den Dichter für längere Aufenthalte 1911 und 1912 einlud. Dort, an der Adria, begann Rilke an seinem wohl berühmtesten Gedichtzyklus zu schreiben. Am 21. Januar 1912 sandte Rilke die erste Elegie an Marie Taxis. Sprecher 1: WER, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.     Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf dunklen Schluchzens. Ach, wen vermögen wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht, und die findigen Tiere merken es schon, daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind in der gedeuteten Welt. Es bleibt uns vielleicht irgend ein Baum an dem Abhang, daß wir ihn täglich wiedersähen; es bleibt uns die Straße von gestern und das verzogene Treusein einer Gewohnheit, der es bei uns gefiel, und so blieb sie und ging nicht (ausblenden) (Musik Iva Bittova) Erzählerin: Auch der Dichter Johann Wolfgang Goethe war einst mit Böhmen eng verbunden. Goethe hielt sich hier bevorzugt in Kurbädern auf. Während einer der letzten längeren Besuche traf der 72Jährige in Marienbad, heute Mariánské Lázn?, eine gewisse Frau von Levetzow und ihre drei Töchter. In die jüngste, die damals siebzehnjährige Ulrike, verliebte sich der Geheimrat mit verzweifelter Leidenschaft. Zwei Jahre und zwei Kuraufenthalte später hielt er um Ulrikes Hand an. Natürlich wies ihn das in einem französischen Pensionat wohlerzogene Mädchen ab. Bitter enttäuscht, erinnerte sich Goethe seiner unerwiderte Liebe wenigstens in der Literatur, er schrieb auf der Heimfahrt von den heilsamen Quellen seine berühmte ?Marienbader Elegie?. O-Ton Brückner : Der Kuss, der letzte, grausam süß, zerschneidend Ein herrliches Geflecht verschlungner Minnen. Nun eilt, nun stockt der Fuß, die Schwelle meidend, Als trieb' ein Cherub flammend ihn von hinnen; Das Auge starrt auf düstrem Pfad verdrossen, Es blickt zurück, die Pforte steht verschlossen. (Ausblenden) Erzählerin: Ohne die Verse Goethes, die Christian Brückner auf der sonnenüberfluteten historischen Goethe-Terrasse im böhmischen Loket las, wäre die Erinnerung an diese Leidenschaft wohl verblasst. Die Flamme hätte das Geröll der Zeit einfach ausgelöscht. (Musik Iva Bittova) Erzählerin: Es sind nicht nur die Deutschen, die in Böhmen ihre weitverweigten Wurzeln suchen und die nach Geschichte und Geschichten graben. Auch unter der hier ansässigen Bevölkerung selbst regt sich immer mehr Neugier auf die Vergangenheit, die mit den Landschaften und Orten ihrer unmittelbaren Umgebung verbunden ist. Ein Netzwerk an Vereinen ist in den letzten Jahren entstanden, die sich um die Revitalisierung und Rekultivierung dieser zum Teil noch immer erinnerungslosen Gegend bemühen. O-Ton Labs-Ehlert: 0:50:00 Diese Vereinigung nennt sich ?Region Vladar?. Das ist ein Verein, in dem sich die kleineren Ortschaften um Karlsbad, um das Duppauer Gebirge, zusammengeschlossen haben. Zum einen, um in ihren Orten die alten Kulturdenkmäler zu erhalten, zu pflegen. Die aber gleichzeitig auch bildungspolitische Initiativen ergreifen, indem sie versuchen, hier eine Universität zu gründen, in der die notwendigen Berufe wieder ausgebildet werden, die eben zur Erhaltung von diesen Kulturgütern notwendig sind, also wo alte Handwerke wieder erlernt werden können. (Musik Iva Bittova) Sprecher 2: In der Kultur stehen die Mechanismen des Erinnerns und des Vergessens miteinander im Wettbewerb, und beide sind wichtig. Erzählerin: ... schreibt der Dichter Tomas Venclova. Er musste 1977 aus Litauen in die USA emigrieren und weiß aus bitterer Erfahrung, wovon er spricht, wenn er über Vergessenes schreibt. Sprecher 2: Wenn verdorbene und grausame Utopien Erinnerung auslöschen, Menschen herabwürdigen ? die Menschen Mittel- und Osteuropas wissen darüber mehr als andere -, so verhärtet und paralysiert ein Kult des Erinnerns und verwandelt Kultur in eine hängengebliebene Schallplatte. Neue Strömungen verneinen immer die alten; auch sehr wichtige kulturelle Texte werden an den Rand verdrängt, bis sie früher oder später ein Nachfahre wieder zurückholt. [...] Zudem ist die Erinnerung in allen Gesellschaften ein Privileg, das nicht jedem zufällt. In früheren Gesellschaften machten es sich Schamanen, Barden und Schriftkundige zu eigen, heute sind Schriftsteller und Intellektuelle die Hüter der Erinnerung ? zumindest sollten sie es sein. Erzählerin: Tomas Venclova, der heute an der Yale Universität russische und osteuropäische Literatur lehrt, traf sich vor einigen Jahren ? exakt an der Schwelle zu einem neuen Jahrtausend ? mit Günter Grass und den polnischen Dichtern Czes?aw Mi?osz und Wis?awa Szymborska in Vilnius. Die Dichter tauschten sich aus über ?Die Zukunft der Erinnerung?, wie sie ihr Treffen nannten. Gerade Vilnius, die Hauptstadt Litauens und vor dem Holocaust ?Jerusalem des Nordens? genannt, braucht notwendig das Erinnern an sich selbst. Es musste im 20. Jahrhundert mehrfach seine Identität wechseln, es wurde von Deutschen besetzt, von Polen annektiert und von Russen angegliedert. Günter Grass spricht von einem professionellen Erinnern, das zum Grundwerkzeug jedes Schriftstellers gehört. Das berufsmäßige Erinnern wiederum ist in der Lage, das kollektive Erinnern einer Gesellschaft anzuregen, was nicht nur die Bücher von Grass beweisen. Dieses gemeinsame Bewahren schließlich erzeugt das Bewusstsein von Geschichte. Und Historie wiederum verweist in unserer Innenwelt auf die zeitliche Abfolge jeglicher Existenz und auf Vergänglichkeit. Grass schreibt: Sprecher 1 : Besonders bereitet die kollektive Erinnerung der älteren Generation Mühe. Vielleicht ist uns Deutschen deshalb die Typische und ein Klischee betonende Wortprägung ?Erinnerungsarbeit? eingefallen. Sie wird als Schuldbekenntnis verlangt, als Zumutung versagt und mit Fleiß geleistet, denn seit Jahrzehnten, solange uns die Vergangenheit immer wieder eingeholt hat, wird sie wie eine Pflichtübung absolviert, seit den sechziger Jahren auch von der jeweils jungen, wie man meinen sollte, unbelasteten Generation.... Wenn wir Zukunft planen, hat die Vergangenheit im angeblich jungfräulichen Gelände bereits ihre Duftmarken hinterlassen und Wegweiser gepflockt, die in abgelebte Zeiten zurückführen.? Erzählerin: Dem gemeinsam vollzogenen Erinnern geht stets ein ganz privates, von politischem Kalkül weniger belastetes Erinnern voraus. Gerüche, Stimmen, Farben, Bilder, sie haben sich schon längst in das Unbewusste eingebrannt. Sprecher 1: Ich erinnere mich, oder ich werde erinnert durch etwas, das mir quersteht, seinen Geruch hinterlassen hat oder in verjährten Briefen mit tückischen Stichworten darauf wartete, erinnert zu werden. Diese und weitere Fallstricke bringen uns ins Stolpern. Aus dem Abseits taucht etwas auf, das nicht sogleich zu benennen ist. Sprachlose Gegenstände stoßen uns an... Dazu Träume, in denen wir uns als Fremde begegnen, unfassbar, endloser Deutung bedürftig Erzählerin: Durch den Krieg wurde Günter Grass aus seiner kaschubischen Kindheit gespült. Mit 17 kam er zur Waffen-SS und am 8. Mai nahm man ihn in der Nähe von Karlovy Vary in Böhmen gefangen. Grass schreibt heute, ein halbes Jahrhundert später: Sprecher 1 : So ist mir verlorene Heimat zum andauernden Anlass für zwanghaftes Erinnern, das heißt für das Schreiben aus Obsession geworden. Etwas, das endgültig verloren ist und ein Vakuum hinterlassen hat, das mit dem Surrogat der einen oder anderen Ersatzheimat nicht aufgefüllt werden konnte, sollte auf weißem Blatt Papier erinnert, beschworen, gebannt werden, und sei es verzerrt, wie auf Spiegelscherben eingefangen. Erzählerin: Eine Studie über die Orte seiner Kindheit, das Gedicht ?Kreuzwege?, schrieb Tomas Venclova nur aus dem Gedächtnis heraus. Übersetzt hat es der in eine jüngere, unbelastetere Generation hineingeborene Dichter Durs Grünbein. Der Jüngere erlebte Mobilität weniger als Reaktion auf politische Zustände ? obwohl er in der DDR nur eingeschränkt reisen konnte. Stipendienaufenthalte in den USA, Reisen quer durch Europa und nach Südostasien gehören in seinen Jahrgängen inzwischen zum normalen, unspektakulären Alltag. Um eine eigene Identität zu finden, werden mehr noch als die Erinnerungen die Entdeckungen wichtig. (langsam einblenden, als käme es aus einer Ferne...) Sprecher 2: Nordostwärts hingestreckt lag das schmale, Geduldige Land, von der Nacht schon umarmt. Am Rand eines Erlenwäldchens benagte ein Reh Zarte Triebe. Am Horizont, nur mehr zu ahnen, War jener See, wo im dämmernden Wasser Am Ufer ein Kind sich im Spiegel betrachtete, Ein Kind wie einst du. Und es zog da ein Lied [...] Berühre das Gras nun, das kühle, der Kindheit. Hier bist du zuhaus. Soll dreifach rauschen das Meer In der Muschel der Nacht. Daß die Gnade dich finde: Einer neuen Ära, die keine Posten mehr braucht, Einer Luft, die sich sehnt nach der einzelnen Stimme. (langsam ausblenden, in der Ferne verschwinden lassen...) Erzählerin: In eben jenem Vilnius - oder Wilna, wie es auf deutsch, oder Wilno, wie es auf polnisch hieß -, in dem sich Tomas Venclova mit den drei Literaturnobelpreisträgern traf, wurde der Vater des Schriftstellers Stefan Chwin geboren. Der Sohn Stefan kam dagegen im deutschen Danzig zur Welt. Sein Vater war nach dem zweiten Weltkrieg dorthin vertrieben worden. Danzig wiederum heißt heute Gdansk und liegt in Polen. Stefan Chwin veröffentlichte einen Roman ?Tod in Danzig?, darin schreibt er aber nicht etwa über die von den Russen nach Danzig vertriebenen Polen, sondern über die aus Danzig während des zweiten Weltkriegs vertriebenen Deutschen. Chwin, hier von der Schauspielerin Hanna Schygulla übersetzt, sagt: O-Ton Chwin: Ich als Pole habe also einen Roman über die deutschen Vertriebenen geschrieben, .... aber ich habe nichts davon gehört, dass ein deutscher Schriftsteller ein Buch über die vertriebenen Polen geschrieben hätte, die in den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reichs den Platz der Deutschen einnahmen. Die polnischen Schriftsteller haben es fertiggebracht, aus der Perspektive des eigenen, des polnischen Schicksals herauszutreten und die Welt mit den Augen der Deutschen zu betrachten. Die deutschen Schriftsteller, die über Danzig oder Ostpreussen schreiben, suchen dort vor allem ihre eigenen Wurzeln und interessieren sich in diesem Sinn nur für ihre eigenen Dinge. Erzählerin: Stefan Chwin eröffnete im vorigen Sommer die ?Wege durch das Land? in Ostwestfalen. Er schrieb dafür den programmatischen Essay ?Über das eigene Schicksal hinaustreten?. Auch die Schauspielerin Hanna Schygulla, im oberschlesischen Königshütte geboren, teilte das Schicksal der vom Krieg quer durch Europa getriebenen und ihre Identität suchenden Flüchtlinge. O-Ton Schygulla: 0:07:28 Ja, bei mir war das so in Bayern, da konnte ich ja noch so gut bayrisch sprechen, da war ich immer das Flüchtlingskind. Da hiess ich an Anfang die ?Tschikkolla?, die ?Tschikohla?. Noch heute fragen sie mich, wie soll man das eigentlich aussprechen: ?Schigulla? oder ?Schiguhla?? Also das war dann das Flüchtlingskind. Das hat sicherlich eine grosse Rolle für mich gespielt. Ich habe das nie tragisch genommen. Ich habe das immer als einen Freiraum empfunden. Ich wusste, ich konnte genauso sein wie alle Kinder, mit denen ich gespielt hab. Ich konnte auch bayrisch, nicht nur deutsch. Aber, ich bin noch etwas anderes. Das war immer etwas, wo ich dann auch andere Träume noch ansiedeln konnte. Das hab ich als Freiraum empfunden. Weil ich eben auch keine schlimmen Ausgrenzungen erfahren habe. Und ich glaube, es ist ja sowieso in diesem Sinne, dieses Durchreisende von der Herkunft her, das haben wir alle. Wenn sie mal nachforschen, wo sie herkommen. Sie werden feststellen, das in irgendwelchen früheren Generationen jemand noch von woanders war. ... Ich glaube, das hilft auch, um nicht immer nur ?die anderen? zu sagen, sondern ?wir?. Das man das empfindet. Erzählerin: Wozu braucht der Mensch eigentlich Erinnerungen und Geschichte? Warum denkt er über sein Leben nach, über die Vergangenheit und die Zukunft? Obwohl er gerade mit seinem Denken oft zum Absturz verurteilt ist? Wozu brauchen wir Geschichte, Fakten, Bilder, Zahlen, Ereignisse im Kopf? Warum lassen wir es überhaupt zu, dass sie unser Handeln bestimmen, Richtungen vorgeben, Gedanken lenken? Können wir nicht, wie die Wolken im Gedicht der polnischen Nobelpreisträgerin Wis?awa Szymborska, uns unbeschwert vom Ballast einfach immer neuen Horizonten zuwenden? Sprecherin: WOLKEN Mit der Beschreibung der Wolken müsst ich mich eilen ? schon im Bruchteil eines Moments sind sie nicht mehr die, sind sie andere. Ihre Eigenschaft ist, sich in Formen, Schattierungen, Posen, im Wechselspiel niemals zu wiederholen. Nicht beschwert mit dem Erinnern von nichts, erheben sie sich mühelos über die Fakten. Was wären das schon für Zeugen, sie verlaufen sofort in jede Richtung. Verglichen mit den Wolken Erscheint das Leben verwurzelt, fast schon dauerhaft und beinahe ewig. Neben den Wolken Sieht der Stein sogar aus wie ein Bruder, auf den man sich verlassen kann, doch sie, nun ja, sind ferne und scheue Kusinen. Mögen die Menschen sein, wie sie wollen, und dann der Reihe nach jeder von ihnen sterben, sie, die Wolken, geht das nichts an, das seltsame alles. Über Deinem ganzen Leben Und über meinem, noch nicht ganzen, paradieren sie protzend wie einst permanent. Sie sind nicht verpflichtet, mit uns zu vergehen. Sie fließen, ohne dass wir sie sehen. Erzählerin: Die im deutschsprachigen Banat geborene Autorin Herta Müller verliess aus politischen Gründen 1987 Rumänien. Sie hatte sich unter anderem geweigert, mit der Securitate, dem Geheimdienst des Ceau?escu-Regimes, zusammenzuarbeiten. Ihre Bücher durften in Rumänien nur noch zensiert erscheinen. Heute lebt Herta Müller in Berlin. O-Ton Herta Müller 0:00:35 Ich komme ja aus einer Zwischenwelt. Ich bin ja keine richtige Deutsche, aber auch keine richtige Rumänin. Also ich bin überhaupt nichts richtiges. Erzählerin: In ihren Büchern untersucht Herta Müller, wie die Sprache in Rumänien von seinem zunehmend menschenfeindlichen System manipuliert wurde. Und sie beweist, wie man sich gerade mit Sprache, mit Literatur dagegen wehren kann. Geschichte ist manipulierbar, denn sie wird aus Worten geschrieben. Gegen die offizielle Geschichtsschreibung des rumänischen Staates setzte die Schriftstellerin Herta Müller ihre eigene Version. O-Ton Herta Müller: 0:1:24 Wenn wir die Situation in einem totalitären Regime beschreiben, ich glaube, das ist das Glaubwürdigste, wenn wir vom einzelnen ausgehen. Das ist für mich die Grundfrage. Wieviel zählt ein einzelner Mensch. In einer Situation oder Gesellschaft, in einer Familie, in einer Beziehung. Also wir können den Ort immer austauschen, aber es sagt doch viel über das Ganze. 0:04:10 Die Sprache ist immer das, was getan und gesagt wird. Sie ist nie für sich da. Ich halte sehr viel vom Detail, von den Einzelheiten. So wie der einzelne Mensch ... Und wenn ich nicht die Einzelheit im Auge habe, werde ich das Ganze nicht verstehen. ... Wenn ich in Polen bin, dann fühle ich mich immer als eine Deutsche, das heisst, ich denke oft daran an das, was die Deutschen hier in Polen angerichtet haben. Das ist für mich ein Faden, der immer nebenher läuft. Erzählerin: In das polnische Krakow, wo in der Villa Decius Herta Müller die Fragen der Zuhörer beantwortet, hatte eine weitere Reise auf den ?Wegen von Land zu Land? geführt. Begegnungen mit der Vergangenheit, besonders wie hier in Polen, werfen nicht selten mit dem Erinnern auch die Frage nach einer Schuld auf. O-Ton Schygulla: 0:23:30 Wie wir ganz klein waren, da hat man gewisse Fragen überhaupt nicht gestellt, das hat man gefühlt. Wir haben gewusst, dass es da Tabus gegeben hat. Also, ich will ihnen mal ein Beispiel geben. Ich heisse Hanna. Ich bin in Oberschlesien geboren worden 1943, da lief die Propaganda noch auf Hochtouren. Und ich sollte eigentlich Dagmar heissen, meine Mutter hat mich im letzten Moment Hanna genannt. Was eigentlich ein Akt der Courage war, weil Hanna klingt natürlich jüdisch. Das Jüdische war ja total verfolgt in dieser Zeit und Auschwitz war wirklich in der Nähe. Meine Mutter hat mir auch erzählt, sie hat sie gesehen, wie sie gefahren, getrieben wurden. Die wussten vielleicht nicht, dass dort vergast wurde, aber die wussten, dass da Menschen misshandelt wurden, das ja. Und ich hab sie dann nachher gefragt, warum hast Du mich denn Hanna genannt? Und sie sagte, ich hab da eine Hanna gekannt, die war so schön. Und ich hab dann komischerweise nie weitergefragt, auch später nicht, was denn aus dieser Hanna geworden ist. Ich hab jetzt einen kleinen Dokumentarfilm gedreht über dieses Holocaustmahnmal in Berlin. Obwohl ich eine Nachgeborene bin, ist dieses kollektive Verbrechen immer noch an uns, hat es an uns drangeklebt, auch. Als ich nach Paris kam, aupairmässig, und mich in ein Cafe gesetzt hab, um zu gucken, wer mich anspricht, mit 19 war das ja immer sehr spannend, da konnte ich sagen, dass einer von dreien Jude war. Die waren so begierig drauf, zu wissen, wie diese neue Generation aus diesem Trauma heraus.... Und es war mir auch sehr bewusst. Das hat in unser Leben auch hineingespielt, sehr stark. Die Geschichte setzt sich fort über Generationen, bis da wieder andere Samen aufgehen. Erzählerin: Das Wort Geschichte liegt etymologisch dem Wort aufeinanderschichten nah. Zeit, die sich in deutlich erkennbaren Schichten ablagert. Die Gegenwart einer Stadt wie Stadt Krakau setzt sich aus den vielen einzelnen Vergangenheiten der Menschen, die in ihr leben, zusammen. Adam Zagajewski kehrte erst vor wenigen Jahren wieder in seine Heimatstadt zurück. Mit der Verhängung des Kriegsrechts 1981 hatte der polnische Dichter Krakau verlassen und war nach Paris gegangen. Denn das eigene Land war ihm zum Exil geworden, fast fünfzehn Jahre lang durfte er nicht mehr veröffentlichen. O-Ton Zagajewski: 0:24:15 ff Die Welt ist nicht nur die organische Welt und die unorganische, die mineralische Welt. Grosse Wege der Kunst, die sind auch ein Teil der Welt. Ich glaube, ich muss die Welt besingen, und die grossen Bilder. Ich habe auch viele Gedichte, wo keine Namen vorkommen. Es geht nicht um Namen. Ich fürchte, dass die geistige Welt kleiner wird. Wenn sie in einem ?Saturn? sind, da sehen sie die Abteilung der CDs, die klassische Musik wird immer kleiner, immer kleiner. Das ist der Geist, der kürzer wird. Und es ist so traurig für mich, aber ich glaube, man muss dagegen kämpfen. Man muss etwas dagegen machen, damit das geistige Leben weitergeht. (langsam unterblenden: Camerata Silesia ?Miserere?) Erzählerin: In diesem Hörsaal, vielleicht sogar im selben hölzernen Klappsessel, in dem Adam Zagajewski Gedichte liest, bereitete sich vierhundert Jahre früher Nikolaus Kopernikus als junger Student in Mathematik- und Astronomievorlesungen auf den Umsturz des ptolemäischen Weltbildes vor. Die fast fünfhundert Jahre alte Jagiellonen-Universität in Krakau ist neben der Karls-Universität in Prag die älteste Akademie Europas. Ohne Erinnerungen wäre dieses Wissen um den Ort, vielleicht auch um Kopernikus verloren gegangen und der Hörsaal heute nur ein beindruckendes Bauwerk mit alten Schnitzereien und Gemälden. (langsam ausblenden: Camerata Silesia ?Miserere?) Erzählerin: Dass wir uns erinnern, unsere Wege zur Orientierung noch einmal zurückverfolgen, das alles scheint mit zunehmender Mobilität immer notwendiger zu werden. Der Dichter Joseph Brodsky ? im zweiten Weltkrieg als Sohn Leningrader Intellektueller geboren, mit 32 Jahren aus Russland ausgebürgert und nach Amerika emigriert, also ein ?ortsmultipler? jüdisch-russisch-amerikanischer Dichter ? er fasste seine Erfahrungen in einer kurzen Sentenz zusammen: Sprecher 3: Je mehr wir reisen, desto komplexer wird unser Nostalgieempfinden. [...] Wir sind einfach verrückt nach Zukunft, und Geschichte ist dazu da, diese Forderung oder die Zukunft selbst zu legitimieren. Erzählerin: Joseph Brodsky schreibt, dass es gerade in einer Gesellschaft, in der das Ansehen der Kirche schwindet und das Ansehen von Philosophie oder Staat gering oder inexistent ist, dass es gerade in einer solchen Gesellschaft der Geschichte zufalle, sich der ethischen Fragen anzunehmen. Diese Erwartungshaltung an die Geschichte hat eine lange Tradition. Für Friedrich Schiller war im 18. Jh. klar: sie wird dringend als moralische, sittliche und ethischen Universalinstanz im menschlichen Zusammenleben gebraucht. Bei seiner Antrittsrede mit dem Titel ?Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte??, mit der er seine historischen Vorlesungen als frischernannter Professor an der Jenaer Universität 1789 eröffnete, beschwor er seine Studenten: (Hörsaalgeräusche, Stimmen, Schritte zum Pult, Klopfen, Stille) Sprecher 2: Meine Herren! Fruchtbar und weit umfassend ist das Gebiet der Geschichte; in ihrem Preise liegt die ganze moralische Welt. [...] Die Kleider, die wir tragen, die Würze an unsern Speisen und der Preis, um den wir sie kaufen, viele unsrer kräftigsten Heilmittel und eben so viele neue Werkzeuge unsers Verderbens ? setzen sie nicht einen Columbus voraus, der Amerika entdeckte, einen Vasco de Gama, der die Spitze von Afrika umschiffte? [...] Auf solche Art behandelt, meine Herren, wird Ihnen das Studium der Weltgeschichte eine eben so anziehende als nützliche Beschäftigung gewähren. Sie wird Ihren Geist von der gemeinen und kleinlichen Ansicht moralischer Dinge entwöhnen, und indem sie vor Ihren Augen das große Gemälde der Zeiten und Völker aus einander breitet, wird sie die vorschnellen Entscheidungen des Augenblicks und die beschränkten Urteile der Selbstsucht verbessern. (Beifallgeräusche, Klopfen auf dem Pult, Stille) Sprecher 2: Indem [die Geschichte] den Menschen gewöhnt, sich mit der ganzen Vergangenheit zusammen zufassen und mit seinen Schlüssen in die ferne Zukunft voraus zu eilen: so verbirgt sie die Grenzen von Geburt und Tod, die das Leben des Menschen so eng und so drückend umschließen, so breitet sie optisch täuschend sein kurzes Dasein in einen unendlichen Raum aus und führt das Individuum unvermerkt in die Gattung hinüber. [...] So stellt sie den wahren Maßstab für Glückseligkeit und Verdienst wieder her, den der herrschende Wahn in jedem Jahrhundert anders verfälschte. [...] Ein edles Verlangen muß in uns entglühen, zu dem reichen Vermächtniß von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit, das wir von der Vorwelt überkamen und reich vermehrt an die Folgewelt wieder abgeben müssen, auch aus unsern Mitteln einen Beitrag zu legen und an dieser unvergänglichen Kette, die durch alle Menschengeschlechter sich windet, unser fliehendes Dasein zu befestigen. (Beifallklopfen) Erzählerin: Zwei Jahrhunderte und zwei Weltkriege später ist Schillers Pathos nicht mehr so ganz nachvollziehbar. Die erhofften gemeinsamen Leit- und Korrekturinstanzen haben erschreckend versagt. Die Sprache, die die sittlichen Regeln verfasste, war dieselbe Sprache, in der im 20. Jahrhundert Hitler seine Mordbefehle formulierte. Der Dichter Joseph Brodsky bringt deshalb knapp zweihundert Jahre nach Schiller berechtigte Zweifel an der neutralen Memorierbarkeit von Ereignissen an. Sprecher 3: Geschichte [ist] immer Kains Version. Sinn dieser drastischen Formulierung ist, auf dem Unterschied zwischen einer Tatsache und deren Interpretation zu bestehen, den wir zu machen versäumen, wenn wir Geschichte sagen. Dieses Versäumnis führt uns zu der Meinung, dass wie aus der Geschichte lernen können und dass sie ein Ziel hat, nämlich uns selbst. 224 Erzählerin: Schon allein der Name jedes Ereignisses sei bereits seine Interpretation, meint Joseph Brodsky. Sprecher 3: Jeder Diskurs über Bedeutung, Gesetze, Prinzipien und sonst noch was der Geschichte ist bloss ein Versuch, die Zeit zu domestizieren, ein Streben nach Vorhersagbarkeit ? ein Paradox, denn Geschichte trifft uns fast immer überraschend. Erzählerin: ...deshalb fordert Brodsky: Sprecher 3: Und da das allgemeine Ziel jeder Gesellschaft die Sicherheit aller ihrer Mitglieder ist, muss sie als erstes die totale Willkür der Geschichte voraussetzen und den begrenzten Wert jeder belegten negativen Erfahrung. Zweitens muss sie voraussetzen, dass, obwohl alle ihre Institutionen sich mühen, das größtmögliche Maß an Sicherheit für alle ihre Mitglieder zu erreichen, gerade dieses Streben nach Stabilität und Sicherheit die Gesellschaft im Endeffekt außerordentlich leicht verwundbar macht. 228 (Geräusche einblenden: Autobahn, Fernsehen in wildem Durcheinander) Erzählerin: Mit den neuen Medien und der immer besseren Speicherbarkeit von Erinnerungen wächst zusätzlich ? und das ist eine absurde, gegenläufige Bewegung - die berechtigte Skepsis an ihrem Gehalt. Wir haben zwar schon immer die memorierende Fähigkeit des eigenen Gehirns in Zweifel gezogen, ihm die Möglichkeit verschiedener Auslegungen zugestanden. Auch die gemeinsame Vergangenheit unterliegt Schwankungen: Sprecher 3: Jede Kultur hat ihre eigene Version der Antike; jedes Jahrhundert ebenso; und eigentlich auch, glaube ich, jedes Individuum. Erzählerin: Doch dieses Misstrauen gegenüber dem Abbild der Realität hat mit den neuen bildlichen und akustischen Medien ein beunruhigendes Maß angenommen. Deshalb warnte der Nobelpreisträger Brodsky in einer Rede vor Schulabgängern: Sprecher 3: Meine Damen und Herren des Jahrgangs 1989, ... sie betreten eine Welt, wo die Aufnahme eines Ereignisses das Ereignis selbst verkleinert ? die Welt von Video, Stereo, Fernbedienung, Jogginganzug und Heimtrainer, um sich fit zu halten für das Nacherleben der eigenen Vergangenheit oder der eines anderen: konservierte Ekstase verlangt nach Frischfleisch. Erzählerin: Inzwischen weiß jedes Schulkind, dass digitale Fotos im Vergleich zu analogen bis in ihr Gegenteil hinein manipulierbar geworden sind. Schnitte, Überlagerungen, neue Kombinationen ? die aus der Natur abgelauschten Verfahren verfälschen absolut perfekt das, was sie vorgeben, noch immer zu sein: die Realität selbst. Durs Grünbein beklagt: Sprecher 3: Dass die Dinge entgleiten und auch Gefühle entschwinden, ohne je vollständig wahrgenommen zu werden. Dass man den allerglücklichsten Momenten immer nur hinterherhinkt. Dass es niemals eine weltliche Verarbeitung der Verluste und Trennungen geben wird, sondern immer nur eine kreisendes Bedenken, das ist die Grundlage, und auch diese wird uns allmählich entzogen. Erzählerin: Erinnerungen werden in den neuen Medien zu reinen Informationen umorganisiert. Diese wiederum sind austauschbar, beliebig und unübersichtlich vielfältig. Medientheoretiker wie Friedrich Kittler untersuchen schon lange dieses Phänomen, das unsere Erinnerungen zersetzt: Sprecher 1: Die erste Bombe war die Atombombe, die zweite ist die Informationsbombe, nämlich die Bombe, welche uns die absolute Zeit, die Grenzzeit , um nicht zu sagen die Nullzeit, das heisst die Echtzeit bringt. 140 Erzählerin: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schnurren im Dauerspeicher Internet zu dieser sogenannten ?Echtzeit? zusammen. Das bedeutet, Erinnerungen werden wieder zu Gegenwart. Kittlers Kollege, der französische Medienphilosoph Paul Virillio, ergänzt: Sprecher 2: Die Frage ist, wie Kultur und Politik darauf reagieren, auf die langsame Depositionierung ihrer eigenen Mächte. Sie haben sich so auf die Alltagssprache und deren Langsamkeit, so auf die Nerven und deren Langsamkeit verlassen, und sind jetzt selber nicht mehr führbar ohne Maschinerien, die Entscheidungen vorbereiten und am Ende sogar noch treffen. Erzählerin: Es scheint, als müsste das Vergessen, das historisch stets an eine schuldhaften Tätigkeit erinnert, moralisch umgewertet werden. Normalerweise regelt die Zeit mit ihrem Ablauf ein Vergessen von selbst. An Dinge, die weiter zurückliegen, erinnert sich der Mensch unschärfer und mit mehr Mühe als an frisch Erlebtes. Vieles geht sogar mit der Zeit unwiderruflich verloren, weil es aus dem Gedächtnis komplett hinausgeschmissen wurde. Das ist eine im Laufe der Evolution entwickelte und dem Überleben dienende Speicherökonomie. Zuviel Ballast macht unbeweglich. (Computergeräusche, Microsoft-Töne...) Erzählerin: Das Internet dagegen stemmt sich wider die Zeit. Es speichert grundsätzlich jeden Vorgang, der im Netz stattgefunden hat, dauerhafter als auf einer Steintafel. Die Tafel unterliegt der Witterung und allmählichem Verschleiß. Das Gedächtnis der neuen Medien ist beängstigend alterslos : Sämtliche Daten, Vorgänge, Handlungen bleiben in nicht nachlassender Vollständigkeit abrufbar. Welcher Benutzer der Suchplattform Google ist sich eigentlich darüber im klaren, dass jeder einzelne seiner Suchvorgänge gespeichert wird? Zudem bleiben sie ihm als Nutzer auch später noch genau zuordenbar. Nicht nur zukünftige Arbeitgeber können diese Datensilhouette mit ein wenig Mühe jederzeit abrufen und nach ihren Bedürfnissen auswerten. Löschen ist zu einem wichtigen Handgriff geworden, um im Raubtierparadies Datendschungel als Individuum zu überleben. Der an der Harvard University lehrende Rechtswissenschaftler Viktor Mayer-Schönburger fordert sogar, sämtliche Internetdaten sollten mit einem Verfallsdatum versehen werden, an dem sie unwiderruflich dem Vergessen ausgeliefert werden. (Computergeräusche, Microsoft-Töne... ausblenden) Erzählerin: Der Informationserdrutsch, die uns heute in voller Wucht erwischt, war schon mit der Professionalisierung des Buchdrucks, also seit dem 15. Jahrhundert unwiderruflich in Bewegung gekommen. Friedrich Kittler schreibt: Sprecher 1: Der Buchdruck hatte ja anstelle der mittelalterlichen Random-Access-Praxis, Pergamente nämlich zu löschen und anders oder christlicher neu zu schreiben, durch ein kaum je wieder löschbares Read-Only-Memory abgelöst, also eine Lawine der Datenvermehrung losgetreten. Daten, im Normalfall also Buchstaben und Wörter, erhielten normierte Adressen, also eine Kombination aus erstmals alphabetischen Registern und Seitenzahlen. Das bedeutet einen Machtzuwachs der Ziffer über die Letter, der ja erst im Computer bis zum Endsieg fortgeschritten ist. Seit Leibnitz und erst seit Leibnitz stehen Bücher von vornherein in einem lokalen Netzwerk, das sie alle aufeinander beziehbar und abbildbar macht. Erzählerin: Vilém Flusser, der brasilianische Medienphilosoph, der in einer jüdischen Adelsfamilie in Prag, also in Böhmen geboren wurde, kommentierte dazu: Sprecher 2: Wir leben nicht mehr dramatisch, wir leben vielmehr programmatisch... Die dramatische Lebenssituation beruht auf dem Glauben an die Einmaligkeit, Unwiderruflichkeit jeder Handlung, daran, dass jede verpasste Handlung definitiv verpasst ist. Es ist dies die Stimmung des geschichtlichen Bewusstseins. Die programmatische Lebensstimmung beruht auf dem Glauben an die ewige Wiederkehr des Gleichen, and die Gleichgültigkeit jeder Handlung. Dieser Glaube wird von den Programmen auch tatsächlich immer wieder bestätigt. Es ist dies die Stimmung des nachgeschichtlichen Bewusstseins. 120 Erzählerin: Was wird also aus der Erinnerung und der Geschichte, die ja aus erinnertem Material besteht, unter dem Angriff der neuen Medien auf das menschliche Speichermedium Gehirn? Sprecher 2: Es gibt für mich zwei mögliche Zukunftsszenarien ... Erzählerin: ... meint Paul Virillio Sprecher 2: ... eines, das mit Lévi-Strauss gesprochen die Menschen ausspuckt, das wäre die Computertechnologie, und das andere, das die Menschen frisst, das wäre die Gentechnologie. 138 Erzählerin: Der polnische Dichter Zbigniew Herbert hätte darauf eine klare Antwort. Auch wenn er mit der Kugel sicherlich nicht die neuen Medien meinte, sondern jene im Krieg abgeschossene tatsächliche, so ist seine Antwort doch von einer symbolischen Allgemeingültigkeit. Hanna Schygulla liest dieses Gedicht auf den ?Wegen durch das Land? im westfalener Schloss Corvey: O-Ton Schygulla: 0:43:40 ? 0:44:20 Die Kugel die ich schoss aus dem Kleinkalibergewehr umkreiste den Erdball gegen die Gesetze der Gravitation und traf mich in den Rücken als wollte sie sagen nichts werde niemandem vergeben. So sitze ich jetzt allein auf dem Baumstumpf genau in der Mitte der vergessenen Schlacht. Bittere Betrachtungen über das zu grosse Gedächtnis und über das zu kleine Herz. Erzählerin: Joseph Brodsky hatte Herberts poetische Forderung, das übermäßig belastete historische Faktengedächtnis durch lebendige Erinnerungen und was noch wichtiger ist, durch eine lebendige Gegenwart zu ersetzen, anders formuliert: Sprecher 3: Das geistige Strickmuster der Epoche war linear, aneinanderreihend, evolutionär. Das wirkliche Paradox von Geschichte ist, dass ihr lineares Muster, ein Produkt des Selbsterhaltungstriebs, ebendiesen Trieb abstumpft. [...]Wenn man nicht körperlich Nomade werden kann, sollte man wenigstens geistig einer werden. [...] Eines der größten Vergnügen eines Nomaden, eines Individualisten, ist es, der Geschichte eine Struktur nach eigene Fasson zu geben ? indem man sich seine eigene Antike zusammenschustert, sein eigenes Mittelalter, die eigene Renaissance in chronologischer oder achronologischer, gänzlich idiosynkratischer Abfolge: indem man sie sich zu eigen macht. Das ist wirklich der einzige Weg, in den Jahrhunderten heimisch zu werden. [...] Dies nimmt uns natürlich eine Gewissheit, aber je weniger davon, desto besser. Ungewissheit lässt ein Individuum auf der Hut bleiben und ist allgemein weniger blutrünstig... Insgesamt ist Ungewissheit lebensnäher, das einzige, dessen wir uns im Leben gewiss sind, ist unsere Anwesenheit. Das Hauptmerkmal von Geschichte wie auch von Zukunft wiederum ist unsere Abwesenheit, und man kann sich einer Sache nie gewiss sein, zu der man nie gehört hat. Erzählerin: Die ?Wege von Land zu Land? werden weitergehen. Denn unabhängig von politischem Kalkül bleibt das sinnliche und emotionale Auffrischen unserer Tanks, unseres erinnernden Vermögens, lebensnotwendig ? ebenso wie die Lust und die Neugier auf das alte Neue. Im nächsten Jahr wird Lettland das Reiseziel sein. Lettland ist das Nachbarland des Litauers Tomas Venclova, der noch einmal resümiert: Sprecher 2 : Während die alten Gesellschaften nur die Traditionen ihrer eigenen Gruppe kannten und alle anderen für fremd und feindlich hielten, öffnen sich uns heute sämtliche Traditionen der Menschheit. Die Symbole aller lebenden, toten oder wie in Tibet sterbenden Zivilisationen, die Literatur und Architektur, die Musik und die Malerei aller Epochen stehen als organische Einheit vor uns. Endlich begreifen wir, dass das Ablösen von Vergessen und Erinnern immer Reaktionen auf dieselben Herausforderungen sind, der Versuch, in der jeweils eigenen Art auf dieselben, wahrscheinlich unlösbaren Fragen zu antworten. Den Interessierten ist das Erbe der Vergangenheit heute zugänglicher als je zuvor, auch mit Hilfe des unausstehlichen Internet. (Musik Iva Bittova) 1