COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Nachspiel 13.2.2011 Achtung Boßelspiele Von Fritz Schütte Take 1 Intro Frido Walter Und dann komme ich so, springe ab und im Sprung..... wooosch ..... darunter Anlauf, Wurf und Rufen "Zieh, zieh...." Michael Dubizak Das ist Boßeln....das ist Boßeln...so, mal sehen, was der jetzt macht ....ja, der kommt .....noch ein bisschen...jaaaa... darunter rollende Kugel Ansprache in Plattdeutsch nach dem Spiel im Gasthaus ... mag ik alle Boßler ut Halsbek beten uptostahn.....auf den feinen Wettkampf .... en dreifach Fleu herut. Fleut herut. Fleu herut... überblenden auf Atmo 1 Boßeln sieht aus wie Kegeln: der Anlauf, das Zurückschwingen des Wurfarms. Die Kugel wird jedoch nicht aufgesetzt, sondern in flachem Bogen weggeschleudert, damit sie nach dem Aufprall möglichst weit rollt. Der stillgelegte Flughafen Berlin-Tempelhof ist Schauplatz eines ungewöhnlichen Sportevents. Take 2 Johann Michels-Lübben Wir wollten einfach eine Sportart, die typisch ostfriesisch- friesisch ist, mal nach Berlin bringen, in die Bundeshauptstadt. Johann Michels-Lübben vom Betriebs- und Freizeitsportverband Küste aus Jever leitet die Expedition. Take 3 Johann Michels-Lübben .... als ich das bekannt gemacht habe, da hatte ich innerhalb von wenigen Tagen zwei Busse voll, über hundert. Und dann kam: "Ich will auch noch mit, ich will auch noch mit. Das war noch nie da: auf Tempelhof boßeln..." Das können ja viele ihren Kindern und Enkeln noch erzählen, dass sie hier mal geboßelt haben. Vom Cateringwagen aus starten im Fünfminutentakt Mannschaften in einheitlichen Trainingsanzügen, um die mehrere Kilometer lange Strecke mit möglichst wenig Würfen zu durchmessen. Take 4 Johann Michels-Lübben Wir haben ja unsere eigenen Teams mit, Internetfernsehen, und die regionalen Zeitungen sind alle vertreten. Da wird also auch eine ziemliche Berichterstattung sein im Nachklang. Wir haben ja Vorankündigungen gehabt: "Wir boßeln gegen die Bundeshauptstadt." Natürlich auch ein bisschen hochgepusht... Atmo 2 Boßeln Würfe Der frühere Flughafen ist heute ein Großstadtpark. Ordner in orange- farbenen Westen sorgen dafür, dass die Boßler keinem in die Quere kommen. Take 5 Johann Michels-Lübben Hier sind aber Leute dabei, die boßeln Landesliga und so was. Und denen haben wir gesagt, wenn wir hier mit Besuchern aus Berlin hier aufs Gelände kommen, die ja überhaupt nicht mit dieser Kugel irgendwas anzufangen wissen, müssen wir aufpassen, dass wir niemanden verletzen. Bei uns werfen Spitzenwerfer ja bis zu zweihundert Meter. Atmo 3 Boßeln Würfe Johann Michels-Lübben bezeichnet sich selbst als "Spaßboßler". Das sind Leute, die mit Bier und Grünkohl im Bollerwagen durch die Feldmark ziehen und das Image des Boßelns im Binnenland nachhaltiger geprägt haben als die Spitzensportler. Take 6 Johann Michels-Lübben Wenn Profis fünf Würfe machen, dann brauchen die Nichtprofis vielleicht die doppelte Zahl von Würfen für die Strecke. Die haben Kraft, wenn man die Leute sieht .. ich ja mal ein paar zeigen zwischendurch.... ... und wir haben auch den ehemaligen Deutschen Meister in unseren Reihen, einen Hans-Georg Bohlken. Der hatte in der Region den Beinamen "Der Bär von Ellens". Wenn der neben uns steht, dann wirst du hochgucken müssen, damit du überhaupt zu seinen Augen Kontakt bekommst. Solche Leute sind das. Also, das sind dann auch durchtrainierte Menschen. Das favorisierte Betriebsteam eines Flugzeugteileherstellers aus Varel hat schon mehrere Mannschaften überholt. Günter Meinjohanns wischt seine Kugel mit einem Tuch ab. Take 7 Günter Meinjohanns Ich werfe zweimal in der Woche für mich selber und am Wochenende im Wettkampf. Und die ganz guten Werfer die gehen jeden Tag noch mal auf die Straße. Atmo 4 staunende Rufe Für Techniker sind die Betonplatten des Fahrwegs neben der ehemaligen Landebahn Gift. Die Kugel rollt nicht sauber ab. Take 8 Günter Meinjohanns Solche Straßen findet man nicht beim Wettkampf. Da findet man im Prinzip einigermaßen ebene Asphaltstraßen. In Ostfriesland immer hängende Straßen und im Oldenburger Land runde Straßen. Zu Ostfriesland zählen Aurich, Leer und Emden. Wilhelmshaven und Jever gehören historisch zu Oldenburg. Ein Unterschied, der im Boßeln ziemlich wichtig ist. Take 9 Günter Meinjohanns Ich bin ein Friese, kein Ostfriese, und gehöre zum Oldenburger Landesverband und am Ende der Saison wirft Oldenburg gehen Ostfriesland und werfen im Prinzip den FKV-Meister, nennen wir das, aus. FKV steht für Friesischer Klootschießerverband. Klootschießen ist eine alte friesische Wurfdisziplin, aus der das Boßeln hervorgegangen ist. Take 10 Günter Meinjohanns Die Ostfriesen sind da besser, muss man ganz klar sagen, die treiben das auch intensiver als die Oldenburger. Da sind die Boßler auch in den Kneipen ganz anders angesehen. So wie ein Fußballstar, kann man fast sagen. Take 11 Johann Michels-Lübben An Wochenenden, wenn man über die Dörfer fährt, wird man überall Straßenschilder sehen: "Boßelwettkampf! Boßelwettkampf!" Das heißt, man kommt nicht als Autofahrer angejagt und die springen weg. Nein, im Gegenteil. Der Autofahrer muss sich schon ein bisschen nach dem Sport richten. Take 12 Johann Michels-Lübben Die haben alle Trikots, einheitliche Kleidung und dann haben die auch Einweiser, die denen dann zeigen, wo sie im günstigsten Verlauf auf der Straße am weitesten werfen können........ Atmo 5 "Ja, so ganz leicht nach rechts ... Moment mal bitte. Karla fang mal hier an. So und dann passt das schon ... und let en lopen. Ja, der ist.... super. Vorsicht! Kugel kommt! Take 13 Johann Michels-Lübben Wir müssen auch ein bisschen schneller gehen, damit wir nicht selber irgendwann mal abgeschossen werden. Ich bin auch, glaube ich, selber mit meiner Mannschaft gleich wieder dran. Wollen wir uns ein bisschen schneller bewegen? Was man auch noch sagen muss: bei uns ist noch eine Erschwernis, dass fast alle Straße von Gräben gesäumt sind, links und rechts zur Entwässerung. Das heißt, diese Kugeln fliegen natürlich oftmals in die Gräben, so dass jede Mannschaft einen so genannten Sucher oder Kraber mit hat, das ist so ein langer Stil und am Ende ist eine Art kleiner Korb, mit dem dann im Wasser manchmal auch längere Zeit nach einer verloren gegangenen Kugel erstmal gesucht werden muss. Die Veranstaltung hier ist offenbar nur ein schwacher Abglanz dessen, was sich an Wochenenden in Nordwestdeutschland abspielt. "Du musst dir das einfach mal ansehen!" meint Johann Michels-Lübben. Atmo 6 Michael Dubzik "Wir sind hier heute in Halsbek. Das ist eine ehrliche Straße. Da können wir alle drauf werfen Ein Sonntag im Januar. Das Spitzenspiel der Boßel-Landesliga Oldenburg. Zwanzig Männer stehen im Kreis und legen sich gegenseitig die Arme auf die Schultern. . Wir wollen sehen, dass wir wieder in Form kommen, dass wir wieder Gas geben, nach vorne marschieren. Wenn da mal ein schlechter zwischen ist, den wollen wir dann nicht diskutieren. Das geht weiter. Biss ohne Ende. Mehr ist darüber nicht zu sagen. Gebt Gas Jungs! Auf einen guten Wettkampf." (Ruf) Michael Dubizak ist Mannschaftsführer des KBV Grabstede. Take 14 Michael Dubizak Wir sind erster und Halsbek ist zweiter. Das Schötenverhältnis, das ist wie beim Fußball das Torverhältnis, ist bei uns noch etwas besser. Wenn wir hier gewinnen, würden wir wieder ein Zeichen setzen und um die Meisterschaft mitkämpfen. Und ja, das ist für uns ganz wichtig. Atmo 7 Guter Wurf Ein Team besteht aus sechzehn Spielern und vier Ersatzleuten. Sie gehen nacheinander in Vierergruppen auf die Reise. Zwei Gruppen werfen mit Holz- und zwei mit Gummikugeln. Atmo 8 Autos Ein Handtuch am Straßenrand markiert die Stelle, an der die Kugel beim vorhergegangenen Wurf liegen geblieben ist. Michael Dubizak lässt ein Auto passieren. Dann fixiert er einen Punkt, den ein Mannschaftskamerad in fünfzig Metern Entfernung anzeigt. Die schwarze Kugel knallt mit Wucht auf den Asphalt. Atmo 9 Michael "... habe ich den da oben reingesemmelt, ich Idiot." Ein Ausrutscher wird verziehen. Ärgerlich nur, wenn sie sich häufen. Solange es geradeaus geht, zählt Kraft. Take 15 Michael Dubizak Wenn jemand von den jüngeren Leuten den so anderthalb Meter auf die Straße bringt mit so viel Pfeffer, da hast du keine Chance, da musst du einen Volltreffer machen, um da hin zu kommen. Also da musst du an dir selber ganz schön arbeiten, um da noch stand zu halten. Insas Sohn boßelt im Team des Spitzenreiters. Der Wind bläst uns ins Gesicht. Wir haben Mühe, mit den Boßlern Schritt zu halten. Auf dem Fahrradweg kommen uns ältere Herren entgegen... Take 16 Insa Bohlken ....die fahren von einem markanten Punkt zum anderen. Interessant sind immer Kurven. Und da stellen die sich dann hin und gucken, wie die Leute jetzt wohl diese Kurve schaffen: "Hest du dat seen. De löppt völlig verkeert...." Atmo 10 Hund hechelt "...der ist gut, Bolko...." Hans-Georg Bohlken bückt sich und versucht, den Hund zu beruhigen, der am liebsten jeder Kugel hinterher jagen würde. "Aber er muss lernen, dass das nicht geht", meint Hans-Georg Bohlken, den die Fans den "Bär von Ellens" nennen. Take 17 Hans-Georg Bohlken Da gibt es im Plattdeutschen diesen Ausdruck En Boar von Keerl, ein Bär von einem Mann. Zwei Meter groß, ein bisschen ein Schrank, und so bist du dann zu dem Namen gekommen. Das hat sich irgendjemand einfallen lassen in einer Bierlaune, und dann hast du den Namen weg. Hans-Georg Bohlken ist 47, war Ausnahmeboßler, hatte seine größten Erfolge aber in einer anderen Friesensport-Disziplin, dem Klootschießen. Er gehörte zu den wenigen, die den schlagballgroßen, fast ein Pfund schweren Kloot über einhundert Meter weit schleudern konnten. Autor Bernhard Uphoff hat in seinem Buch Freesensport eine Sternstunde festgehalten. Atmo 11 Sprecher Es ist der 15. September 1985, als auf dem Deichgelände in Burhave zwei Männer Klootschießgeschichte schreiben. Um 14 Uhr 47 sorgt der gefeierte Harm Henkel mit 102 Meter für einen sensationellen Rekord, der allerdings keine zwei Stunden halten soll. Um 16 Uhr 30 kontert der Bär von Ellens in seinem neunten Wurf und katapultiert den Kloot auf sagenhafte 105 Meter 20. Klootschießwettbewerbe finden nur selten statt. Aber die Fans haben Videos davon ins Internet gestellt. Es ist Winter. Man sieht den Atem der Zuschauer, die auf einer Weide stehen und einen Jungen anfeuern, der auf eine Art Sprungbrett zuläuft. Take 18 Hans-Georg Bohlken Du machst einen ganz normalen Anlauf und dann springst du vom rechten Fuß hoch und landest in der Seitgrätsche auf dem Brett und in dem Moment drehst du den Arm und schleuderst die Kugel weg. Wer den Kloot einhundert Meter weit werfen will, muss sich quälen wie jeder Spitzenathlet. Hans-Georg Bohlken montierte sogar Strahler ans Haus, um im Winter ausreichend Licht für's Anlauftraining zu haben. Take 19 Hans-Georg Bohlken Das ist so eine Einmannshow für sich selber. Du bist Aktiver und Zuschauer, alles zusammen, weil sonst keiner kommt, und musst sehen, wie du damit klar kommst. Von 82 bis 94 habe ich jeden Tag trainiert oder irgendwas ausprobiert. Aber war eine schöne Zeit. Sprecher Ein Tag wird unvergesslich bleiben in Hans-Georg Bohlkens Werferkarriere, ....schreibt Bernhard Uphoff... ....der Tag, als Mütter ihm ihre Kinder zwecks Erinnerungsfotos in den Arm drückten, er mehrere Kugelschreiber wegen der zahlreichen Autogrammwünsche leer schrieb, sein Sprungbrett ins Museum wanderte und er um 16 000 Mark reicher nach Hause fuhr. Es war der Tag, an dem er die achthundert Gramm schwere Eisenkugel der irischen Roadballer über eine dreißig Meter hohe und zwölf Meter breite Eisenbahnbrücke schleuderte. Die Wette galt schon seit einigen Jahren. Take 20 Hans-Georg Bohlken Und 1985 haben die wieder so eine Veranstaltung gemacht, weil die 50jähriges Jubiläum hatten vom irischen Verband. Und da habe ich es geschafft als erster und einziger, mit dieser irischen Eisenkugel, achthundert Gramm, da oben drüber zu werfen. Hans-Georg Bohlken ist wie die meisten Friesensportler Autodidakt. Um seine Technik zu verbessern, hat er sportwissenschaftliche Fachliteratur gelesen. Take 21 Hans-Georg Bohlken Ich habe Handball gespielt intensiv. Ich habe Zehntausendmeterläufe gemacht. Aber alles nur mit dem Hintergrund fit zu sein fürs Klootschießen und Boßeln. Fürs Klootschießen musst du eigentlich zu viel trainieren für die paar Wettkämpfe, die da im Jahr sind, und in der anderen Zeit habe ich dann geboßelt. Und da habe ich auch meine Erfolge gehabt, bin auch Landesmeister, FKV-Meister und deutscher Meister gewesen. Atmo 12 Unterhaltung auf Pattdeutsch mit Hans-Georg "Moin... moin....mit nen Hund ... moin... uns Heini is dat" Wir sind dort angekommen, wo die Landstraße eine sanfte Kurve macht. Hier ist Technik gefragt. Die Kugel folgt dem Verlauf der Straße nur, wenn sie mit viel Effet geworfen wird. Zentimeter trennen sie von der Böschung. Holzkugelwerfer tun sich hier leichter, meint Insa. Take 22 Insa Bohlken Holz kannst du eher beeinflussen durch das Drehen. Eine Gummikugel musst du schon gleich höher setzen. Das ist ganz schwer, die zu drehen. Und eine Holzkugel musst du auch noch drehen über den Finger oder den Daumen. Insa boßelt selbst. Die ganze Familie boßelt. Ihr Mann hat auch geboßelt. Sonst hätte sie ihn vielleicht gar nicht getroffen. Take 23 Hans-Georg und Insa Bohlken Wir haben uns nach dem Boßeln in der Kneipe kennen gelernt. - Und dann stand er am Tresen und hat Vitamalz getrunken. Und da habe ich ihn dann angesprochen, wieso er Vitamalz trinkt, und dann hat er erzählt, dass er in der sportlichen Vorbereitung ist für eine Europameisterschaft, und das habe ich ihm dann nicht so ganz geglaubt. Und dann hat er mich eingeladen, dass ich mal zu so einem Auswahlwerfen mitkomme. Tja, und das war es dann. Atmo 13 Schnitzen an Weidenstöcken Jan-Dirk Vogts ist Vorsitzender des Friesischen Klootschießerverbandes. Er steht gerade in der Diele vor einem Holztisch, ritzt Weidenstecklinge an, fügt Zweige in die Wunde ein und bindet beides zusammen. Jan-Dirk Vogts betreibt eine Baumschule. Take 24 Jan Dirk Vogts Das hier ist eine Trauerweide. Und das ist ein Stamm, der wächst in Holland an der Zuidersee, da werden die geschnitten, und wir benutzen die als Unterlage. Die werden nachher in einen Topf gesteckt und da hängt nachher die Pflanze so runter. Und da wird jetzt so ein Edelreis reingesetzt. So einfach ist das. Mit 40 000 Mitgliedern in fast dreihundert Vereinen sind die Friesischen Klootschießer der zwölftgrößte Fachverband im Niedersächsischen Landessportbund vor Basketball und Judo, und der größte Verband in der IBA, der International Ballplaying Association, gefolgt von den holländischen Kugelwerfern. Take 25 Jan Dirk Vogts Die haben so um die 5000 Mitglieder. In Irland gibt es zwei- bis zweieinhalb tausend Roadballer. Und dann haben wir ja noch die Associazione Boccetta Italiana su Strada. Die Italiener haben aus eine sehr lange Tradition. Die sind schon um acht-, neunhundert nach Christi damit angefangen, sind entdeckt worden und richten jetzt das erste Mal so eine Europameisterschaft aus. Mal sehen, was daraus wird. "Entdeckt worden" heißt: erst Mitte der neunziger Jahre erfuhren die Boßler zufällig von den entfernten Verwandten und brachen zu einer Expedition an die Adria auf. Jan-Dirk Vogts langt in einen Korb, in dem sein Sohn Kugeln aufbewahrt. Take 26 Jan Dirk Vogts Das ist jetzt wahrscheinlich Apfelbaumholz durchgossen mit Blei, und das ist irgend so ein Bongossiholz. Er hat auch noch andere Kugeln. Das ist eine Hollandkugel aus Eschenholz. So Rasenbahnen haben die da, anderthalb Kilometer lang. Keno Vogts ist siebzehn und gehört zu den großen Klootschießhoffnungen. An diesem Wochenende besucht er Werferfreunde in Schleswig Holstein. Take 27 Jan Dirk Vogts Mein Sohn hat das ganz gut ausgetüftelt, wie man das am besten macht und was man trainiert. Er trainiert täglich. Ja man kann sagen, anderthalb Stunden trainiert er. Sonst kann man das nicht. Das Boßeln hat sich wahrscheinlich vor rund zweihundert Jahren aus dem Klootschießen entwickelt. Es war ein langer Weg bis zur ersten Landesliga-Punktspielrunde 1969. Die harten Kugeln werden immer noch Holzkugeln genannt, obwohl sie längst aus schwarzem Duroplast sind. Sogar auf Kopfsteinpflaster wurde geworfen - mit Gummikugeln. Take 28 Jan Dirk Vogts Warten Sie mal.... Eine habe ich noch hier. Das ist noch so eine Gummikugel, die man früher auf Kopfsteinpflaster einsetzte. Da ist ein Bleikugel drinnen. Da haben die mit geworfen auf Klinkerstraßen, heute undenkbar. Das ist heute ein modernes Wurfgerät. Sehen Sie! Das ist was ganz anderes. Viele der roten Gummikugeln, die an Wochenenden zu tausenden über die Straßen Nordwestdeutschlands rollen, kommen aus einem Dorf, zweihundert Kilometer entfernt von den Boßelhochburgen. In Blumenthal bei Stade wohnt Klaus Baumgarten. Wir überqueren den Hof seines Bauernhauses. Take 29 Klaus Baumgarten davor Atmo Das kommt immer so ein bisschen komisch rüber bei uns hier in der Gegend: das ist der, der Boßelkugeln macht. Aber die machen wir natürlich nur nebenbei. Atmo 14 Eintreten in die Manufaktur Klaus Baumgarten öffnet die Tür des Wirtschaftgebäudes. Vor grünen Gummipressmaschinen stehen Kartons. Atmo 15 Manufaktur Zwischen Heizplatten wird in Stahlformen Kautschuk gebacken. Polytechnik Blumenthal produziert Gummiteile für die Fahrzeugindustrie. Aber deswegen sind Sie ja nicht hier, sagt Klaus Baumgarten und lässt eine glatte rote Boßelkugel in meine Hand plumpsen. Take 30 Klaus Baumgarten Das ist der erste Schuss gewesen, der erste Schuss in der Form. Die Männerkugel muss eintausend einhundert Gramm wiegen bei zehneinhalb Zentimetern Durchmesser. Take 31 Klaus Baumgarten Das ist Naturkautschuk hoch gefüllt. Die Dichte ist bei 1,8. Und Naturkautschuk bei normalen Rezepturen 1,2 bis 1,3. Und hier ist ein Füllstoff drinnen, der nachher auch das Gewicht mitbringt. Das Rezept von Klaus Baumgarten überzeugt auch Sportler aus Ostfriesland. Take 32 Klaus Baumgarten Die Boßler wollen eine Kugel haben, die möglichst eine hohe Sprungkraft hat. Teilweise wärmen sie die noch an, bevor es losgeht, dann springt sie noch besser. Take 33 Klaus Baumgarten Also, die Vereine in Ostfriesland brauchen mindestens pro Jahr, ich sag mal, zwanzig Kugeln. Die Blumenthaler haben das Boßeln eher zufällig entdeckt, zur 700 Jahrfeier des Ortes. Take 34 Klaus Baumgarten Und da kamen dann einige auf die Idee: Mensch in Ostfriesland da machen die doch so was auf der Straße. Das könnten wir doch auch machen. Wir haben uns die ersten Kugeln geliehen und 1984 hier so angefangen mit Bollerwagen, Getränken und was zu essen. Mehr als Spaß. Atmo 16 "Klasse, Edith. Suuuper. Äh, ich bin morgen heiser..." Edith König hebt das Handtuch vom Straßenrand auf und folgt der von ihr geworfenen Kugel. Es ist Samstagnachmittag. In der Vierten Kreisliga Aurich spielt Gute Hoffnung Pfalzdorf gegen Hier mot komen Georgsfeld. Die Landstraße verläuft schnurgerade, ohne spektakuläre Kurven. Take 35 Edith König Das ist jetzt eine relativ einfache Strecke. Aber es gibt auch anspruchsvollere, wo man die wirklich genau gerade setzen muss mit dem richtigen Effet. Und da kommt es dann mehr auf die Technik an als auf die Kraft. Atmo 17 Ediths Mannschaftskameradin holt zu einem mächtigen Wurf aus. Die Kugel will gar nicht aufhören zu rollen. Atmo 18 Frauenspiel, Kugel, Jubel. Take 36 Edith König Da siehst du die Unterschiede. Sie ist jetzt sechzehn. Bei gleicher Höhe des Wurfs wirft sie ja locker siebzig, achtzig Meter weiter als ich. Solange sie in meiner Mannschaft ist, ist das okay. Aber wenn du Gegner hast, die dann immer so viel weiter werfen, dann macht es halt nicht mehr so viel Spaß. Atmo 19 Kugel beim Frauenspiel Hinter uns kullert eine von der gegnerischen Mannschaft geworfene Kugel auf den Straßengraben zu. Take 37 Edith König Wenn die rausgeht haben wir einen Punkt. Atmo 20 Kugel plumpst in den Graben Wenn die irgendwann hinter unseren bleiben, nennt man das einen Schköt. Das heißt, dass wir genau einen Werfer weniger gebraucht haben und die trotzdem noch hinter uns sind. Atmo 21 Fischen im Graben "Hier nimm den hier..." Geduldig fischt Harm Weinstock im trüben Wasser. Er ist ein Mittelding aus Coach und Mädchen für Alles. Take 38 Harm Weinstock Die Frauen in Pfalzdorf haben sich vor vier Jahren mal gestritten und sind auseinander gegangen. Einige wollte aber weiter machen, hatten aber keinen zum Anzeigen und da haben sie mich dann gefragt. Und so ist das gekommen. Macht auch Spaß. Gleich das erste Jahr Meister geworden. War nicht schlecht. Atmo 22 Hier geht es hin ... nein nicht hoch werfen Harm Weinstock zeigt an, wohin die Werferin zielen soll. Atmo 23 Jetzt Bahn frei für Edith.... Edith ist gut in Form. Die Kugel rollt weit. Dann trifft sie einen Markierungspfosten und rollt unter ein vorbeifahrendes Auto. Atmo 24 Auto fährt vorbei; Schlag.... "Du hast gerade was verpasst. Hast du nicht gesehen mit dem Auto?" Edith ist Sparkassenangestellte. In ihrer Freizeit lernt sie Italienisch, denn dort findet nächstes Jahr die Europameisterschaft statt. Take 39 Edith König Ich fahre oft als Dolmetscherin mit für den FKV. Bei der letzten Europameisterschaft war ich auch dabei, aber immer ehrenamtlich, auch wenn ich selber von der Leistung her da nichts verloren habe in den hohen Klassen. Aber dadurch kennst du halt alle, ne.... Im Grunde könnte man genauso gut im Sommer boßeln, aber es ist nun mal traditionell ein Wintersport. Take 40 Edith König Weil es ja früher überwiegend auf dem Lande betrieben wurde. Im Sommer waren alle in der Ernte, und im Winter war dann halt Flaute. Dann hat man damit den Winter überbrückt. Und man brauchte halt gefrorene Feldwege. Da waren die Straßen noch nicht so ausgebaut. Atmo 25 Pferdewagen Take 41 Jan Dirk Vogts Es gab keine Straßen hier oder nur ganz, ganz wenige. Es gab eine Straße von Oldenburg nach Leer, und dann gab es eine Straße von Hesel nach Aurich. Und die Nebenstraßen waren zum Teil so Sandwege. Wenn Jan Dirk Vogts sich in Hollwege ins Auto setzt, ist er in spätestens einer Stunde an der Nordseeküste, im fünfzig Kilometer Luftlinie entfernten Esens. Take 42 Jan Dirk Vogts Mein Opa hat mir damals erzählt: vorm Krieg 1935 war das, Verbandsfest in Esens, da musste man mit Pferd und Wagen oder zu Fuß nach Westerstede hin. Von dort fuhr man dann mit der Bahn nach Ocholt. Von Ocholt konnte man dann über Bad Zwischenahn nach Oldenburg fahren und von Oldenburg nach Wilhelmshaven und von Wilhelmshaven über Wittmund nach Esens hin. Die waren den ganzen Tag unterwegs. Atmo 27 Autos Heute gibt es in Ostfriesland sogar Straßen, auf denen nur Auto gefahren und nicht geboßelt wird. Eine davon führt direkt an Frido Walters Baustoffhandlung vorbei. Jedes Mal, wenn er aufschaut, denkt er darüber nach, was auf ihr zu holen wäre. Take 43 Frido Walter Wenn du dann, ich sag mal, hier aus dem Fenster guckst, und du musst hier beim gelben Schild weg, wo das Fahrrad ist, Richtung Aurich, so ... wo würde dann der Boßler laufen? Die meisten würden sich rechts unten hinstellen und würden die Kugel dann zur Mitte werfen. Ich aber würde an der Mitte laufen, am Strich, und wie eine Schnur das Ding da dran lang werfen, weil ich meine, dass vom Auslauf her die Kugel dann den längsten Weg machen würde. Und dort, wo das Auto jetzt gerade verschwindet, würde die Kugel mitlaufen. Also hier könnte man einen Wurf machen mit egal welcher Kugel von zweihundert, zweihundertdreißig, zweihundertfünfzig Meter. Atmo 28 Büro Frido ist fast zwei Meter groß und hat dank seiner langen Arme einen fürs Boßeln optimalen Hebel. Take 44 Frido Walter Aber ich bin schlank, ich bin nicht dieses monströse Kraftpaket, die es auch gibt, wo ich aber nie Angst vor gehabt habe, weil man das einfach so nicht abwägen kann: der hat Kraft und kann auch was auf die Straße bringen. Aber letztendlich spiegelt sich der Erfolg darin wieder, wie man seinen Anlauf mit dem Abwurf in Verbindung bringt, diese Technik in den letzten Schritten. Take 45 Frido Walter Es gibt auch Weitspringer, die nehmen schnell Anlauf, bleiben vorm Brett stehen und springen dann zwei Meter fünfzig. Das haben wir beim Boßeln auch. Da muss man manchmal ja schon schmunzeln, wie die Anlauf nehmen, bleiben dann stehen und werfen die Kugel dann weg. Das ist aber .... Das bringt es nicht. Frido Walter war einer der ersten Boßelstars, der auch internationale Titel gewann. Dort wird nicht mit der Boßelkugel geworfen, sondern mit der irischen Eisenkugel. Take 46 Frido Walter 92 in Irland haben wir den Mannschaftseuropameistertitel gewonnen. Das war geil. Ja, und 1996 dann die Krönung Europameister im Einzel mit einer ja, würde ich sagen, ohne zu übertreiben, sensationellen Leistung. Die irischen Roadballer werfen anders als die friesischen Boßler. Sie führen mit dem Wurfarm eine blitzartige Kreisbewegung aus. Take 47 Frido Walter ... und lassen die Kugel dann auf der Straße zaubern. Da fliegen die Funken. Und das war für mich eigentlich der Antrieb... weil es früher immer hieß: Gegen die Iren können wir sowieso nicht anstinken .... Und da war ich immer bemüht zu sagen: "Hallo Freunde, irgendwann werden wir denen schon mal zeigen, dass es auch mit einem normalen Boßelschlag machbar ist, die Iren zu knacken. Frido Walter verfügt über eine stattliche Medaillensammlung. Mit dem Männerteam von Gute Hoffnung Pfalzdorf war er einundzwanzig Mal ostfriesischer Meister. Take 48 Frido Walter Nun ist es so, dass ich mit meinen fast siebenundvierzig mittlerweile der Älteste bin. Mein Sohn wirft zum Beispiel jetzt mit, der ist siebzehn gerade mal geworden. Und wenn man dieses ausgewogene Verhältnis findet, dann hat man auch Erfolg. Atmo 29 Vereinsheim "Moin....moin...moin" Auch die Pfalzdorfer Frauen haben ihr Spiel gewonnen. Im Boßlerheim lassen die Spielerinnen die Höhepunkte der Partie Revue passieren. Dazu gehört natürlich auch der Moment, als die Kugel unter das vorbeifahrende Auto rollte. Boßler sind gegen Schäden, die sie anrichten, über den Sportverband versichert. Manchmal kontrolliert die Polizei, ob die Mannschaftsführerinnen eine Spielgenehmigung dabei haben. Atmo 30 Vereinsheim ... und wenn es neblig ist, dann können die auch sagen: es ist Feierabend... Atmo 31 Vereinsheim "Tschüss..." Sechzig Kilometer entfernt, im Oldenburger Land, ziehen Holger Alberts und Michael Dubizak Bilanz. Der KBV Grabstede steht vor dem größten Triumph seiner Vereinsgeschichte. Take 49 Holger Alberts Verdient haben wir es vielleicht mal. Aber der Weg dahin ist noch weit, und wir werden jeden Schritt einzeln gehen. Nächste Woche müssen wir gegen Mentzhausen spielen und da werden wir mit einer geschlossenen Mannschaftsleistung ans Werk gehen und dann mal sehen, was dabei rauskommt. Michael Dubizak Also wir werden alles tun, um Landesmeister zu werden und uns den Ostfriesen zu stellen. Aber die Ostfriesen, das ist auch noch mal eine Klasse für sich. Atmo 32 Kneipe Im Saal des Gasthofs in Halsbek sitzen alle Mannschaften, die nachmittags auf der Dorfstraße unterwegs waren, einträchtig zusammen. Die Männerteams aus der Landesliga neben denen aus der Kreisliga und den Frauenteams. Atmo 33 Ansprache auf Plattdeutsch Beim Boßeln sind Plattdeutsch und Hochdeutsch gleichberechtigt. "Liebe Boßler. Ich möchte mich recht herzlich im Namen des Boßelvereins für die freundliche Aufnahme bedanken. Und ich muss sagen, ich bin mit gemischten Gefühlen hierher gekommen. Alle sagten ja, wir sind so Geheimfavoriten. Aber wenn wir heute verloren hätten, dann wären wir durchgereicht worden.. Gut, ich möchte die Grabsteder bitten hier aufzustehen. Auf den fairen Gegner und unseren Sieg... ein dreifaches... Fleu herut, Fleu herut. Fleu herut." Lüch up un fleu herut. "Heb auf und flieg heraus." Der traditionelle Boßler-Gruß schallt an Wochenenden durch viele Gasthäuser. Atmo 34 Berlin am Ziel "Und wie war es?.... Gutes Gelände ....das Problem war ja, dass hier so viel Leute rumwuseln Auf dem stillgelegten Flughafen Berlin-Tempelhof ziehen die Teilnehmer der friesischen Boßelexpedition Bilanz. Außer in Nordwestdeutschland wird nur in Schleswig Holstein und in einigen Enklaven Nordrhein- Westfalens geboßelt. Take 50 Johann Michels-Lübben Und Berlin guckt ja auch auf uns. Johann Michels-Lübben vom Betriebs- und Freizeitsportverband Küste findet, der Ausflug habe sich auf jeden Fall gelohnt. Take 51 Johann Michels-Lübben Da hörte ich gerade, wie ein Vater zu seinem Sohn sagte: Guck mal, das ist eine Boßelkugel. Und das war eindeutig jemand von hier. Aber die hatten wohl irgendwo auch schon Notiz genommen von dieser Veranstaltung. Und ob daraus mal mehr wird? Wer weiß, vielleicht kommen hier auch noch mehr auf die Idee, dass zumindest als Freizeitsport zu erkennen. 1