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Musik Jasmin El Baramawy Atmo: Demo-Slogans aus Tunesien, Youtube (Chants 01): Karama - Karama - Karama - Karama - steht kurz frei Yasmine El Baramawy (Yasmine 00, 24 sek) Dignity is not something to be gifted. It is not a gift someone can give it to you. The essence of dignity is that it comes out from inside of you. It is not something you can ask for, "please give me my dignity". It's yours, you should keep it, you should speak with it, you should apply it, you should live by it. Use it in your life and reject what takes it from you. Übersetzerin 1 Würde ist kein Geschenk, das man von jemandem bekommt. Das Wesentliche an Würde ist, dass sie aus Deinem Inneren kommt. Man kann nicht darum bitten: "gib mir meine Würde". Sie gehört Dir, Du solltest sie behalten, mit Würde sprechen, leben. Verweigere Dich allem, was sie Dir nimmt. Sprecherin Jasmin El Baramawy lebt als Musikerin und Komponistin in Kairo. Seit Ausbruch der ägyptischen Revolution am 25. Januar 2011 nimmt sie regelmäßig an Demonstrationen teil. Atmo: Demo-Slogans aus Ägypten, Youtube (Chants 02): Aish - Horreya - Karama insanaya (Brot, Freiheit, Menschenwürde) Samuli Schielke (Samuli 02, 26 sek) Das hat eine Musik, diese Worte haben eine Musik, das macht so viel aus! Ah ja, das ist das ägyptische Tempo. (...) Es wird gleichzeitig diskutiert: was, was? Und dann wird eben der Sprechchor gewechselt. Das finde ich immer so faszinierend, wie sich die Sprechchöre auch anpassen, Leute fangen an darüber zu debattieren, irgendjemand fängt einen Sprechchor an, und gerade Freiheit, Würde, soziale Gerechtigkeit, kommen immer wieder. Specherin Der Kulturanthropologe Samuli Schielke stammt aus Finnland und forscht seit mehr als zehn Jahren in und über Ägypten. Zurzeit ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Moderner Orient in Berlin. Als Schielke Anfang 2011 Zeitzeuge der ägyptischen Revolution wurde, ist ihm "Würde" nicht nur als Forderung in Sprechchören aufgefallen, sondern auch als eine alltägliche Bezugsgröße. Samuli Schielke (Samuli 06, 1 min 14) Es hat ein Freund von mir, wie ich nach Kairo kam, mitten in der Revolution, Ende Januar 2011, und er war Journalist, und er hatte halb gearbeitet, halb demonstriert - der ist zu einer Demonstration, um von da zu berichten und hat mit demonstriert, hat von Wasserwerfern und Polizeiknüppeln und Tränengas seinen anständigen Anteil bekommen und hat wegrennen müssen, weil geschossen wurde, und hat mir erzählt, dass das der erste Tag in seinem Leben war, wo er das Gefühl hatte, dass er ein volles menschliches Leben lebt. (...) Aufgestanden und hat gut geschlafen, er hat gefrühstückt, hat sein Morgengebet verrichtet, er ist zur Arbeit gegangen, ist zur Demonstration gegangen, hat nein gesagt, ist nach Hause gekommen, hat seine Verlobte angerufen und ist ins Bett gegangen. Und hat er gesagt: Zum ersten Mal war alles, was zu einem Leben gehört, dabei. Und was zu einem Leben gehört für ihn, war eben die Fähigkeit nein zu sagen. Nicht nur immer mitzumachen, nicht nur immer Befehle anzunehmen, sondern aus eigenem Antrieb, zusammen mit anderen etwas zu tun, etwas zu verwirklichen, einen Standpunkt zu haben. (...) Und das hat er tatsächlich als Würde beschrieben, mit dem Wort Karama, dass er in diesem Moment diese Würde gespürt hat. Sprecherin Die Hauptforderungen der Aufstände in den arabischen Ländern waren, und sind es teilweise noch: Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit - und Würde. Sprecher Aber was genau ist gemeint, mit "Würde"? Samuli Schielke (Samuli 03b, 43 sek) Es geht darum, ein Mensch sein zu dürfen gegenüber anderen, und das auch behaupten zu können. Und das war eben nicht eine Forderung, sondern es wurde gemacht. Die Menschen lebten in einer Gesellschaft, wo sie zwar meckern konnten, sie konnten im Kaffeehaus sitzen und sich beschweren, wie schlecht alles ist, aber sie konnten eigentlich nur unter ziemlich hohem Risiko Forderungen stellen. Forderungen überhaupt zu stellen, die Möglichkeit, aus der ängstlichen Isolation des Individuums zusammen zu finden und zusammen Forderungen zu stellen, das ist schon der erste Schritt zur Verwirklichung dieser Forderungen. Sprecherin Wenn Menschen Würde fordern, dann geschieht das, weil sie das Gegenteil davon erfahren: Entwürdigung, Erniedrigung. Das gilt für den ägyptischen Journalisten, der in der Möglichkeit "Nein" zu sagen, eine Befreiung erlebt. Und das gilt auch für den Tunesier Mohamed Bouazizi, der sich im Dezember 2010 aus Verzweiflung öffentlich selbst verbrannte und damit die tunesische Revolution in Gang setzte. Sprecher Im Arabischen gibt es zahlreiche Begriffe, die die Erfahrung von Erniedrigung bezeichnen, beispielsweise "bahdala", das mit verächtlich behandeln oder beleidigen übersetzt werden kann. Samuli Schielke (O-Ton Samuli 04, 54 sek) Bahdala ist eine Behandlung, die einen Menschen außer Stande bringt, würdevoll zu bleiben, seine Ehre zu bewahren, seine Fassung zu bewahren. (...) Wie das Mubarak-System bis zum höchsten Kopf funktionierte, war zum Beispiel, dass Menschen beschimpft wurden. (...) Präsident Mubarak war dafür berühmt, dass er wüst seine Untergebenen beschimpft hat. Und das ging dann weiter auf der ganzen Ebene, wo auch Minister ihre Untergesetzten und höhere Offiziere die Unteroffiziere und die normalen Polizisten die Bürger wüste beschimpft haben. Diese Art von wüste Beschimpfungen, Menschen sozusagen nicht höflich anzureden, nicht ernst zu nehmen, ist eine der Formen von bahdala, von dieser entwürdigenden Behandlung, die die Menschen unglaublich stinkig gemacht hat, unabhängig davon ob sie arm waren oder wohlhabend, unabhängig davon in welcher Position sie gesellschaftlich standen, weil fast alle Leute darunter zu leiden hatten. Sprecherin Salwa Ismail, die als Politik-Professorin an der Londoner School of Oriental and African Studies arbeitet, bezeichnet die ägyptische Revolution von 2011 als "Revolution der Würde". Zitatorin "Das weit verbreitete Engagement gegen die Regierung, mit dem Ziel, das Regime, das System zu stürzen - wie im ägyptischen Haupt-Slogan formuliert -, kann als Revolution der Würde beschrieben werden. Das geteilte Gefühl erniedrigt zu werden, hat Wut hervor gebracht und war darin prägend für das oppositionelle Subjekt." Atmo Weltsozialforum Sprecher Ende März 2013: "Die Revolution der Würde begrüßt die Teilnehmer des Weltsozialforums in Tunis" steht auf großen Bannern zwischen den Fahnen vor dem tunesischen Verteidigungsministerium und an zentralen Straßen der Stadt. Das elfte Weltsozialforum ist das erste, das in einem arabischen Land stattfindet, und sein Motto lautet - "Würde". Die Soziologin und Expertin für regionale Entwicklung, Awatef Mabrouk, und die Französischlehrerin und Radio-Moderatorin Fatma Zairi sitzen am Rand des Weltsozialforums bei einem Bier zusammen und diskutieren "Würde": Awatef (Awatef und Fatma 02, 28 sek) Moi, j'étais heureuse que ce terme sois - s'est emerge dans le - oui, j'étais très heureuse - parce-que c'est fort quand on l'entend - toi aussi, Fatma, non? C'est extraordinaire - Fatma Oui, absolument. Et pui, ca n'était pas un slogan d'un parti, ca n'était pas un slogan d'un homme politique, ca ne sortait pas d'un discours politique - c'était le cris des gens, le cris des coeurs des gens - Awatef (Awatef und Fatma 01, 30 sek) Moi, je crois que pour l'histore, le slogan dignité reste et demeurre et on peux le faire toute la touche belle aussi, surtout quand on le reprend dans la langue arabe. Bon, le Karama - c'est très beau, très très beau - c'est - on en a parlé dans notre histoire, dans notre poésie - c'est un terme - Fatma - c'est à la fois, la dignité, la générosité- Awatef La générosité. Übersetzerin 1 Ich war glücklich, als der Begriff aufkam, sehr glücklich. Es ist ein starker Begriff, oder Fatma? Übersetzerin 2 Ja, absolut! Das war kein Partei-Slogan oder Politiker-Slogan, und er ist auch nicht einem bestimmten politischen Diskurs erwachsen. Es war ein Aufschrei der Menschen, aus ihren Herzen. Übersetzerin 1 Ich glaube, der Slogan "Würde" wird historisch bestehen bleiben. Er ist schön, besonders im Arabischen. Karama ist sehr, sehr schön, es geht in unserer Geschichte darum, in unserer Poesie - Übersetzerin 2 Und Würde, das bedeutet zugleich Großzügigkeit. Zitator Arabisch-Deutsches Wörterbuch von Hans Wehr. Karama: Adel, Edelmut, Großmut, Freigebigkeit, Ehre, Würde, Achtung, Ansehen, Prestige, Ehrung, Gunstbezeugung. Samuli Schielke (Samuli 14, 14 sek) Gastfreundschaft ist karam, karim ist gastfreundlich oder großzügig. Da kommen eben solche Sachen wie Gnade, Großzügigkeit, Würde - das ist also ein Wortstamm, der sehr reich ist an positiv bewertenden Begriffen. Sprecherin In der westlichen Geistesgeschichte ist die Auffassung von Würde einerseits vom christlichen Menschenbild, andererseits von der Ethik Immanuel Kants geprägt. Er knüpft Würde eng an Selbstbestimmung und Autonomie. Beide, christliche Theologie und Kant'sche Philosophie, verstehen Würde als universellen, inneren Kern von Menschsein. Sprecher Was "menschenwürdig" ist, kann nicht eindeutig definiert werden, im Gegenteil: in seiner Anwendung könnte die Interpretation kaum gegensätzlicher sein. Beispielsweise stehen sich der Sterbehilfe-Verein Dignitas mit dem Motto "Menschenwürdig leben, menschenwürdig sterben" und die christlichen Kirchen, die aktive Sterbehilfe ablehnen, gegenüber. Die Evangelische Kirche Deutschlands "sei grundsätzlich dem Schutz des menschlichen Lebens und der menschlichen Würde verpflichtet" heißt es in einer Stellungnahme. Sprecherin Fatma Zairi ist dem Gebrauch des Begriffs gegenüber skeptisch geworden. Fatma (frz) (Fatma 01, 49 sek) Même si moi, aujourd'hui, j'ai du mal avec ce terme. C'est à dire qu'il a été fourré pour tout et dans les discours aussi bien de la droite, de la gauche, des gens sincères, des arrivistes, des opportunistes - finalement, le mot en lui même, le vocable dignité me donne des urticaires. Mais, ce qu'il peut contenir comme autre valeur, c'est à dire le droit au travail, le droit à la liberté, le droit a la liberté de conscience - en faite, tous ca fait la dignité - oui, je suis d'accord. Mais comme ca, le mot dignité, on l'as vidé de son sense et il est galvaudé - et pour moi, ca ne veut rien dire. Übersetzerin 2 Ich habe heutzutage Probleme mit dem Begriff. Er wird überall und von allen gefüttert: von Rechten, Linken, aufrichtigen Menschen, Karrieristen, Opportunisten - wenn ich das Wort selbst, Würde, nur höre, kriege ich einen Ausschlag. Aber mit dem, was es als Werte auch beinhaltet, bin ich einverstanden: das Recht auf Arbeit, auf Freiheit, Gewissensfreiheit - all das ist Würde, natürlich. Aber das Wort selbst ist entleert, abgenutzt, sagt für mich nichts mehr aus. Sprecherin Der Schweizer Philosoph und Schriftsteller Peter Bieri nimmt in seinem aktuellen Buch "Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde" eine kursorische Untersuchung vor, mit dem Ziel zu "erkennen, wie das Geflecht von Erfahrungen beschaffen ist, das wir mit dem Begriff der Würde verknüpfen": Zitator "Unser Leben als denkende, erlebende und handelnde Wesen ist zerbrechlich und stets gefährdet - von außen wie von innen. Die Lebensform der Würde ist der Versuch, diese Gefährdung in Schach zu halten. (...) Die Lebensform der Würde ist deshalb nicht irgendeine Lebensform, sondern die existentielle Antwort auf die existentielle Erfahrung der Gefährdung." Sprecherin Bieri untersucht Würde ausdrücklich als Haltung, als bewusst gewählte Lebensweise, weniger als ethisch-politischen Begriff, der zur Festschreibung allgemeiner Menschenrechte, zur Vorstellung der Gleichheit aller Menschen führt. Sprecher Der Ruf nach Würde in den arabischen Protesten 2010/11 war ein Ruf nach menschenwürdiger Behandlung, vor allem durch staatliche Institutionen. Im Kontext des arabischen Frühlings begegnet man aber noch einer ganz anderen Variante von Würde: der nationalen Würde. Awatef (Awatef und Fatma 03, 1 min 10) Pour moi, c'est un slogan - Fatma le connait aussi - c'était avec Choukri Bel Aid, avec le parti de Choukri quand il était une groupe politique à l'université. Nos slogan, c'était: Ard - terre - horreya - liberté - Karama wataneya. Et ca a beaucoup de sens. (...) Fatma: Le syndicale des étudiants en Tunisie garde le même slogan. Awatef Donc, karama - c'est très profond aussi. Ca dépend de lecture. Julia Karama watenya - c'est pas individuel, c'est - Famta Non, c'est national. Awatef Et puis, vous savez, le monde aujourd'hui, il est dans la différence. Ce n'est pas la même chose que je sentirais moi-même que vous Allemandes ou que l'autre. Moi, je garderais des choses: c'est un slogan qui est parti, qui a amené le pays dans ce qui se passent aujourd'hui qui demeure positive. C'est aussi un terme fort. Pour moi, il est fort. J'ai parlé du sens aussi du partage, du sense de l'orgeuil, de l'identité. (...) Donc, moi, j'aime le Karama. Übersetzerin 1 Für mich ist das auch ein Slogan aus der Zeit mit Choukri Bel Aid, als seine Partei eine politische Gruppe an der Universität war. Unser Slogan hieß: Ard - Erde - horreya - Freiheit - Karama wataneya. Übersetzerin 2 Die Studentenvertretungen haben denselben Slogan bis heute. Autorin Karama Wataneya - das ist nicht auf das Individuum bezogen. Übersetzerin 2 Nein, das bezieht sich auf die Nation. Übersetzerin 1 Nun, die Welt ist sehr unterschiedlich. Ich fühle nicht das gleiche wie ihr Deutschen oder wie andere. Das ist ein Slogan, der das Land dahin gebracht hat, wo wir heute sind und der positiv bleibt. Ein starker Begriff, für mich ist er sehr stark. Ich habe von der Bedeutung zu teilen gesprochen, von Stolz und von Identität. Also, ich liebe Karama! Sprecherin Es erscheint widersprüchlich: Der Ruf nach Würde fordert unveräußerliche Rechte jedes Einzelnen und ist zugleich auf die Nation bezogen. Beides fließt im Begriff Karama zusammen. Das Verhältnis von individueller und nationaler Würde erscheint zentral für das Verständnis von Würde in den arabischen Aufständen. Atmo Horreya - Horreya - Karama Watanaya (Freiheit, Freiheit, nationale Würde) Sprecher Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden Unabhängigkeitsbestrebungen gegenüber den europäischen Besatzungsmächten, und mit ihnen ein anti-kolonialer Nationalismus. "Nationale Würde" wurde im politischen Diskurs prominent. Prägender noch für die Begriffsbildung und präsenter im politischen Gedächtnis sind dann die 1950er Jahre. 1952 putschten Gamal Abdel Nasser und andere junge Offiziere gegen den König Farouk und die Reste der britischen Kolonialmacht und gründeten die ägyptische Republik. Es ist Nasser, der der "Würde" einen prominenten Platz in seiner politischen Rhetorik zuwies. Als Präsident Ägyptens und charismatischer Kopf der panarabischen Bewegung prägte er "Würde" wesentlich als Teil eines anti- kolonialen Vokabulars. O-Ton - Ausschnitt aus der Rede frei stehend Samuli Schielke (über Nasser-Rede im Kopfhörer, Samuli 09, 30 sek) So eine schöne Stimme... wow! Hahaha - um frei zu leben / um in Würde zu leben / um anerkannt zu leben / um beliebt zu werden - aizza wa al karama wa al horreya... Sprecherin Als Parade-Beispiel für Nassers Fähigkeiten als Redner gilt die Ansprache, die er 1956 in der Hafenstadt Alexandria anlässlich der Verstaatlichung des Suez-Kanals hielt. Samuli Schielke (teilweise über Nasser-Rede im Kopfhörer, Samuli 10, 15 sek) Da kommt der Kampf... Da kommt zum ersten Mal die Nation, da kommt "watan". Der konnte ja echt reden. Der war gut. Sprecherin Ganze neunzehn Mal benutzt er in dieser Rede den Begriff "Würde" - und beendet mit der Verstaatlichung des Kanals die Kolonialzeit endgültig. Bis dahin war der Suez-Kanal noch in britisch-französischer Hand gewesen. Samuli Schielke (Samuli 10, 48 sek) Der führt noch ein Wort ein: aizza, aizza ist wirklich fast ein Synonym von Karama. Anerkennung, Freiheit, Ansehen, oder Würde - "was wir haben". (...) Aber schon da kommt das mit der Freiheit zusammen. Und das zeigt, das ist wirklich so ein rhetorisches Synonympaar, das immer wieder zusammen kommt. Frei und würdig leben. Entscheidungen treffen können, seinen Weg gehen können, und dabei anerkannt werden, dabei angesehen werden, dabei ernst genommen werden. Und das macht Abdel Nasser hier natürlich in einem sozialistischen Kolonial-Befreiungs-Stil für die ganze Nation, aber er verspricht es auch jedem. Sprecherin Bilder von Nasser sind in den aktuellen ägyptischen Protesten immer wieder präsent, er genießt bei vielen Revolutionären ein hohes Ansehen. Ägypten sei zu seiner Zeit modern gewesen, stark, heißt es dann. Und er habe das Land in die Unabhängigkeit geführt. Sprecher Mit Gamal Abdel Nasser begann aber auch eine sechzig Jahre lang währende Militärherrschaft, die bisher nur vom zivilen Präsidenten Mohamed Mursi für ein Jahr unterbrochen war. Alle Präsidenten vor ihm waren Männer des Militärs, und Mursi selbst wurde Anfang Juli 2013 mithilfe des Militärs seines Amtes enthoben. Nassers sozialistische Politik war autoritär und nationalistisch, er ließ Kommunisten, und später auch Muslimbrüder verfolgen. Viele Ausländer, beispielsweise Griechen und Armenier, verließen das Land. Widerspruch, Einspruch, alles was "anders" war, war nicht willkommen. Wurfsendung arabisch-deutsch von Deeb (Fett gedruckt ist auf Deutsch zu hören, 47 sek): Der Kuchen ist wieder unsrer / Das Börsenzocken geht unter / Es ist wieder so, wie es sein muss, Polizeischutz, der wieder dem Volk nutzt. Die Lage war beschissen, es hat uns zerrissen und es hat sich was ändern müssen. / Den verdammten Pharao jagten wir aus der Wüste / Die es nach der Diktatur nach Wasser dürstet. / Sie predigen, dass sich kein Stein bewegt / Inshallah, bis die Erde untergeht. / Die Revolution kommt aus dem Volk / Auf friedlichen Wegen zum Erfolg / Wir wollen Freiheit, Würde, Gerechtigkeit. / Wir hab'n uns aus dem eisernen Griff befreit. / Wir wurden benutzt und misshandelt, der 11. Februar hat alles verwandelt / Hoch sollst du leben, Ägypten Sprecherin Das Vokabular nationaler Würde findet sich im aktuellen politischen Ägypten wieder, etwa im Präsidentschaftswahlkampf von 2012. Zitator "Ägyptische Würde soll über allen Erwägungen stehen". Sprecherin ...Mohamed Mursi, der später knapp zum Präsidenten gewählt wurde Zitator "Menschenwürde wird durch nationale Unabhängigkeit geschützt" - Sprecherin Hamdeen Sabahi, drittplatzierter Kandidat. Er gründete 1996 die "Partei der Würde", Hisb al Karama, eine populistische linke Partei in der Nachfolge Nassers. Sprecher Die "Nationale Rettungsfront", ein Zusammenschluss oppositioneller Parteien, rief im Frühjahr 2013 zu Protesten gegen die Muslimbruderschaft auf, um "Ägyptens Würde" zu retten, und aktuell protestieren die Muslimbrüder gegen den jüngsten, militärisch erzwungenen Machtwechsel und verlangen "Freiheit und Würde". Samuli Schielke (Samuli 12, 43 sek) Diese Begriffe - das sind Kampfbegriffe, nicht in dem Sinne, dass man sie gegen jemanden verwendet, (...) sondern dass sie ihren Sinn haben, in einem Konflikt. (...) In Abdel Nassers Zeit ist das der unmittelbare antikoloniale Kampf, der den Rahmen gibt. Heute ist das Antikoloniale viel diffuser geworden, weil die Machthaber die eigenen sind, die aber offensichtlich im Pakt mit größeren globalen Mächten sind, von denen dann verschiedenste Leute verschiedenste Ansichten darüber haben, wer das jetzt genau ist und wie und wer das zu sagen hat und wer wem Geld gibt und von wem abhängig ist, und es wird viel komplizierter. Die Erfahrung der Entwürdigung ist da, aber die Antworten sind nicht mehr so eindeutig wie bei Abdel Nasser. Sprecherin Während der ersten Phase der Revolution, Anfang 2011, erzwangen die Menschen in Ägypten innerhalb von 18 Tagen den Rücktritt Hosni Mubaraks. In dieser Zeit bildeten die Demonstranten eine Gemeinschaft, handelten kollektiv. Das drückte sich auch in der verbreiteten Rede davon, "das Land zu besitzen". Dieser Anspruch, dieses neue Erleben, wurde in spontaner Selbstorganisation umgesetzt, etwa indem öffentliche Plätze aufgeräumt, der Verkehr selbst organisiert, das ägyptische Museum neben dem Tahrir-Platz geschützt oder Komitees zum Nachbarschaftsschutz aufgestellt wurden. Sprecher In der ägyptischen Revolution richtete sich die Masse der Demonstranten unter anderem gegen die Polizei als Institution. Beispielhaft dafür ist die Bewegung "Wir sind alle Khaled Said". Khaled Said war ein junger Programmierer, der 2010 in Alexandria brutal von Polizisten zu Tode geprügelt wurde - auf offener Straße. Die Bilder seines zertrümmerten Schädels verbreiteten sich rasch über das Internet und lösten eine starke Protest-Bewegung aus, die schließlich in den Massendemonstrationen vom 25. Januar kulminierte, dem Feiertag der Polizei. Bald danach brannten Polizeistationen im ganzen Land. Sprecherin Das Statement "Wir sind alle Khaled Said" enthält ganz direkt die politische Strategie, aus vielen Einzelnen ein Kollektiv zu formen. Sprecher: Der Kulturanthropologe Samuli Schielke: Samuli Schielke (Samuli 11, 22 sek) Es geht um dieses Gefühl, gemeinsam etwas zu sein. Weil diese Freiheit und Würde werden ja nicht alleine erreicht. Die große Illusion des westlichen Individualismus ist, dass man Freiheit alleine ohne andere erreicht. Schaut man Situationen an, wo Menschen wirklich um ihre Freiheit kämpfen müssen: man muss zusammen kommen, um das zu erreichen. Sprecher Eine über-individuelle Vorstellung von Würde kann sich nicht nur auf eine Nation beziehen, sondern auch auf politische Bewegungen oder Gruppierungen. Sprecherin Das Verhältnis vom Einzelnen zur Gruppe wird dabei gerade in politischen Kämpfen immer wieder diskutiert. Musik Jasmin El Baramawy Sprecher Jasmin El Baramawy sind gleich zwei entwürdigende Erlebnisse widerfahren: Bei Protesten auf dem Tahrir-Platz gegen das Verfassungs-Dekret des damaligen Präsidenten Mursi Ende November 2012, wurde sie von einem Mob sexuell schwer misshandelt. Sie war nicht die einzige, über ein Dutzend Fälle wurden bekannt. Sprecherin Die 30jährige forderte Journalisten, Aktivisten, Politiker auf, darüber öffentlich zu sprechen und zu berichten. Doch alle weigerten sich - das Thema sei zu sehr von Scham behaftet, die ägyptische Gesellschaft noch nicht so weit. Außerdem würden sich Frauen nicht mehr auf Demonstrationen trauen, wenn sie davon erführen. Das Schweigen empfand sie als zweiten Versuch der Entwürdigung. Yasmine El Baramawy (Yasmine 01, 53 sek) Why are we revolting - let's remember, 2011 we were chanting, asking for dignity and freedom and bread and social justice and and and - are you now asking me to stop asking for my dignity in order to gain my dignity? You want me to leave it on purpose, neglect it, or - act as if nothing happened? 'It's ok, I'm great!... (...) This is the end of the revolution, when you accept that you get insult and you stay silent and you leave broken (...) We are asking for dignity by doing, by applying dignity, not by chanting. Saying "dignity, dignity, dignity", and when someone tries to take it from you, leave it to him and - (lacht) still chant: "dignity, dignity" - no way! Übersetzerin 1 Wir sollten uns daran erinnern, warum wir revoltieren. 2011 haben wir Würde, Freiheit, Brot und soziale Gerechtigkeit gefordert - und jetzt wird von mir verlangt nicht mehr nach meiner Würde zu fragen, um meine Würde zu erlangen? Ich soll sie vergessen, so tun als sei nichts passiert? Das wäre das Ende der Revolution. Das würde bedeuten, Erniedrigung zu akzeptieren, zu schweigen, und gebrochen davon zu gehen. Wir fordern Würde indem wir sie anwenden, nicht indem wir skandieren "Würde, Würde, Würde" und dann die eigene Würde jemandem überlassen, wenn er sie haben will. Und danach weiterhin Würde, Würde rufen - nie im Leben! Sprecherin Als sich zwei Monate später, am zweiten Jahrestag der Revolution, nach gleichem Muster die Übergriffe auf dem Tahrir-Platz wiederholten, hielt Jasmin El Baramawy es nicht mehr aus. Sie entschied sich, gegen die Widerstände ihres Vaters, mit ihrer ganz persönlichen Erfahrung an die Öffentlichkeit zu treten und sprach in einer Talkshow über das Erlebte. Das unerwartet positive Echo seitens der Medien und der Gesellschaft, hat sie beruhigt. Die Täter zu finden aber, ist aussichtslos. Es waren zu viele, zu undurchschaubar die Situation, zu unwillig die Justiz. Es ging El Baramawy ohnehin mehr darum, dass das Thema nicht unter den Tisch gekehrt wird. Yasmine El Baramawy: (Yasmine 02, 37 sek) I felt like I have been betrayed from the revolution itself. (...) I know nobody will get his right back, I know the martyrs, their families are still crying for them, and they don't get justice for them and I know that the people injured or they lost their sight, they didn't take their rights back, nobody took his right back. And I know until now that I am not going to take my right, but I was just asking about demanding for this right and don't ignore this right. It is a right. (...) I know, nobody got any rights, but just admit it. Don't neglect it. Übersetzerin 1 Ich habe mich von der Revolution selbst betrogen gefühlt. Ich weiß, dass niemand Gerechtigkeit erfahren wird, dass die Familien der Märtyrer noch immer um sie weinen und keine Gerechtigkeit erfahren, ebenso die Verletzten, die, die Ihr Augenlicht verloren haben, niemand. Auch ich werde kein Recht erfahren, aber es geht mir darum, meine Rechte einzufordern und sie nicht zu ignorieren. Es ist ein Recht, und auch wenn niemand Recht erfährt: gebt es doch einfach zu! Sprecherin Für Gamal Eid ist es seine tägliche Arbeit, Rechte einzufordern. Der Anwalt sitzt dem Arabischen Netzwerk für Menschenrechtsinformation ANHRI vor. Gamal Eid: I agree 100 % with the slogan during the revolution until now: human dignity, social justice, freedom - and til now, we are asking and calling for karama, not only for us, but also for the enemies. Mubarak for example, we are against him, but we are supporting his fair trial for example. And when some people make jokes about the situation for him in prison, we are saying: it is not fair to be - to accuse - to violate his rights in prison. We are looking for the same right for all prisoners. Übersetzer Ich stimme bis heute zu 100 % mit den Revolutions-Slogans überein: Menschenwürde, soziale Gerechtigkeit, Freiheit. Und bis heute fordern wir Würde, nicht nur für uns, sondern auch für unsere Feinde. Mubarak beispielsweise - wir sind gegen ihn, aber wir unterstützen einen fairen Prozess. Und wenn sich Leute über seine Situation im Gefängnis lustig machen, sagen wir: es ist nicht fair, seine Rechte zu verletzen. Wir suchen nach gleichen Rechte für alle Gefangenen. Sprecherin Die Anfangs-Euphorie der Revolutionen in Tunesien und Ägypten ist schnell einer Ernüchterung gewichen. Die Gesellschaften beider Länder befinden sich nach wie vor im Umbruch, und wie es weiter geht, ist unvorhersehbar. Die Hauptforderungen der Revolution wurden bisher kaum realisiert. Der hehre Begriff der Würde, der in diesen Bewegungen Auftrieb erhalten hat, und politisch angereichert wurde, ist nicht mehr so laut präsent wie noch zu Beginn. Samuli Schielke (Samuli 13, 1 min 18 sek) Die Würde - ist als Begriff immer noch da, aber hat vielleicht tatsächlich nicht mehr ganz die führende Funktion wie damals. Warum das so ist? Ich glaube, der Konflikt hat sich geändert. Der Anfang des Konflikts war wirklich die Erfahrung, überhaupt zu trauen aus der Isolation rauszukommen und einen Standpunkt zu vertreten. Und das war tatsächlich diese erlebte Würde. Das war dieser Moment auf dem Tahrir, wo es nicht nur gefordert wurde, sondern es wurde gemacht. Danach sind sehr sehr viele Leute gestorben. Danach sind sehr schlimme Dinge passiert, die Leute reden über Rechenschaft, die reden über Gerechtigkeit, die reden über Unrecht, die reden über Korruption - die reden über viele Sachen wo der Ton bitterer geworden ist, wo es Rechnungen auszugleichen gibt. Wo Tote gerächt werden müssen. Würde spielt da immer noch eine Rolle, aber - der Kampf jetzt hat eine Vorgeschichte, es ist anders geworden, und ich würde sagen, wirklich, es ist bitterer geworden. Und ein Teil dieser Bitterkeit rührt daher, dass Menschen das eine Zeit lang wirklich erlebt haben. Aber dann ließ sich das - wenn überhaupt - nur teilweise weiter leben. Sprecherin Wenn Würde nur beispielhaft beschrieben, aber kaum klar definiert werden kann, so sind die revolutionären Phasen - insbesondere in Tunesien und Ägypten - deutlich als Erfahrungen von Würde zu bezeichnen. Der Ruf nach Würde aus den Kehlen von Millionen hat diese selbst hergestellt, im Miteinander, vorübergehend. Samuli Schielke (Samuli 13, 17 sek) Es hat die Menschen verwandelt. Zum Beispiel dieser Freund von mir, der ist ein anderer Mensch geworden. Der ist wirklich anders in seiner Lebensart geworden, seinem Leben. Aber es hat gleichzeitig diese Bitterkeit von: "das war's jetzt? Das soll es jetzt sein? Das ist immer noch nicht unser Land." ++++ Zitate: 1. Salwa Ismail: At one level the widespread engagement against government and the goal of bringing down the regime and system, as captured in the Egyptian protesters' main sogan (al-sha'b yurid isquat al nizam), could be described as a revolution for dignity. As noted above, the shared feelings of humiliation generated sentiments of anger and were formative of the oppositional subject (...)" Aus: Third World Quarterly, Vol. 32, No 5, Routledge, 2011, p. 993 - 5 Zeilen 2. Peter Bieri: Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde (Leseprobe), Hanser 2013, S. 11 (Einleitung) - 7 Zeilen Deutschlandradio - Forschung und Gesellschaft - Redaktion: Jana Wuttke - Autorin: Julia Tieke 1