HINTERGRUND KULTUR UND POLITIK Reihe                             Zeitfragen     Titel                                Lyrik und die Fülle des Lebens. Walt Whitmans Dichtung inspiriert auch heutige Lyrikerinnen und Lyriker Autor/in                          Michael Reitz Sendetermin                 31.05.2019, 19.30 Uhr Regie                             Giuseppe Maio     Besetzung                     Sprecherin (Anika Mauer) Zitator (Martin Engler)           Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. 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In seiner pragmatischen Einfachheit finden sich in dem Text Parallelen zu den Gedichten des 1892 verstorbenen Walt Whitman.   O-Ton (2) Göritz: Ich glaube, dass die ganze Beat-Bewegung ohne Walt Whitman gar nicht hätte starten können und sicherlich auch die amerikanischen Protestsänger, die Blue-Grass-Bewegung, die Countrymusik. Das sind auch die Song Books, die auch Bob Dylan früher natürlich gespielt hat und Guthrie auch natürlich.   Erzählerin: In dem Song wird dem einfachen US-Bürger immer wieder vermittelt, wie stolz er auf sein Land sein kann. Aber nicht wie ein fanatischer Nationalist. Sondern eher wie jemand, der sich als Teil eines großen Ganzen versteht – so wie die Halme einer Wiese.   O-Ton (3) Schulz: Wenn man über die Grashalme spricht, das sind Gedichte, die also irgendwie zwischen dem Gedicht und der Prosa auch stehen.   Erzählerin: „Leaves of Grass“, zu Deutsch „Grashalme“ ist das berühmteste Buch Walt Whitmans. Die erste Fassung erschien 1855.   O-Ton (4) Mengeringhaus: In späteren kleinen Publikationen, die er sukzessive dann immer wieder den Leaves of Grass als seinem Opus Magnum zugefügt hat, gibt es immer wieder Mischformen aus Gedichten oder Berichten.   Erzählerin: Die „Leaves of Grass“ sind eine einzige Liebeserklärung an die Nation USA, ihre Landschaften und vor allem ihre Bewohner. Das Kuriose an dem Werk: Whitman veröffentlichte zunächst nur ein schmales Bändchen. Doch er schrieb in den folgenden Jahrzehnten zahlreiche Erweiterungen, so dass es bis zu seinem Tod auf mehrere hundert Seiten anschwoll. Es ist auch eine Ansammlung von alltäglichen Protokollen eines wachen Beobachters.     O-Ton (5) Röhnert: Das ist das, wozu Lyrik gut ist, dass wir das, was wir alltäglich kennen, plötzlich in einer neuen Perspektive wahrnehmen.   Musik, erst hoch, dann unter Text:   Zitator: Komm, sprach meine Seele, Solche Verse für meinen Leib lass uns schreiben (denn wir sind eins) Daß, sollte ich unsichtbar nach dem Tode Oder weit, weit fort, in anderen Sphären zurückkehren (…) Ewig und ewig noch die Verse bekenne – wie ich, zuerst hier und jetzt, Für Seele und Leib unterzeichnend, meinen Namen zu ihnen Setze, Walt Whitman   Erzählerin: Walt Whitman ist im 21. Jahrhundert immer noch aktuell. Zeitgenössische Lyriker berufen sich auf ihn. Literaturwissenschaftler sehen in ihm einen der wichtigsten Autoren der Moderne. Immer wieder werden Seminare, Kongresse und Arbeitstagungen über seine Lyrik veranstaltet. Beispielsweise an der Technischen Universität Dortmund. Walter Grünzweig ist Whitman-Experte und Professor für amerikanische Literatur und Kultur.   O-Ton (6) Grünzweig: Ich arbeite gerade an der Übersetzung der Erstausgabe von Leaves of Grass 1855, die erste Übersetzung übrigens, und ich merke, (…) er hat, glaube ich, tatsächlich sich selber gesehen als jemand, der Amerika buchstäblich repräsentiert, mit seinem Körper auch.   Erzählerin: Walt Whitman wuchs in Long Island im Bundesstaat New York auf, in einer Großfamilie. Sein Vater war ein Trinker und Walt interessierte sich früh für Literatur. Dabei schreckte er auch nicht vor den dicksten Brocken zurück: Charles Dickens, Christopher Marlowe oder Voltaire.   Musik: Tom Waits „Bride of Rain Dogs“ (instrumental)   Erzählerin: Er ließ sich zum Drucker ausbilden, aber seine Leidenschaft gehörte dem Schreiben. Bereits mit zwanzig Jahren gründete er eine Zeitung, in der er erste Gedichte veröffentlichte. Doch wie kam ein junger Mann dazu, ausgerechnet mit Gedichten an die Öffentlichkeit zu gehen? Der Leipziger Lyriker Jan Röhnert:     O-Ton (7a) Röhnert: Lyrik ist ja auch so eine Experimentierfläche auf neue oder andere Sichtweisen auf die Wirklichkeit. Dass das, was wir täglich sehen, verfremdet wiederkehrt oder einfach umgestellt, mit einem Fragezeichen versehen (Stimme oben).   Musik: Tom Waits „Bride of Rain Dogs“ (instrumental)   O-Ton (7b) Röhnert: Leute denken immer, Lyrik sei was Besonderes und Abgehobenes und man brauche spezifische Weihen dafür, aber es ist eigentlich eine Schule der Wahrnehmung und dadurch auch die Verwirrung zu stiften, die uns ja eigentlich alltäglich überfällt, ohne dass wir sagen, das ist jetzt ein Gedicht. Sondern in unserer Wahrnehmung finden ja ständig solche Kurzschlüsse statt, darum geht’s, dass man so etwas verdichtet, solche verwirrenden Momente eigentlich.   Erzählerin: Walt Whitman hat die typisch zupackende Art und das Pionierhafte eines US-Amerikaners. Doch anders als viele seiner Landsleute, die in den unsicheren Westen ziehen, um sich dort ein Leben aufzubauen, sucht er in der Lyrik das neue, gelobte Land.   Musik: Tom Waits „Midtown“ (instrumental)   Erzählerin: Schon in seinen ersten Gedichten bricht er mit der bis dahin weitestgehend üblichen Form des Reims und der fast schon spirituellen Stimmung, wie sie uns aus Poemen dieser Zeit bekannt ist.   O-Ton (8a) Schulz: Ich glaube, dass jeder, der Gedichte schreibt, spürt eine Form auch körperlich. Man entscheidet sich als Dichter ja immer, was für eine Form wählt man – lyrische Form in Strophen oder blocksatzartige Formen.   Erzählerin: Für den Berliner Lyriker Tom Schulz hat Walt Whitman damit etwas erlebt und geschaffen, das auch für heutige Lyriker gilt: Für das Erlebte einen jeweils passenden Ausdruck, eine eigene Form zu finden.   O-Ton (8b) Schulz: Ich glaube, dass es sicherlich auch damit zu tun hat, mit so einer Form, die viele Jahrhunderte sehr präsent war, also eine lyrische Strophenform, dass die irgendwann überkommen ist, dass man einfach spürt, man muss ästhetisch was anderes machen. Und ich glaube, das muss der Grund gewesen sein.   Erzählerin: Im ersten Gedicht der „Leaves of Grass“ heißt es unter dem Titel „Das Selbst sing‘ ich“:   Zitator: Das Selbst sing‘ ich, die schlichte Einzelperson, (…) Physiologie vom Kopf bis zu den Zehen sing‘ ich,   Erzählerin: Diese wenigen Zeilen enthalten eine vorausgreifende Programmatik, einen Fahrplan, worum es im Folgenden gehen soll. Der wichtigste Aspekt findet sich in der ersten Zeile: „Das Selbst singe ich“. Die „Grashalme“ oder „Grasblätter“, wie sie in der aktuellen Übersetzung von Jürgen Brôcan heißen, sind ein Gesang. Warum das so zentral ist, erläutert Maximilian Mengeringhaus, Literaturwissenschaftler an der Freien Universität Berlin:      O-Ton (9) Mengeringhaus: Gesang ist etwas Gemeinschaftliches. Man kann sagen, dass vielleicht der Roman im Gegensatz dazu, wenn wir das als Beispiel für Prosa nehmen, die vielleicht einsamste Literaturform ist, weil jeder sich mit dem Roman selber alleine an den Caféhaustisch setzt oder auf seine Couch legt. Der Gesang wird laut vorgetragen, er funktioniert tatsächlich nur in Gemeinschaft von Menschen.   Zitator: Nicht Physiognomie allein, nicht Hirn allein ist würdig der Muse, ich sage, viel würdiger ist die Form insgesamt, Das Weibliche dem Männlichen gleich sing‘ ich.   Musik (erst hoch, dann unter Text): Bob Dylan „Just like Tom Thumb’s Blues“   Erzählerin: In den „Leaves Of Grass“ schreit kein verwundetes Ich oder eine geschundene Seele ihre Innerlichkeit heraus. Es ist vielmehr der vor Lebenslust überquellende Tatmensch, der im Gegenüber keine Bedrohung, sondern eine Erweiterung seiner eigenen Persönlichkeit sieht, so Matthias Göritz:   O-Ton (10) Göritz: Die Essenz ist aber glaube ich tatsächlich die, jedem Amerikaner eine Stimme zu schenken, jedem ein Lied zu widmen, was nicht nur in der romantischen Tradition das Eine findet, die eine Liebe, das eine Große, sondern eben in der „multitude“, in der Vielheit tatsächlich auch existieren lernt und das auch akzeptiert und das eben nicht nur akzeptiert als tragisches Wir-müssen-so-Sein und wir vergehen alle wieder als Gräser im Gras, sondern das wirklich feiert als das singuläre Ereignis – dieser Grashalm, dieses einzelne Leben ist das, was wir haben.   Erzählerin: Damit wird Walt Whitman zu einem Dichter der gesellschaftlichen Diversität, der Gleichberechtigung aller Lebensstile und der Geschlechter, erläutert der Lyriker Tom Schulz:   O-Ton (11a) Schulz: Er spricht sich für eine Vielfältigkeit aus, also auch für eine Vielfältigkeit der Lebensformen. Und ich glaube, das ist sehr präsent für mich, dass wir natürlich sehen, wir Menschen sind nicht die einzigen Lebewesen.   Zitator: Vom Leben, unermeßlich in Leidenschaft, Puls und Kraft, Frohlockend, fürs freieste Handeln geformt unter göttlichen Gesetzen, Den Modernen Menschen sing‘ ich.   O-Ton (11b) Schulz: Ich glaube, das hat Whitman sehr deutlich gesehen. Auch das ist eigentlich der Spirit sozusagen. Klar, Demokratie, Gemeinschaftssinn, aber auch zu erkennen, dass wir als Menschen auch eine Verantwortung tragen. Und dass – so würde ich ihn verstehen – auch, dass eine Ameise oder eine Biene genauso ein wertvolles Lebewesen ist wie der Mensch. Und ich glaube, das sagt mir zumindest Whitman.   Musik (erst hoch, dann unter Text: Bob Dylan „Just like Tom Thumb’s Blues“   O-Ton (12) Göritz: Das ist das, was Whitman (…) natürlich auch immer noch interessant macht.   Erzählerin: Der Lyriker, Übersetzer und Romancier Matthias Göritz.   O-Ton (13a) Göritz: Dass er jemand ist, der kein konzentriertes Einzelgedicht schreibt, sondern eigentlich expansiv hinaussingt und dafür dann, so finde ich, eine sehr schöne Metapher gefunden hat. Leaves of Grass – Grashalme.   Musik (kurz hoch, dann unter Text: Bob Dylan „Just like Tom Thumb’s Blues“   O-Ton (13b) Göritz: Bei Whitman sind die Grashalme gar nicht etwas biblisch Schnitteriges, was dann weggemäht und abgemäht werden kann, sondern es ist die Feier des Kleinen und die Feier des Unterschieds im ewig Gleichen. Es sind eben die Grashalme, die man sieht. Es ist das Einzelne, was man sieht.   Erzählerin: Doch in Whitmans Langgedicht finden sich nicht nur Überschwang, Optimismus oder kritikloser Fortschrittsglaube. Es geht auch um die dunklen Seiten einer damals schon globalen Entwicklung, in der der Mensch selbst zum auszubeutenden Rohstoff wird.   Musik   Zitator: Ich sehe alle Knechte der Erde in Fron, Ich sehe alle Gefangenen in Gefängnissen, Ich sehe die bresthaften menschlichen Körper auf Erden, die Blinden, Tauben und Stummen, die Schwachsinnigen, Buckligen, Verrückten (…) Die hilflosen Kinder und die hilflosen alten Männer und Frauen (…) Und ich grüße alle Bewohner der Erde.   Erzählerin: Passagen wie diese sind es, die Walt Whitman zu einem geradezu revolutionären Dichter machen. Denn kaum jemand wird von Walt Whitmans Lyrik vergessen oder an den Rand gedrängt. Es wird nichts ausgespart, was zum Leben gehört – auch wenn es schmutzig, armselig und abgerissen ist.   O-Ton (14) Göritz: Manchmal hat man das Gefühl, wenn man Whitman liest, dass er eigentlich auch so etwas ist wie ein Prediger. Der Prediger eines säkularen Wegs, der Prediger einer amerikanischen säkularen Religion.   Zitator: Walt Whitman, ein Kosmos, (…) Ungestüm, fleischlich, sinnlich, essend, trinkend und zeugend, Kein Gefühlsduseler, keiner, der über Männern und Frauen steht oder abseits von ihnen, Nicht mehr bescheiden als unbescheiden. (…) Wer immer einen anderen erniedrigt, der erniedrigt mich. Und was immer gesagt oder getan wird, das fällt zuletzt auf mich zurück.   O-Ton (15) Göritz: Er geht als erster Dichter tatsächlich ans Eingemachte und auch mal ans Schmutzige und preist diese Art von Erfahrung an.   Erzählerin: Was Walt Whitman für heutige Dichter nach wie vor interessant macht, ist die Übereinstimmung von Form und Inhalt:   O-Ton (16a) Schulz: Wenn man über die Grashalme spricht, das sind Gedichte, die also irgendwie zwischen dem Gedicht und der Prosa auch stehen. Wenn man das Buch aufschlägt, wird man jetzt nicht sagen, oh, das sind ja jetzt aber schöne in Strophen geschriebene Gedichte. Interessant ist eigentlich vielleicht auch, wie kommt die Form, oder wie arbeitet die zusammen mit dem Inhalt? Was sagt Whitman, oder was sagt er uns noch? Der Gesang, das ist eigentlich das, glaube ich auch, warum wir heute Whitman noch lesen.   Erzählerin: Denn Whitman hält sich nicht an Normen wie Metrik oder Gleichlaut. Er ist ein Prosaschriftsteller, der in Gedichten erzählt.   O-Ton (17a) Göritz: In gewisser Weise ist das genau die Bewegung, immer wieder hier vielleicht so etwas zu tun wie einen Raum aufzumachen, der nicht ist wie ein Zimmer, in das man hineingeht und in dem man Erfahrungen macht, um dann wieder herauszutreten, sondern aus dem Haus zu gehen und ins Offene hinaus.   Musik: Tom Waits „Midtown“ (instrumental)   O-Ton (17b) Göritz: Und diese Art von Wanderbewegung, die eigentlich der Aufbruch ist, das ist das, was das Langgedicht symbolisiert, und das ist das, was Walt Whitman dann natürlich auch ausmacht.   Erzählerin: In einer so veränderten Form lassen sich wesentlich kompakter und gleichzeitig flüssiger Stoffe erzählen als in einer oft sperrigen Reimform. Whitman war jedoch in der Wahl seiner schriftstellerischen Mittel sehr flexibel.   O-Ton (18) Mengeringhaus: Was glaube ich interessant ist, dass in späteren kleinen Publikationen, die er sukzessive dann immer wieder den Leaves of Grass als seinem großen monumentalen Werk, als seinem Opus Magnum zugefügt hat, gibt es immer wieder Mischformen, die teilweise aus Gedichten bestehen und teilweise aus kleineren Erzählungen oder Berichten.   Erzählerin: Mit dieser Flexibilität stieß Walt Whitman eine Tür auf, die später für eine einflussreiche lyrische Richtung wichtig werden sollte, so der Literaturwissenschaftler Walter Grünzweig:   O-Ton (19) Grünzweig: Meiner Ansicht nach ist der Expressionismus nicht ohne Whitman zu denken. Ich bin in vielen Fällen darauf gekommen, dass also Whitman bei fast allen expressionistischen Autoren eine zentrale Rolle spielt. Zum Beispiel der Georg Heym mit der Stadterfahrung, diese Stadtgedichte, die man also in den Gymnasien ja immer liest, oder der Arzt, der expressionistische Benn und so weiter, wo man also die Körperlichkeit Whitmans sieht und durchaus auch die pathologische Körperlichkeit, die bei Benn da ist, der natürlich als Arzt an der Quelle saß, aber durchaus bei Whitman lernen konnte, wie man das in ein Gedicht bringt. Man merkt also überall, dass Whitman da herumspukt.   Erzählerin: Der frühe Bertolt Brecht beispielsweise hörte sich in seiner 1926 veröffentlichten „Hauspostille“ und dem „Lesebuch für Städtebewohner“ an wie eine Berliner Variante von Walt Whitman. Zu nennen wäre auch Johannes R. Becher, Lyriker und späterer DDR-Minister für Kultur.    O-Ton (20) Grünzweig: Es ist gefährlich, Whitman zu lesen, vor allem also am Anfang seines lyrischen Daseins, weil man dann irgendwo von Whitman vereinnahmt wird und es sehr schwierig ist, aus dieser Whitman’schen Sprache wieder rauszukommen. Es haben trotzdem viele geschafft. Und vielleicht ist das auch ein notwendiger Prozess und auch eine Voraussetzung dafür, ein erfolgreicher Lyriker zu werden, also Whitman zu rezipieren und dann das zu bewältigen und seine eigene Stimme zu finden.   Erzählerin: Denn Walt Whitmans Lyrik ist bisweilen sperrig und verlangt dem Leser einiges ab, so der Literaturwissenschaftler und Whitman-Übersetzer Walter Grünzweig:   O-Ton (21) Grünzweig: Es ist noch immer nicht selbstverständlich, dass Gedichte nicht gereimt sind. Und ich glaube, dass also ein ungereimtes Gedicht, ein Gedicht, das auch metrisch überrascht, noch immer etwas ist, wo die Leute sagen, das ist doch kein Gedicht. Und ich glaube, dass deswegen viele Autoren bei Whitman hier Anleihen nehmen. Also rein formal.   O-Ton (22) Göritz: Was sind die wichtigen Einflüsse von Whitman auf meine Gedichte, was hat er mir gezeigt und erzählt? Dann hat er mir erzählt, dass es Körper gibt, dass es Sex gibt, dass man im Gedicht über Dinge der Alltäglichkeit schreiben kann, über Zimmerleute über Boxer, über Schreiner, über die körperliche Schönheit des Alltags.   Zitator: Ich bin der Dichter des Leibes und ich bin der Dichter der Seele, Die Freuden des Himmels sind in mir und die Qualen der Hölle sind in mir, Die ersten pfropfe und mehre ich auf mir, die letzten übersetze ich in eine neue Sprache. (…) Ich singe den Sang von Weitung und Stolz. Wir haben schon genug an Duckerei und Mißbilligung.   Musik: Bob Dylan “Rainy Day Women Nr. 12 & 35   Erzählerin: Lyrik ist die uneindeutigste aller literarischen Kunstformen, sie ist geheimnisvoll und lässt sich nie auf eine Aussage festlegen. Dichter umkreisen ihren Gegenstand, arbeiten mit Stimmungen und Ahnungen, die sich nicht dingfest machen lassen. Insofern liegt es nahe, nach Autoren zu suchen, deren Weltverständnis und deren Erklärungsversuche auch in der Moderne noch aktuell sind. Der Lyriker Jan Röhnert beschreibt, aus welchen Einflüssen sich bei ihm Gedichte entwickeln.     O-Ton (23a) Röhnert: Das ist die Frage, wo nehme ich meine Sprache her. Ich habe die lyrische Tradition, ich hab die Musik zum Beispiel. Eine Zeitlang fielen mir viele Gedichtzeilen auf Englisch ein zunächst, und ich musste es dann irgendwie rückübersetzen. Und ich dachte, wo hast du das jetzt her, ist das eine Erinnerung an irgendeinen Traum, kommt das jetzt aus einer Lektüre, die meinetwegen schon ein paar Wochen zurückliegt und taucht wieder auf. Musik: The Doors „The End“ O-Ton (23b) Röhnert: Aber manchmal ist es auch so der Sound (...) wo man jetzt Liedzeilen hört grad aus der Rockmusik, wo in guten Liedern, sagen wir Morrison oder so was wie Lou Reed, was ja auch wirklich die Qualität von Lyrik hat, in den ganz kurzen, verdichteten Zeilen, Dinge transportiert werden können, die (...) nicht ganz so leicht zu sagen sind. Zitator: Komm, sprach die Muse, sing mir einen Gesang, den noch kein Dichter gesungen hat, Sing mir den allumspannenden Gesang. Auf dieser unserer weiten Erde, Inmitten maßloser Grobheit und Schlacke, Eingefaßt und sicher in seinem inneren Kern, nistet der Same Vollkommenheit.   O-Ton (24a) Schulz: Das finde ich immer noch großartig.   Erzählerin: Der Lyriker Tom Schulz.   O-Ton (24b) Schulz: Das ist ja auch das, was uns interessiert, also dass es noch etwas zu sagen gibt, ja, in der Poesie. Mit allem, was wir auch durchdrungen haben. Die Avantgarde und die Postmoderne. Trotzdem glaube ich, kommt man immer wieder darauf zurück, was ist das Sagen, was ist der Grund? Und das ist eigentlich das, was aufregend daran ist, glaube ich.       Erzählerin: Walt Whitmans Werk entstand in einer Zeit, in der die Beschreibung der Welt immer schwieriger wurde. Mit herkömmlichen literarischen Mitteln, so seine Auffassung, war ihr nicht mehr beizukommen. Kein metrisches Maß, keine Reimformation schienen geeignet, die Wirklichkeit adäquat wiederzugeben. Und das gilt heute mehr denn je.   O-Ton (25a) Schulz: Ja, vielleicht ist es wirklich alles ein bisschen fragmentarischer. Ich glaube, das Leben hat sich in diesen über 100, weiß ich nicht, 20, 30 Jahren auch sehr verändert. Wir sind natürlich schon in so einer gewissen Schnelligkeit, und vielleicht ist das, was Whitman uns gibt, sogar so eine Art Gegenentwurf dazu.   Erzählerin: Walt Whitman wurde, was den Inhalt und die Form seiner Lyrik angeht, als Rebell gesehen. In einer Welt, die sich immer mehr dem Diktat der Vernunft unterwarf, suchte er nach einem Ausweg.   O-Ton (26b) Schulz: Für uns Autoren geht es eigentlich darum, Bücher zu machen, und eigentlich müssten wir viel weiter zurücktreten von diesem Betrieb und einfach sagen, so, wir nehmen eine größere Distanz ein oder wir verschwinden einfach auch mal in den Wäldern. Dann gibt es so grundsätzliche Überlegungen, die ich auch habe, vielleicht das eine Werk zu schreiben, das eine große Werk. Und das wird sich Whitman auch gedacht haben.   Erzählerin: Walt Whitman war auch ein Meister der Selbstoptimierung und der Selbstvermarktung, so Walter Grünzweig:   O-Ton (27) Grünzweig: Das Berühmte an der ersten Ausgabe ist ja, dass sie niemand gelesen hat und dass er seine eigenen Rezensionen geschrieben hat. Er hat de facto gesehen, da ist kein Markt dafür, hat dann also die Rezensionen geschrieben. „Ein neuer Autor ist uns geboren, er ist zwar schwierig zu lesen, aber trotzdem hoch interessant.“ Was ich jetzt merke bei der Übersetzung der Erstausgabe, sie ist viel radikaler. Als diese Erstausgabe endlich wieder zugänglich wurde – sie war lange Zeit nicht zugänglich – war die dann für Leute einfach ein vollkommen neuer Whitman.   Erzählerin: Für den Lyriker Mathias Göritz wird er unter anderem dadurch zum Prototyp des urbanen Dichters, weil er sich keinen Illusionen mehr hingibt.   O-Ton (28) Göritz: Ich bin jetzt in den letzten Jahren immer wieder zu Whitman zurückgekommen. Für mich ist Walt Whitman der größte amerikanische Dichter des 19. Jahrhunderts, zusammen mit Emily Dickinson. Das sind die beiden Pole der amerikanischen Poesie. Und diese beiden Pole kann man auch bis in die Gegenwart hindurch verfolgen. Wie man die Zukunft dann noch hymnisch besingt oder wie man sie auch whitmanisch kritisiert, aber trotzdem mit aufbaut und begleitet – ich glaube, das ist eine schöne Aufgabe auch für mich als Dichter der Gegenwart, dafür dann ein eigenes Konzept zu finden und mich dann auf Dickinson genauso zu beziehen wie auf Whitman. Da würde ich sagen, das sind meine beiden Pole für die Art und Weise, wie ich im Moment schreibe.   Musik: Bohren and the Club of Gore O-Ton (29) Göritz: Das sind sicherlich auch Einflüsse, die meine eigene Lyrik auszeichnen. Ich habe jetzt gerade ein Langgedicht geschrieben für ein großes Projekt mit Musikern – Diwan-Residenz heißt es. Auf der einen Seite spielt es mit Goethe und dem west-östlichen Diwan. Aber auf der anderen Seite ist das auch ein Versuch, ähnlich wie Whitman, eine Form zu erfinden, in der möglichst viele Sprachen, möglichst viele Stimmen, viele Kulturen auch zur Sprache gebracht werden können. Erzählerin: Walt Whitman erzeugte ein Hintergrundrauschen, ein poetisches Signal, das auch in der Neuzeit aufgenommen wird, so Tom Schulz:  O-Ton (30a) Schulz: Das ist grundsätzlich immer so, wenn man schreibt, dann ist man ja als schreibender Mensch gleichermaßen immer auch der lesende Mensch und man sammelt unheimlich viele Lektüren und speichert auch Texte oder Bilder oder bestimmte Dinge. Musik: Bohren and the Club of Gore O-Ton (30b) Schulz: Das ist, glaube ich, kein Geheimnis, dass wenn jemand Gedichte schreibt, dass – sagen wir mal so – die eigene Begabung oder das Besondere, möglicherweise Besondere, immer anteilig viel geringer ist als der Anteil dessen, was man gelesen hat, oder was man lesend durchdrungen hat, oder was man sozusagen nicht als Zitat sich bewahrt hat, sondern als Text, den man auch für sich verändert, der sich weiter bewegt. Erzählerin: Auch in der Musik des 21. Jahrhunderts steht Walt Whitman zuweilen Pate, vor allem in der Tradition der Folk- und Protestsongs: O-Ton (31) Göritz: … weil er eben zeigt, dass auch ein Song keine Struktur haben muss, die aus Reimen und Refrains bestehen muss, sondern sich eben ausweiten kann, zu einem Strom wird, der anschwillt und der ewig weitergehen könnte, bis man irgendwann in gewisser Weise ein Ende setzt.   Musik: Johnny Cash „The man in black“ Erzählerin: In seinem Song „The man in black“ redete der Countrysänger Johnny Cash angesichts des Vietnamkrieges seinen Landsleuten ins Gewissen. Allerdings nicht von oben herab, sondern in der Tradition Walt Whitmans: Es darf keine Vergessenen geben – in diesem Fall die getöteten GIs in Indochina. Musik: Tom Waits „That feel“ Erzählerin: Ein weiteres Beispiel für den Einfluss Walt Whitmans auf die moderne Rock- und Popmusik sind die Balladen von Tom Waits. Dort wird oft eine vollkommen alltägliche Geschichte erzählt, die eingebettet ist in den größeren Zusammenhang der menschlichen Gemeinschaft und der Sehnsucht nach ihr. Musik, erst hoch, dann unter Text: Tom Waits „That feel“ Erzählerin: Was kann uns Walt Whitman heute noch bedeuten oder sagen? An der Schwelle zur Hypermoderne und der zunehmenden Vereinzelung der Menschen war er jemand, der immer die Solidarität und das Mitmenschliche geradezu predigte. Der den Alltag nicht als öde und bedrohend empfand, sondern als Inspirationsquelle. Walt Whitman ist ein Poet des Allumfassenden mit Blick auf die gesamte Gesellschaft und auf die Welt. Für den Dichter Matthias Göritz ist Walt Whitman jemand, der Widersprüche zur Sprache brachte, die auch heute noch aktuell sind.   O-Ton (33) Göritz: Und ich glaube, diese Widersprüche auszuhalten, die zu preisen als das Leben so, wie es uns sich darstellt, und dann gleichzeitig genauer hinzuschauen und genau zu analysieren und trotzdem noch etwas Preiswürdiges auch noch in diesem Widersprüchen zu finden, das ist das, was Whitman auszeichnet. Heute bräuchten wir eigentlich ein globalisiertes Whitman-Gedicht.Wir bräuchten Leaves of Grass für alle. Musik: Tom Waits „That feel“ ********************************************************************