DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Redaktion: Ulrike Bajohr Dossier Im Dickicht der Hilfe Von der ehrenamtlichen Arbeit mit Flüchtlingen von Sibylle Hoffmann Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 06. Mai 2016, 19.15 - 20.00 Uhr Musik/ (Atmo Autobahn) ERZÄHLERIN Hamburgs größte Flüchtlingsunterkunft, ein Erstaufnahmelager, liegt an der Schnackenburgallee, zwischen dem Altonaer Volkspark, einer Müllverbrennungsanlage und der Autobahn. Flugzeuge fliegen über das Camp, Wind und Autos rauschen, Laster dröhnen. Im Frühjahr 2016 leben etwa 2700 Menschen hier. Genau weiß das niemand, denn über Nacht können plötzlich neue Flüchtlinge dazu kommen, andere werden abgeschoben oder in eine andere Unterkunft verlegt. Jenseits der Autobahn steht die Lutherkirche, dort werden Kleider für die Flüchtlinge gesammelt und verteilt. Die Luthergemeinde ist auch für das Frauencafé im Erstaufnahmelager zuständig. Seit anderthalb Jahren arbeite ich dort regelmäßig mit. Musik ANSAGE: Im Dickicht der Hilfe Von der ehrenamtlichen Arbeit mit Flüchtlingen Aufzeichnungen von Sibylle Hoffmann (Atmo) ERZÄHLERIN Im November 2014 stehen dem Frauencafé Räume in einem "Funktions-Container" zur Verfügung. Unten hat er eine Kantine, oben sind Schulräume. Zwei darf das Frauencafé nutzen: einer ist mit Gummimatten ausgelegt und dient als Toberaum für Kinder, im anderen treffen sich die Helferinnen mit geflüchteten Frauen. Wie die anderen Ehrenamtlichen aus dem Café-Team komme ich jeden Freitagnachmittag hierher - beladen mit Keksen, Kaffee und Bastelmaterial für die Kinder. Wir tragen Becher, Gläser, Servietten und Teller von Zuhause hierher. Schmutziges Geschirr nehmen wir wieder mit und spülen es. Einrichtungen der Kantine dürfen wir nicht benutzen. Wegen der Hygiene? Weil es den Ablauf stört? Weil hier grundsätzlich nur von Wegwerfgeschirr gegessen wird, um Abwasch zu sparen? Das Fragen habe ich mir hier bald abgewöhnt. Jede Frage raubt Zeit. (Atmo / Raumatmo mit PC-Hochfahren und Weihnachtsmusik) 18. Dezember 2014: Letzte Woche kam Nada aus Syrien ins Frauencafé. Sie hatte einen kleinen Jungen auf dem Arm, ist schwanger und wollte eine Doppelkarre. Ihr Blick: fordernd, vielleicht auch verzweifelt. Wir wollten helfen, und beim nächsten Treffen zeigte Melanie auf ihrem Handy das Foto einer Doppelkarre, ich zeigte ein ähnliches Modell auf meinem Handy. Nada wählte die Karre, die ich besorgen kann. Gestern fuhr ich zu ihr ins Camp. Eine Babywanne hatte ich auch dabei und einen Rucksack voller Stofftiere und Süßigkeiten, die mir Freunde und Nachbarn mitgaben. Aber Nada wohnt nicht mehr im Camp. Nach diversen Telefonaten vor allem mit ihrem Schwager, der in Hamburg lebt und etwas Deutsch spricht, erfuhr ich, wohin Nada verlegt wurde. In Nadas neuer Unterkunft öffnete mir eine fremde Frau. Ist Nada da? Nada schläft. Im Wohnzimmer bestaunten die Kinder der fremden Frau all die Plüschtiere aus meinem Rucksack und futterten die Süßigkeiten. Nada? fragte ich schließlich erneut. Nada? Wer ist Nada? Wohnt Nada nicht hier? Nein. Wo wohnt sie denn? Die fremde Frau kannte Nada gar nicht. Ich telefonierte wieder mit dem Schwager. Er hatte mir eine falsche Hausnummer genannt. An der richtigen Tür traf ich die richtige Nada. Ihr Mann nahm die Karre und die Wanne entgegen - und was passiert mit den anderen Mitbringseln? Nada ließ sie den fremden Kindern. Ihr Mann servierte uns Tee. Nada und ich saßen auf einem Bett und versuchten, miteinander zu reden. Nada möchte, dass ich ihr ein bequemes Sofa besorge. Sie schläft mit ihrem schwangeren Bauch schlecht auf dem vorhandenen Bett. Nein, sagte ich, ein Sofa kann ich dir nicht besorgen. (Atmowechsel, Raum ohne) Ich bin nicht der Weihnachtsmann, und es tut mir leid, dass ich kein Weihnachtsmann bin. Andererseits bin ich stolz, dass ich Nein gesagt habe. Ich habe schon viel Zeit und Geduld aufgebracht für Nada. Ich kann und will nicht mehr. Nada ist ja nicht die einzige, die unsere Hilfe braucht. Eigentlich müsste ihr die Unterkunftsleitung vor Ort helfen. Aber auch die hat viel zu viel zu tun. Der Flüchtlingsstrom reißt nicht ab. ------------- (Atmo Flur) 9. Januar 2015: Mit Ermira saß ich heute im Flur vor unserem Frauencafé. Drinnen lärmte es so, dass ich sie nicht verstehen konnte. Aber sie hatte ein mehrseitiges Din-A-4- Schreiben in der Hand. Ablehnung des Asylantrags. SPRECHER Sofern der Asylantrag abgelehnt wird und der Ausländer auch aus anderen Gründen kein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland erhält, wird er in einem schriftlichen Ablehnungsbescheid zur Ausreise aufgefordert, d.h. ihm wird mitgeteilt, dass er innerhalb einer bestimmten Frist die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen hat. Gleichzeitig wird ihm für den Fall, dass er innerhalb der festgesetzten Frist nicht freiwillig ausreist, die Abschiebung angedroht (§ 34AsylVfG). Nach Ablauf der Frist wird bei bis dahin unterbliebener freiwilliger Ausreise die Abschiebung durchgeführt. vgl :https://www.bamf.de/DE/Service/Left/Glossary/_.../glossar.html?lv3... (Raumatmo ) ERZÄHLERIN Ermira soll nach Albanien zurück und ist verzweifelt. Ihr Vater habe geschworen, sie und ihren Mann zu töten, denn Ermira hat gegen seinen Willen geheiratet. Seit Albanien nicht mehr sozialistisch ist, lebt die Blutrache wieder auf. Aber Ermira kann nicht beweisen, dass ihr Vater sie umbringen will. Der deutsche Staat würde Ermira die Rückreise bezahlen und sie bekäme dazu etwa 500 Euro, um daheim wieder Fuß zu fassen. Ermira will aber nicht zurück. Ich gab ihr die Telefonnummer einer Beratungsstelle für Flüchtlinge und kündigte sie dort an. § 4 des Asylgesetzes müsste doch auf sie zutreffen: SPRECHER (1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt: 1. die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, 2. Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder 3. eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. (s. http://www.asylgesetz.de/%C2%A7/4.html) ERZÄHLERIN 16. Januar: Habe Ermira noch einmal getroffen. Sie war nicht bei der Beratung. Jetzt will sie aber hingehen. (Atmo) 10. Februar : Ermira ist verschwunden. Abgeschoben? Dafür hat Behnaz, eine Iranerin, die ich im Frauencafé kennengelernt habe, inzwischen eine Anhörung und einen grünen Ausweis, die befristete Aufenthaltsgenehmigung, bekommen. SPRECHER Ein Asylantrag führt zur Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dann zur befristeten Aufenthaltsgenehmigung und danach in klar definierten Fällen zu einem Aufenthaltstitel, dessen erste Stufe eine befristete Aufenthaltserlaubnis ist, die zweite eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. (Raumatmo Küche, Musik iranisch) ERZÄHLERIN Behnaz durfte mit ihrem Mann und ihrer elfjährigen Tochter Parvaneh aus dem Erstaufnahmelager schon in eine Folgeunterkunft, in ein kleineres, bunteres Containerensemble, ziehen. Ich hab sie dort besucht. Zwei Zimmer für Behnaz mit ihrem Mann und Kind. Küche und Bad teilen sie mit einer anderen iranischen Familie. Behnaz' Mann ist Handwerker. Fürs Wohnzimmer hat er ein Sofa gebaut, das nachts als Ehebett dient. Für Parvanehs Zimmer hat er einen großen Schrank gefertigt, in dem sich unter anderem eine Kühltruhe verbirgt. Aus der Gemeinschaftsküche würden die Lebensmittel geklaut, erklärte Parvaneh. Parvaneh geht in der Nähe zur Schule. Sie spricht außer Persisch auch Türkisch, Italienisch und nun auch ein zusammengewürfeltes Deutsch. Ihre Sprachkenntnisse zeichnen den Fluchtweg nach. Jetzt soll sie in der Schule noch Englisch lernen. Parvaneh beklagte sich - und lachte dabei. Ob die Familie in Deutschland bleiben darf? Die iranische Polizei, sagte Behnaz, habe ihren Mann bei einer Demonstration geprügelt. Behnaz hob sein Hemd hoch und zeigte mir lange, vernarbte Striemen auf seinem Rücken. ERZÄHLERIN Auf der Party gestern interessierte sich ein Mann für meine ehrenamtliche Arbeit. Ich fühlte mich im Kreuzverhör: Bin ich ein "Gutmensch"? Ich erzählte von Nada, Ermira, Behnaz und den aus Syrien geflüchteten Frauen. Ob ich auch irgendeine politische Idee hätte, um das Flüchtlingsproblem zu lösen? Ja, eine extrem politische Idee: Rüstungsproduktion einstellen. Keine Rüstungsexporte mehr. Mein Gesprächspartner nickte. Aber das ist wohl unmöglich, sagte er. (Atmo Kinder draußen) 14. März 2015: Der Weg zum Camp ist grau und hässlich und voller Unrat. Auch auf dem Gelände liegt viel Müll. "Hamburg räumt auf" ist eine Initiative der Hamburger Stadtreinigung, die im Frühjahr die Bürger aufruft, in den öffentlichen Grünanlagen Müll zu sammeln. Da könnten wir mit den Flüchtlingsfrauen mitmachen, dachte ich, und besprach das mit einem Lehrer in der Campschule. Hören Sie bloß auf, stöhnte er, es sind schon so viele dabei: Schulklassen aus der Umgebung, die Eltern, alle wollen helfen. Und er muss alles koordinieren. (Raumatmo, Balkon draußen) Unser Frauencafé soll umziehen. Die Verantwortlichen in der Lutherkirche haben uns einen Raum in der Nähe des Friedhofs zugewiesen. Da gibt es ein unansehnliches Barackengelände, in der größten Baracke ist auch die Kleiderkammer untergebracht. Das Gelände soll verschönert, die Baracken sollen repariert und gemütlich ausgestattet werden und ein Kinderspielplatz ist geplant. Ich bezweifle, dass die Flüchtlingsfrauen mit ihren Kindern den Fußweg dorthin gerne machen werden. 30 Minuten eine laute Straße entlang. Aber probieren kann man's ja mal. Mehr Platz - auch zum Draußensitzen - haben wir dort auf jeden Fall. Für Karfreitag haben Hatice, eine Studentin, und ich einen Ausflug vor. (Atmowechsel im Raum) Ostermontag Statt der 15, die sich angemeldet hatten, erschienen doppelt so viele Frauen mit Kindern. Einige hatte ich noch nie gesehen. Eine Mutter fuhr ihren kräftigen, 10 Monate alten Jungen, mangels Kinderkarre in einem Zwillingsbabywagen herum. In der Bahn versuchte ich alle beisammen zu halten, an der Elbe geriet ich in Panik: So viele Leute am Fähranleger! Das schöne Wetter, die Osterbesucher... und unsere Frauen machten in der Menge unbekümmert Selfies, während ihre Kinder viel zu nah am Wasser herumtobten. Ich hätte Tintenfischarme haben müssen, um sie alle zu retten. (Atmo Fähre) Und dann drängelten alle auf die Fähre. Nur die Hälfte unserer Gruppe kam mit, Hatice blieb mit den anderen zurück. - Ich wusste, sie nimmt die nächste Fähre, alles wird gut gehen, aber für die Albanerinnen, Kosovarinnen und Roma war das ein riesiger Schreck. - Am Ende der Tour waren alle beglückt. Mit den Letzten aus der Gruppe wartete ich auf den Bus zum Camp. Ein Albaner an der Haltestelle machte mir spontan einen Heiratsantrag. Ich lehnte lachend ab. Die Frauen wiesen ihn kichernd auf Blerta hin, Blerta ist jung und alleinstehend. Es muss schrecklich sein, weiblich, allein und auf der Flucht zu sein. Nicht nur Männer kommen dir zu nahe. Auch deine Geschlechtsgenossinnen zerren an deinen Nerven. Im Bus scherzten Blerta und der Mann scheu miteinander. Neulich abends im Camp beobachtete ich, wie ein Mann in die Damentoilette will. Ich rief laut irgendwas. Er wedelte beschwichtigend mit dem Arm und huschte eilig davon. Eigentlich müssten die Security-Männer bei so etwas auftauchen. Ich habe den Vorfall gemeldet. (Atmo Autos) 28. April 2015: Auf dem Gelände der Flüchtlingsunterkunft parkten Polizeiwagen. Eine Abschiebung, fragte ich einen Polizisten. Nein. Er lachte: Eine Unterrichtung. Eine große Gruppe männlicher Asylbewerber hörte einen Vortrag darüber, wie man in Deutschland miteinander umgeht. Das Barackengelände in der Regerstraße wird langsam aufgeräumt. Statt Unkraut wuchern plötzlich Bananen und Orangen: Kistenweise übriggeblieben beim Hansemarathon am Sonntag. Allerdings ist der Raum, in dem das Obst jetzt lagert, nicht gekühlt. Am Freitag werden die Bananen braun sein und auch im Frauencafé keine Abnehmerinnen mehr finden. (Atmo Polizeiwagen) Es war schon dunkel, als ich auf dem Weg nach Hause einen Mann bäuchlings auf dem Gehweg liegen sah. Er stöhnte, sprach nicht. Ich rief die Polizei, sie kam sofort und nahm ihm ein Dokument ab. Ablehnungsbescheid, sagte der eine Beamte zum anderen. Dann hielt ein Krankenwagen. - Wären die Polizei oder die Sanitäter berechtigt gewesen, mir Auskunft über den Verbleib des Mannes zu geben? Wahrscheinlich nicht: Datenschutz. Der schützte mich diesmal vor meinem Helferwillen. Bedrückt ging ich weiter. (Atmo Polizeiwagen fährt ab/ Atmo Zuhause Balkon, Vögel etc.) Musik 16. Mai 2015 : Das Frauencafé-Team hat Blumen und Kräuter in Töpfe und Kisten gepflanzt. Ein paar Albanerinnen kamen an unseren Kaffeetisch draußen in der Sonne. Die Kinder kickten mit Bällen, ließen Spielsachen die Rutsche hinuntersausen. Eine Mitarbeiterin der Kleiderkammer kam, beladen mit Parfüms, Plastikflugzeugen und Schokoladen. Die legte sie den Müttern in den Schoß. Es wird gemunkelt, dass geschenkte Sachen auf Flohmärkten verkauft werden. Im Fokus des Argwohns sind Albanerinnen. Schon ihr Fluchtweg ist eine lange Geschäftsstraße, und endlich angekommen, versuchen einige Flüchtlinge, mit den Produkten unserer Wohlstandsgesellschaft Handel zu treiben. Geld bedeutet Unabhängigkeit. Trotzdem: Angenehm ist es mir nicht, dass meine immer noch schöne Bluse, die für einen guten Zweck gespendet habe, einfach verschachert wird. (Raumatmo, Küche) 12. Juni 2015 Heute erklärte mir Behnaz - in ihrem wilden Gemisch aus Italienisch und Deutsch, ihre Tochter könne nicht zur Ferienfreizeit, ich möge dafür sorgen, dass sie von der Teilnehmerliste gestrichen wird. Die Lehrerin hatte Parvaneh in einen Theaterkurs am Stadtrand von Hamburg vermittelt, wo sie spielend ihr Deutsch verbessern sollte. Ich versuchte, Behnaz zu überzeugen, dass das eine gute Idee ist. Aber nein! Behnaz will das nicht. Ihr Mann will das nicht, und Parvaneh will auch nicht von ihren Eltern getrennt werden. Trennung schürt Angst. Wenn dem Kind im Theaterkurs etwas passiert: Wer kann dann mit ihm Persisch reden? Wer berichtet den Eltern? Wie könnten sie zu ihrer Tochter kommen - ohne Auto, ohne Sprachkenntnisse? (Raum ohne Musik, Handy klingelt im Hintergrund) Unser Frauencafé hat inzwischen kaum noch Gäste. Die Albanerinnen kommen nicht mehr. Die Frauen aus Syrien, Afghanistan und Eritrea, die jetzt in der Erstaufnahme leben, sind noch unsicher. Einige sind es nicht gewohnt, alleine durch fremde Straßen zu gehen und haben Angst. Nur wenige verstehen etwas Englisch. Und alle fühlen sich wegen der Kinder gebunden. Wir haben ein Flugblatt entworfen, in mehreren Sprachen: Freitags von 15:00 bis 17:00, ein Café für Frauen, in der Regerstraße, bei der Kleiderkammer. Aber ich darf es im Camp in der Schnackenburgallee nicht verteilen, Flugblätter sind verboten. Einigen Kindern steckte ich es durch den Zaun zu. Gerade war eine ältere Dame am Telefon, Christine. Sie möchte nach ihrem Urlaub im Frauencafé helfen. Aber...mit Frauen, die Kopftuch tragen, hätte sie ein Problem. Ach, das Kopftuch ist ein Stück Heimat für die geflüchteten Frauen, vielleicht könne Christine sich an den Anblick gewöhnen. Ja, vielleicht, sagte sie. (Atmo Kleiderkammer) 17. Juli Das "Hamburger Abendblatt" hat dazu aufgerufen, Kleidung, Schuhe, Spielsachen und Drogerieartikel für Flüchtlinge abzugeben. Mehr als 10.000 Menschen spendeten bisher. Die Kleiderkammern in der Stadt und alle ihre Lagerstätten sind rappelvoll. - Freiwillige Helfer und Schulklassen ordnen High Heels und Turnschuhe, Wintermäntel und Spitzen- BHs, Babywäsche und Winterstiefel, Bettwäsche und Nachtzeug. Es wird lange dauern, bis die Aufgabe bewältigt ist. Die Fluten des Wohlstands strömen und die Notleidenden tragen nun teure Turnschuhe und Markenjeans. (Raumatmo Balkon) Unser Café ist weiterhin schlecht besucht. Doch ist es trotzdem nett. Ein schöner Strauß stand heute auf dem Tisch, Gudrun bringt immer Blumen aus ihrem Garten mit. Wir sind gut miteinander. Eine weltweit tätige Rechtsanwaltskanzlei fragte bei uns an, wie man helfen könne. Die Sozietät hatte Großes vor. Schließlich organisierte sie ein Grillfest. In Bussen wurden die Flüchtlinge vom Lager in der Schnackenburgallee zum Event gebracht. Hauptsächlich Männer. (Atmo Zelt) 29. August Unser Frauencafé zog zurück ins Camp. Die Zahl der Flüchtlinge ist so gestiegen, dass jetzt etwa 1000 Menschen, hauptsächlich Syrer, in Zelten untergebracht sind. Zwischen den Zelt- und den Containerbewohnern gibt es ein erhebliches Gefälle: Die in den Containern sind schon länger da, wohnen besser und fühlen sich den "Neuen" überlegen. Hätten wir das Café im früheren Schulcontainer eingerichtet, käme bestimmt niemand aus dem Zeltlager zu uns. Wir suchten ein freies Zelt für unser Café und fanden ein leeres, nur mit einem Biertisch drin. (Raumatmo mit Musik) Uns Ehrenamtlichen wurden Camp-Ausweise ausgehändigt, sofern wir ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis beibringen konnten. Die Ausweise müssen wir bei der Ankunft am Eingangstor abgeben und wieder abholen, wenn wir das Gelände verlassen. Es schießen jetzt vielerlei Hilfsprojekte aus dem Boden. Welcome hier und Welcome da. Theater und Museen, das Opernhaus, die Konzerthalle, Bildungsstätten und Wohngemeinschaften - alle wollen helfen. Nur Wenige denken daran, ihre Angebote auch auf Farsi oder Dari, Arabisch, Tigrinya oder wenigstens auf Englisch zu formulieren. Es gibt auch Organisationen, die ausdrücklich den Ehrenamtlichen helfen wollen: Kostenlose Fortbildungen und Erfahrungsaustausch, Supervision oder Massagen... Die Stadt scheint überzuquellen vor Hilfsbereitschaft. (Raumatmo still) Abfälliges kriegte ich erst einmal zu hören: Nach dem Vortrag, den eine Kollegin und ich über unsere ehrenamtliche Arbeit gehalten hatten, forderten zwei ältere Herren: Man müsse doch zwischen Wirtschafts- und Kriegsflüchtlingen unterscheiden. Ich bin aber weder Politikerin noch Wissenschaftlerin. Ich erlebe Menschen, die in Deutschland Frieden, Sicherheit, Demokratie und Zukunft suchen. Und übernehme Aufgaben, für die die öffentlichen Institutionen kein Geld ausgeben. (Atmo laute Straße) 18. September Heute wieder mal eine halbe Stunde zur Schnackenburgallee geradelt. Vorher noch eingekauft: Kekse, saftige Datteln. Schwarzen, leicht gesüßten Tee wieder in der Thermoskanne mitgenommen, wir haben keinen Stromanschluss für einen Wasserkocher im Zelt. Es sind jetzt etwa 3000 Flüchtlinge in der Zentralen Erstaufnahme, wie viele genau, weiß man nicht - nicht alle sind registriert. Es gibt Krätze, aber nicht so dramatisch wie in einer anderen Unterkunft in Hamburg. Wir desinfizieren unsere Hände. (Atmo Cafè) Die Studentinnen und jungen Mütter, die bisher im ehrenamtlichen Café-Team waren, bleiben weg. Der Sommer ist zu Ende - sie müssen wieder studieren oder ihren Jobs nachgehen. Silvia hat in einer Flüchtlingsunterkunft eine Festanstellung bekommen. Unser Team besteht jetzt aus fünf Ehrenamtlichen; alle über 50 - alle hilfsbereit und engagiert; lösungsorientiert würde man uns in der Wirtschaft nennen. Wir passen uns geschmeidig den sich ständig ändernden Bedingungen an und zahlen alle Ausgaben für das Café aus der eigenen Tasche. Eine Geldspende täte uns gut. Das hieße aber Anträge schreiben, Belege sammeln, Beträge hin und her überweisen...und noch mehr Zeit investieren. (Atmo Insaf) Auch Insaf macht mit im Frauencaféteam. Sie kommt aus Palästina, ist in Hamburg verheiratet und wurde ungeduldig, weil eine syrische Mutter ihrem Kind ständig Essen in den Mund stopfte, um es ruhig zu halten. (Atmo Zelt) Männer drängten heute in unser Zelt. Wir scheuchten sie hinaus und bedeuteten ihnen, das Café sei nur für Frauen. Unter Protest und Gelächter nahmen sie Kekse vom Tisch und gingen. Zwei sehr hungrige und durstige zehnjährige Jungs kamen auf Skates herein und bollerten auf dem hölzernen Zeltboden herum. Sie verlangten Tee und Saft und Stifte und Hefte und Kekse und Süßigkeiten. Sie bekamen alles, nur nicht so schnell und so viel, wie sie forderten. Einiges räumten wir außer Sichtweite. Ein Junge erspähte unseren gedeckten Tisch und türmte vielleicht sieben Stück Kuchen auf seine kleine Hand. Wohin mit der Beute? Zu Baba. Wo ist Baba? Ich trug die Kuchenstücke hinter ihm her. Baba lag ein paar Zelte weiter auf einer Pritsche und war nicht allein. Viele Baba, sagte der Junge. Ja sehr viele: Männer auf 16 Feldbetten. (Atmo Zelt/ ‚Küche' sagen) Maren hatte einen Möbelprospekt mitgebracht, und übte in "unserem" Zelt mit den Frauen das Wort Küche. Die Syrerin brach auf, als ihr Kleinkind keine Schokokekse mehr essen wollte. Ein junges Mädchen malte in dem Trubel still ein Haus mit Baum und Blumen. (Raumatmo, still) Sahar ist erkältet, sie trägt immer dieselbe leichte Strickjacke. "Ich konnte auf der Flucht in meinem Rucksack keine schweren, warmen Sachen mitnehmen," sagte sie in ihrem gebrochenem Englisch, "wir mussten ja viel und weit rennen." (Raum, Trinken) 19. September Heute Nacht träumte ich von lauter rennenden Menschen und Sahar- oder bin ich es, die da außer Atem kommt? Sandwege, Steine, Berge: ... Morgens beschloss ich: Sahar bekommt meine Lederjacke. (Raumatmo Küche, Musik Fairuz) Ich fand Sahar bei einer Freundin, die mit ihrem Mann ein Containerzimmer bewohnt: 2 Betten sind zusammengeschoben, zwei Spinde, ein Tisch, vier ineinander gestapelte Stühle. Auf der Wärmeplatte einer Kaffeemaschine versuchte sie etwas Grünes zu schmelzen. Pistazien? Es roch nach Langeweile und Maniküre. Die Frauen boten mir Tee an. Sahar freute sich über meine Jacke. Sie wollte mir eine Birne schenken. Das macht man in Syrien so: Der Gast bekommt etwas geschenkt. - Aber ich lehnte eilig ab. Ich hielt den Mief nicht aus, stieg aufs Rad, sauste davon... wieder ein schlechtes Gewissen... Hätte ich mir nicht mehr Zeit nehmen müssen... (Atmo Raum, Regen) 18. Oktober Draußen wird es kalt. Generatoren rattern, um die Zelte zu heizen, und unser Café musste mal wieder umziehen, denn alle Zelte sind mit Flüchtlingen belegt. Wir bekamen einen Raum zugewiesen - klein und vollgestopft wie eine Abstellkammer, da passt kein Mensch hinein. Ausnahmsweise dürfen wir in der Küche tagen. (Atmo Gespräch) Insaf arbeitet inzwischen in einem Café für Flüchtlinge mit, das in ihrer Wohngegend liegt. Glücklicherweise kam Neila zu uns. Wenn Neila da ist, wird im Café mehr Arabisch als Deutsch gesprochen. Alle Syrerinnen vertrauen sich ihr an: Sherin weint, weil ihre Nichten und Neffen in Syrien verhungern, Faizah braucht dringend eine Wohnung. Sie hat zwei kleine Kinder, das dritte wird im Januar geboren. Neila ist fröhlich und legt sich sehr ins Zeug für unsere Cafégäste. Sie stammt aus Nordafrika, lebt seit 20 Jahren in Deutschland und kennt sich als vereidigte Dolmetscherin gut mit Behörden aus. (Raumatmo, still) Die Frauen erzählten von einem syrischen Mann: Er habe sich mehrfach mit einem Stein auf die Hand geschlagen, weil er so wütend war, die Wut aber lieber nicht an den Sozialmanagern auslassen wollte: Die mühsame, teure Flucht hat ihn in ein lausiges Zelt geführt. Seit Wochen wartet er auf "Transfer", darauf, mit seiner Familie verlegt zu werden. Man hat ihn in die Psychiatrie gebracht, er hat sich beruhigt und ist jetzt wieder im Zelt, die Familie soll aber bald ein Containerzimmer zugewiesen bekommen. Alima ist 22 und im August alleine aus Syrien nach Deutschland gekommen. Sie fragte mich, ob sie ihre Familie nachholen kann. Grundsätzlich ja, schreibt das Bundesamt, wenn: SPRECHER .....wenn der Familienangehörige, zu dem der Familiennachzug stattfindet, im Besitz eines Aufenthaltstitels ist. über ausreichend Wohnraum verfügt und der Lebensunterhalt gesichert ist. vgl: http://www.bamf.de/DE/Migration/Arbeiten/Familiennachzug/familiennachzug-node.html ERZÄHLERIN Eine Aufenthaltserlaubnis hat Alima noch nicht. Und bis sie für Familienangehörige sorgen kann, wird noch viel Zeit vergehen. Über den Einzelfall entscheidet in Hamburg die Ausländerbehörde, nicht das Bundesamt. Alima starrte aus dem Fenster. Seit ich den Camp-Ausweis habe, darf ich unsere Frauencafe-Flugblätter verteilen. Auch Kinder reißen sie mir aus der Hand. Bring es deiner Mama, rief ich einem Jungen nach. Er drehte sich um und fuhr mit der Handkante hastig an seinem Hals entlang. Mama krrrk, rief er - und radelte davon. (Raumatmo, still) Zu viert waren wir auf einer Fortbildung mit anderen Ehrenamtlichen. Wir haben uns darüber ausgetauscht, warum wir diese Arbeit eigentlich machen: Aus Neugier. Aus Freude an den Begegnungen. Ich habe Freude daran, Lösungen für kleinere Konflikte zu suchen. Nicht immer werde ich fündig. Aber oft. Einige Ehrenamtliche klagten über schlechte Organisation und Vernetzung und ärgern sich, dass Flüchtlinge nicht pünktlich in ihre Kurse kommen oder dass immer andere erscheinen. Im Frauencafé halten wir uns nicht mit Klagen auf. Wir finden immer wieder Wege durch die Widrigkeiten. (Atmo Marktplatz der Begegnungen, Deutsch lernen) 23. November Gestern: "Marktplatz der Begegnungen" in der Handelskammer. Mit vier Frauen und vier Männern klapperten wir die Infotische ab, an denen sich Unternehmen vorstellten. Für Anas, den Dreher, interessierte sich eine Maschinenbaufirma. Aber Anas wird im Dezember Vater, die Begegnung in der Firma soll daher erst im Frühjahr stattfinden. Amir, der Innenausstatter, hat in Aleppo Appel-Stores eingerichtet und beherrscht ein spezielles Computerprogramm. Eine Designfirma war sehr an ihm interessiert, aber ob der Kontakt hält... Sahar ist Chemikerin. Für sie fanden sich keine Gesprächspartner, geschweige denn Interessenten für die Fähigkeiten der anderen Frauen in unserer Gruppe. Also: Vielerlei Angebote, aber für die Unseren vorläufig nichts dabei. Sie müssen Deutsch lernen! (Atmo Frauencafé) Das Frauencafé ist wieder gut besucht: Manchmal drängen sich 30 Menschen auf den gut 20 Quadratmetern. "Bedek Tschai au Kachweh au Cappucino?" Ich werde immer wieder verbessert, wenn ich das sage. In der weiten Welt Arabiens hat jede Region eine andere Aussprache. Möchtest du Tee oder Kaffee? Den Pulver- Cappucino finden alle toll. Einige Frauen haben aus dem Internet Deutschkurse heruntergeladen und verstehen bereits den Gebrauch der bestimmten und unbestimmten Artikel. Feride, die Palästinenserin, konnte sich die Wörter heute nicht merken. Sie muss immer wieder an ihre Tochter denken, die am Fenster stand, als die Kugel geflogen kam. Feride saß jetzt auch am Fenster, hinter ihr ihre Tochter, lebendig und unversehrt. Die Kugel kann Feride trotzdem nicht vergessen. (Raumatmo mit Musik Fairuz im Hintergrund) Um Gahdir, die im Dezember ihr erstes Kind zur Welt bringt, kümmert sich Anja. Sie meldete Gahdir im Krankenhaus an, besorgte Babysachen aus der Kleiderkammer, einen Kinderwagen, Fläschchen, Sauger, Schnuller, Windeln... - es wird höchste Zeit. (Atmo Erläuterung arabisch) Sahar hat eine befristete Aufenthaltsgenehmigung bekommen und wenig später einen Brief, in dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mitteilt, dass Sahar nicht zum Integrationskurs zugelassen ist, weil ihr Asylantrag abgelehnt worden sei. Steht ihr eine Abschiebung bevor?! Karen und ich telefonieren permanent, wir schickten drei Einschreiben nach Nürnberg, immer befinden sie sich "in der Zustellung", zugestellt sind die Briefe nicht; ich schrieb Faxe an die im Briefkopf des Bundesamts angegebene Nummer, die aber falsch ist; Mails wechsle ich mit allen nötigen Anhängen samt Vollmacht von Sahar. Karen informierte den Flüchtlingsrat und eine Fachanwältin... Wir sind sehr aufgeregt. Eine alleinstehende Syrerin ins Kriegsgebiet abschieben! Das kann nicht sein! (Atmo Tel: Hallo und herzlich willkommen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge...) 11. Dezember Endlich, nach drei Wochen nervösen Wartens, kam die Nachricht: Der Bescheid war falsch. Asyl wird gewährt, zum Integrationskurs kann Sahar sich jetzt anmelden. Sie erhält einen Pass für drei Jahre. Ein großes Glück. Allerdings wohnt sie immer noch mit mehreren Männern in einem Zimmer. Ihr Bett hat sie mit Tüchern abgetrennt. Nachts weint sie, tags lächelt sie. Sie sehnt sich nach Ruhe und Privatsphäre. (Raumatmo, Weihnachtsmusik) Anja hatte eine wilde Nacht: Kurz vor Null Uhr kam der Anruf, sie erreichte das Krankenhaus gerade, als Gahdir eingeliefert wurde. Gahdirs Mann, Anas, Risha und Anja, standen Gahdir bei. Ein Mädchen, Mayla. Alles gut. Gahdir ernannte Anja sofort zur Oma, denn die leiblichen Großmütter sind in Syrien. Mitten in der Weihnachtszeit hörte ich zum ersten Mal den Begriff: chronifizierte Erschöpfung. Auch wenn ich mein Ehrenamt mit Freude ausübte, dürfe ich mich nicht überstrapazieren, warnte die Therapeutin. Auch positiver Stress kann auf Dauer krank machen. (Atmo Tanzen und Klatschen) 27. Dezember Am ersten Feiertag wollte ich etwas zum christlichen Weihnachtsfest erklären und hielt einen Tannenzweig hoch. Feride befühlte ihn sacht, sie dachte, es sei Rosmarin. Bald schon machte jemand Musik an, es ging ein Weilchen hoch her. Ich hatte lange überlegt, was wir den Frauen zu Weihnachten schenken könnten. Etwas Kleines, etwas, was ich aus eigener Tasche bezahlen kann. In Absprache mit Neila, die mir versicherte, dass sich niemand beleidigt fühlen wird, gab ich jeder Frau zum Abschied Putzschwämme und Lappen in die Hand. Denn die Frauen beklagen sich immer wieder, dass ihre Waschräume nicht sauber seien. (Atmo Küche) 8. Januar 2016 Im Frauencafé hörte ich, dass "unsere Syrerinnen" der Silvesterknallerei mit großer Begeisterung an der Alster zugesehen haben. Ich stand da sorgenvoll an meinem Wohnzimmerfenster: Klingt die Knallerei nicht nach Krieg? - Im Café feierten wir den Neujahrstag mit frischer Minze und Wunderkerzen, die wir vor dem Lager abbrannten. Im Camp sind Feuerwerkskörper nicht erlaubt. Nach den Meldungen von Übergriffen auf deutsche Frauen in der Silvesternacht erreichen uns wieder Presse-Anfragen: Ob es Gewalt gegen Frauen auch in der Flüchtlingsunterkunft gebe? Ob jemand darüber reden würde? Wir lehnen ab. Wir möchten das Vertrauen der Frauen nicht missbrauchen. - In Fortbildungen haben wir gelernt, dass es keineswegs immer und jederzeit befreiend ist, über erlebte Traumata zu sprechen. Als aber eine von unseren Cafégästen sich eine Mailadresse mit der Anschrift "nice girl" einrichten wollte, haben wir ihr erklärt, dass das zu Missverständnissen führen kann. (Atmo Happy birthday arabisch) Amir hatte heute Geburtstag. Das Kerlchen wurde ein Jahr alt, stand auf dem Tisch, wippte fröhlich und zeigte seine kleinen Zähne. Seine Mutter und die beiden großen Schwestern hatten Kuchen und Süßigkeiten für uns alle vorbereitet. Es ist ein Geheimnis, wie Sharifa das geschafft hat, denn im Lager ist es verboten, im Zimmer zu kochen. Zwei Mal schon hat man Sharifa eine Kochplatte weggenommen. Aber, sagt sie, ihre Kinder mögen nun mal nur ihr Essen. Es wird Zeit, dass die Familie in eine eigene Wohnung umzieht. Alle Familienmitglieder, auch Amir, haben eine Aufenthaltserlaubnis bis 2018 bekommen. Sie dürfen wie EU- Bürger überall hin reisen - nur nicht nach Syrien. Aber werden sie eine Wohnung finden? (Raumatmo, still) Hamburg hat inzwischen 86.000 Flüchtlinge aufgenommen, weitere werden kommen. Auf dem ohnehin angespannten Wohnungsmarkt wird es enger und teurer. Das können sich die Geflüchteten nicht vorstellen, ihre Wünsche fliegen hoch. Hassan, ein Gärtner aus Palästina, möchte ein Haus mit Garten, für Behnaz und ihre Familie kommt nur eine bestimmte Wohnlage in Frage, Gahdir mit dem Baby möchte auf keinen Fall in einer Wohngemeinschaft leben, Sahar auch nicht... Neila verbringt jetzt sehr viel Zeit damit, Wohnungsbesichtigungen zu organisieren, Mietpreise zu erkunden und für finanzielle Unterstützung zu sorgen. Ehrenamtlich, versteht sich. (Atmo Telefon: ‚Bitte warten Sie...') 12. Februar Für Sahar, die berufserfahrene Chemikerin, bin ich immer noch auf Suche nach einer Praktikumsstelle. Ich werde von A nach B verwiesen. Letzten Dienstag waren wir mit Herrn D. verabredet. Auf dem Weg zu ihm lobte Sahar die blauäugigen deutschen Männer. Sie lächeln so oft. Sie lächeln dich an, sagte ich, du bist schön. Doch wenig später fragte Sahar besorgt, ob Passanten sie wegen ihres Kopftuchs angreifen werden. Nein, bestimmt nicht. Hier jetzt nicht. Und dann - schüttelte Herr D. Sahar die Hand. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass Sahar einem fremden Mann die Hand gab! Erschreckt hielt sie inne. Herr D. war freundlich, aber bestimmt. Eine Praktikantenstelle - egal wo - bekäme Sahar erst, wenn sie mindestens die Stufe A2, am besten aber B1 im Deutschkurs erfolgreich abgeschlossen hat. Das sind: 600 Stunden Deutschunterricht. (Atmo Kopftuch) Im Frauencafé war` s lustig: Christine fragte Sahar: "Wie bindest du eigentlich dein Kopftuch?" Ausgerechnet Christine, die anfangs meinte, Frauen mit Kopftuch könne sie nicht gut ertragen. Wir ließen die Rollläden herunter, damit die Männer aus den Containerzimmern gegenüber nicht zu uns hereingucken. Dann zog Sahar die Nadeln aus ihrem Tuch, wickelte es vom Kopf, nahm das breite Haarband ab, löste das Haargummi und schleuderte ihre langen, rotgefärbten Haare um sich. Wir sahen den dunklen Haaransatz und staunten: Muslima färben ihre Haare unter dem Kopftuch! Und wie bindest du das alles wieder zusammen? fragte Christine. (Atmo Küche mit Musik) 22. März 2016 Pro Tag gelangen jetzt angeblich nur noch 80 Flüchtlinge nach Hamburg. Einige Zelte des Lagers in der Schnackenburgallee werden abgebaut. An den Zäunen Osteuropas rütteln die Flüchtlinge. In Brüssel explodieren Bomben. Sherin ist zusammengebrochen. Auf der Flucht hatte sie eine Fehlgeburt. Immerzu hat sie Migräneanfälle. Jetzt erfuhr sie, dass ihr Onkel in Syrien, gerade als er seinen Kindern Essen bringen wollte, auf offener Straße erschossen wurde. Der Arzt spritzte Sherin ein Beruhigungsmittel. Zu allem Überfluss macht das Jobcenter, das über Zuschüsse für Mietkosten bestimmt, Schwierigkeiten. Die Dame am Schalter kannte die neue Fachanweisung der Sozialbehörde nicht und schickte Sherins Mann weg, weil er einen Mietvertrag mit einem etwas zu hohen Mietpreis vorlegte. Dabei steht seit dem ersten März allen Menschen aus Notunterkünften ein um 15 Prozent erhöhter Mietzuschuss zu. Maren kümmerte sich, wurde aber auch abgewiesen. Das Jobcenter gewährt nur 10 Prozent mehr. Die Ämter werden sich nicht einig. Mails und Telefonate ohne Ergebnis. Es dreht sich um zirka 20 Euro im Monat plus drei Monatsmieten Kaution. Tage vergehen. Angestellte werden krank, haben Osterurlaub. Geduld. Geduld. Geduld.... (Atmo Straße) 15. April In Blankenese machten Anwohner mit Spraydosen und Autoblockaden Randale, um die erste Flüchtlingsunterkunft in Stadtteil zu verhindern: sieben Pavillons für 192 Menschen. Sie schickten einen Eilantrag ans Gericht und bereiten ein Bürgerbegehren vor. Andrerseits ist der "Runde Tisch Blankenese" für seine gut organisierte Flüchtlingshilfe bekannt und geschätzt. Die Koordinatorin wurde jetzt auch angegriffen. Unser Frauencaféteam ist bisher von wütenden Bürgern unbehelligt geblieben. Wir haben aber auch keine Grundstücke in exklusiver Lage zu verteidigen. Sherin hat immer noch keinen Mietvertrag. Und Faizahs Kind ist geboren, aber der Asylantrag der syrischen Familie ist abgelehnt worden. Die Anwältin sagt, man könne nichts machen. Wieso nicht? fragen wir. Es wird viel Zeit kosten, das heraus zu finden. Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, jeder Frau und ihrer Familie helfen zu können. Inzwischen haben wir für uns selbst einen Antrag gestellt und von der Hamburger Bürgerstiftung 960 Euro erhalten, mit denen wir die Café- Ausgaben in den kommenden Monaten bestreiten können. Ich bin froh, und manchmal erschöpft. In ein paar Tagen fahre ich in den Urlaub. (Raumatmo, PC herunterfahren) ABSAGE: Im Dickicht der Hilfe Von der ehrenamtlichen Arbeit mit Flüchtlingen Sie hörten eine Sendung von Sibylle Hoffmann Es sprachen: Ursula Illert und Folker Banik Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Roman Weingardt Redaktion und Regie: Ulrike Bajohr Eine Produktion des Deutschlandfunks 2016. 1