Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 9. April 2016, 11.05 - 12.00 Uhr Fluchtpunkt Lissabon - Exil im Portugal der 1940er Jahre Mit Reportagen von Tilo Wagner Redaktion und Moderation: Britta Fecke Musikauswahl und Regie: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Moderation: Im zweiten Weltkrieg sammelten sich in Portugal: Flüchtlinge, Intellektuelle, Juden und Agenten aus ganz Europa: "...Im Geschichtsunterricht haben wir über Salazar und die Diktatur gesprochen. Wir haben über den Diplomaten. Aber ich hätte nie gedacht, dass man hier in Lissabon soviel über Spione erfahren kann." Moderation: Auch die Monarchen flüchteten vor dem Krieg in ihren Heimatländern nach Portugal. Auf kulinarische Genüsse verzichteten sie dabei nicht: "Da kam eines Tages der portugisiche Konsul in die Eisdiele und sagte: Hey Santinin komm doch zu uns nach Portugal .Wie Portugiesen lieben süße Speisen.Und außerdem war hier in Portugal wenig vom Krieg zu spüren." Gesichter Europas: Fluchtpunkt Lissabon - Exil im Portugal der 40ger Jahre Mit Reportagen von Tilo Wagner Moderation Britta Fecke. Moderation: Spaziergang mit Spionen Portugal was eines der wenigen Länder Europas, das sich nicht am zweiten Weltkrieg beteiligte. Das autoritäre Salazar-Regime sympathisierte durchaus mit dem faschistischen Italien und übernahm auch einige Foltermethoden der Gestapo, stand aber aus strategischen Gründen meist auf der Seite der Alliierten und stützte seine Außenpolitik auf die Jahrhundertealte Allianz mit Großbritannien. Atmo: kurz hoch kommen und als Zäsur stehen lassen Lavierend zwischen den Achsenmächten und den Interessen des Alliierten wurde das kleine Land am Rande Europas zu einem zentralen Anlaufpunkt für verfolgte Intellektuelle, Schriftsteller, jüdische Flüchtlinge und Spione. Unter ihnen waren auch so schillernde Figuren wie der "Doppelagent" Dusko Popov, der von Portugal aus die Geheimdienste in Deutschland und England versorgte. Dusko Popov soll Ian Fleming als Vorbild für den Filmhelden James Bond gedient haben. Die Reiseagentur "Lisbon Walker" organisiert regelmäßig Touristenführungen durch das Lissabon der Spione und Geheimdienste - auf der Suche nach den verborgenen Seiten des Krieges. 1. Reportage: Spaziergang mit Spionen An einem sonnigen, kühlen Vormittag steht José Antunes mitten auf dem riesigen Lissabonner Platz Praça do Comercio und wartet. Möwen ziehen vom Tejo über die gelb schimmernden Arkadengänge, kleine Passagierfähren halten am Kai. José drückt die breite Sonnenbrille auf die Nase, kratzt sich am Fünftagebart und sucht den Platz ab. Von seiner Reisegruppe ist nichts zu sehen. Seit sieben Jahren führt der studierte Historiker Touristen durch die Lissabonner Altstadt - auf den Spuren der Spione und Agenten, die im Zweiten Weltkrieg in der portugiesischen Hauptstadt ihr Unwesen trieben. "Das Thema weckt natürlich großes Interesse. Denn alles, was mit Spionage zu tun hat, ist eine Welt, die im Verborgenen liegt. Und das fasziniert uns. Wir werden über berühmte Agenten reden, die im Zweiten Weltkrieg hier in Lissabon ganz wichtige Missionen zu erfüllen hatten. Heute kommt eine Schulklasse, und für die Schüler ist es ganz sicher spannend Orte zu besuchen, an denen Geschichte geschrieben wurde. Dieser visuelle Kontakt wird den Schülern helfen, wichtige Informationen besser in ihren Köpfen zu organisieren. Aber eins ist klar: Wir machen hier keinen Unterricht, sondern einen ungezwungenen Spaziergang durch die Welt der Spionage." Endlich trifft die Gruppe ein. José schultert seinen Rucksack und führt die Abschlussklasse aus der nordportugiesischen Stadt Famalicão mit forschem Schritt über den Platz. Doch nicht alle kommen mit: Mit müden Augen, auf Stöckelschuhen oder einfach unmotiviert - es dauert, bis José seine Gruppe beisammen hat. Der Historiker ist ganz in seinem Element. In atemberaubenden Tempo fasst er Portugals ambivalente Rolle im Zweiten Weltkrieg zusammen: Die alte Allianz mit England, die strategische Bedeutung der Azoreninseln, Salazars Sympathie für Mussolini, die politische Neutralität, Lissabon als Fluchtpunkt für viele verfolgte Europäer. Richtig mitreißen kann er seine jungen Zuhörer noch nicht, obwohl er ein paar lustige Anekdoten einwebt. "Der Cais do Sodré ist immer schon das Rotlichtviertel Lissabons gewesen. Mittlerweile ist das Viertel zwar recht schick geworden, aber wenn ihr am Nachmittag durch die Straßen geht, könnt ihr immer noch ein paar Mädchen mit kurzen Röcken auf der Straße sehen. Die Nazis haben in dem Hafenviertel im Zweiten Weltkrieg unter den Prostituierten ein Netz von Informantinnen unterhalten und den Damen sogar Englisch beigebracht, damit sie von betrunkenen englischen Matrosen wichtige Informationen über die Alliierten erfahren. Und ein berühmt und berüchtigter Doppelagent, der hier tätig war, war der ehemalige Tresorknacker Eddie Champan, besser bekannt unter dem Namen "Agent ZigZag"." José führt seine Gruppe an der Nationalbank vorbei, im Keller soll noch das Gold der Nazi liegen. Er hält einen Vortrag vor einem ehemaligen Lissabonner Militärgericht, wo Salazar oppositionelle Kräfte den Prozess machte. Und er bleibt vor einem Schreibwarenladen stehen, in dem ein katalanischer Geheimagent seine Pässe fälschen ließ. Im Lissabonner Straßenlärm fällt es den Schülern nicht immer leicht, Josés ausführlichen Geschichten zu folgen. Die Orte, an denen sich die Alliierten und Achsenmächten gegenseitig ausspionierten, sind leider nur schwer greifbar. José versucht die Schüler mit einem Thema zu ködern, das in Portugal immer für Gesprächsstoff sorgt: Fußball. Er bleibt vor dem Fanshop von Benfica Lissabon stehen. "Selbst hohe portugiesische Sportfunktionäre waren im Zweiten Weltkrieg als Informanten für die ausländischen Geheimdienste aktiv. Und das war sowohl für die Deutschen als auch für die Alliierten irgendwann ein großes Problem: Im Jahr 1943 gab es bereits viel zu viele Lissabonner, die sich freiwillig als Informanten bei den Botschaften meldeten, um gegen Geld die Geheimdienste mit Hinweisen über zu versorgen." Letzte Station der Führung: Ein Hotel, in dem sich der Geheimagent aufhielt, der Ian Flemming als Vorlage für seine Figur James Bond gedient haben soll. Die Zeit drängt, José geht zügig voran, sein Pferdeschwanz verschwindet in der Fußgängerzone in einer dichten Menschenmenge. Ganz hinten quält sich die Klassenlehrerin Hortense Alecrim im lila Hosenanzug und Stöckelschuhen über das löchrige Kopfsteinpflaster: "Im Geschichtsunterricht haben wir über Salazar und die Diktatur gesprochen. Wir haben über den Diplomaten Aristides de Sousa Mendes gesprochen, der die Juden gerettet hat und dafür bestraft wurde. Und wir haben über die Neutralität Portugals gesprochen. Aber ich hätte nie gedacht, dass man hier in Lissabon so viel über die Spione erfahren kann, wo sie sich aufgehalten haben und für wen sie tätig waren." José Antunes steht bereits vor der mächtigen Fassade des Pálacio und zeigt auf einen Übergang, der vom Fünf-Sterne-Hotel zum benachbarten Fernbahnhof Rossio führt. Hier hätten die Nazis einen geheimen Durchgang unterhalten, um ihre Agenten direkt vom Zug ins Hotel zu schmuggeln. Und dann erzählt er endlich die Geschichte des wahren James Bond, die er während seiner zweistündigen Tour immer wieder als Cliffhänger eingesetzt hat: Dusko Popov, ein serbischer Doppelagent mit einer Vorliebe für die schönen Dinge im Leben, habe in den 1940er Jahren für die Alliierten gearbeitet und die Agenten der deutschen Abwehr mit falschen Informationen hinters Licht geführt. Die Anekdote bietet den Schlusspunkt. Und der 37-jährige Reiseleiter atmet durch: Mit Schulklassen tue er sich manchmal etwas schwer, sagt er. Da wären ihm ausländische Touristen schon lieber: O "Einmal habe ich eine große Gruppe durch die Welt der Spionen geführt, und am Schluss kamen drei Pärchen auf mich zu sagten: "Man, das hat uns vielleicht gut gefallen. Wissen Sie, wir haben nach dem Zweiten Weltkrieg für den amerikanischen Geheimdienst gearbeitet, und von den Geschichten, die Sie erzählt haben, haben wir auch immer gehört." Wir haben dann noch lange zusammen gesessen, und sie haben mir Anekdoten aus ihrer aktiven Zeit erzählt, wobei ich immer daran dachte, dass das alles streng geheim bleiben müsste. Solche Begegnungen sind natürlich selten, aber wenn es passiert, ist es immer etwas besonders, echte Spione zu treffen." Literatur Moderation: Die Hafenstadt Lissabon wird im zweiten Weltkrieg zum Wartesaal all derer, die versuchen vor dem Krieg und den Nationalsozialisten zu fliehen und auf einen der teuren Plätze auf einem Überseedampfer hoffen. Die Nacht von Lissabon von Erich Maria Remarque schildert das Schicksal eines deutschen Juden, der sich bis nach Portual durchgekämpft hat: "Ich starrte auf das Schiff. Es lag ein Stück vom Quai entfernt, grell beleuchtet, im Tejo. Obschon ich seit einer Woche in Lissabon war, hatte ich mich noch immer nicht an das sorglose Licht dieser Stadt gewöhnt. In den Ländern, aus denen ich kam, lagen die Städte nachts schwarz da wie Kohlengruben, und eine Laterne in der Dunkelheit war gefährlicher als die Pest im Mittelalter. Ich kam aus dem Europa des zwanzigsten Jahrhunderts. Das Schiff war ein Passagierdampfer, der beladen wurde. Ich wusste, dass es am nächsten Abend abgehen sollte. Im harten Schein der nackten elektrischen Birnen wurden Ladungen von Fleisch, Fisch, Konserven, Brot und Gemüse verstaut; Arbeiter schleppten Gepäck an Bord, und ein Kran schwang Kisten und Ballen so lautlos herauf, als wären sie ohne Gewicht. Das Schiff rüstete sich zur Fahrt, als wäre es eine Arche zur Zeit der Sintflut. Es war eine Arche. Jedes Schiff, das in diesen Monaten des Jahres 1942 Europa verließ, war eine Arche. Der Berg Ararat war Amerika, und die Flut stieg täglich. Sie hatte Deutschland und Österreich seit Langem überschwemmt und stand tief in Polen und Prag; Amsterdam, Brüssel, Kopenhagen, Oslo und Paris waren bereits in ihr untergegangen, die Städte Italiens stanken nach ihr, und auch Spanien war nicht mehr sicher. Die Küste Portugals war die letzte Zuflucht geworden für die Flüchtlinge, denen Gerechtigkeit, Freiheit und Toleranz mehr bedeuteten als Heimat und Existenz. Wer von hier das gelobte Land Amerika nicht erreichen konnte, war verloren. Er musste verbluten im Gestrüpp der verweigerten Ein- und Ausreisevisa, der unerreichbaren Arbeits- und Aufenthaltsbewilligungen, der Internierungslager, der Bürokratie, der Einsamkeit, der Fremde und der entsetzlichen allgemeinen Gleichgültigkeit gegen das Schicksal des Einzelnen, die stets die Folge von Krieg, Angst und Not ist. Der Mensch war um diese Zeit nichts mehr; ein gültiger Pass alles. 2. Anmoderation Eine deutsche Lissabonnerin in den Wirren des Krieges Portugal war auch im 1. Weltkrieg zunächst neutral geblieben, um dann 1916 doch an der Seite Großbritanniens in den Krieg zu ziehen. Das endete für die schlecht ausgebildeten, portugiesischen Streitkräfte in einer Katastrophe, die Salazar nicht wiederholen wollte. Portugal bleibt also neutral, auch wenn sich das Salazar-Regime nicht wirklich raus hält. Der Diktator unterstützte die Alliierten verkaufte Wolfram aber an die Rüstungsindustrie beider Kriegsparteien. Das Metall benötigten die Nationalsozialisten vor allem für die Herstellung von Panzergranaten. 1943 wird aber auch Salazar klar, dass Deutschland diesen Krieg verlieren wird. Er bricht die Beziehungen zu Berlin und auch zum faschistischen Italien ab. Nach Kriegsende liefert das Salazar-Regime alle im Land lebenden Deutschen, die sich zum Nationalsozialismus bekannt hatten, an die Alliierten aus. Atmo: kurz hoch kommen lassen und als Zäsur stehen lassen Die Wurzeln der deutschen Gemeinde in Lissabon gehen weit zurück auf eine Bartholomäus-Brüderschaft aus dem 13. Jahrhundert. Vor dem 2. Weltkrieg gab es ein deutsches Krankenhaus, eine deutsche Schule und einen mitgliederstarken deutschen Verein. Viele Deutsche waren schon in den 20ger Jahren auf dem Weg nach Brasilien in Lissabon "hängengeblieben". Doch mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 änderte sich kurz darauf auch die Ausrichtung der deutschen Institutionen in Lissabon, ihre Belegschaft wurde auf Linie gebracht oder entlassen. 2. Reportage: Eine deutsche Lissabonnerin in den Wirren des Krieges Die Wohnung von Gisela Bach liegt in einem gutbürgerlichen Lissabonner Stadtviertel direkt gegenüber des Ritz. Die Frau mit den dichten, schneeweißen Haaren wartet bereits lächelnd an der Wohnungstür. "Mein Mann, der ist hier schon eingezogen 37...und dann bin ich hierher gezogen, aber wir wohnten auch schon in der Straße hier unten..." Frau Bach wurde 1929 in Lissabon geboren und in ihrer Wohnung ist der portugiesische Geschmack leicht auszumachen: Schwere, dunkle Holzmöbel, leicht unterkühlte Zimmertemperatur, ein guter Portwein in der Hausbar. Doch Gisela Bach wuchs in den 1930er Jahren vor allem unter deutschem Einfluss auf: in der Deutschen Schule, in der evangelischen Kirche und im deutschen Verein, der bereits 1870 gegründet wurde. Alle zwei Jahre verbrachte sie die langen Sommerferien bei ihren Großeltern in der Nähe von Hamburg. Und auch im Sommer 1939 bestieg sie mit ihrer Familie ein Schiff im Lissabonner Hafen, ohne zu wissen, das wenig später der Zweite Weltkrieg ausbrechen würde. Plötzlich saß die Familie in Deutschland fest und konnte nicht mehr zurück nach Lissabon: "Wir sind geblieben. Und da haben wir den ganzen Winter da schon verlebt und mussten dann schon in der Kleiderkammer uns Kleider aus zweiter Hand geben lassen, weil wir ja nur Sommerzeug hatten. Wir sind dann erst Ende Oktober zurückgekommen...40." Im neutralen Portugal fand der Krieg auf einer andren Ebene statt. Gisela Bachs Vater arbeitete in der deutschen Gesandtschaft, die bald schon zum Zentrum für Spionage wurde. "Also von der Botschaft hatte man einen ganz tollen Überblick über die Einfahrt von Lissabon. Einer, der war nur Gesandtschaftsdiener, aber in Wirklichkeit war er Funker, der hat den ganzen Tag, er und ein Kollege, die Einfahrt von Lissabon sozusagen beobachtet, welche Schiffe rein- und welche rausfuhren und das immer gleich weitergemorst." Manchmal nahm der Vater heimlich Gäste auf, die erst spät nachts ihr Lager aufschlugen und früh morgens schon wieder weg waren. Als heranwachsendes Mädchen konnte Gisela nicht alles einordnen, aber sie erlebte, dass der Propagandakrieg zwischen den Machtblöcken auch den Kulturbereich vereinnahmte. Zu deutschen und amerikanischen Buntfilmpremieren wurden große Gesellschaften gegeben, Stars aus Hollywood beziehungsweise Berlin eingeladen. "Etwas muss man auch sagen: Die Portugiesen waren im Krieg gespalten. Es gab die Germanophilen und Anglophilen. Und die deutschfreundlichen waren wirklich deutschfreundlich. Mit denen hatte man hervorragenden Kontakt. Die haben uns bewundert, die haben also, nicht...Da kam ja während des Krieges der Albert Speer noch her, und der Albert Speer hat ja das allererste Autobahnstück in Portugal noch mit eingeweiht." Gisela Bach blättert durch ein Fotoalbum und zeigt auf Bilder aus ihrer Zeit an der deutschen Schule. Hitlerjugend, Nazi-Uniformen, Sport und Politik auf einem großen Areal, das damals noch am nördlichen Ende der Stadt lag. Das vorläufige Ende der überwiegend gleichgeschalteten deutschen Gemeinde in Lissabon kam mit der Kapitulation: Salazar ließ alle deutschen Güter konfiszieren, die Schule und der Verein wurden geschlossen. Und die 16-jährige Gisela fürchtete um das Schicksal ihres Vaters: "Die meisten Deutschen, auf Befehl der Alliierten, hätten zurück müssen nach Deutschland. Also alle die von der Botschaft, die sind ja zum Teil noch alle in das alte KZ Neuengamme in der Nähe von Hamburg gekommen. Meine Mutter ist krank geworden und ist dann 46 gestorben - auch eben Krebs. Und das war für mich natürlich entsetzlich, den ich hatte zwei kleine Geschwister, ein Bruder, der 6 Jahre jünger war und eine Schwester, die dreizehn Jahre jünger war. Und plötzlich war der Vater weg. Da haben wir auch gedacht, was machen wir jetzt bloß. Und mein Vater war überhaupt total verzweifelt. Und da hat Salazar eingegriffen und hat gesagt: Die haben Kinder hier und die Kinder sind für mich Portugiesen, weil sie hier geboren sind. Also die dürfen von Papa und Mama nicht getrennt werden, die müssen hier bleiben." Gisela musste auf ein portugiesisches Gymnasium wechseln. Das Gebäude der alten deutschen Schule hat sie nie wieder betreten, obwohl es direkt gegenüber ihrer evangelischen Kirche liegt. Frau Bach steigt in ein Taxi. Heute will sie zu ihrer alten deutschen Schule. Doch der Fahrer weiß damit nichts anzufangen. Also erklärt sie, wo sie hin will. Nach kurzer Fahrt hält das Taxi auf einem Busbahnhof. Neben einer sechsspurigen Schnellstraße liegt eingepfercht von großen Glashochhäusern und Brücken ein altes flaches Gebäude, das nach der Nelkenrevolution von einer linksalternativen Theatergruppe besetzt wurde. Frau Bach schaut etwas skeptisch auf das Theater: "Teatro da Comuna - ausgerechnet aus einer deutschen Schule haben sie so etwas gemacht. Ist doch eigentlich eigenartig." Auf dem Weg zum Haupteingang läuft sie an ein paar alten Olivenbäumen vorbei, die hier schon vor dem Zweiten Weltkrieg standen. Ein älterer Herr in Mantel und Fließpulli mit dicker Hornbrille begrüßt auf portugiesische Art: Küsschen links, Küsschen rechts. João Mota ist einer der erfolgreichsten Theaterregisseur Portugals. "Wir haben das Gebäude 1975 besetzt, direkt nach der Revolution. Das Gebäude war aber schon zehn Jahre lang verlassen. Hier in der Gegend gab es viele Armenviertel, und die Bewohner kamen hierher und nahmen alles mit. Rohre, Türen, Fenster, sogar die Holzdielen, damit sie im Winter was zum Verbrennen hatten." João Mota zeigt der 87-jährigen Deutschen das ganze Gebäude: Die große Bar mit Varietébühne, Büroräume und Küche, zwei Theatersäle, die Werkstatt und den feuchten Keller mit den Requisiten und Kostümen. Gisela Bach geht mit großen Augen durch die Räume, ihr fallen kleine Anekdoten ein, Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit: "Ich habe hier in dieser ehemaligen Kellerwohnung mein erstes Lebensjahr mit meinen Eltern verbracht. Der Schuldirektor war noch nicht aus Deutschland nach Portugal gekommen, und so zog mein Vater, der damals hier Lehrer war, mit uns in die Wohnung. Und meine Mutter war sich sicher, dass ich mein Rheuma hier in diesen feuchten Räumen bekommen habe." João Mota nickt mit dem Kopf. Auch er habe hier Rheuma bekommen, sagt er mitfühlend. Und während die beiden die Wendeltreppe wieder nach oben steigen, unterhalten sie sich ausführlich über ihre falschen Hüftgelenke. Dann verabschiedet sich der 73-jährige Theatermacher. Gisela Bach bleibt noch kurz vor ihrer alten Schule stehen, die wie eine kleine Oase mitten in einer riesigen Betonwüste wirkt. Sie blickt zurück und winkt João Mota zu: "Der hat wirklich was Tolles draus gemacht. Muss man schon sagen." 3. Moderation: Der Comiczeichner José Ruy Mit dem Vormarsch der deutschen Truppen stieg die Zahl der Flüchtlinge in Lissabon stetig an, doch erst ab 1940 - nach der Besetzung Frankreichs - kam es zu einer regelrechten Massenflucht über die Pyrenäen nach Portugal. Widerstandskämpfer, Intellektuelle darunter auch der Schriftsteller Erich Maria Remarque und 1000de Juden machten Lissabon zu einer Metropole, zu einem Schmelztiegel verschiedener Sprachen und Kulturen. Atmo: kurz hoch kommen lassen und als Zäsur stehen lassen Für die meisten jüdischen Flüchtlinge ist die Stadt am Tejo nur ein Wartesaal vor der Schiffspassage nach Übersee. Denn Salazar war zwar kein Anhänger der Nationalsozialisten wollte Portugal aber auch nicht zum sicheren Hafen für die europäischen Juden machen. Sie erhielten fast nie eine Aufenthaltsgenehmigung und durften wenn überhaupt nur durchreisen und das verdanken die meisten Aristides de Sousa Mendes, dem portugisischen Generalkonsul in Bordeaux. Mendes verstößt bewusst gegen die Vorgaben Salazar und rettet durch die Ausstellung von Visa 30 000 Menschen, davon 10 000 Juden, vor dem Terrorregime der Nazis. Diese Rettungsaktion kostet den Diplomaten seinen Beruf, die gesellschaftliche Stellung und sein Auskommen. Er starb in den 50ger Jahren verkannt und verarmt in Lissabon. Erst in den 90gern wurde Aristides de Sousa Mendes - der Mann der 1000de vor der Deportation in die Konzentrationslager gerettet hatte - rehabilitiert. Der portugiesischer Illustrator Jose Ruy bemüht sich auf seine Weise die Geschichte des vergessenen Helden zu erzählen: 3 Reportage: Der Comiczeichner José Ruy Eine Wanduhr tickt, Straßenlärm dringt gedämpft in den fünften Stock herauf, mit ruhiger Hand führt José Ruy den Zeichenstift übers Papier. Der Blick aus seinem Fenster führt über schmucklose Straßen, Wohnblocks, Hochhäuser. Die Stadt Amadora ist mit den Außenbezirken Lissabons zu einem großen Betonteppich verschmolzen. Als José hier mitten im Zweiten Weltkrieg seine Karriere als Zeichner begann, gab es hier nur grüne Wiesen. Damals war er vierzehn und publizierte zum ersten Mal in einer Comic-Zeitschrift: "Damals übersetzten die Verlage Comics, die aus England oder den USA kamen. Und die Geschichten handelten von diesen Ländern und ihren Völkern. Es war fast so, als würden sie ihre Kultur in die Kolonie nach Portugal importieren. Zusammen mit ein paar Freunden wollte ich etwas anderes machen, was mehr mit unserem eigenen Land zu tun hatten. Und so fingen wir an, Comics über die portugiesische Geschichte zu zeichnen, allen voran natürlich über die große Zeit der Seefahrer." Neben seinem Zeichentisch steht das Model, das ihm bei vielen seiner Arbeiten inspiriert hat: Eine eineinhalb Meter lange Karavelle, die er selbst zusammengebastelt hat. Doch das Schiff, mit dem die Portugiesen im 15. Jahrhundert den Seeweg nach Indien entdeckten, half ihm bei einem seiner bekanntesten Comicbüchern nicht weiter. Denn diese Geschichte handelt von einem portugiesischen Diplomaten, der sich im Mai 1940 gegen eine Direktive des Salazar-Regimes stellte und Zehntausenden von flüchtenden Juden die Einreise nach Portugal ermöglichte. Eine markante Nase, akkurat geschnittenes schwarzes Haar und eine elegant gebundene Fliege um den Hals - das Konterfei von Aristides de Sousa Mendes, das José Ruy auf seinem Schreibtisch zeichnet, ist längst nicht nur Comic-Fans bekannt. Doch das war nicht immer so, erzählt der 85-jährige und zupft an seinem dichten, schneeweißen Schnauzbart: "Der Fall von Aristides de Sousa Mendes wurde Jahrzehnte lang tot geschwiegen. Die Familie hat sehr unter der Diktatur gelitten. Salazars Staatspolizei verhinderte, dass die Söhne des Diplomaten in Portugal einen Job fanden und so mussten sie auswandern und es gab niemanden, der die Geschichte erzählte. Ich selbst habe erst zwanzig Jahre nach dem Ende der Diktatur davon erfahren. Irgendwann hat mich ein Museumsdirektor eingeladen, der anfing mit Schulklassen über den Fall zu sprechen. Und der Direktor fragte mich, ob ich nicht einen Comic zeichnen wollte." José Ruy packt ein paar Originale seiner 30-seitigen Bildergeschichte in eine Tasche und bricht auf: Über den portugiesischen Helden aus dem Zweiten Weltkrieg will er heute in einem nahe gelegenen Jugendzentrum sprechen. Sozialer Wohnungsbau vor den Toren Lissabons. Hier leben viele Migranten aus ehemaligen portugiesischen Kolonien in Afrika: Kapverden, Guinea-Bissau, Angola. Rund zwei Dutzend Jugendliche und Kinder haben sich in dem schlichten Gemeinschaftsraum eingefunden - mit Kapuzenpulli und kurzen Wuschellocken, Hornbrille und geflochtenen schwarzen Strähnen. Eingeladen hat die Sousa Mendes Foundation, eine in Amerika ansässige Stiftung, die von den Familien unterstützt wird, die dank des portugiesischen Diplomaten über Portugal in die USA fliehen konnten. Die Stiftungsvertreterin Mariana Abrantes verliert ein paar einleitende Worte über den Zweiten Weltkrieg. So wie heute in Syrien, sagt sie, mussten damals auch viele Menschen vor den Bomben fliehen. Und passend dazu zieht ein Gewitter über die Stadt Unterdessen lässt José Ruy die ersten Bilder an die Wand projizieren. Den schwarzen Mantel hat er im ungeheizten Raum lieber angelassen, seine Lesebrille baumelt über dem Bauch, während er das wahre Leben seines Comichelden beschreibt. Und dann teilt er die originalen Zeichenbögen aus. Ein Mädchen hebt die Hand und fragt, warum er unbedingt die Geschichte von Sousa Mendes erzählen wollte. "Weil er viele Menschenleben gerettet hat. Und dann vom Salazar-Regime dafür bestraft wurde. Damals gab es eine andere Politik in Portugal, und er hätte eigentliche gar keine Visa ausstellen dürfen. Aber hätte er nur das getan, was ihm von Salazar erlaubt worden wäre, dann hätte er damit viele Flüchtlinge, die unbedingt aus Europa fliehen mussten, praktisch zum Tode verurteilt." Aus dem Publikum tritt ein älterer Herr nach vorne, der den gleichen Namen trägt wie José Ruys Comic-Held. Aristides de Sousa Mendes, ein Enkel des portugiesischen Diplomaten. Er stellt sich höflich vor. Haben Sie Ihren Großvater noch kennen gelernt, fragt ein Jugendlicher. Ja, sagt Mendes, aber er habe keine Erinnerung mehr an ihn, denn mit fünf Jahren habe er mit seinen Eltern Portugal verlassen müssen. Während Mendes noch ein paar Fragen beantwortet, ist José Ruy aufgestanden, hat sich ein paar alte Filzstifte ausgeliehen und zeichnet auf eine weiße Tafel eine Szene aus seinem Buch. Es wird still im Saal. Kein Smartphone ist zu hören, keine Witze oder lässige Kommentare. Die Jugendlichen folgen Josés flinken Handbewegungen an der Tafel. Im Vordergrund der Diplomat, der Pässe stempelt, dahinter viele Menschen mit Koffern in den Händen, im Hintergrund ein Flugzeug, das Bomben über einer Stadt abwirft. Und überall fliegen Visa-Formulare durch die Luft, als wären sie ein Schwarm Friedenstauben. Spontaner Beifall für den Künstler brandet auf. In der Tür steht Mendes und schaut auf die skizzenhaften Züge seines Großvaters: "Junge Menschen lassen sich von der Bildersprache der Comics begeistern - der Zugang ist einfacher als mit einem Buch. Die Botschaft bleibt einfach viel besser hängen. José Ruys Comic hat viel dazu beigetragen, dass die Geschichte meines Großvaters auch bei den Kindern und Jugendlichen ankommt." Literaturmoderation: Im düsteren Jahr 1942 warten Politisch Verfolgte, Intellektuelle unzählige Juden im Lissabon auf eine der letzten Schiffspassagen um den Nazis und dem Terror des Krieges zu entkommen: Die Nacht von Lissabon ist der dritte Migrantenroman von Erich Maria Remarque und im Kiepenheuer und Witsch-Verlag erschienen: Der Nachtklub war eines der typischen Lokale, geleitet von weißrussischen Emigranten, wie es sie nach der Revolution 1917 überall in Europa gibt, von Berlin bis Lissabon. Sie haben alle dieselben Kellner, die ehemals Aristokraten gewesen sind, dieselben Sängerchöre aus früheren Gardeoffizieren, dieselben hohen Preise und dieselbe melancholische Stimmung. Sie haben auch dieselbe matte Beleuchtung, auf die ich rechnete. Die Deutschen hier, von denen der Kellner gesprochen hatte, waren bestimmt keine Emigranten. Sie waren wahrscheinlich Spione, Mitglieder der Botschaft oder Angestellte deutscher Firmen. "Die Russen haben sich besser etabliert als wir", sagte Schwarz. "Sie waren uns in der Emigration allerdings auch um fünfzehn Jahre voraus. Und fünfzehn Jahre Unglück sind lang und geben eine Menge Erfahrung." "Sie waren die erste Welle der Emigration", erwiderte ich. "Man hatte noch Mitleid mit ihnen. Man gab ihnen Erlaubnis zu arbeiten und Papiere. Nansenpässe. Als wir kamen, war das Mitleid der Welt längst aufgebraucht. Wir waren lästig wie Termiten, und fast niemand war da, der für uns noch seine Stimme erhob. Wir dürfen nicht arbeiten, nicht existieren und haben immer noch keine Papiere." Ich war nervös, seit wir hier saßen. Es lag wahrscheinlich an dem geschlossenen Raum mit den vielen Vorhängen, dem Be36 wusstsein, dass Deutsche hier sein sollten, und der Tatsache, dass ich zu weit von der Tür weg saß, um entkommen zu können; - ich war daran gewöhnt, überall nahe beim Ausgang zu sitzen. Ich war auch nervös, weil ich das Schiff nicht mehr sah. Wer wusste, ob es nicht nachts noch die Anker lichtete, früher als angesagt war, wegen irgendeiner Warnung. 4. Moderation: Das Dorf der blonden Frauen Während des 2. Weltkrieges war nicht jeder, der in Lissabon deutsch sprach ein jüdischer Flüchtling oder Widerstandskämpfer. Die Stadt am Tejo gewährte auch linientreuen Deutschen eine Atempause, so gab z. B. Die Berliner Oper Gastspiele- wochenlang - um dem Bombenhagel in Mitteleuropa zu entfliehen. Atmo: kurz hoch kommen lassen und als Zäsur stehen lasse Nach Kriegsende ließ Salazar alle Nazis in Portugal verhaften und lieferte sie an die Alliierten aus. Doch wie es scheint war das Vorgehen des Diktator auch hier nicht frei von Widersprüchen, denn er gewährte 1945 mehreren aus Argentinien kommenden NS-Diplomaten und ihren Familien den Aufenthalt in Portugal. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein kleines Dorf im ländlichen Portugal offenbar zur Zwischenstation von hochrangigen Nationalsozialisten. In dem Dorf erinnert man sich noch heute an die Zeit, als die blonden, gut gekleideten Frauen und Kinder dort wohnten. Doch wo waren die Männer? Von ihnen fehlt jede Spur, bis heute: 4 Reportage: Das Dorf der blonden Frauen Dichter Regen fällt auf die Lissabonner Altstadt, Autos spritzen dreckiges Wasser von der Straße auf den Gehsteig. Margarida Ramalho kümmert das schlechte Wetter wenig. Sie ist auf einer heißen Spur - und die führt ins historische Archiv des portugiesischen Finanzministeriums. Ramalho gilt als Expertin für alle Fragen, die mit den Flüchtlingsströmen im Portugal der 1940er Jahre zusammenhängen. Doch diesmal geht es nicht um jüdische Bürger, die vor Hitler fliehen. Diesmal geht es um die Nationalsozialisten. Ana Gaspar, die Archivdirektorin, erwartet sie bereits. Gaspar holt mehrere dicke Ordner hervor und liest die Kennzeichnung der portugiesischen Geheimpolizei. "Diese Dokumente sind ja nur Abrechnungen aus der Verwaltung. Wir haben deshalb ein offizielles Schreiben, das uns erlaubt, diese Papiere zu vernichten. Als wir allerdings den Inhalt gesehen haben, haben wir sofort daran gedacht, dass hier ein außergewöhnliches Ereignis dokumentiert ist und deshalb haben wir die Dokumente aufbewahrt." D ie Historikerin Margarida Ramalho blättert durch Hunderte Rechnungen und Zahlungsanweisungen. Hotels, Pensionen, Taxis, Arztbesuche, Wäscherei. Zwischen 1945 und 1948 hat die portugiesische Geheimpolizei Dutzenden deutschen Bürgern den Aufenthalt in Portugal komplett finanziert. Ramalho fährt sich durch ihre dunkelblond gefärbten Locken. Das sei sehr ungewöhnlich: "Es gibt tatsächlich auch die Dokumentation von Hotelrechnungen und anderen Kosten, die die jüdischen Flüchtlinge in Portugal während des Zweiten Weltkrieges verursachten. Doch diese Dokumente liegen in Amerika bei den großen jüdischen Hilfsorganisationen wie Joint. Denn es waren diese Organisationen, die den Aufenthalt jüdischer Flüchtlinge in Portugal finanzierten. Der portugiesische Staat hat kein Geld für diese Menschen zur Verfügung gestellt." Die Rechnungen stammen bis weit in das Jahr 1948 hinein fast ausschließlich aus zwei kleinen Kurorten im Landesinnern: Curia und Caldas da Felgueira. Ähnlich hatte das Salazar-Regime während des Krieges schon die Verteilung jüdischer Flüchtlinge vorgenommen: "In beiden Fällen bringt das Regime die ausländischen Gäste in eine Ortschaft und fixiert eine Außengrenze von drei bis vier Kilometern, die die Gäste nicht überschreiten dürfen. Und wenn sie sich außerhalb dieser Zone aufhalten wollen, müssen sie m Erlaubnis bitten. Das war natürlich ein Mittel, um die Flüchtlinge besser zu kontrollieren." Margarida Ramalho hat ein weiteres Puzzlestück gefunden. In Cascais, rund 20 Kilometer westlich von Lissabon, besucht sie den Sohn einer Frau, die in den 1940er Jahren mit den Deutschen in Caldas da Felgueira aufwuchs. João Rato blättert in einem großen, alten Fotoalbum. Auf einem Schwarzweiß-Bild eine Gruppe junger Frauen: ein paar große Blondhaarige stechen aus der Menge heraus: "Meine Mutter und meine Tante sind im Februar 1946 aus dem belgischen Kongo nach Caldas zurückgekehrt. Und dort trafen sie auf diese Gruppe von Deutschen, die zum Teil in einer Pension untergebracht waren, die meiner Familie gehörte. Meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt 22 Jahre alt, meine Tante 24, und die gleichaltrigen jungen deutschen Frauen wurden bald sehr gute Freunde." Schon nach kurzer Zeit in der portugiesischen Provinz scheint es für die Deutschen keine Sprachprobleme gegeben zu haben. Margarida Ramalho hat dafür eine Erklärung gefunden: "Die Deutschen scheinen Teil desdiplomatischen Korps in Argentinien gewesen zu sein. Argentinien war neutral, sympathisierte aber lange Zeit mit den Nazis. Erst kurz vor dem Kriegsende erklärte das Land, auch auf Druck der Alliierten, Nazideutschland den Krieg. Damit mussten die deutschen Diplomaten wohl das Land verlassen, aber auf offenem Meer kapitulierten die Nazis und die Deutschen wussten wohl nicht mehr, wohin sie fahren sollten." Auf den alten Familienfotos von João Rato sieht man junge Frauen, Kinder, ältere Damen. Aber keine Männer. Das deckt sich mit den Rechnungsbelegen, die Margarida Ramalho im Archiv gefunden hat. Wo waren also die deutschen Männer, fragte sich die Historikerin? Festgenommen und in britische Kriegsgefangenenlagern überführt? Und warum bezahlt dann die portugiesische Geheimpolizei einen über dreijährigen Aufenthalt ihrer Familien in Portugal? Ramalho folgt einer anderen Spur. "Eine Zeugin, die Mutter einer bekannten portugiesischen Historikerin, die auch aus Caldas stammte und mit Joãos Mutter und Tante befreundet war, diese Zeugin also erzählt, dass die deutschen Männer zunächst in Lissabon gefangen wurden, ihnen aber dann mit der Hilfe der portugiesischen Geheimpolizei die Flucht gelang und sie mit einem Schiff hier aus der Bucht in Cascais aufgebrochen sind. Vielleicht ist das nicht viel mehr als nur ein Gerücht, aber es könnte durchaus möglich gewesen sein." Anfang 1949 war der Traum vom unbeschwerten Leben in der portugiesischen Provinz für die deutschen Frauen und Kinder vorbei. In einer Karte an João Ratos Mutter schreibt eine deutsche Freundin aus Lissabon: "Am 30. Dezember waren wir bei der Polizei, um Rechnungen zu begleichen. Sie sagten uns, dass es von nun an kein Geld mehr geben würde. Wir sind von Konsulat zu Konsulat gegangen, aber haben nichts erreicht. Und die Schiffe, die in Lissabon andocken, sind alle ausgebucht." Die Frauen und Kinder kehrten später doch noch nach Buenos Aires oder Deutschland zurück. Von den Männer fehlt bis heute jede Spur. Literatur 3 Nach dem Kriege ging ich nach Europa zurück. Es machte einige Schwierigkeiten, meine Identität zu etablieren - denn zur selben Zeit gab es Hunderte von Herrenmenschen in Deutschland, die die ihre zu verlieren suchten. Den Pass der beiden Schwarz schenkte ich einem Russen, der über die Grenze geflohen war - eine neue Welle von Emigranten hatte begonnen, sich zu formen. Weiß Gott, wo er inzwischen geblieben ist! Von Schwarz habe ich nie wieder etwas gehört. Ich fuhr sogar einmal nach Osnabrück und fragte nach ihm, obschon ich seinen wirklichen Namen vergessen hatte. Aber die Stadt war verwüstet, niemand wusste etwas von ihm, und niemand interessierte sich dafür. Auf dem Weg zurück zum Bahnhof glaubte ich, ihn zu erkennen. Ich lief ihm nach; aber es war ein verheirateter Postsekretär, der mir erzählte, dass, er Jansen hieße und drei Kinder habe. 5. Moderation: Santini - Eis für exilierte Könige Der Hafen von Lissabon war für viele europäische Flüchtlinge das Tor zur Freiheit, doch für den europäischen Hochadel wurde das neutrale Portugal im zweiten Weltkrieg zur Heimat auf Zeit. Obwohl Portugal seit 1910 keine Monarchie mehr war lebten hier Königsfamilien aus Italien, Rumänien, Ungarn und Spanien. Sie richteten sich in ihrem Exil an der sogenannten portugiesischen Riviera ein zwischen Cascais, Sintra und Estoril, Die Monarchen am Meer waren dem Bombenhagel, dem Hunger und Elend in ihrer Heimat entkommen. Atmo: kurz hoch kommen lassen und als Zäsur stehen lasse Im Schlepptau des italienischen Königs kam auch der bürgerliche Santini nach Portugal. Seine italienische Eisdiele in Estoril wurde eine Art Exilsalon für den europäischen Adel in Portugal. Die blaublütigen Gäste sind Vergangenheit, aber die Familie Santini macht noch heute das beste Speiseeis Portugals - mit einem königlichen Rezept, geadelt nur durch seinen exquisiten Geschmack: 5. Reportage: Santini - Eis für exilierte Könige Die Eisdiele Santini in dem kleinen Küstenstädtchen Carcavelos, rund 10 Kilometer westlich von Lissabon, könnte auch als Kulisse für ein Designmagazin dienen. Alles ist rot oder weiß: Gestreifte Kunstledersofas und Plastiktische, die Uniformen der Bediensteten und die Theke mit den Dutzenden eingelassenen Kühlfächern. Früher war das noch ganz anders, erzählt Isabel Santini, die an einem der runden Tisch Platz genommen hat. Ihr Vater hielt nicht viel von Marketing oder Gewinnprognosen, erzählt die 64-jährige mit den orange gefärbten Haaren: Er lebte in den Tag hinein. Bevor Attilio Santini in den 40er Jahren seine Eisdiele in einem alten Steinhaus direkt am Strand des mondänen Badeortes Estoril eröffnete, war er bereits ein weitgereister Weltbürger: "Mein Vater verließ sein Elternhaus in Italien schon sehr früh, lebte eine Zeit in Frankreich, dann in Polen, er ging zum Wehrdienst zurück nach Italien, spielte später Fußball beim französischen Verein FC Nantes und kam schließlich nach Spanien, wo er in Valencia eine Eisdiele eröffnete und meine Mutter kennenlernte. Doch im Zweiten Weltkrieg war es schwierig, sich als Eismacher in Spanien über Wasser zu halten. Alles war rationiert, vor allem der Zucker. Da kam eines Tages der portugiesische Konsul in die Eisdiele und sagte: "Hey, Santini, komm doch zu uns nach Portugal. Wir Portugiesen lieben süße Speisen!" Und außerdem war in Portugal wenig vom Krieg zu spüren, auch weil es hier wegen dem Handel mit den Kolonien fast alles gab." Attilio Santini brachte ein Stück Italien an die Sonnenküste Portugals. Italienische Musik und natürlich das frische Fruchteis. Die Eisdiele in Estoril wurde bald auch zum Treffpunkt des europäischen Hochadels, die in den 40er Jahren ins portugiesische Exil geflohen war. "Das spanische Königshaus lebte in der Nähe in Estoril, und die Frauen und Kinder gingen gerne zum Strand. Und weil mein Vater ein so weltoffener, lustiger Typ war, kamen sie alle in die Eisdiele. Prinzessin Margarita zog sich bei uns immer um, und dann war da noch Prinz Alfonso, der jüngere Bruder des späteren Königs Juan Carlos. Alfonso war ein echter Lausbub. Mit zwölf, dreizehn Jahren kam er in die Eisdiele und sagte zu meinem Vater: "Attilio, dein Auto steht in der Sonne. Gib mir die Schlüssel, ich fahre es in den Schatten." Mein Vater wollte ihn eigentlich keine Runden drehen lassen, aber was sollte er machen. Später kam Alfonso dann bei einem tragischen Unfall hier in Estoril ums Leben. Er hatte mit seinem Bruder Juan Carlos mit Pistolen hantiert, und dann löste sich ein Schuss und er war tot. Mein Vater ging zur Beerdigung, und Alfonsos Vater, Don Juan de Borbón, nahm ihn in seine Arme, drückte ihn und sagte: "Mein Sohn war immer so gerne bei dir in der Eisdiele." Bald war Attilio Santini so bekannt, dass sich ein wahrer Mythos um ihn und seinen angeblichen Reichtum rankte. Er sei ein richtiger Spaßvogel gewesen, erinnert sich Isabel, und habe nichts dagegen getan, den Leuten ihre Fantasie zu nehmen. Und so dachten viele seiner Kunden, dass Santini im Winter als Skilehrer in den Alpen arbeitetet, immer montags Languste essen würde und ein Schiff gekauft hätte, um ein exklusives Restaurant zu eröffnen. Doch aus seinem Ruhm konnte er kein Kapital schlagen. Er blieb ein Genießer und Tagträumer. Zwischenzeitlich musste er seine Eisdiele sogar schließen. Erst vor ein paar Jahren hat das Familienunternehmen einen befreundeten Unternehmer als Investor mit ins Boot geholt. Und mit dem Geld kamen neue Eisdielen in Lissabon und Porto und eine moderne Eisfabrik hinzu. Carlos Arrepia, ein junger Mitarbeiter, führt durch die Produktionsstätte: Weiße Wände, polierter Edelstahl, moderne Kühlanlagen - die drei Jahre alte Eisfabrik ist nicht unbedingt ein visueller Leckerbissen. Aber überall riecht es nach frischen Früchten. Manga, Clementinen, die ersten portugiesischen Erdbeeren. In einem Raum werden sie gewaschen, geschält und geschnitten, im nächsten in riesige Messbechern abgefüllt, bevor sie nur mit Zucker vermischt zu einer kalten Masse geschlagen werden. Isabel Santini hat die Geschäftsführung des Familienbetriebs vor Jahren an ihren Sohn abgegeben. Sie läuft immer noch etwas ungläubig durch die sterilen Räume der Fabrik, in der mittlerweile über 20 Beschäftigte arbeiten. Jahrzehntelang haben sie und ihr Mann selbst das Eis gemacht, aber damals gab es nur eine Eisdiele. Die Herstellung des Santini-Eis mag zwar mittlerweile ein hochproduktiver Prozess sein, sagt sie, doch die Zutaten für einen unwiderstehlichen Eisgenuss bleiben unverändert. "Mein Vater wollte immer nur die allerbesten Früchte. Der Preis war ihm egal. Er rief seine Obsthändlerin an und sagte: "Ich will nur die dicksten Pfirsiche aus Alcobaça." Die waren sehr teuer und eigentlich kamen sie nur als Nachtisch in den besten Restaurants auf den Tisch. Mein Vater hätte ja auch die schrumpeligen, kleinen Pfirsiche nehmen können, aber nein: Er wollte nur das Beste für sein Eis." Den Ansprüchen seiner Kunden konnte Attilio Santini immer gerecht werden; doch weil er kein knallharter Geschäftsmann war, litt die Familie häufig runter finanziellen Problemen. Von den Königen kam selbst dann keine Hilfe, wenn es der Familie richtig schlecht ging, erzählt Isabel Santini mit bitterem Unterton in der Stimme. Es seien die armen, einfachen Portugiesen gewesen, die ihrem Vater das Geld geliehen haben, um über den Winter zu kommen: Ein Gärtner, eine Hausangestellte, ein Busfahrer. Zurück in der Eisdiele fällt Isabel Santini aber doch noch eine Geschichte ein von dem besonderen Verhältnis zwischen ihrem Vater und den exilierten Königen. Sie zeigt auf ein Plakat, das die rot-weißen Wände schmückt: Anfang der 1950er Jahre erschien eine Ausgabe des Mailänder Lifestyle-Magazins Epoca mit der 9-jährigen italienischen Königstochter Maria Beatriz auf dem Cover - und vor ihr ein Becher Santini-Eis. "In der Zeitschrift war ein Artikel, der beschrieb, wie das italienische Königshaus im Exil in Portugal lebte, und auch unsere Eisdiele Santini wurde erwähnt. Meine Großmutter war zu jener Zeit schon in einem Altenheim in Italien und las zufällig die Zeitschrift. Sie hatte von ihrem Sohn Attilio seit 22 Jahren nicht mehr gehört und dachte er sei tot. Schließlich lag ja ein Weltkrieg dazwischen. Eine Pflegerin schrieb nun meinem Vater und fragte, ob er der Sohn von jener Frau Maria in dem Altenheim sei. Und mein Vater antwortete: Ja, das bin ich. Für meine Großmutter muss es ein unbeschreiblicher Moment gewesen sein, als sie erfuhr, dass ihr Sohn doch noch am Leben war. Solche Geschichte sieht man doch sonst nur in billigen Fernsehserien, oder? " Abmoderation: Gesichter Europas: Fluchtpunkt Lissabon - Exil im Portugal der 40ger Jahre Mit Reportagen von Tilo Wagner Musik und Regie: Babette Michel Ton und Technik: Hendrik Manok und Kiwi Hornung Die Literaturauszüge las Thomas Balou Martin Redaktion und Moderation: Britta Fecke. 2