COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Zeitreisen 13. 11. 2013 Schafft den Nationalstaat ab! Wie Weltkriegspilot Garry Davis nach 1945 die Weltbürgerbewegung erfand Von Gabi Schlag und Benno Wenz O-Ton 1 Garry Davis I went to the UN ... and I said: I'm your first citizen. And the UN said, wait a minute, something is wrong here. We don't have citizens. We only have states. I said: Yes, I'm your first citizen, because I'm a world citizen and this is international territory ... And that went around the world, I was the only story for about seven days, seven thousand journalists were on my back. I became world famous. Erzähler Vor den Vereinten Nationen erklärte er, er sei ihr erster Bürger. Worauf die Vereinten Nationen feststellten, dass sie keine Bürger hätten, nur Staaten. Davis aber beharrte darauf, Weltbürger zu sein - und begann mit diesem Aufsehen erregenden Auftritt kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges seinen Kampf gegen die Nationalstaaten, die nach seiner Ansicht die Welt nur in den Abgrund des Krieges führen würden. O-Ton 2 Wolfgang Kraushaar Greenpeace, Attac, Occupy-Bewegung und Amnesty International, das sind eigentlich alles Organisationen, die sich auch berufen könnten auf Garry Davis. O- Ton 3 Harald Welzer (Internetplattform Futur II): Heute geht es, weil Besorgnisse über die Zukunft und gleichzeitig Bereitschaften, anders zu handeln, tatsächlich durch alle gesellschaftlichen Gruppen durchgehen, und genau dort kann man auch ansetzen. O-Ton 4 Wolfgang Kraushaar Garry Davis, der Weltbürger Nummer Eins, personifiziert so etwas wie einen globalen, transnationalen Ansatz. Erzähler Die Herausforderung des Politischen besteht heute darin, dass immer mehr Bereiche der gesellschaftlichen Wirklichkeit weit über den einzelnen Staat hinausgreifen. Die Demokratie ist jedoch seit ihrer Entstehung an den Staat gebunden, der Wille des Staatsvolks ist der legitimierende Grund des politischen Handelns; daher gerät unter den Bedingungen der Globalisierung die Demokratie in Gefahr, weil keines Volkes Wille mehr ausreicht, um die politische Entwicklung zu steuern. Will man deshalb die Demokratie nicht aufgeben, bedarf es einer Transformation des Staates. O- Ton 5 Fritjof Finkbeiner Die Politik ist legitimiert durch die Wähler, legitimiert für die Nation, soll da das Beste machen für die Bürger. Jetzt sind die Herausforderungen, vor denen wir als Menschheit stehen, global, und damit ist das Primat der Politik auf der globalen Ebene verlorengegangen. Erzähler Fritjof Finkbeiner ist Mitglied des Club of Rome und Stifter der Global Marshall Plan Foundation. Fritjof Finkbeiner hat eine `Stiftung für den Weltvertrag´ ins Leben gerufen. In diesem Vertrag sollen die Spielregeln für eine gerechtere Welt festlegt werden. Für eine Welt, in der sich die Menschen als Weltbürger fühlen und nicht mehr nur für ihr eigenes Land einstehen. Prof. Dieter Rucht ist Protestforscher am Institut für Protest- und Bewegungsforschung in Berlin. O- Ton 6 Dieter Rucht Es gibt immer mehr Leute, die sich um solche transnationalen oder globalen Probleme kümmern. Wo Leute eben nicht die Verantwortung nur delegieren an die gewählten Politikerinnen und Politiker und sagen: entweder, das ist meine Verantwortung als Bürger, als Bürgerin, oder aber die Regierungen kriegen das gar nicht richtig auf die Reihe, entweder sie können es nicht oder sie wollen es nicht, sie werden von Lobbyisten belagert, die ganz andere Ziele verfolgen, das heißt, man muss die Dinge entweder selber in die Hand nehmen, und-oder man muss Druck auf die Regierenden ausüben. Erzähler Das hat schon einmal ein Mann getan. Er hat eine weltweite Bewegung gegründet: Sie druckte Weltbürgerpässe, setzte sich für eine Weltbürgerbewegung ein, und wurde von Menschen wie Albert Einstein, Albert Camus, Jean Paul Sartre, André Breton, Albert Schweitzer, André Gide und vielen anderen Prominenten unterstützt und von hunderttausenden Bürgern getragen: die Weltbürgerbewegung, angeführt vom "Weltbürger Nummer eins": Garry Davis. Musik und Straßenatmo Erzähler Paris 1948. Musik und Straßenatmo Erzähler Europa liegt noch in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs. Der US-Amerikaner Garry Davis ist 27 Jahre alt, er hat als Bomberpilot im 2. Weltkrieg viele Einsätze geflogen. Hunderte von Zivilisten sind ums Leben gekommen. Jetzt droht er an seinen Schuldgefühlen zu zerbrechen und würde alles dafür tun, dass es niemals mehr einen solchen Krieg geben wird. Und er glaubt zu wissen, was die Ursache für den Krieg, sozusagen die Wurzel allen Übels ist: der Nationalstaat. Er entwickelt eine politische, weltföderalistische Idee. Regie: Bei den englischen Zitaten kommt es auf die deutsche Übersetzung an. Denkbar ist, einen ersten Satz in Englisch zu zitieren und dann mit der deutschen Übersetzung anzufangen. Wenn das nicht gut klingt, sollte nur die deutsche Übersetzung gesprochen werden. Zitator "Eines meiner Hauptziele bestand darin, zu demonstrieren, dass der Nationalstaat gar nicht umgestürzt werden muss. Wenn es mir nur gelänge, ohne Dokumente zu überleben, Grenzen ohne Pass zu überschreiten, und mich als freies menschliches Wesen zu bewegen, ohne von irgendeinem nationalen Berechtigungsnachweis zu profitieren, hätte ich den Nationalismus selber mitten ins Herz getroffen." "One of the chief objects ( ... ) was to demonstrate that the nation-state need not be overthrown. ( ... ) If I could show that it was possible for me to survive in the world without papers, cross frontiers without a passport and conduct myself as a free human being without benefit of any national credentials, I would be striking a blow at the very heart of nationalism itself." Erzähler Als die UNO in Paris tagt, hält Garry Davis seine Chance für gekommen: er stürmt das UN Gebäude. Stefan Mögle Stadel ist ehrenamtliches Vorstandsmitglied der World Citizen Foundation, einer 1998 gegründeten Stiftung mit Hauptsitz in New York, die sich für kosmopolitische Ideen einsetzt. Er hat Garry Davis persönlich gekannt und erinnert sich: O-Ton 7 Stefan Mögle-Stadel Sie müssen sich die Situation 1948 vorstellen. Die UNO tagt in Paris, weil das Gebäude in New York noch nicht fertig gestellt war. Es ging in dem Jahr 1948 um das Thema Menschenrechte ( ... ) und man war geneigt dieses Papier wieder in der Schublade verschwinden zu lassen. Jetzt kam da ein junger Mann, gibt seine US Staatsbürgerschaft auf, stellt sich vor der Journalistenmenge auf, die sich versammelt hat und wartet. Die Pressefotografen sind da. Dann zückt er seinen US- Reisepass und zündet den in aller Seelenruhe vor laufenden Kameras und versammelter Presse an und sagt: "Sorry, es kann nicht mehr so weiter gehen wie bisher. Ich erkläre mich hiermit zum staatenlosen Weltbürger". Erzähler Die UNO-Idee sei ja schön und gut, sagt Garry Davis vor den UN Abgeordneten - aber sie gehe nicht weit genug. Letztlich würden da wieder nur "nationalstaatliche Partikularinteressen" abgeglichen. Nötig sei aber ein richtiges Weltparlament, das die Freiheit und Souveränität jedes Einzelnen schütze, egal, wo er oder sie lebe, und vor allem: unabhängig vom "scharfen ökonomischen Wettbewerb", der zwischen den Nationalstaaten ungebrochen weitertobe. evtl. Atmo unterlegen: neutrale Radiosounds, TV Sounds, Redaktionssounds, die assoziativ vermitteln, dass wir uns in Redaktionsbüros befinden, kann man auch weglassen (stehen unter Autorin - Schlag - im V-Speicher Die Medien überschlagen sich: Garry Davis trifft mitten ins Herz des allgemeinen Gefühls der Kriegsmüdigkeit und dem Wunsch, nie mehr Kriegsgräuel erleben zu müssen. Garry Davis erscheint auf den Titelseiten internationaler Magazine. Der New Yorker schreibt: Zitator "Mr. Davis ist im Gleichschritt mit dem Universum. Wir anderen marschieren im Takt einer kaputten Trommel." "Mr. Davis is in step with the universe. The rest of us march to a broken drum." Erzähler Das Time Magazine revidiert seine frühere Charakterisierung als "Verrückten" und kennzeichnet den - ehemaligen - Amerikaner nun als einen Menschen Zitator "von klugem Verstand, der seine Kollegen der französischen Intelligenz permanent überrascht". Erzähler Die Weltbürgerbewegung des Garry Davis ist eine Reaktion auf den radikalen Nationalismus der zurückliegenden Jahrzehnte. O- Ton 8 Martin Kirsch, Historiker Deswegen gibt es eine deutliche Gegenbewegung zu sagen, wir müssen mit dem Nationalismus komplett abschließen und wollen etwas ganz anderes. Es ist die Vorstellung, dass sich Menschen, nachdem sich Staaten so stark bekriegt haben, dafür einsetzen müssen, diese nationalen Grenzen zu überwinden. Erzähler Sagt Prof. Martin Kirsch, Historiker an der HU Berlin, Schwerpunkt transnationale Biografien und Weltgeschichtsschreibung im 20. Jahrhundert. Der Zweite Weltkrieg hat über 60 Millionen Menschen das Leben gekostet. Jetzt soll eine weltweite Gemeinschaft von Nationen geschaffen werden, die durch Kooperation und mit den Mitteln der Diplomatie ihre Politik gestaltet. Am 25. Juni 1945 treffen sich in San Franzisco 50 Staaten und gründen die Vereinten Nationen. Wolfgang Kraushaar ist Politikwissenschaftler und arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung. O-Ton 9 Wolfgang Kraushaar Die Vereinten Nationen sind 1945 gegründet worden, ( ... ) um daraus Konsequenzen zu ziehen, und Garry Davis hat die Weltbürgerbewegung 1948 gegründet, auch um Konsequenzen aus dem Krieg zu ziehen, und insofern war das ganz naheliegend, dass er sich bezog auf diese Einrichtung "Vereinte Nationen", denn Weltbürgertum und Vereinte Nationen korrespondiert natürlich vom Ideengehalt bis zu einem gewissen Grad, und er hat natürlich eine scharfe Kritik auch an den Vereinten Nationen gehabt, denn er wollte ja die Nationalstaaten abschaffen, aber er hat auch gesehen, dass das auf jeden Fall ein Ansatz ist, der in eine ähnliche Richtung geht. Erzähler Das Ziel der Vereinten Nationen ist es, die Menschheit "vor der Geißel des Krieges zu bewahren". Genau dasselbe Anliegen hat Garry Davis und teilt dieses mit vielen Hunderttausend Menschen, die den Terror des Zweiten Weltkrieges gerade hinter sich haben. Tausende schreiben ihm Briefe, die sie mit "Weltbürger Garry Davis, Palais de Chaillot, Paris" adressieren. Die Pariser Bevölkerung versorgt ihn mit Käse und Rotwein. O-Ton 10 Stefan Mögle Stadel Garry Davis bot den Menschen einen Ausweg, was neu war, wir mischen uns ein. Wir lassen nicht die Politiker, nicht die Regierungschefs und Diplomaten hinter verschlossenen Türen bereden. Nein, wir sind als Bürger der Souverän und jetzt melden wir uns zu Wort. Das war ein Gedanke, eine Grenzüberschreitung, die damals viele Intellektuelle fasziniert hat. Durch die einzelne Aktion eines Mannes entstand die Idee, ja, wir können was tun. Wir definieren uns selber als Bürger dieser Welt und in dem Wort Bürger steckt auch das Wort Bürge, das heißt wir bürgen für die Welt, wir übernehmen eine Weltbürgerschaft, eine Bürgschaft und lassen nicht mehr wie bislang in der Weltgeschichte eher die Diplomaten, die Politiker, die Regenten die Sache unter sich ausmachen, sondern jetzt mischen wir uns als Bürger dieser Welt, als Weltbürger, ein. Das hat damals einen ungeheuren Auftrieb vielen gegeben. Erzähler Zumal die UNO ein Problem hat: schon kurz nach ihrer Gründung droht sie zum Papiertiger zu verkommen - vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts. Während die westlichen Staaten ausschließlich politische und bürgerliche Freiheitsrechte in die Erklärung aufnehmen wollen, bestehen die Sowjetunion und andere sozialistische Staaten auf demselben Stellenwert wirtschaftlicher und sozialer Rechte. Nach fast zweijährigen Debatten spüren die Mitglieder der Menschenrechtskommission, dass sie nicht mehr viel Zeit haben, ihr Projekt durch die UN-Vollversammlung zu bringen, die 1948 im Palais de Chaillot in Paris tagt. Der Ost-West-Konflikt ist zum Kalten Krieg eskaliert. O-Ton 11 Werner Kraushaar Ich glaube, dass Garry Davis sehr enttäuscht gewesen ist vom Unvermögen der Vereinten Nationen, stärker Einfluss zu nehmen nach dem Ausbruch von militärischen Konflikten, insbesondere was die wechselseitige, die gegenseitige Blockade im UN-Sicherheitsrat anbetrifft, ich vermute, dass ihn das beinahe in den Wahnsinn getrieben hätte, weil er natürlich gesehen hat, dass das eine supranationale Organisation ist, die machtpolitisch weitgehend kastriert ist. Erzähler Am 19. November 1948 entschließen sich Davis und seine Unterstützer, die "Operation Oran" zu starten. Der Plan: Davis und andere Weltbürger sollen in die teilweise öffentliche Generalversammlung der UNO eingeschleust werden. Dort soll Davis dann in einem entscheidenden Augenblick den Balkon überspringen und vor den Delegierten und TV-Kameras eine einminütige Erklärung zugunsten einer Weltregierung abgeben. Garry Davis stellt sich ans Rednerpult und beginnt eine Rede "im Namen des Weltvolks, das hier nicht vertreten ist". Atmo UN Versammlung, unterlegen Zitator "Ich unterbreche hiermit im Namen des Weltvolkes, welches hier nicht vertreten vier. Obwohl meine Worte wahrscheinlich auf taube Ohren stoßen, kann unser gemeinsames Bedürfnis nach einem Welt-Recht und -Gesetz nicht länger unberücksichtigt bleiben. Wir, das Volk, wollen den Frieden, den nur eine Weltregierung geben kann. Die Nationalstaaten, die Sie vertreten, scheiden uns voneinander und führen uns in den Abgrund des totalen Krieges. Ich fordere Sie auf, uns nicht länger mit dieser Illusion politischer Autorität zu betrügen. Ich fordere Sie auf, unverzüglich eine konstituierende Welt- Versammlung einzuberufen, um das Niveau zu heben, um das herum sich alle Menschen versammeln können, das Niveau wahren Friedens, das Niveau der einen Regierung für die eine Welt." I interrupt you in the name of the people of the world not represented here. Though my words may be unheeded, our common need for world law and order can no longer be disregarded. We, the people, want the peace which only a world government can give. The sovereign states you represent divide us and lead us to the abyss of Total War. I call upon you no longer to deceive us by this illusion of political authority. I call upon you to convene forthwith a World Constituent Assembly to raise the standard around which all men can gather, the standard of true peace, of One Government for One World. Erzähler Davis wird gewaltsam aus dem Saal gebracht, zeitgleich aber geben seine Freunde Robert Sarrazac und Albert Camus eine Pressekonferenz in einem gegenüberliegenden Sitzungssaal. Die Augen der Weltöffentlichkeit sind auf sie gerichtet und die Sympathien ebenfalls. Die Prominenten stellen sich hinter Garry Davis. Albert Camus, André Breton, Albert Schweitzer, Albert Einstein und viele andere. Garry Davis ist ein Star. Er ziert die Titelseiten des Time Magazine, des New Yorker Chronicle und der deutschen Wochenzeitschrift Spiegel. Er bekommt Zuspruch und Bestätigung aus aller Welt und beginnt Weltbürgerpässe zu entwerfen. Kleine blaue Dokumentenbüchlein, auf deren Vorderseiten die Weltkugel gedruckt ist, darunter die Worte "World Passport", gedruckt in fünf Sprachen. O- Ton 12 Mögle Stadel Garry Davis und die Weltbürger, wie Albert Camus, verstanden den nationalen Pass auch wie so eine Art Besitzurkunde des Nationalstaates an seinen Bürgern oder Untertanen. Das wollte man durchbrechen, diese Art von Denken oder Funktionsweise. Infolgedessen hat Garry Davis einen eigenen Weltbürgerpass kreiert, um damit wirklich auch zu dokumentieren, ja, ich habe nicht nur bewusstseinsmäßig den Nationalismus hinter mir gelassen, sondern ich habe auch im täglichen Leben, in der Reisetätigkeit, in der Ausweispflicht den Nationalstaat relativiert und hinter mir gelassen. Erzähler Zwischen 1948 und 1950 lassen sich mehr als 750.000 Menschen aus 150 Ländern als Weltbürger registrieren. 300 Städte in Frankreich und den Vereinigten Staaten erklären sich zu Weltbürgergemeinden. Die Weltbürgerbewegung mobilisiert zehntausende Bürger von Paris. Im Pariser Konzertsaal Salle Pleyel erscheinen über 3.000 Menschen zu einem Weltbürgertreffen, über 2.000 weitere Weltbürger finden keinen Einlass mehr. Das Ziel all dieser Menschen ist es, die Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte durch die UNO zu forcieren. Und es werden immer mehr: Am Tag vor der UN-Beschlussfassung am 9. Dezember 1948 füllt Garry Davis das Pariser Velodrome d'Hiver. Atmo Garry Davis Velodrome d'Hiver O-Ton 13 Mögle Stadel Etwa 25.000 Menschen versammelten sich in der Pferderennstadion, um Davis zu lauschen und auch den Mitgliedern des Solidaritätsrates der Weltbürger. Mittlerweile hat durch die Besetzungsaktion die Weltbürgerbewegung so gute Weltpresse bekommen und zehntausende Menschen wechselten sich ab und haben das UNO Gelände in Paris damals belagert, sodass die Diplomaten kaum noch rein und raus kamen und das hat letztendlich dazu geführt, dass man sich gezwungen sah, sich ein Feigenblatt zuzulegen und tatsächlich dann am 10. Dezember 1948 wurde diese allgemeine Erklärung der Menschenrechte doch noch verabschiedet, was so nicht geplant war von den Regierungen. Erzähler Am 10. Dezember 1948 wird auf der UN-Generalversammlung die gemeinsame Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte proklamiert, die ohne Gegenstimmen angenommen wurde. Inwieweit das Drängen der Weltbürgerbewegung reale Wirkung gezeigt hat oder ob dies eher ein Mythos der World Citizen Bewegung ist- sei dahingestellt. Wahr ist, dass die Weltbürgerbewegung weltweit Zulauf erhält. In den Jahren 1948-51 lassen sich mehrere Hunderttausend Menschen verschiedenster Nationen als Weltbürger registrieren. Musik Star Spangled Banner 1950 kehrt Garry Davis als Immigrant in die USA zurück. Er heiratet, arbeitet in seinem Beruf als Schauspieler, wird Vater. Doch seine Bemühungen um eine Weltregierung sind nach wie vor das Wichtigste in seinem Leben. Am 4. September 1953 ruft Davis in Ellsworth, Maine, die Weltregierung aus. Zitator Hier in dieser Stadthalle (in diesem Rathaus) in Ellsworth, Maine, in den souveränen Staaten von Amerika, existiere ich, ein Weltbürger, in einer Weltanarchie. Einen solchen Zustand kann ich nicht länger hinnehmen. Kraft der Autorität, die mir als Welt- Souverän zusteht, ist es mein Recht und meine Pflicht gegenüber mir und der Menschheit, hiermit eine Weltregierung für mich auszurufen. Here in this Town Hall in Ellsworth, Maine, in the sovereign United States of America, I, a world citizen, exist in a world anarchy. I am no longer able to tolerate such a condition. By the authority vested in me as a world sovereign, it is my duty and my responsibility to myself and to my humanity to hereby proclaim for myself a world government Erzähler 1954 gründet er die "World Service Authority" (WSA), die zentrale Anlaufstelle zur Ausstellung von Weltbürgerpässen. 1956 reist Davis mit seinem selbstausgestellten Weltpass auf Einladung eines Gurus nach Indien. Die indischen Behörden akzeptieren den Weltpass und lassen ihn einreisen. Weniger Glück hat er ein Jahr später, als er nach Westdeutschland einreisen will. Der Westdeutsche Rundfunk berichtet 1957: "Hannovers Gerichtsgefängnis, dass im Jahr 13 bis 14.000 Gefangenen Unterkunft gewährt, beherbergt seit Anfang dieser Woche einen prominenten Gast. Den 36 Jahre alten ehemaligen amerikanischen Bomberpiloten Garry Davis, der 1948 vor dem Palais Chaillot seine aufsehenerregende und hoffnungsvolle Laufbahn als Weltbürger Nr. 1 begann. Vor dem Gefängnis stehen seine deutschen Anhänger und verlangen, zu ihm gelassen zu werden, um ihm Blumen, Kuchen und Zigaretten zu überreichen. Drinnen sitzt Garry und wartet auf ein Antwortschreiben des deutschen Bundeskanzlers, den er vor seiner Abreise davon unterrichtete, dass er die Absicht habe, in die BRD zu übersiedeln, um hier der Weltbürgerorganisation zu neuem Ansehen und besserer Wirksamkeit zu verhelfen. Das war auch der Inhalt eines Gesprächs, dass wir gerade noch vor seiner Festnahme mit ihm führen konnten." Yes, I do wanna stay here. I wanna stay in Germany for many reasons. I wanna work in Germany. Why do I wanna come to Germany? Because right from the beginning in 1948 I realized, that first of all Germany represents a very important geographically position in the world of today. Ja, ich möchte hier leben. Ich möchte in Deutschland aus vielen Gründen leben und arbeiten. Warum gerade Deutschland? Weil ich seit 1948 von Anfang an gemerkt habe, dass Deutschland zunächst mal eine sehr wichtige geographische Position in der heutigen Welt einnimmt. Erzähler Einige Länder akzeptieren seinen Weltpass, in anderen kommt es zu diplomatischen Verwicklungen. Garry Davis landet immer wieder im Gefängnis und wird abgeschoben. 1961 verlässt Davis die USA und geht nach Frankreich. O-Ton 15 Stephan Mögle Stadel Dann schmolz in den 50er, 60er, 70er-Jahren die Bewegung deutlich ab, ( ... )durch den Kalten Krieg, das Wirtschaftswunder, wo viele sich darauf verlagert haben, dann eine neue Karriere aufzubauen, wo auch das Weltbürgertum vom Kommunismus als imperialistischer Agent bezeichnet wurde, während es vom Kapitalismus als kommunistischer Agent bezeichnet wurde und die Weltbürger sich plötzlich zwischen allen Stühlen wieder fanden. Für viele eine durchaus unangenehme Erfahrung. Da hat die Weltbürgerbewegung doch dann in der Masse rasant abgenommen. Erzähler 1950 bricht der Koreakrieg aus, die Welt ist gespalten - da kann man nur etwas erreichen, wenn man sich den großen politischen Strömungen anschließt. Jean Paul Sartre beschimpft Garry Davis 1952 auf einer Tagung der Weltfriedensbewegung in Moskau als hoffnungslos idealistisch und völlig unpolitisch und deshalb völlig ineffizient. Die neuen Friedensbewegungen der 50er und 60er-Jahre entstehen nicht auf der Basis der - vergleichsweise abstrakten - Weltbürgeridee, sondern als Reaktion auf konkrete Bedrohungen und Kriege: Atomrüstung, Vietnamkrieg. O-Ton 16 Kraushaar Und in den 70er-Jahren folgten dann natürlich die großen Umweltthemen, insbesondere das Thema Atomkraftwerke, Nuklearenergie, die Entstehung von Anti- AKW-Bewegungen.( ... .) Erzähler 1974 gründet Garry Davis in Mülhausen im Elsass den Weltgerichtshof der Menschenrechte. In den vergangenen Jahren ist er häufig wegen illegaler Grenzübertritte und Irreführung der Öffentlichkeit verhaftet und verurteilt worden. Das Büro der World Service Authority, das er in Basel eröffnet hat, wird von den Schweizer Behörden geschlossen. Gegen Davis wird der Vorwurf der Aneignung öffentlicher Ämter erhoben. Die World Citizen Bewegung verkommt nach und nach zur Bedeutungslosigkeit und gerät in Vergessenheit, dennoch messen Wissenschaftler den Protestaktionen von Garry Davis eine große Bedeutung zu. O-Ton 17 Wolfgang Kraushaar Greenpeace, Attac, die Occupy-Bewegung und Amnesty International, das sind eigentlich alles Organisationen, die sich auch berufen könnten auf Garry Davis. Die meisten wissen gar nicht, inwiefern Garry Davis auch ein Stück weit ein Vorreiter dieser Organisationen und Bewegungen, die damit zusammenhängen, gewesen ist. Es gibt, wenn Sie so wollen, in einer diversifizierten Weise eine Fortsetzung, ohne, dass es eine unmittelbare Kontinuität gibt. Aber, wenn Sie so wollen, etwas von dem Geist von Garry Davis ist in diesen genannten Organisationen und Bewegungen und Strömungen auch heute aktiv. Erzähler Mit dem Ende der Blockkonfrontation 1989 vollzieht sich auch bei den zivilgesellschaftlichen Bewegungen ein Wandel. Nach den ideologisch aufgeladenen Gegen-Bewegungen vor 1989 heißt die Devise nun: Eine bessere Welt ist machbar. Das Internet ermöglicht einen weltweiten Gedankenaustausch, bei dem nationale Grenzen an Bedeutung verlieren. Vorwiegend junge Leute stellen fest, dass sie dieselben Sorgen und Befürchtungen haben und beginnen, Organisationen aufzubauen, die weltweit agieren. So keimt ein neues globales Verantwortungsgefühl auf, aber keine zweite Weltbürgerbewegung nach dem Vorbild von Garry Davis. O-Ton 18 Wolfgang Kraushaar Damit ist ( ... ) kein Kosmopolitismus im klassischen Sinne gemeint, kein normativer Aufruf zu einer "Welt ohne Grenzen". Vielmehr erzeugen Großrisiken eine neue nationenübergreifende Zwangsgemeinschaft, weil das Überleben aller davon abhängig ist, ob sie zu gemeinsamen Handeln zusammenfinden. Erzähler Harald Welzer hat die Internetplattform Futur II gegründet. O-Ton 19 Harald Welzer Gesellschaftliche Veränderungsprozesse kriegen Sie nur in Gang, wenn Sie in allen gesellschaftlichen Gruppen einen Anteil von Leuten haben, die bereit sind, da mitzuziehen. Es muss quer durch die Gesellschaft gehen, es muss sozusagen kultureller Bestandteil sein, dass man zum Beispiel nicht mehr fliegt, oder dass man auf eine bestimmte Art ressourcenschonend Urlaub macht, dass man sich anders ernährt. ( ... ) Heute geht es, weil Besorgnisse über die Zukunft und gleichzeitig Bereitschaften, anders zu handeln, tatsächlich durch alle gesellschaftlichen Gruppen durchgehen, und genau dort kann man auch ansetzen. Erzähler Das Gefühl individueller Ohnmacht, die die siebziger und achtziger Jahre geprägt hat, scheint überwunden. O-Ton 20 Jean Ziegler Eine andere Weltsicht entsteht langsam. Und das ist ein riesiger Fortschritt, wenn er sich inkarniert und zur materiellen, politischen, sozialen Kraft wird, die die kannibalische Weltordnung in ihren Strukturen erschüttern wird. Dieses Erwachen der Menschen führt zu einer ganz unglaublichen Vielfalt individueller oder gruppenweisen, neuen kollektiven Praktiken. Erzähler sagt der Schweizer Jean Ziegler, bis 2008 Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung. Julian Assange und Edward Snowden sind zwei Beispiele, wie sich Wahrnehmung verändert hat: Die Reaktionen auf ihre Enthüllungen zeigen, dass sie auf einer Weltbühne agieren. Weltbürgertum scheint nicht mehr nur die idealistische Idee eines Garry Davis zu sein, sondern allmählich reale Formen anzunehmen. Stefan Mögle-Stadel: O-Ton 21 Stefan Mögle Stadel Dem Julian hat er den Weltbürgerpass noch persönlich überreichen können in London. An Snowden kam er schon persönlich nicht mehr ran. Garry Davis ist ja dann jetzt im letzten Jahr 92 gewesen. Aber er hat ihn durch einen Kurier zustellen lassen auf dem internationalen Flughafen in Moskau. Weil Garry Davis und auch ich der Meinung sind, dass Menschen wie Julian Assange oder Snowden auch eine Art von neuem Weltbürgertum leben, indem sie Dinge an die Öffentlichkeit bringen, wo nationale Regierungen, nationale Geheimdienste gegen Menschenrechte, Völkerrecht, Datenschutz etc. verstoßen und wagen, als Whistleblower das publik zu machen. Erzähler Trotz alledem ist die Idee eines Weltbürgertums nach wie vor eine Utopie. Ein tiefgreifender Bewusstseinswandel ist nötig, damit die Idee Realität werden kann. O-Ton 22Stefan Mögle Stadel Wir haben jetzt in Europa einen Europäischen Menschenrechtsgerichtshof, wo man nationale Regierungen verklagen kann, und wir haben ein Weltbürgergefühl. Ein Gefühl, dass viele durch die später hinzugekommene Reisefreiheit sich jetzt als Weltbürger fühlen, man reist Rio - New York - Tokio, und zu diesem Weltbürgergefühl müsste jetzt noch eine Weltbürgerverantwortung, eine Weltbürgerverpflichtung kommen, nicht nur Reisefreiheit zu genießen oder auch Meinungsfreiheit zu genießen, sondern die auch zu verteidigen und daran mitzuwirken, dieses Weltbürgerbewusstsein zu institutionalisieren. Das geht letztendlich in die Richtung, dass wir ein Weltrecht brauchen, ein Weltparlament brauchen, nicht eine Versammlung in New York von Regierungen, die wirklich nicht die Weltbevölkerung repräsentieren, [ ... ] ein Weltbürgergefühl reicht nicht aus für die Situation, in der wir uns befinden, wir brauchen zunehmend Weltbürgertaten und weltbürgerliche Strukturen weltweit. Erzähler Der Mann, der nach dem Zweiten Weltkrieg für ein neues weltbürgerliches Denken gekämpft hat, ist in diesem Jahr gestorben, am 24. Juli 2013 im Alter von 91 Jahren in Williston im US-Bundesstaat Vermont. Nachrufe erschienen in der New York Times und der Washington Post. In Deutschland dagegen hat niemand öffentlich Notiz vom Ableben des Weltbürgers Nr. 1 genommen. 1