DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Feature Dienstag, 01.07.2008 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 - 20.00 Uhr Ein bedrückendes Gefühl der Ausgeschlossenheit - Die Ghettos von Paris Von Kurt Kreiler URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - O-Ton Nadir Dendoune En fait moi qui vit dans une cité ... . qu'on reste entre nous, dans notre cage... 1. Übersetzer Also ich, der ich in einer Siedlung lebe, muss trotzdem sagen, dass es da drin nicht mies ist, wir haben es schon ordentlich, man passt schon auf seine Sachen auf, es ist ziemlich okay. Aber wenn man in einer Siedlung lebt, kann man sagen: das ist ein Gefängnis ohne Gitter, so ungefähr. Ich denke, das ist ein psychologisches Gefängnis. Das spielt sich, glaub ich, erst einmal im Kopf ab. Man begreift es nur, wenn man da lebt. Wie in einem Käfig ohne Stäbe: Man hat Angst davor, wie die anderen einen sehen, einen anschauen - und deshalb bleibt man unter sich, im Käfig. MUSIK: Diam's (Vorspiel zu "Ma France à moi) Ansage: "Ein bedrückendes Gefühl der Ausgeschlossenheit" Die Ghettos von Paris Ein Feature von Kurt Kreiler O-Ton Fußballplatz in La Courneuve, spielende Kinder O-Ton Francoise Douzenel Y a eventuellement des jeunes ... C'est tout. Übersetzerin Sicher gibt es Jugendliche, die nicht arbeiten und unter der Hand etwas anbieten, Drogen verkaufen, klauen, Autos aufbrechen - aber die Jugend insgesamt ist nicht so! - Es gibt einige, die das machen. Das stigmatisiert die anderen. - Natürlich, wenn man einen arabischen Namen hat und nicht so leicht Arbeit findet, dann hat man kein Interesse, zur Schule zu gehen, denn egal, ob man das Abitur mit einem Durchschnitt von vier, drei oder zwei besteht, man landet in der Arbeitslosigkeit. Unsere Leute hier, ob sie weiß oder schwarz oder braun sind, kommen in Schwierigkeiten, wenn sie keine Arbeit haben. Das ist alles. Erzähler: Saint-Denis, die "Stadt der tausend Händler", nördlich von Paris gelegen, inmitten des riesigen Konglomerats der Banlieue. Innerhalb der Bannmeile von Paris war der eigene Handel vor fremden Kaufleuten geschützt. Deshalb "Banlieue": Schutzzone, Übergangsgebiet zwischen Stadt und Land. Im 19. Jahrhundert beförderten Landflucht und industrielle Revolution sowie die Entwicklung der Transport- und Kommunikationswege ihr Wachstum. Im 20. Jahrhundert wurde die Banlieue zum Anlauf-Ort von Emigranten aus allen Ländern. Vor dem Ersten Weltkrieg kamen die Elsässer und Bretonen, zwischen den Kriegen die Flüchtlinge aus Spanien, nach dem Zweiten Weltkrieg Portugiesen, Spanier, Algerier, Marokkaner, die Zuwanderer aus den französischen Kolonien: Nordafrikaner - les beurs - Afrikaner - les blacks -, Menschen aus Gouadeloupe und Martinique. Sie alle siedelten sich an zwischen alten Herrengütern und neuen Industrien, zwischen Waldungen und Erzhütten, Autofabriken und Tongruben. Es wäre verfehlt zu glauben, die Pariser Banlieue bestünde aus einer einzigen Gropiusstadt, einer Kombination aus Wohnsilos und Stadtautobahnen. Das riesige Gebiet gestaltet sich so uneinheitlich wie nur denkbar - als bühnenhafte Mixtur von Gartenstadt und Hochhauskulisse, von platanengesäumten Alleen und rostenden Eisenbahntrassen, kleinstädtischer Verträumtheit und Fabrikgelände, Eckcafé und Fußballstadion. Aubervilliers, La Courneuve, Bobigny, Le Blanc-Mesnil, Noisy-le-Sec, Clichy-sous- Bois, Montfermeil heißen die Gemeinden im Nordosten von Paris - Nanterre, Puteaux, Colombes, Clichy, Èpinay-sur-Seine die Gemeinden im Nordwesten. Dazwischen - im Norden - liegen Saint-Denis und L'Île-Saint-Denis. Atmo (REZITATION: Grand Corps Malade, Saint-Denis) J'voudrais faire un slam ... de gros clandos Übersetzung Kurt Kreiler: Ich fabrizier einen slam für eine große Madam, die ich ich kenn von klein an Ich fabrizier einen slam für sie, die mich humpeln sehn kann von früh an Ich fabrizier einen slam für die alte Madam, die mich nahm auf die Knie Ich fabrizier einen slam für die Stadt-vor-Panam, genannt Saint Denis. Nimm die Linie D der RER und irr im Straßengewirr einer Stadt mit Flair Nimm die Linie 13 der Métro und kehr ein bei MacDo oder im Bistro einer Stadt voll Gogo Atmo (REZITATION: Grand Corps Malade, Saint-Denis) Erzähler: Saint-Denis ist so alt wie Paris, eine Gründung aus dem 3. Jahrhundert. Heute eine Mischung aus französischer Provinzstadt und New York, Algier und Tel Aviv, Chartres und Seychellen. Das Häusergewirr aus Alt und Neu wird überragt von der gotischen Basilika aus dem 12. Jahrhundert, in der 46 Könige und 32 Königinnen Frankreichs beigesetzt liegen. Grand Corps Malade, eigentlich Fabien Marsaud, der junge Mann mit der Krücke, besingt seine Stadt. Atmo REZITATION: Grand Corps Malade, Saint-Denis Et à 2 pas de New-Deli ... j't'enseignerai la patience Übersetzung Kurt Kreiler: Zwei Schritte von Neu-Delhi und von Karatschí (du siehst, ich bin ein Crack in Geographie), bekommst du Maffé und Kaffee in Bamako und Yamoussoukro Oder dir ist lieber, wir gehn hinüber und essen Crèpe, wo es riecht wie in Quimper, mit einem Hauch Finistère, durchqueren Tizi-Ouzou und landen auf den Antillen, dort bei den Schwarten, die zischen "Pschit! du nich darf mit mein Tochter spillen". Atmo (REZITATION: Grand Corps Malade, Saint-Denis) Übersetzung Kurt Kreiler: Am Markt von Saint-Denis schlägst du dich durch irgendwie. Spielst den Hippen, um nicht zu flippen, doch in den Akzenten hörst du schwarze Tangenten, Catch-as-catch-can, atmest Düfte von Zen. Kauf dich schick in der Rue de la République, kauf und tritt auf im Eden der Billigläden, in der Straße der kleinen Arabreusen, der femmeusen Chicken mit den oxydierten Blicken. Atmo (REZITATION: Grand Corps Malade, Saint-Denis) O-Ton Francoise Douzenel Et puis il y a Grand Corps Malade.... quand je l'entends 1. Übersetzerin Das ist Grand Corps Malade. Er macht slam. Er hat eine wunderbare Stimme. Ein junger Mann, der einen Unfall hatte im Schwimmbad. Wäre um ein Haar querschnittgelähmt gewesen. Er macht slam, und die Leute des Viertels beteiligen sich daran. Slam, das ist gehämmerte Poesie, nicht gesungen, sondern rezitiert. Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich das höre. Erzähler Zu Besuch bei Madame Douzenel, einer rüstigen Siebzigerin, lebensfroh, offen, herzlich. Sie und ihr Mann, der vor vier Jahren verstorbene Fotograph Pierre Douzenel, haben immer kommunistisch gewählt. Dreißig Jahre hat sie im Rathaus gearbeitet. Für sie zählte vor allem die Gemeinschaft. Das Kollektiv. Seit 1971 bewohnt sie im 12. Stock der Cité La Courtille eine Dreizimmerwohnung, freundlich und ohne Brimborium eingerichtet. Dort hat sie ihre drei Kinder großgezogen. O-Ton Francoise Douzenel Le problème d'aujourd'hui ... ... les seuls Gaulois. Mais c'est vrai. Übersetzerin Das Problem von heute sind die Leute, denen es schlecht geht, die nicht das Geld haben, ihre Wohnung zu bezahlen, all das. Aber ich bleibe hier, ich gehöre hierher. Nach dem Tod meines Mannes haben meine Kinder gesagt, ich soll in die Stadt ziehen - es ist ja nicht so, als hätte man keine Probleme. Der Aufzug ist in schlechtem Zustand, der Eingang lässt zu wünschen übrig, aber wenn man in seiner Wohnung ist - ich hab das Schwimmbad gegenüber, den Park. Da ich ein Auto hab, brauch ich den Bus nicht zu nehmen. Es ist nicht so toll, den Autobus zu nehmen, es sind nicht so viele weiße Leute im Autobus - als Gallier ist man allein - wenn man von den Schwarzen spricht und den Arabern, so kann man auch von den paar Galliern sprechen. Ist doch wahr. Erzähler Aus ihren Fenster blickt Francoise Douzenel über Parkanlagen, Kleingartensiedlungen, Hospiz, Stadion und Kathedrale von Saint-Denis bis zur Stadtsilhouette von Paris mit dem Hügel von Montmartre und dem Eiffelturm. Auf dem Esstisch hat sie die Fotos ihres Mannes ausgebreitet, des Gemeindefotographen, der nach dem Krieg als Angehöriger der Armee von einem deutschen Kommunisten fotografieren lernte. Eines seiner bekanntesten Bilder entstand im Jahr 1970: Eine junge Frau, wir sehen von ihr nur Kopf und Schulter und eine schützende Hand, trägt unter einem Tuch ihr Kind im Arm, während hinter ihr Rauchwolken aufsteigen. Verbrannte Hütten sind zu sehen, schwarz aufgereckte Pfähle - und, sehr fern, ein Mann mit Helm, der zwischen den Trümmern löscht. Der Brand vom 14. Juni 1970 hatte die Hälfte der Barackenstadt Franc-Moisin in Schutt und Asche gelegt. Franc-Moisin war eines der benachbarten "Bidonvilles", der Elendsquartiere der Einwanderer. In La Courtille gab es ein Bidonville der Portugiesen. Francoise Douzenel konnte es aus ihrem Küchenfenster sehen. O-Ton Francoise Douzenel C'est là dessus ... ... c'était plus ou moins clandestin ceca. Übersetzerin Die Bidonvilles wuchsen sehr schnell mit der Ankunft der Leute, besser gesagt der Männer aus Spanien und Portugal, die auf Lastwagen hergebracht wurden, um hier zu arbeiten, und die ihre Familien nachbrachten. Das lief mehr oder weniger heimlich ab. Erzähler: Der junge Hubert Fichte hat 1966 die algerischen Bidonvilles von Nanterre und La Courneuve besucht und seine Eindrücke in einem seiner ersten Radio-Features verarbeitet: O-TON: Reportage von Hubert Fichte Es regnet. Da ist das Bidonville von der Rue des Grands Prés. Ein Haufen dicht nebeneinander gebauter Unterkünfte aus grauen Steinen. Enge Gassen. Auf den Dächern die Utensilien des Elends: Kinderwagen, Matratzen, Holz, Draht, Bettgestelle. Nass, verrostet, vergammelt. Dazwischen Schornsteine. Die Häuser haben Vorhöfe, in die Stuben kann man nicht hineingucken. Einige Lebensmittelgeschäfte, Schlachtereien, die Rinderhälften hängen auf der Straße, Kalbsköpfe auf Kisten in dem Schlamm. >Café< steht an einem Unterschlupf. Die Gassen sind so eng, dass zwei Männer sich an die Mauern drücken müssen, um aneinander vorbei zu können. Wasser und Matsch in den Gängen. Eine nordafrikanische Siedlung in Grau. Die enge Bauweise ist sinnlos. In Paris gibt es genug Schatten. Nicht aus Lehm, sondern aus Resten, Abfall. Die Araberfrauen gucken durch Lücken im Mauerwerk, wenn ich näherkomme, lassen sie den Vorhang fallen oder schlagen die Tür zu. Die Kinder, denen ich begegne, sind sauber und warm angezogen. Ohne Ausschläge, und nicht verhungert. MUSIK: Joey Starr, Lache pose ton gun O-Ton Francoise Douzenel Mon mari n'a pu rentrer dans ces bidonvilles ... six mille habitants Übersetzerin Mein Mann konnte in die Bidonvilles nur mit einem Papier von der Gewerkschaft reinkommen. Oder von der Gemeinde. - Die Gemeinde war mit den Sorgen der Bidonvilles konfrontiert. Sie hatten kein Wasser, sie hatten keine Elektrizität, sie hatten nichts. - Und dieses Bidonville hier gegenüber zählte zwischen vier- und sechstausend Bewohnern. O-TON: Reportage von Hubert Fichte Niemand wendet den Kopf, keiner bleibt stehen. Und es ist doch in Wirklichkeit etwas ganz Unfassbares, etwas, was da gar nicht hineinpasst, etwas was mit dem Begriff der Zivilisation nicht zusammenzubringen ist. Das auch gar nicht ins Straßenbild gehört. So völlig außerordentlich, dass es schon fast pittoresk anmutet. Living Pop. Die bevorzugten Hütten, Baracken, Karosserien sind die höher gelegenen. Bei den unteren rinnt das Regenwasser durch die Türen herein. Winter ohne warmes Bad, mit undichten Hüttendecken, klammem Bettzeug, schimmelnden Schränken. Was für eine "Ville de la Lumière" für die Araber! An einer Hütte steht: "Bitte nicht stark klopfen!" MUSIK: Joey Starr, Lache pose ton gun 2. Übersetzer Bum, Bum Bang, bad boy leg die Knarre weg Bum, Bum Bang, bad boy, es hat keinen Zweck Bum, Bum Bang, bad boy leg die Knarre weg Bum, Bum Bang, bad boy, es hat keinen Zweck Erzähler: In den etwa neunzig Bidonvilles um Paris lebten Ende der sechziger Jahre rund 50.000 Menschen: Spanier, Portugiesen, Jugoslawen, Nordafrikaner: nach ihrer Herkunft getrennt. Etwa die Hälfte der Immigranten stammte aus Nordafrika. Zwanzig Familien teilten einen Wasserhahn, die kaum zu beheizenden Wellblech- und Holzhütten waren umgeben von knöcheltiefem Schlamm. Aber erst nach den Bränden von Aubervilliers und Franc-Moisin, bei denen vier Menschen ums Leben gekommen waren, nahm die Öffentlichkeit von den katastrophalen Zuständen Notiz. Benoît Pouvreau, Architekturhistoriker im Kulturreferat von Seine-Saint-Denis. O-Ton Benoît Pouvreau 1970 les bidonvilles ... ... pour le pouvoir en place 3. Übersetzer Die Bidonvilles wurden 1970 ein politisches Problem von nationaler Bedeutung, das in großem Umfang öffentlich diskutiert und auch für die Lokalpolitik relevant wurde. O-Ton Benoît Pouvreau Et puis une loi ... 3. Übersetzer Und dann wurde ein wirkungsvolleres Gesetz verabschiedet, das die Abschaffung der "unzuträglichen Quartiere", wie man sie nannte, beschleunigte. Dabei vermied man den kraftvolleren und peinlicheren Ausdruck "Elendsviertel". O-Ton Francoise Douzenel Übersetzerin Die Beseitigung dieser Bidonvilles war ein sehr großes Problem. - Um 1973 begann man mit dem Bau der Cité Franc-Moisin. Die Bidonvilles waren noch nicht abgerissen, als die großen Hochhäuser entstanden. Die negative Seite: Es wurden verschiedene Provisorien gebaut, Übergangslager von schlechter Qualität, die für 10 Jahre bestimmt waren, später musste man dafür kämpfen, dass sie abgerissen wurden. Man argumentierte, dass die Leute aus den Bidonvilles einen Zwischenweg gehen sollten, um in den neuen Behausungen das Leben in der Gemeinschaft zu lernen. O-Ton Benoît Pouvreau 3. Übersetzer Ja, es hat so etwas wie einen politischen Zaubertrick gegeben, dass man das Gefühl hatte, ein Problem gelöst zu haben, das man im Wesentlichen aber nur verlagerte. O-Ton Francoise Douzenel Übersetzerin Saint-Denis hatte vor allem zwei Probleme. Die Unterbringung der Menschen aus den Bidonvilles und die Sanierung der Innenstadt, die baufällig war. Deshalb hat man in der Peripherie enorm gebaut. Diese Siedlung hier, La Courtille: 400 Wohnungen - eine Siedlung mehr im Norden: 600 Wohnungen - Franc-Moisin: 2.300 Wohnungen, glaube ich - und die Cité Allende in der Nähe der Universität. Erzähler Kolossale Bauvorhaben wurden in den siebziger Jahren rund um Paris verwirklicht. Es entstanden die Trabantenstädte von Nanterre, Clichy-sous-Bois, Blanc-Mesnil, Franc-Moisin, Grigny und Dutzende andere. Waren vor 1970 nur etwa 8 Prozent der neu entstehenden Sozialwohnungen für die Bewohner der Bidonvilles vorgesehen, so verfuhr man mit der Wohnungsvergabe jetzt großzügiger. Dennoch blieb das Wohnungsproblem für die Mehrzahl der Einwanderer bis Mitte der achtziger Jahre bestehen. Auch war nicht jedermann begeistert von einem Sozialwohnungsbau in Form stereotyper Hochhaussiedlungen. Die Linken beklagten die Anonymität der entstehenden Wohnsilos, den Rechten gefielen ihre Bewohner nicht. Schon sprach man verächtlich von den "bidonvilles verticaux", den "senkrechten Elendsbauten". MUSIK: Kool Shen, Le monde de demain Erzähler: Nach dem Bauboom der siebziger Jahre macht der französische Staat in den achtzigern erhebliche Anstrengungen, die vor allem aus Afrika ins Land strömenden Einwanderer gesellschaftlich zu integrieren. Die sozialistische Regierung Mitterrand schafft ein "Ministère de la Ville". Hochhäuser mit Sozialwohnungen werden durch Einfamilienhäuser ersetzt, die Subventionen an lokale Vereinigungen erhöht, es wird zunehmend ins Schulwesen investiert. Gleichzeitig aber sehen sich ganze Bevölkerungsgruppen durch die Pariser Stadterneuerungs-, Sanierungs- und Mietpolitik in die Banlieue abgedrängt. Und was das Schlimmste ist: im Zuge der wirtschaftlichen Einbrüche nach 1985 wird ein großer Teil der Einwanderer, die man ins Land geholt hat, arbeitslos. Die wirtschaftliche Verunsicherung verstärkt nationale und fremdenfeindliche Tendenzen. Es beginnt ein Prozess der Ausgrenzung und gesellschaftlichen Abkoppelung der Fremden. Und als "fremd" empfindet man in erster Linie die Menschen anderer Hautfarbe. Auch wenn sie aus Ländern stammen, die 150 Jahre lang zu Frankreich gehörten. Auch wenn sie in Frankreich geboren sind, französisch sprechen und sich als Franzosen fühlen. Mitte der neunziger Jahre werden die wirtschaftlich schwachen Vorstadtregionen um Paris, Lyon, Marseille zu "sensiblen Zonen" erklärt, die besondere finanzielle Zuwendungen erfahren sollen. Wer von den traditionellen Mittelständlern es sich leisten kann, verlässt diese Gebiete. REZITATION: Grand Corps Malade, Saint-Denis Si tu veux bouffer pour 3 fois rien ... Shen sous le nom de Bruno Lopez Übersetzung Kurt Kreiler: Willst du für so gut wie nichts essen, kenn ich die Adressen, etwas schmierig zwar, mit all den kessen Taugenichtsen, den kleinen Dandys mit struppigem Haar. Am Abend ist nicht groß was los, oder mir nicht bekannt, nur im Kino beim Stadion, wohin in Legion die bösen Buben kommen: willkommen im Abschaum-Land. Dort träumen alle davon, bitte sehr, eines Tages zu sagen: ich bin wer! Und sagen dir Kool Shens Texte auswendig her. MUSIK: Kool Shen, Le monde de demain 2. Übersetzer O-Ton Mohamed Mechmache [Atmo] Mes parents sont arrivés en France ... ... avant de pouvoir en partir. 4. Übersetzer Meine Eltern, als sie in Frankreich ankamen, waren sechzehn Jahre alt. Fast noch Kinder. Sie haben zehn Jahre in den Bidonvilles gelebt, bevor sie da raus kamen. Erzähler: Mohamed Mechmache, 36 Jahre alt, der Gründer einer Solidaritätsgemeinschaft der Banlieue, im Bahnhofscafé von Noisy-le-sec. O-Ton Mohamed Mechmache Mes parents ont vécu dans les ... ... à des bidonvilles, mais des temps modernes. 4. Übersetzer Meine Eltern lebten im Bidonville von Nanterre, meine große Schwester ist dort auf die Welt gekommen. Ich bin zum Glück in Montfermeil geboren, nachdem meine Eltern es geschafft hatten, ein kleines Haus zu beziehen. Aber die meisten Leute aus den Bidonvilles landeten in den Sozialwohnungen der Hochhäuser. Damit begann eine neue Epoche, als man die Bidonvilles abgeschafft hat. Aber in meinen Augen existieren sie immer noch, wenn man sieht, wie verwahrlost die Gebäude heute sind. Heute gibt es eine Menge von Vierteln, die zu Ghettos geworden sind, abstoßend, ungesund, die Aufzüge gehen nicht, die Leute zahlen Miete, ohne dass repariert oder geputzt wird, draußen ist kein Grün - für mich sieht das nach modernem Bidonville aus. Erzähler: Mechmache arbeitet seit über achtzehn Jahren als Erzieher. Zuständig für Jugend und Sport in Noisy-le-Sec. Ein ruhig energischer Mann. Ringsum herzlich begrüßt. Die Straße, sagt er, sei seine Domäne. O-Ton Mohamed Mechmache Je suis éducateur de rue depuis plus de 18 ans, tous ces quartiers, la rue c'est mon domaine. Erzähler Und er ist Politiker. Ein Politiker auf eigenen Füßen. Mitglied der AC LE FEU, die er zusammen mit Freunden nach den Unruhen vom Oktober 2005 gegründet hat. O-Ton Mohamed Mechmache AC LE FEU ... ....et toutes ces questions qui revenaient. 4.Übersetzer AC LE FEU ist eine Assoziation mit dem Namen "Zusammenschluss für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Solidarität". Die Vereinigung ist hervorgegangen aus den sozialen Unruhen von Oktober November 2005 nach dem Tod der beiden Jugendlichen Zyed und Bounna, als ein Teil von Frankreich aufbegehrt hat. Mit diesen Revolten war eine Botschaft verbunden, über die Form mag man geteilter Meinung sein, ein grundlegender Hinweis auf die bestehende Diskriminierung und auf die Problematik von Wohnung, Beschäftigung, Ausbildung, Polizeigewalt, nationale Identität und alle daraus entspringenden Fragen. Erzähler Das Novum im Jahr 2005 war, sagt Mohamed Mechmache, dass sich die Gewalt gegen staatliche Institutionen zu richten begann und damit politisiert wurde. Die Jugendlichen wollten symbolisch den Staat schädigen. Aber Gewalt führt zu keiner Lösung. Heute geht es darum, die bestehende Unzufriedenheit zum Motor einer politischen Bewegung zu machen. O-Ton Mohamed Mechmache Nous, quand on a créé ... ... qui se sont adressées à lui. 4.Übersetzer Nachdem wir das Kollektiv AC LE FEU gegründet hatten, machten wir zwei Bustouren durch ganz Frankreich. Wir haben 120 Städte besucht, haben mehr als 20 000 Menschen befragt, die sich schriftlich äußerten. Wir haben diese sogenannten "Beschwerdehefte" mit mehr als hundert Vorschlägen der Nationalversammlung überreicht und einen ähnlichen Katalog den Anwärtern für das Präsidentenamt übergeben mit der Bitte um Unterzeichnung. Mr. Sarkozy hat sich geweigert, diese politischen Leitlinien zu unterzeichnen. Deshalb können wir heute nicht mit einer Regierung zusammenarbeiten, die von vorneherein nicht in Betracht gezogen hat, womit 20 000 Menschen sich an sie gewandt haben. Musik Joey Starr, Lache pose ton gun 2. Übersetzer Du marschierst wie ein Champion, hälst dich für 'n Champion, das Gewicht deiner Knarre setzt dich unter Druck, dich vor den anderen Helden zu produzieren, die wie du den Idioten spielen. Du nimmst Kopfsteine, yes, und jetzt ist es gut im Exzess zu leben andauernd, hör auf, die Zeit zu vertun, zu versauern, lass dich warnen, du kannst den Wind nicht umarmen. Erzähler: Die Unruhen, sagt Mohamed Mechmache, haben die Frage aufgeworfen, ob in Frankreich die republikanischen Werte noch gelten. Denn die Einwanderer würden das Versprechen von "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" sehr ernst nehmen. Umso mehr verbittert sie, dass es kaum eingelöst wird. O-Ton Mohamed Mechmache Malheureusement le gouvernement actuel .. ... un ensemble de difficultés. 4. Übersetzer Leider ist die gegenwärtige Regierung dabei, die öffentlichen Dienste abzubauen. Auch die Lehrkräfte. Viele Lehrer, die in Pension gehen, werden nicht mehr ersetzt. Nicht überall gibt es die gleichen Schulen und nicht überall das gleiche Angebot in den gleichen Schulen. In Siedlungen wie Clichy-sous-Bois oder Montfermeil leben vierzig verschiedene Nationalitäten, lebt das Prekariat, viele Leute ohne feste Arbeit, da gibt es Schulen, in denen es wenig Vielfalt gibt außer der ethnischen Vielfalt, und sehr wenig Kinder mit wirklich französischen Eltern. Und dort ist es kompliziert - kompliziert, weil dort auch noch 35 Schüler in einer Klasse sitzen und es schwer ist, mit soviel Kindern zu arbeiten und sich ringsum die Probleme häufen. Erzähler: Zur heutigen Trostlosigkeit beigetragen haben der sture Planungsenthusiasus der Architekten, der kommunistische Traum einer linken Vorstadt, der bourgeoise Traum eines musealen Zentrums, der politische und rassistische Vorbehalt gegen die massive Zuwanderung, die psychische Lähmung und Verweigerungshaltung der missachteten Immigranten. Gegen mangelhafte Ausbildung, schlechte Wohnverhältnisse und Arbeitslosigkeit lassen sich, mit mehr oder weniger Erfolg, politische Maßnahmen ergreifen. Aber von alledem unberührt bleibt die französische Abneigung gegen dunkle Haut. Man mag es Rassismus nennen oder nicht: Tatsache ist, dass in Frankreich Einwanderer "erster" und "zweiter Ordnung" existieren. Die Kinder der spanischen und portugiesischen Bidonvilles sind entweder in ihre Heimatländer zurückgekehrt oder längst "gute Franzosen" geworden. Niemand würde sie für etwas anderes halten. Aber ein Mohamed Mechmache, obwohl Einwanderer der zweiten Generation, wird in der Pariser Innenstadt nicht als Vollfranzose angesehen. Ebenso wenig (wenn es darauf ankommt) Nadir Dendoune - auch er Jahrgang 1972, ein Kind der Banlieue, Sohn algerischer Einwanderer. Nadir machte Abitur und wurde Journalist. Im Frühjahr 2007 hat er ein Buch veröffentlicht mit dem hübschen Titel "Lettre ouverte à un fils d´immigré" - "Offener Brief an den Sohn eines Einwanderers". 1. Übersetzer CHER NICOLAS, nehmen wir zwei französische Bürger. Vor dem Gesetz sind sie gleich. Jedenfalls steht es so über den französischen Rathäusern: "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit". Der erste der beiden Bürger bist du. Ja, ich weiß: du bist Innenminister und ich erlaube mir, dich zu duzen. Sei mir nicht böse, Nicolas, aber solange die Flics in diesem Land ihre verdammte Angewohnheit nicht aufgeben, alle zu duzen, die aussehen wie ich, seh ich nicht ein, warum ich "Sie" sagen soll, wenn ich mich an ihren Boss wende. Der erste also bist du. Du hältst nicht hinterm Berg damit, dass du Sohn eines Einwanderers bist. Das schafft Volksnähe. Nähe zum Kleinen Mann. Und es stimmt: Papa Sarkó kam 1948 aus Ungarn. Aber als er erstmal in Marseille gelandet war, hat er sich nicht die Hände in einer der Obstplantagen schmutzig gemacht oder am Fließband von "Pigeot". Er ist Werbefachmann geworden und hat Mama Sarkó geheiratet, Arzttochter aus dem 17. Arrondissement von Paris, eine Rechtsanwältin. Nun, man gehörte nicht zu den kleinen Leuten ... Erzähler Mit dem "Sohn eines Einwanderers", an den Nadir schreibt, ist niemand anderer gemeint als Nicolas Sarkozy, damals Innenminister, jetzt Präsident. Sarkozy, der das "Gesindel" der Vorstädte mit dem Hochdruckreiniger bekämpfen wollte. 1. Übersetzer Der zweite, das bin ich. Auch ein Einwanderersohn. Mein Pa stieg in Marseille aus, genau zwei Jahre nach deinem, 1950. Aber kam direkt aus Algerien. Ohne Koffer und schlecht rasiert aufgrund der Unbill des Lebens. Kam als Analphabet und mit leerem Magen, dank der Wohltaten der Kolonisation, aber mit der Bereitschaft, seine Hände zu gebrauchen ... Normalerweise müsstest du mich anhimmeln, denn ich stehe für das Leistungsprinzip. Nadir Dendoune, Kind der Problemgebiete, in seiner Jugend straffällig geworden, jetzt Journalist! Beweis dafür, dass man kann, wenn man will etc. Aber ich meinerseits, ich liebe dich nicht. Deine Reden von Einwanderung, Vorstadt und Unsicherheit sind allzu plakativ. Passend für Deine Klientel. Ich kenne das fragliche Terrain gut genug, um zu wissen, dass du es nur durchs Fernglas betrachtest. Durch deinen Wink mit dem Knüppel und deinen Sarkasmus möchtest du den Eindruck erwecken, du wärst ein Mann der Tat. Ich könnte lachen darüber, wenn es nicht so traurig wäre. Denn alles, was ich sehe, ist, dass du dabei bist, in den Vorstädten einen Bürgerkrieg zu provozieren wie je nur ein politischer Emporkömmling. Ich weiß, warum du dich beklagtest, die Rapper wollten Feuer an die Siedlungen legen: du hast unbillige Konkurrenz befürchtet! O-Ton Nadir Dendoune Il y a de la bonne rage et il y a ... tous ensemble 1. Übersetzer Es gibt guten Zorn und schlechten Zorn. Ich schreibe und sage, was ich denke, um die Sachen in Bewegung zu bringen. Ich lege all meine Gedanken offen und zeige auch meinen Zorn - aber das ist kein Zorn gegen ein Land oder gegen die Menschen. Ich versuche Verständnis herzustellen für das, was ein junger Franzose mit arabischen Eltern empfindet und will, ich spreche von Missständen, damit die Dinge sich nach vorn bewegen. Denn ich will nicht, dass meine Bengel das erleben, was ich erlebt habe. Das ist in Wirklichkeit kein Zorn, das ist ein Aufschrei. Sagen, dass das aufhören muss und dass wir alle miteinander uns ins Zeug legen müssen. Erzähler: Nadir Dendoune ist in Saint-Denis geboren. Er erlebt als Kind alle Abenteuer der Vorstadt, entwickelt Ehrgeiz in der Schule, wird als Klassenbester in den Ferien beim Klauen erwischt, erfährt die Demütigung durch die Polizei, die alltägliche Diskriminierung, aber auch die Solidarität in der Familie. Als Einundzwanzigjähriger bricht er nach Australien auf und legt mit dem Fahrrad eine Strecke von 3000 Kilometern zurück. Fühlt sich in diesem fernen Land erstmals als Franzose gesehen und behandelt. Nadir lässt sich in Sydney nieder, erwirbt die australische Staatsangehörigkeit. Mit knapp 30 Jahren unternimmt er - als Propagandist für den Kampf gegen Aids - eine Fahrradtour um die Welt, kehrt im April 2002 nach Frankreich zurück und arbeitet zwei Jahre lang als Sozialarbeiter in L'Île-Saint-Denis. Er besucht als Stipendiat die Journalistenschule und schreibt 2005 ein Buch über seine Reisen in den Irak. Zwei Jahre später erscheint seine Autobiographie aus der Banlieue. O-Ton Nadir Dendoune 1. Übersetzer Also auch, wenn man neue Hochhäuser baut, wenn man neue Aufzüge einsetzt, wenn man draußen Bäume pflanzt - okay, das ist gut, ich sag nicht, dass das nicht gut ist - außer der Tatsache, dass die meisten Siedlungen außerhalb liegen oder in irgendeinem Eck. Und da entsteht dieses Gefühl der Ausgeschlossenheit. Wirklich, wenn du in der Siedlung lebst, kommst du dir vor wie anderswo, du nimmst irgendwie nicht Teil an der Gesellschaft. Du bist beiseite gestellt. Auch deshalb sagt man Ban- lieue, Bann-Meile: beiseite gestellt, verbannt aus der Gesellschaft. Wenn du rausgehst, spürst du die Blicke der andern. Du wirst ständig von Polizisten kontrolliert, es gibt alte Damen, die ihre Handtasche festhalten, wenn sie dich sehen. Also denkst du, du bist nicht wie die andern. Du beginnst es zu spüren. Aber der Trick an der Sache: Wenn Du im Viertel bist, guckt dich keiner aus den Augenwinkeln an. Ich werde durch den Blick des anderen zum Farbigen oder zum Araber. Denn in mir drin: Ich spreche dieselbe Sprache wie die andern, habe dieselben Schulen besucht. Ich fühle mich zuallererst als Franzose. MUSIK: Diam's >Ma France à moi< Ma France à moi, c'est pas la leur, celle qui vote extrême ... 2. Übersetzer Mein Frankreich ist nicht das der Leute hinter Le Pen das die Jugend verdammt, mit Anti-RAP auf Radio FM, das sich in Texas glaubt und Angst hat vor unseren Banden, das Frankreich hinter Sarko, das Frankreich der Intoleranten, das abends Krimi guckt und mit den Chorknaben plärrt, das die Armen verrecken lässt und die Eltern ins Altenheim sperrt. Nein, mein Frankreich ist nicht das, das nur Beaujolais trinkt, und so tut, als wär es von den Immigranten entzückt, das nach Rassismus stinkt, aber sich immer offen gibt, das arme Frankreich der Heuchler, das sich in Armen liegt, das glaubt, es wäre gut, wenn die Polizei nur zuschlägt Und wenn wir auch stören, ich weiß, dass unsre Ideale bleiben werden... Mein Frankreich wird sich wehren, bis sie uns respektieren. Erzähler: Die tägliche Demütigung der Jugendlichen durch Polizeikontrollen - Nadir Dendoune erinnert sich an wöchentlich drei bis vier, die er im Alter zwischen zwölf und zwanzig über sich ergehen lassen musste - die vielen willkürlichen Festnahmen und aggressiven Konfrontationen provozieren den Aufstand von morgen. Die Töchter und Söhne der Einwanderer, vor denen die französische Gesellschaft Angst hat, sie fordern vor allem eines: Respekt! Gleichstellung, Gleichbehandlung, Brüderlichkeit. Ein Ende der Ausgrenzung, Verdrängung, Verbannung in die Bannmeile der Wohlstandsgesellschaft. Vor allem, da es nicht nur die alte Kultur ist, die zu geben hat und schöpferisch ist. O-Ton Nadir Dendoune Il faut qu'on change le discours sur la banlieue.. ...qui foutent la merde et tout ça. 1. Übersetzer Man sollte eine andere Einstellung zur Banlieue gewinnen. Es ist ziemlich schlimm, dass auch wir, die wir dort leben, oft nur negativ sprechen. Man sollte nicht immer nur von den dunklen Seiten reden. Ich würde sagen, wie ich es auch im Buch gesagt habe, die Zukunft Frankreichs liegt in der Banlieue. Zum Beispiel der Rap. Alle guten Ideen kommen von da, aus den französischen Vorstädten. Darüber sollte man sich klar werden. Die erfolgreichsten Filme kommen von da. Tolle Bücher kommen von da. Da gibt es Tanz, gibt es Rap, gibt es Hip-Hop. Viele Sachen. Wenn man sie nicht übersieht, weil man lieber davon spricht, was brennt, von den Jugendlichen, die Scheiße bauen etc. O-Ton Francoise Douzenel Übersetzerin Meine guten Bekannten hier, das sind Algerier, ich habe eine algerische Freundin - und ein tunesisches Paar mit drei Enkeln - ah, ich habe immer die Kleinen geliebt - Diese Leute können wenigstens feiern. Wir wissen nicht mehr, wie man feiert. Wir sind gehemmt, wir sind eng. Sie explodieren, wenn sie ein Fest machen. Ca danse, ca swing, ca bouge. Das ist viel interessanter, dieses tam tam. Erzähler: Es ist das arme Leben, das neuen Reichtum bildet. Das Leben mit der Postleitzahl quatre-vent treize mille: 93000. REZITATION: Grand Corps Malade C'est pas une ville ... ma béquille dans l' Übersetzung Kurt Kreiler: Das ist keine Stadt in Rosa, aber eine Stadt, die was hat. Es ist immer was los, für mich ist sie famos. REZITATION: Grand Corps Malade Übersetzung Kurt Kreiler: Ich kenn ihr Getriebe, ich kenn ihre Triebe, eine Stadt mit Passagen, Stadt ohne Gagen, mit tausend Visagen, du siehst dich nicht satt, Saint-Denis, meine Stadt. Ich habe 93200 Gründe, mit dir durch diesen irren Haufen zu laufen. Und du ebensoviele, dich durchzuschieben und ihn zu lieben. REZITATION: Grand Corps Malade Übersetzung Kurt Kreiler: Dieses Flittchen von Stadt ist mein Traum, fänd ich's auch nett, den Taschendieben vom Place du Caquet eins auf die Nase zu haun. Saint-Denis allzumal, Saint-Denis monumental, Saint-Denis nie banal... wo du koschres Kraut im Kaufhaus kaufst: choucroute hallal! Hier ist man mit Stolz dionysisch. Ich hoffe, du hast verstanden. Und nenn mich nicht parisisch. Sonst lass ich meine Krücke auf dir landen. Physisch. Erzähler Und es sind Menschen wie Francoise Douzenel in La Courtille, Mohamed Mechmache in Noisy-le-sec oder der Sozialarbeiter Salah in Saint-Denis, die einer besseren Zukunft vorarbeiten. O-Ton Nadir Dendoune Salah c'était un mec formidable... notre niveau social 1. Übersetzer Salah war ein fabelhafter Typ. Ein Mann mit einem Einserabitur, ein überragender Mann. Er kam uns damals vor wie vom Mars, wie von einem andern Planeten. Und was toll war bei ihm: Er hat nie über uns geurteilt. Das hat mir persönlich geholfen, dass ich mir selber trauen lernte. Das ist die Basis. Denn wenn du in einem Quartier lebst und Leute um dich herum sind, die Drogen nehmen, Leute, die keine Arbeit haben, dann fängst du an, fatalistisch zu werden. Und dieser Einserabiturtyp, hochintelligent, mit Vater und Mutter, die nicht schreiben konnten, wie bei uns - der hat uns gezeigt, dass, wenn man einen Schritt tut aus dem Käfig heraus, dass man dann was erreichen kann. Und dass das nicht nur die Bourgeois mit der weißen Haut können. - Unglaublich, was der Mann in zwanzig Jahren für das Viertel geleistet hat. Er hat über hundert Leute aus dem größten Dreck gezogen. Indem er uns zum Lesen angehalten hat, indem er mit uns ins Theater gegangen ist. Er und andere Jugendliche haben ein Jugendzentrum aufgemacht. Man ist zusammen wandern gegangen. Und er hat uns auf diese Weise etwas von unserm sozialen Komplex genommen. Erzähler: Nadir verschweigt nicht, dass Salah, der Unermüdliche, nach zwanzig Jahren Arbeit, für die er den "Schlüssel der Stadt" verdient hätte, ohne ein Dankeschön gehen musste - und heute irgendwo im Süden Kisten schleppt. Seine Entlassung erfolgte 2002 - im Jahr als auch die "police de proximité", die im Sinn der Nachbarschaftshilfe arbeitende Polizei, auf Betreiben des Innenministers Sarkozy eingestellt wurde. Im Februar 2008 hat man sie in Saint-Denis probeweise wieder eingeführt. MUSIK: Joey Starr, Lache pose ton gun O-Ton Nadir Dendoune Ce qu'il nous faudrait c'est des types ... en sacrifier une 1. Übersetzer Was wir brauchen, sind Typen wie Salah: überall, überall in den Banlieues. Doch davon kann man nur träumen. Na ja, ich, ich hab dieselbe Arbeit gemacht wie er, zwei Jahre lang, im gleichen Jugendzentrum, doch man verbraucht sich. Weil keine Mittel da sind. Daran fehlt es. Wie willst du deine Arbeit machen, wenn du keine Mittel hast? - Ich hab bei mir gesehen: von dreißig Jugendlichen kommen vielleicht sechs oder sieben gut raus, vom Rest bringt sich die Hälfte mit Gelegenheitsarbeiten durch und die andere Hälfte geht in die Drogenszene, klaut, geht ins Gefängnis, das ist das Gleiche wie früher. Also dreißig Jahre später produzieren die gleichen Ursachen die gleichen Effekte. Es gibt mehr und mehr auch Typen wie mich. Das muss man auch sagen. Und dass es in zwanzig oder dreißig Jahren vielleicht besser sein wird, nein, es wird besser sein. Aber es ist doch auch traurig, das man dabei ist, Generationen zu opfern. Zwei Generationen hat man schon geopfert. Jetzt noch eine. Erzähler: Francoise Douzenel erzählt davon, dass Ende letzten Jahres nach einem Überfall die Post im Viertel geschlossen wurde. Davon sind über fünftausend Menschen betroffen. Man stellt keine Eilbriefe und Einschreiben mehr zu mit der Begründung, es handle sich um eine "sensible urbane Zone": O-Ton Francoise Douzenel On est stigmatisé. ... que les autres. 1. Übersetzerin Wir sind stigmatisiert. Wir müssen den Leuten hier klar machen, dass das nicht rechtens ist. Wir sind nicht schlechter als die anderen. Erzähler: Nun haben sich die Nachbarn zusammengetan und fordern die Wiedereröffnung der Post. Eine Petition wurde aufgesetzt und zur Unterschrift herumgereicht. Dazu gab es einen kleinen Aufmarsch mit Trommeln und Pfeifen. Madame Douzenel, die Siebzigjährige, an der Spitze. O-Ton Francoise Douzenel Pour notre défilé on a pris des flutes ... Übersetzerin Für unsern kleinen Aufmarsch haben wir Flöten genommen und Töpfe und Deckel, die Kinder wollten Krach machen. Wir waren ungefähr fünfzehn, mit den Müttern, es gab eine junge Frau mit einem Kopftuch - das schockt mich, ja, aber sie hat auch die Petition unterschrieben wie alle anderen, sie ist sehr integriert, jedenfalls hoffe ich, dass sie den Schleier eines Tages ablegt. Die Kinder bliesen auf Pfeifen, es gab einen Mann, der hatte ein Horn - und als ich letzten Mittwoch an der Hauptpost die Petition abgab, kannte man mich schon: Wir waren aufgefallen. REZITATION: Grand Corps Malade, Saint-Denis J'voudrais faire un slam ... qu'on appelle Saint-Denis. NACHSATZ: Nadir Dendoune, der Schriftsteller der Banlieue, bestieg am 25. Mai 2008 den Gipfel des Mount Everest. Absage "Ein bedrückendes Gefühl der Ausgeschlossenheit" Die Ghettos von Paris Ein Feature von Kurt Kreiler Es sprachen: Reinhart Firchow, Marianne Rogée, Kurt Kreiler, Fatih Cevikkollu, Hans Bayer, Martin Bross und Jochen Langner Ton und Technik: Michael Morawietz und Jürgen Hille Regie: Axel Scheibchen Redaktion: Hermann Theißen Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks. 3