COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 24. Oktober 2011, 19.30 Uhr Mitregieren! Direkte Demokratie und Volksbegehren in Deutschland Von Wolf-Sören Treusch MUSIK TAKE 1 (Heiko Maas) 0'07 Ich glaube, dass mit der Möglichkeit, sich mehr zu beteiligen, ganz einfach die politische Kultur in Deutschland wieder verbessert wird. TAKE 2 (Andreas Peter) 0'04 Dass die deutschen Bürger reif sind für die direkte Demokratie: davon bin ich eigentlich überzeugt. SPR. VOM DIENST Mitregieren! Direkte Demokratie und Volksbegehren in Deutschland. TAKE 3 (Frank Decker) Die direkte Demokratie ist kein Allheilmittel gegen die grassierende Politikverdrossenheit. TAKE 4 (Sebastian Frankenberger) Definitiv, weil wir keine Politikverdrossenheit haben. Wir haben eine Politikerverdrossenheit. SPR. VOM DIENST Eine Sendung von Wolf-Sören Treusch. TAKE 5 (Nikolaus Blome) Ich glaube, dass es viele kleine Stellschrauben gibt, ich würde aber von der großen Stellschraube ,Bundesweiter Volksentscheid' die Finger lassen. TAKE 6 (Claudine Nierth) Na ja, grundsätzlich sagen wir: alle Themen, die der Bundestag behandelt, sollten auch zulässig sein für Volksabstimmungen. MUSIK Schlussakkord AUTOR 26. Juni 2011: auf der Nordseeinsel Helgoland findet ein Bürgerentscheid statt. Die Bewohner stimmen darüber ab, ob die beiden Inselteile, die 1720 durch eine Sturmflut voneinander getrennt wurden, wieder vereint werden sollen. Einhundert Millionen Euro soll das Bauprojekt kosten. 583 Helgoländer entscheiden sich gegen, 482 für die Inselerweiterung. Damit ist der Plan vom Tisch - Helgoland bleibt, wie es ist. Die Wahlbeteiligung beim Bürgerentscheid liegt bei 81,4 Prozent. Das ist ein Wert, den kaum eine Bundestags-, Landtags- oder Gemeinderatswahl in Deutschland erzielt. Nicht nur auf Helgoland oder in fünf Wochen beim Bahnprojekt Stuttgart 21, überall in Deutschland wollen die Bürger immer häufiger selbst bestimmen, wohin die Reise geht. Ob für ein Nachtflugverbot am Berliner Flughafen oder gegen Museumsschließungen in Hamburg - laut aktuellen Umfragen sprechen sich vier von fünf Deutschen für mehr Bürger- und Volksentscheide aus. Auf kommunaler oder Länderebene sind solche Verfahren zulässig. Bundesweit ist politische Teilhabe in dieser Form noch nicht möglich. (ATMO 01 drunter) Nur für den Fall, dass die Deutschen über eine neue Verfassung abstimmen würden, sieht das Grundgesetz den bundesweiten Volksentscheid vor. Im Zusammenhang mit der Deutschen Wiedervereinigung hatte man diesen Weg kurz diskutiert. ATMO 01 (Percussion 1 in Fußgängerzone) kurz hoch, wieder drunter Wollen Sie sich eintragen für die Volksinitiative? AUTOR Die Bürger haben in Deutschland keine Möglichkeit, einen Volksentscheid auf Bundesebene zu initiieren. Noch nicht. Dafür muss erst das Grundgesetz geändert werden. Damit das endlich geschieht, (Kreuzblende ATMO 01 mit ATMO 02) gehen junge Menschen wie Adrian in deutschen Fußgängerzonen auf Stimmenfang. In Lübeck zum Beispiel. ATMO 02 (erfolgreiches Gespräch) ... Die Daten gehen dann ans Innenministerium nach Kiel, die kontrollieren dann, ob diejenigen, die unterschrieben haben, wahlberechtigt sind. - Muss ich dazu in Lübeck wohnhaft sein? - Nee, Schleswig-Holstein. - Okay, alles klar. TAKE 7 (Adrian) Reaktionen sind sehr gut, die Sache ist die, dass die Menschen viel zu tun haben, bis man sie angehalten hat und ins Gespräch kommt, aber die meisten, die dann sich öffnen und mit einem sprechen, sind begeistert, ein kleiner Prozentsatz davon ist absolut dagegen. AUTOR Adrian ist 25, studiert Politikwissenschaft. Zusammen mit Jonathan, 24, und Pablo, 16, kämpft er sich seit Wochen über die Marktplätze und Fußgängerzonen von Deutschlands nördlichstem Bundesland. ATMO 02 (erfolgreiches Gespräch) Ich gebe Ihnen noch eine kleine Info mit. - Ja, gerne. - Gut. Vielen Dank. - Viel Erfolg. - Ciao. So muss sein, oder? AUTOR Adrian, Jonathan und Pablo engagieren sich für den Verein ,Mehr Demokratie', eine gemeinnützige Organisation, die sich für mehr direkte Demokratie in Deutschland einsetzt. Im Rahmen einer Volksinitiative, das ist der erste Schritt auf dem Weg zu einem Volksentscheid, sammeln die drei Aktivisten Unterschriften für die Einführung des bundesweiten Volksentscheids. Doch nicht jeder Überzeugungsversuch gelingt. Mitaktivist Jonathan trifft auf einen streitbaren Mitbürger. TAKE 8 (Dialog Passant/Aktivist) Demokratie heutzutage heißt ja labern ohne Ende. Die vielen Talkrunden, die völlig dekadent sind, das ganze Geschmacke, was verlautbart wird, ... Und noch etwas möchte ich Ihnen sagen. Gucken Sie sich doch mal die Bürger alle an. Wer hat denn die notwendige Bildung? Um für sich entscheiden zu können: noch mehr Demokratie. Ich bin jetzt mal ganz deutlich: 80% der Bevölkerung sind doch Dumpfbacken. Die haben doch nichts in der Birne. Die sind ungebildet, sie gucken Fernsehen, sie lesen kein vernünftiges Buch, interessieren sich für nichts, glauben Sie mir: ich bin beruflich da, wo ich mit den Bürgern Kontakt habe. - Hier, nehmen Sie mal mit, ich hoffe, sie gehören nicht zu den 80%. Die Menschen, die ich hier treffe, gehören definitiv nicht dazu, und manche behaupten, die anderen gehören dazu, aber wenn jeder behauptet, die anderen wären doof, dann müsste im Umkehrschluss jeder schlau sein und nur denken, die anderen wären doof. TAKE 9 (Jonathan) Was wir gerade gehört haben, dass jeder denkt, der andere sei dumm, ist so ein Standardsatz, den ich mir hier den ganzen Tag anhören muss, da kann ich nur anregen, sich mehr in die Fußgängerzonen zu stellen und mit den Menschen zu reden und zu sehen: nee, die sind nicht dumm, die stehen nur zu wenig in den Fußgängerzonen und reden miteinander. AUTOR Gleich um die Ecke, mitten auf dem Lübecker Marktplatz, wo normalerweise das Rathaus mit seinen Schmuckbalkonen die Blicke der Besucher anzieht, steht heute ein weiterer Hingucker: der ,Omnibus für direkte Demokratie in Deutschland'. Ein strahlend weißer Doppeldecker, der als Infomobil quer durch Deutschland fährt und bei dem Adrian und die anderen ihre Unterschriftenlisten abgeben. Die hinteren Sitzbänke sind zu Tischen umgebaut, auf ihnen liegt jede Menge Infomaterial. Auch einige Gläser Honig stehen dort. ,democracy in motion' ist auf ihrem Etikett zu lesen. TAKE 10 (Claudine Nierth) Wenn man sich anguckt, wie Honig entsteht: eine Biene sammelt ihren Nektar und bringt ihn nach Hause zu ihrem Volk. Und erst wenn der Nektar von Bienenmaul zu Bienenmaul einmal durchs ganze Volk gegangen ist, haben Sie die Qualität Honig. AUTOR Claudine Nierth ist Bundesvorstandssprecherin des Vereins ,Mehr Demokratie'. Immer wenn es ihre Zeit hergibt, unterstützt sie die Helfer in den Fußgängerzonen. TAKE 11 (Claudine Nierth) Und so ist es mit der direkten Demokratie auch. Erst wenn ein Thema von Mensch zu Mensch gegangen ist, dann hat es die Qualität wie Honig. AUTOR Claudine Nierth gehört zur Speerspitze der Bewegung. Inspiriert von den politischen Kunstaktionen Joseph Beuys' nahm sie schon in den 80er Jahren an den ersten bundesweiten Aktionen für die Einführung des Volksentscheids teil. (ATMO 04 weg) TAKE 12 (Claudine Nierth) Vor 20 Jahren waren wir Verfassungsfeinde, wir waren die Spinner, die die Volksabstimmung einführen wollen, wir merken, dass mit jedem Jahr, das dazu kommt, der Diskussionsprozess in der Gesellschaft immer qualifizierter wird. Die Leute, die gegen die direkte Demokratie sind, sind qualifiziert, aber auch diejenigen, die dafür sind, sind qualifizierter. Das heißt, das Niveau steigt. Die Angst vor einer Reform schwindet. AUTOR Mit der Volksinitiative in Schleswig-Holstein geht der Verein ,Mehr Demokratie' einen ungewöhnlichen Weg: sozusagen von hinten durch die Brust ins Auge. Mit Hilfe der bei einer Volksinitiative notwendigen 20.000 Unterschriften fordert er die Landesregierung auf, eine Gesetzesinitiative zur Verankerung bundesweiter Volksabstimmungen im Grundgesetz im Bundesrat einzubringen. Wenn der Kieler Landtag diese Volksinitiative ablehnt, womit zu rechnen ist, möchte der Verein die zweite Stufe zünden und ein Volksbegehren einleiten. Innerhalb eines halben Jahres müssten sich dann fünf Prozent der Wahlberechtigten in Schleswig-Holstein dafür aussprechen, einen Volksentscheid zu beantragen. Mit dem könnten die Bürger dann beschließen, dass ihre Regierung ein entsprechendes Gesetz im Bundesrat einbringen muss. Was der Bundesrat dann damit macht, steht auf einem anderen Blatt. TAKE 13 (Claudine Nierth) Wir haben inzwischen über 5.000 Bürgerbegehren in Deutschland erlebt, das heißt wir können vorweisen, dass die Bürger nicht klüger, aber auch nicht dümmer als die Politiker entscheiden, und das schafft natürlich Vertrauen. Wer Reformen in Gang bringen will, kann nie erwarten, dass das in einem Hau-Ruck-Verfahren übers Knie gebrochen geht, sondern man muss über Jahre immer wieder - steter Tropfen höhlt den Stein - Vertrauen schaffen und Ergebnisse vorweisen, dass es eben auch gehen kann. Inzwischen ist Deutschland das einzige Land in der EU, von 27 Mitgliedsstaaten, das noch keinen nationalen Volksentscheid je erlebt hat, warum? TAKE 14 (Nikolaus Blome) Weil: ich glaube, dass es genug Wahlen gibt, und weitere Abstimmungen mit jammervoll niedrigen Wahlbeteiligungen können das Ziel nicht sein. AUTOR Nikolaus Blome ist stellvertretender Chefredakteur der BILD-Zeitung. Von der Idee eines bundesweiten Volksentscheids hält er nichts. Sollte das Thema auf die Agenda des Parlaments kommen, wüsste er schon, wie BILD titeln würde: ,Wollen wir wirklich noch mehr wählen gehen?' TAKE 15 (Nikolaus Blome) Wenn man Volksentscheide auf Bundesebene als Rezept, als Gegenmittel gegen Politikverdrossenheit fordert, fein, aber dann muss man mindestens zur Kenntnis nehmen, dass auf Landesebene, auf kommunaler Ebene zu dieser Art Bürgerentscheiden, oder auf Landesebene Volksentscheiden, noch viel weniger Leute hingehen und abstimmen als es zu den Landtagswahlen und den Bürgermeisterwahlen es der Fall ist, das heißt sie versuchen, ein Problem der niedrigen Wahlbeteiligung zu lösen mit einem Instrument, das noch weniger Wahlbeteiligung nach sich zieht, das kann es ja wohl nicht sein. AUTOR Misstrauisch beäugt Nikolaus Blome den Wahlbürger selbst. Vor kurzem hat er ein Buch geschrieben mit dem Titel: "Der kleine Wählerhasser". Darin beschreibt er, was Politiker über die Bürger denken. TAKE 16 (Nikolaus Blome) Das ist ganz einfach: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es auch heraus. Eine Gruppe von Politikern hier im Bundestag meinetwegen oder auch in den Landtagen, die jeden Tag eins drüber kriegt und mal, muss man fairerweise sagen, zu unrecht und mal zu Recht, die wird sich irgendwann fragen, ob sie wirklich so faul, korrupt, doof, kurzsichtig sind, wie ihnen immer vorgeworfen wird vom Publikum, von den Wählern, oder sie werden sich irgendwann, und das, glaube ich, passiert gerade, als Politiker mal fragen, ob vielleicht die andere Seite die Meise hat, also ob nicht auch die Bürger ihre Defizite haben in der Informierung, im Sich-schlau-Machen über politische Zusammenhänge, auch in der Pflichterfüllung gegenüber der Demokratie, nämlich mal wählen zu gehen. Und das Gefühl: die da draußen kümmern sich nicht mehr richtig, die interessieren sich nicht richtig, und die haben auch nicht so rasend viel Ahnung, das hat sich durch alle Parteien hier im Bundestag durchgefressen, und korrespondiert als Bürgerverdrossenheit der Politiker mit der Politikverdrossenheit der Bürger. AUTOR Fazit des Redakteurs: die großen Weichenstellungen der bundesrepublikanischen Geschichte wie die Wiederbewaffnung, die Ostpolitik, die Wiedervereinigung oder die Einführung des Euros hätte es wohl nie gegeben, wenn das Volk darüber abgestimmt hätte. TAKE 17 (Claudine Nierth) Na ja, grundsätzlich sagen wir: alle Themen, die der Bundestag behandelt, sollten auch zulässig sein für Volksabstimmungen. Es wird sich dann herausstellen, welches dieser Themen so groß und wichtig ist, dass die Bürger eine Initiative dazu starten. Ich wette, dass wir in den 80er Jahren sicher einen Volksentscheid zum Atomaus- oder einstieg gehabt hätten. Ich wette, dass wir zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr einen Volksentscheid sicher die Bürger gefordert hätten. Oder zum Euro: stellen Sie sich vor, wir hätten über den Euro entscheiden dürfen. Was hätten wir diskutiert: über die Folgen, die Chancen, über die Risiken, ich bin gar nicht mal sicher, ob wir ihn angenommen hätten oder abgelehnt hätten, wenn wir ihn angenommen hätten, hätten wir heute auch eine andere Situation, würden wir auch anders hinter dem Euro stehen, als wenn wir ihn abgelehnt hätten. Man kann nie vorher sagen, wie der Volksentscheid ausgeht. Wir werden immer auch Ergebnisse haben, das ist so in der Demokratie, mit denen wir nicht zufrieden sind. AUTOR Die Forderung nach mehr direkter Demokratie sei ein Irrweg. Das sagt auch der Bonner Politikwissenschaftler Frank Decker. Und ergänzt: Hände weg von der Volksgesetzgebung auf Bundesebene. Die verfassungsrechtlichen Hürden dafür seien viel zu hoch. TAKE 18 (Frank Decker) Es gibt zum Beispiel ein Problem mit der Beteiligung des Bundesrates. Auf der Bundesebene haben wir ja ein föderales System und die Notwendigkeit bei Gesetzen, die die Belange der Länder betreffen, eben den Bundesrat auch mit einem Zustimmungsrecht zu beteiligen, wie wollen Sie das lösen in einem Volksgesetzgebungsverfahren? Wir haben ja in den Ländern heute schon das Problem, dass die Bürger über viele Fragen gar nicht abstimmen dürfen. Zum Beispiel ist es so, dass in den meisten Fällen noch nicht einmal über Finanzwirksame Gesetze abgestimmt werden kann. Weil sich ja jegliche Finanzwirksame Gesetze auch auf den Haushalt auswirken. Und deshalb haben die Verfassungsgerichte in den Bundesländern im Zweifel immer gesagt, wenn ein Gesetz starke finanzielle Auswirkungen hat, dann kann es nicht zum Gegenstand eines Volksentscheids gemacht werden. AUTOR Auch in Baden-Württemberg scheiden sich die Geister, ob die Volksabstimmung, die am 27. November über das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 stattfindet, verfassungsrechtlich zulässig ist. Die einen sagen: nein. Die Bürger werden über den Finanzierungsanteil des Landes entscheiden, das sei ein Akt der Haushaltsgesetzgebung, darüber dürfe das Volk nicht entscheiden. Die anderen sagen: ja. Das Haushaltsgesetz sei nur der Jahresetat, wenn das Volk nicht über einzelne Gesetze entscheiden dürfe, dürfe es nie abstimmen. Denn jedes Gesetz verursache Kosten. An dieser spitzfindigen Debatte lässt sich gut ablesen, wie kompliziert es in der Praxis wäre, wenn der bundesweite Volksentscheid eingeführt würde. TAKE 19 (Sebastian Frankenberger) Für mich gibt es da wirklich nur eine Antwort: Demokratie von seinem ureigensten Verständnis heißt: das Volk ist der oberste Souverän. AUTOR Sebastian Frankenberger lächelt, wenn er so etwas sagt. Er gehört zu den Siegern der Auseinandersetzung . Frankenberger ist den steinigen Weg von der Volksinitiative über das Volksbegehren bis hin zum Volksentscheid erfolgreich gegangen. Sein Thema: ,für echten Nichtraucherschutz in Bayern'. Am 04. Juli 2010 votierten fast zwei Drittel aller Bürger, die am Volksentscheid teilnahmen, für eine strengere Handhabung des Rauchverbots in der Bayerischen Gastronomie. Seitdem darf dort nicht mehr geraucht werden. Sebastian Frankenberger ist ein großer Anhänger der direkten Demokratie. Er sagt, das Volk in seiner Gesamtheit denke nachhaltiger als der einzelne Politiker, und liefert dafür einen überraschenden Nachweis. TAKE 20 (Sebastian Frankenberger) Was ist der erfolgreichste Joker bei ,wer wird Millionär'? Es ist nicht der Expertenjoker, wo ganz oft Professoren oder Lehrer oder sonstige Leute angerufen werden als Telefonjoker, sondern es ist der Publikumsjoker, also der Volksjoker, wo die einfache Hausfrau neben der Ärztin drin sitzt oder der Bauarbeiter neben dem Lehrer. Und da sieht man wieder einmal: Wir müssen dem Volk in seiner Breite mehr vertrauen. Das ist schwierig, weil: man gibt Macht ab. Das ist ein Machtverlust für die momentan regierende Elite oder für die Interessierten, die sich an Wahlen beteiligen oder in Parteien engagiert sind, aber dieses Vertrauen in die gesamte Bevölkerung, diese Macht allen zurückzugeben, ist ein ganz spannender Prozess. Funktioniert im Kleinen, warum nicht auch im Großen. AUTOR ,Volk, entscheide!' Unter diesem Titel hat Sebastian Frankenberger ein Buch geschrieben, in dem er seine Erfahrungen mit dem erfolgreichen Volksentscheid zum Nichtraucherschutz verarbeitet hat. Dazu gehört auch, dass er seitdem in etlichen Restaurants, Kneipen und Bierzelten in Bayern Hausverbot und mehrere Morddrohungen erhalten hat. TAKE 21 (Sebastian Frankenberger) Würden Sie sagen, wir könnten die Bevölkerung über die Rentenpolitik abstimmen lassen: wie hoch die Beiträge sind und was sie ausbezahlt bekommen? Die Schweiz macht es. Deren komplettes Rentensystem ist von der Bevölkerung abgestimmt und laut Bertelsmannstiftung eines der stabilsten und am langfristigsten gedachtes Europas. Wenn man sich in der Schweiz, wo direkte Demokratie schon seit über 100 Jahren gelebt wird, wie es funktioniert, sich anschaut: es ist eine sehr sachliche Diskussion, natürlich die Medien spielen in dieser Diskussion eine wichtige Rolle, aber bis in den hintersten Kanton, bis zum höchsten Bergbauern ist eine Aufklärungsquote, wenn es um wirklich zentrale Themen bei Abstimmungen geht, die ist wirklich phänomenal, wie sich die Leute einbringen und interessieren. TAKE 22 (Aktivist/Passant) Wollen sie sich eintragen zur Volksinitiative hier? - Ich komme aus der Schweiz, ich denke nicht, dass ich da teilnahmeberechtigt bin. - Nein, aber Sie können uns Erfahrungen vielleicht erzählen. ... AUTOR Zurück in der Fußgängerzone von Lübeck. Die Aktivisten des Vereins ,Mehr Demokratie' sprechen unverdrossen Passanten an. TAKE 22 (Aktivist/Passant) ... In der Schweiz sind Volksinitiativen, nehmen zum Teil überhand. Es gibt sehr viele, und irgendwann wirst du als Stimmbürger müde, dich mit jeder einzelnen wirklich intensiv auseinanderzusetzen. So, es ist für mich ein Instrument, das nicht immer funktioniert. Es hat bloß immer für die funktioniert, die es dann auch interessiert oder betrifft. - Aber: können Sie sagen, dass es die Entscheidungen der Politiker verändert in der Hinsicht, dass das Volk im Nachhinein immer noch die Abstimmung sozusagen kippen kann? - Ja, das ist in der Schweiz sicher direkter. Ich habe mich mit Stuttgart 21 ein wenig befasst, das wäre in der Schweiz so nicht gegangen. Da hätte es schon viel früher eine Initiative gegeben, und es wäre gekippt worden, oder es wäre darüber abgestimmt worden, und dann wäre es ein Volksentscheid gewesen. Es ist klar: die Schweizer Demokratie funktioniert direkter als eure deutsche. Eure deutsche funktioniert immer über die Politiker, die ihr mal gewählt habt. AUTOR Für die Anhänger des bundesweiten Volksentscheids in Deutschland ist die Schweiz das Musterland direkter Demokratie. Hier habe jeder Bürger das Recht, eine Volksinitiative zu starten, wenn er meint, eine gute Idee zu haben. TAKE 23 (Frank Decker) Man muss sehr vorsichtig sein, die Erfahrungen der Schweiz einfach auf die Bundesrepublik zu projizieren. AUTOR Der Politikwissenschaftler Frank Decker. TAKE 24 (Frank Decker) Direkte Demokratie in der Schweiz konzentriert sich auf die Möglichkeit, ein vom Parlament bereits beschlossenes Gesetz noch mal einer Abstimmung zu unterwerfen. Das heißt die Bürger haben die Möglichkeit, ein Gesetz, das die Regierung gemacht hat, das Parlament beschlossen hat, gegebenenfalls zu kassieren. Wir haben ein ganz anderes System, ein parlamentarisches Regierungssystem, das im Grunde basiert auf der Rollenteilung zwischen Regierung und Opposition. Die Regierung hat das Gestaltungsmonopol, die Opposition übt Kritik, macht Vorschläge, und sie macht es mit dem Ziel, die Regierung bei der nächsten Wahl abzulösen. Wenn sie jetzt die direkte Demokratie von unten einführen, dann geben Sie natürlich der Opposition Gelegenheit, bestimmte Gesetzesvorhaben der Regierenden schon während der Legislaturperiode zu Fall zu bringen. Das heißt eigentlich wird dieses Wechselspiel von Regierung und Opposition durch die direkte Demokratie unterminiert. AUTOR Deshalb, so der Politikwissenschaftler, sollte man anderen plebiszitären Elementen mehr Raum gewähren, beispielsweise dem Referendum, bei dem die Initiative vom Parlament ausginge. Das passe weitaus besser zum politischen System in Deutschland als die Volksgesetzgebung. Und sei zudem sehr viel verlässlicher, fügt Thomas Kliche hinzu. Sein Fachgebiet ist die Politische Psychologie. TAKE 25 (Thomas Kliche) Das bisherige Beziehungsangebot ist: geh zur Wahl, kümmere dich um die Kandidaten, kümmere dich um die Programme, mach dir Gedanken, wem du die nächsten Jahre wirklich vertrauen würdest, und entscheide dann. Diese Volksentscheide bringen jetzt ein neues Beziehungsangebot ein: entscheide kurzfristig, wie immer dir der Sinn steht, und was auch immer es für Folgen hat, es ist das Problem der Politiker, du kannst dann wieder nach Hause gehen und dich freuen, dass du denen mal auf den Tisch gekackt hast. AUTOR Möglicherweise wäre der Volksentscheid ein belebendes Element in der Demokratie, so der Psychologe, aber garantiert mit unerwünschten Nebenwirkungen. TAKE 26 (Thomas Kliche) Aus psychologischer Sicht ist die Aufgabe von Parteien, dass sie langfristig Gesellschaftsentwürfe entwickeln, für diese Gesellschaftsentwürfe dann Mehrheiten gewinnen und sie umsetzen. Die Parteien haben bei dieser Aufgabe jetzt zehn Jahre lang versagt, und sie trauen sich gar nicht mehr zu sagen, dass sie diese Aufgabe eigentlich haben, und in dieses Vakuum stößt jetzt diese Forderung nach ,Volksentscheide seien Demokratie'. Aber das ist ein Irrtum: das ,Change Management' der Politik wird durch solche unberechenbaren punktuellen Interventionen eher erschwert. Das Ganze, was rauskommt, ist dann eine Art Scheindemokratie, und diese Scheindemokratie erhöht das Misstrauen der Menschen in den politischen Prozess, führt dann zu solchen Forderungen wie Volksabstimmungen, Volksentscheid, ändert aber nicht das Verhalten, sondern bestärkt im Grunde den Rückzug: ,haha, ich habe die ja nicht gewählt, ich bin nicht schuld, ich habe das nicht gemacht'. AUTOR Die geringe Wahlbeteiligung bei vielen Volksentscheiden sei der Beweis: die direkte Demokratie erreiche genau das Gegenteil von dem, was sie eigentlich erreichen wolle. Sie erzeuge Frust und fördere die Rückzugstendenzen. Noch einmal Thomas Kliche. TAKE 27 (Thomas Kliche) Parteien haben ja einen riesigen Vorteil. Sie handeln stellvertretend für uns Gemeinwohl aus. Aus psychologischer Sicht ist das deshalb ein Vorteil, weil damit Spielräume für Besonnenheit, für Kompromisse, für Beweglichkeit reinkommen, die wir, wenn wir sie in direkter Konfrontation entscheiden, nicht haben. Da werden Pakete diskutiert und nicht mehr einzelne Fragen. Und das weiß natürlich jeder Mobbing-Mediator: wenn man einzelne Fragen hart auf hart entscheiden will, dann muss immer einer siegen und einer verlieren. Wenn man dagegen ganze Pakete in die Diskussion bringt, dann hat man sehr viel mehr Flexibilität, um Konflikte für alle sinnvoll beizulegen, ich glaube, das ist auch ein Geheimnis der Stabilität der deutschen Demokratie in den letzten 40 Jahren gewesen. TAKE 28 (Andreas Peter) Aber ich glaube, wir sind mittlerweile so selbstbewusst und haben so viel Demokratie in den letzten 60 Jahren verinnerlicht, dass die deutschen Bürger reif sind für die direkte Demokratie. AUTOR Andreas Peter befürwortet den bundesweiten Volksentscheid ohne Wenn und Aber. Obwohl er auf Landesebene gescheitert ist. 2009 war das. Der Unternehmer hatte sich an die Spitze eines Aktionsbündnisses für den Erhalt des Flughafens Berlin- Tempelhof gesetzt und war den steinigen Weg bis zum Volksentscheid gegangen. Ohne Erfolg. Er und seine Mitstreiter gewannen zwar die Abstimmung, erreichten aber nicht das notwendige Quorum. Damit die Abstimmung gültig gewesen wäre, hätte ein Viertel aller Wahlberechtigten Berliner für den Erhalt des Flughafens stimmen müssen. TAKE 29 (Andreas Peter) In Tempelhof kam natürlich noch dazu, dass unser Volksbegehren ja keine Gesetzesinitiative war, sondern nur eine Empfehlung. Das mag sicher auch ein Grund gewesen sein, Herr Wowereit hatte ja ganz klar gesagt, er wird sich nicht dran halten, und dann haben viele Leute wahrscheinlich gesagt: ,warum soll ich da hingehen, wenn es sowieso nichts ändert und die Politik sich nicht danach scheren wird'. Aber die Enttäuschung war halt sehr groß, dass es wirklich daran scheiterte, dass 100.000 Menschen zu wenig zur Wahl gegangen sind, die möglicherweise für uns gestimmt hätten. AUTOR Jede Gemeinde- und Landesverfassung in Deutschland schreibt unterschiedlich hohe Zustimmungsquoren vor. In Baden-Württemberg beispielsweise muss ein Drittel aller Wahlberechtigten am 27. November für den Ausstieg aus dem Bahnprojekt Stuttgart 21 stimmen, sonst ist das Ergebnis des Volksentscheids ungültig. Andreas Peter fordert deshalb, die Landesverfassungen zum Thema Volksentscheid zu reformieren. In Berlin sähe das seiner Meinung nach so aus. TAKE 31 (Andreas Peter) Die zwei wichtigsten Änderungen ist einmal, das Quorum tiefer zu setzen, denn wenn man sieht, dass bei Landtagswahlen heute oft auch nur circa 50% der Bürger zur Wahl gehen, dann sind 25%, die ,ja' sagen müssen laut Berliner Bürgerentscheidsgesetz, relativ hoch. Und zweitens, dass es nur noch verbindliche Volksentscheide geben soll und keine empfehlenden mehr. Weil: das, glauben wir, ist, Entschuldigung meine Ausdrucksweise, eine Verarsche des Bürgers. AUTOR Die Gegner der direkten Demokratie kritisieren noch etwas. Wie vor Wahlen drohe der Kampf um die besten Argumente zu einer Schlacht um die beste Werbekampagne zu werden. Verbände und Interessengruppen mit großer Wirtschaftskraft könnten die Debatten vor einem Volksentscheid dominieren. Sebastian Frankenberger nennt es "knallharten Straßenwahlkampf", und auch Andreas Peter räumt ein, beim Volksentscheid zum Erhalt von Tempelhof seien die Sachargumente irgendwann in den Hintergrund getreten, und es habe sich eine Wahlschlacht zwischen SPD und CDU entwickelt. TAKE 33 (Andreas Peter) Da sollte man möglicherweise versuchen, gesetzliche Riegel vorzuschieben, dass mit Sicherheit die Offenlegung der Finanzen transparenter sein muss als es bisher der Fall war, und dass man sich was überlegt, wie man die politische Parteien raus hält aus diesem Volksbegehren, weil: es kann nicht Sinn der Sache sein, dass jedes Volksbegehren von den politischen Parteien missbraucht werden kann. AUTOR Für einen Volksentscheid auf Bundesebene muss das Grundgesetz geändert werden. Dafür ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag nötig. 2002 war die Rot- Grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder mit einem entsprechenden Gesetzentwurf knapp gescheitert. Jetzt will die SPD das Thema wieder auf die Tagesordnung setzen. Heiko Maas, Präsidiumsmitglied und SPD-Landeschef im Saarland. TAKE 36 (Heiko Maas) Es gibt zumindest eine Chance. Das Bedürfnis ist einfach groß, und die politischen Parteien müssen sich entscheiden: wollen sie einen closed shop, also so weitermachen wie bisher oder wollen sie die Bürgerinnen und Bürger beteiligen? Es geht hier nicht darum, das System auf den Kopf zu stellen, wir wollen nur das, was in allen Ländern geht, auch auf Bundesebene, weil ich keinen Grund sehe, warum das auf Bundesebene nicht gehen soll, was in 16 Bundesländern geht, und da hat sich vieles weiter entwickelt, wir werden sehen, wo wir letztlich landen werden, wir brauchen eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament, das ist richtig, aber wenn die Konservativen am Schluss die einzigen sind, die da stehen und sagen , wir wollen uns nicht bewegen', wollen wir mal gucken, wie das ausgeht. AUTOR Die Volksgesetzgebung soll her. Wenn es nach dem Willen der SPD-Parteispitze ginge, wäre sie neben Bundestag und Bundesrat die dritte Säule der bundesdeutschen Legislative. Und wenn es nach Heiko Maas ginge, käme der bundesweite Volksentscheid ganz schnell. TAKE 37 (Heiko Maas) Wir werden das im Dezember auf unserem Bundesparteitag beschließen, und dann werden wir mit anderen Parteien, die auch im Bundestag sind, Gespräche führen, wie wir das Thema weiter bringen können, und ich würde mich freuen, wenn dieser Bundestag sich noch mal mit diesem Thema beschäftigt und dazu eine Entscheidung trifft, er hat noch Zeit bis 2013. ATMO 05 (Fußgängerzone Lübeck) Tschüss, viel Erfolg noch. AUTOR Zurück in der Fußgängerzone in Lübeck. Den ganzen Vormittag schon ist der 16- jährige Pablo auf Stimmenfang für den bundesweiten Volksentscheid. Er macht ein Schülerpraktikum beim Verein ,Mehr Demokratie'. Seine jugendliche Unbekümmertheit tröstet ihn über die geringe Beute hinweg. (ATMO 05 weg) TAKE 39 (Pablo) Es ging, nicht so gut. Gestern lief es viel besser als heute Vormittag. Gestern habe ich 68 gesammelt in vier Stunden, und heute in vier Stunden nur 25. Ich weiß auch nicht, woran es lag. Das größte Erfolgserlebnis? Ist, wenn man die Leute umgestimmt hat. Also wenn sie erst zu einem kommen und sagen: ,nee, ist totaler Schwachsinn' und dann mit denen diskutiert und sie dann auch noch zum Schluss umstimmt, und dann trotzdem noch eine Unterschrift von ihnen bekommt, das ist für mich das größte Erfolgserlebnis. Das freut mich auch immer, wenn ich Leute dann umstimmen kann, sozusagen. AUTOR Bis zum bundesweiten Volksentscheid ist es noch ein beschwerlicher Weg. Trotz der herausragenden Umfragewerte für den Wunsch nach mehr Bürgerbeteiligung: die Hürden sind und bleiben verdammt hoch. Am 27. November richten sich alle Augen auf Baden-Württemberg, auf den landesweiten Volksentscheid zum Bahnprojekt Stuttgart 21. Für viele ist er das Modellprojekt in Sachen direkter Demokratie. Wenn er scheitert, womit aufgrund des hohen Beteiligungsquorums zu rechnen ist, ist die Gefahr groß, dass damit der Ansatz insgesamt diskreditiert wird. Das wäre fatal. Denn gerade bei Großprojekten wie Stuttgart 21 ist vor allem in der Planungsphase mehr Bürgerbeteiligung dringend geboten. Bevor es nur noch hopp oder top heißt und, um mit den Worten Sebastian Frankenbergers zu sprechen, der "Volksjoker" gezogen wird. TAKE 40 (Sebastian Frankenberger) Wir brauchen beides: wir brauchen, dass der Bürger gerade bei Großprojekten von Anfang an über Alternativen abstimmen kann, teilweise auch über Geldbudgets entscheiden kann, aber wir brauchen immer auch die letzte Möglichkeit, wo er sagen kann: ich bin der Souverän, ich sage ,ja' oder ,nein' zu diesem ganzen Projekt. Wenn er die Möglichkeit nicht hat, ist die Beteiligung von Anfang an auch schon wieder eine Farce, weil: dann sind Politiker nicht gezwungen, dass sie es umsetzen. SPRECHER v. Dienst Mitregieren! Direkte Demokratie und Volksbegehren in Deutschland. Eine Sendung von Wolf-Sören Treusch. Es sprach: der Autor Ton: Christiane Neumann Regie: Klaus Michael Klingsporn Redaktion: Martin Hartwig Produktion: Deutschlandradio Kultur 2011 1