DEUTSCHLANDFUNK - Köln im Deutschlandradio Redaktion Hintergrund Kultur Essay & Diskurs Dr. Norbert Seitz/Dr. Matthias Sträßner Essay & Diskurs "Wir kommen davon nicht los" Die Nazi-Keule oder: Der Fluch der bösen Tat Von Norbert Seitz Sprecherin: Marietta Bürger Sprecher: Matthias Ponnier Zitatorin: Bettina Scholmann Zitator: Walter Gontermann Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Sonntag, 15. Dezember 2013, 09:30 - 10:00 Uhr Sprecher: Jeden Tag eine neue Nazikiste. Heute der Schwabinger Raubkunstskandal, gestern der Bestattungsstreit um den verstorbenen Kriegsverbrecher Priebke. Ein identifizierter BVB-Fan entbietet zur Führung seiner Borussen den Hitlergruß. Bundesweites Stadionverbot bis 2017. Davor Freispruch für den Aktionskünstler Jonathan Meese und seine Provokationen mit NS-Symbolen. Waffen-SS-Ramsch im Verlies von Kommissar Derrick. Belastungsmaterial gegen den ebenfalls schon verstorbenen Tübinger Politologen Eschenburg. Und - kaum zu glauben: Am 30. Oktober dieses Jahres entschied der Stadtrat von Goslar nichts weniger als die Aberkennung der Ehrenbürgerschaft von - Adolf Hitler! Einstimmig, versteht sich. Der Philosoph Hermann Lübbe bemerkte einmal: Zitator: "Mit der größeren temporalen Distanz von den zwölf Jahren des ‚Dritten Reichs' ist kein Effekt des Verblassens der Erinnerung [...] verbunden gewesen. Ganz im Gegenteil hat die kulturelle und politische Aufdringlichkeit dieser Erinnerung zugenommen." Sprecherin: Ausdruck solcher Aufdringlichkeit ist vor allem die Nazikeule. Fast jede Woche wird sie noch geschwungen, in allen politischen Lagern, unsinnig und hemmungslos. Mit hirnrissigen Analogien, Vergleichen, Parallelen nicht nur im darbenden Süden Europas, sondern mitten in unserem Land mit seiner als vorbildlich gepriesenen Erinnerungskultur. Noch immer prasseln völlig unangemessene Nazi-Vergleiche im öffentlichen Sprachgebrauch auf uns nieder - und nicht nur in der politischen Sphäre, wenn man an die gängige Holocaust-Keule denkt, mit der katholische Kirchenführer die Abtreibungspraxis zu verteufeln pflegen. Um ein paar Beispiele herauszugreifen: Sprecher: Auch historische Bildung und schmerzvolle persönliche Erfahrung schützen vor solchen Torheiten nicht. Zitator: "Nicht jede Mehrheit ist eine gute Mehrheit. Auch Hitler wurde mit einer Mehrheit gewählt." Sprecher: So qualifizierte unlängst der große Dirigent Michael Gielen, einst jüdisches Emigrantenkind, die als "künstlerische Barbarei" empfundene Zusammenlegung zweier bedeutender Sinfonieorchester in Südwestdeutschland. Und musste sich dafür entschuldigen. Sprecherin: Entschuldigen musste sich auch Stephan J. Kramer, Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, für seine abwegige Polemik in der Sarrazin-Debatte, der Skandal-Autor habe mit seinem Gedankengut "Göring, Goebbels und Hitler große Ehre" erwiesen. Sprecher: Aber auch der denunzierte Sarrazin geizt nicht mit unangemessenen NS-Bezügen. Ganz im Stile der konspirativen Denkungsart rechter Ideologen verdammte er die umstrittenen Euro-Bonds als eine Art "Buße für den Holocaust", damit stabiles deutsches Geld unter die europäische Fuchtel geraten möge. Sprecherin: Derweil sieht Henryk M. Broder Europa von einer anderen Naziähnlichkeit bedroht. Hinter der angeblichen Transformation in einen islamischen Kontinent wittert er eine "Appeasement-Politik" wie "gegenüber Hitler". Sprecher: Der Reigen ließe sich beliebig fortsetzen bis hinein in die Alltagssprache, wo uns der Nazivergleich mitunter auch als flapsige Geschmacklosigkeit begegnet. So wurde kürzlich in Berlin der Fall eines Anästhesisten diskutiert, der gerichtlich gegen seine fristlose Kündigung vorging, die er nach einer blutig verlaufenen zehnstündigen Operation für den dummen Spruch bezogen hatte: Zitator: "Das ist hier ja wie bei Josef." Sprecher: Gemeint war mit "Josef" der Lagerarzt des KZ Auschwitz Mengele. Sprecherin: Dabei wird unsere veritable Gedächtniskultur im Lande überall in der Welt gelobt. Nach den Jahrzehnten des solidarischen Verdrängens und Beschweigens, der westdeutschen "Geschichtsvergessenheit" und ostdeutschen "Geschichtsversessenheit" hätten quälende Debatten um zentrale Mahnmale und Ausstellungen endlich gefruchtet. Dabei habe sich ein "relativ homogenes Kollektivgedächtnis" konstituiert, wird die Kulturwissenschaftlerinnen Aleida Assmann nicht müde hervorzuheben. Sprecherin: Doch die lang gehegte Hoffnung, nunmehr würde ein besonneneres Zeitalter im Umgang mit unserer jüngsten Geschichte anbrechen, sollte sich als trügerisch erweisen. Sprecher: Der Nazivergleich als meist völlig verunglückte historische Parallele oder Analogie hat sich als ein dominantes Muster in der politischen Auseinandersetzung der Nachkriegsdemokratie festgesetzt. Er stieg zu dem Totschlageargument schlechthin auf. Dabei kennt er weder eine politische, noch eine generationelle Risikogruppe, ist rechts wie links zu Hause, gedeiht nicht nur an Stammtischen oder in Festzelten. Die Nazikeule hat zudem alle intellektuellen Wegmarken und historische Zäsuren überstanden: den Kalten Krieg, die Ära der Entspannung, die Historikerdebatte, den Epochenbruch von `89, die Bonner Republik und erst recht Nine-Eleven. Eine kleine Chronik mag dies belegen: Sprecherin: In der alten Bundesrepublik avancierte in Zeiten des Kalten Krieges die Gleichung "Rot = Braun" zur Staatsräson des konservativen Lagers, wissenschaftlich untermauert von grobschlächtigen Totalitarismustheorien angelsächsischer Provenienz. Für die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit hatte die unterstellte Ebenbildlichkeit des Kommunismus eine aufschiebende Wirkung. Die propagandistische Losung dazu hatte Konrad Adenauer schon auf dem CDU-Gründungskongress von Goslar 1950 ausgegeben, als er sich die maßlose Übertreibung leistete: O-Ton Konrad Adenauer am 20.10.1950 auf dem CDU-Gründungsparteitag in Goslar: "Der Druck, den der Nationalsozialismus durch Gestapo, durch Konzentrationslager ausgeübt hat, mäßig war gegenüber dem, was jetzt in der Ostzone geschieht". Sprecher: Währenddessen wendete die sozialdemokratische Opposition den Nazivergleich gegen Vertreter der Regierungsparteien. So verließen Unionsabgeordnete während der historischen Bundestagsdebatte um die Wehrverfassung im März 1956 empört den Plenarsaal, als der SPD-Verteidigungsexperte Fritz Erler sich bei der Rede von Minister Franz Josef Strauss an Goebbels´ Auftritt im Berliner Sportpalast erinnert fühlte. Sprecherin: SPD-Vorstandssprecher Fritz Heine tremolierte 1953 vor der zweiten Wahl zum Deutschen Bundestag, würde die Union für weitere vier Jahre an der Macht bleiben, werde sie die Arbeiterbewegung "mit dem Ziel der Vernichtung und Ausrottung" bekämpfen. Und nach dem Urnengang sollte Heine das Resultat mit dem der letzten Reichstagswahl vom 6. März 1933 nach der Machtergreifung der Nazis vergleichen. Sprecher: Parallel dazu hat auch die SPD im Kampf gegen den Kommunismus im Ostblock und der Sowjetzone die propagandistische Karte "Rot ist gleich Braun" gezogen. So wurde die DDR nach dem Mauerbau nicht nur als Staatsgefängnis, sondern schlimmer noch: als Konzentrationslager bezeichnet. Auf Berlins Regierenden Bürgermeister Willy Brandt geht dieser Vergleich zurück, der der scharfmacherischen Frontpsychose jener Tage geschuldet war. Am 13. August 1961, dem Tag der Abriegelung West-Berlins, erklärte er: Zitator: "Die vom Ulbricht-Regime auf Anforderung der Warschauer-Pakt-Staaten verfügten und eingeleiteten Maßnahmen zur Abriegelung der Sowjetzone und des Ost-Sektors von West-Berlin sind ein empörendes Unrecht [...] Die Betonpfeiler, der Stacheldraht, die Todesstreifen, die Wachtürme und die Maschinenpistolen, das sind die Kennzeichen eines Konzentrationslagers." Sprecher: Obwohl seit 1963 der Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main täglich neue erschütternde Horrordetails aus dem barbarischen Alltag eines Konzentrationslagers ans Tageslicht brachte, wurde nach Meinungsumfragen in Deutschland Mitte der 1960er Jahre das Ulbricht-Regime nicht nur für faschismusähnlich, sondern sogar für schlimmer gehalten als die Nazi-Diktatur. Den antikommunistischen NS-Vergleich regte damals in der Bundesrepublik kaum jemanden auf, eher fühlten sich die noch unentdeckten oder verschonten alten Nazis entlastet. Sprecherin: Die politischen Lager hielten sich mit polemischen Nazi-Analogien gegenseitig in Schach. Für die außerparlamentarische Opposition von links war sie ultimative Polemik zur Denunziation der alten, für "restaurativ" gehaltenen Bundesrepublik. In den Jahren der Studentenrevolte gehörte es geradewegs zur analytischen Routine, der Bundesrepublik eine Kontinuität zum NS-Staat zu attestieren, nicht zuletzt wegen vieler fortgesetzter Politkarrieren von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern. Die Notstandsgesetze galten als "NS-Gesetze" und auf die USA passte inmitten des Vietnamkriegs der Schlachtruf "USA, SA, SS". Sprecher: Auch der einstmals emigrierte Sozialphilosoph Theodor W. Adorno sparte nicht mit schiefen Vergleichen, als er die Studentenrevolte einer "Pogromstimmung wie gegen die Juden" ausgesetzt sah. Im Gegenzug machte sich sein Schüler Habermas die APO zum Feind, den Gewaltmythos einiger Aktivisten als "linken Faschismus" geißelnd. Und die etablierte Politik ließ keine Gelegenheit aus, um die rebellierenden Studenten ihrerseits mit den Nazis, zum Beispiel den SDS mit der NSDAP zu vergleichen. Nahrung erhielt dieses Muster nochmals 2008 zum 40. Jahrestag von ´68 durch Götz Alys Buch Unser Kampf. Sprecherin: Mit der Ost- und Entspannungspolitik in den 1970er Jahren wandelte sich die Vergleichspraxis, aber nicht zum Positiven. Denn sie erlebte lagerübergreifend eine neue Hochzeit. Zwar verschwanden allmählich die seit dem Mauerbau 1961 üblichen DDR-KZ-Vergleiche aus dem öffentlichen Sprachgebrauch. Dafür musste sich die Entspannungsdiplomatie "Appeasement"-Parallelen gefallen lassen, während prominente Gegner der Politik Willy Brandts wie Franz Josef Strauss bevorzugt mit Hitler verglichen wurden, auf Juso-Kongressen, Staeck-Plakaten oder in Entgleisungen von Regierungsmitgliedern wie zum Beispiel von Karl Schiller. Brandts damaliger Wirtschaftsstar, selbst ein früheres NSDAP-Mitglied, fühlte sich bei den heftigen, medial gesteuerten Kampagnen gegen die Ost- und Entspannungspolitik an die "Harzburger Front" von 1931 erinnert, wo der deutschnationale Medienzar Alfred Hugenberg alle verfügbaren rechten Kräfte im Lande gegen die brüchige Weimarer Republik zu mobilisieren versucht hatte. Sprecher: Seit der Historikerdebatte 1986 sah es jedoch eine Zeitlang so aus, als könnte die Nazi-Parallele auf den Index einer scharf sanktionierenden Political Correctness geraten. Denn mit der nahezu bekennerhaft festgestellten Unvergleichlichkeit und Einzigartigkeit des industriell betriebenen Massenmords an den europäischen Juden verbat sich fortan jede hausgebräuchliche Nazi-Analogie, um sich nicht des Verdachts der Relativierung oder Verharmlosung jener Verbrechen auszusetzen. Sprecherin: Für die gleichen Vertreter von Alt-68, die einst das verhasste Nachkriegsdeutschland namens Bundesrepublik mit Kontinuitätsphrasen zuschwallten, wurde nunmehr das Ritual von der Unvergleichlichkeit der NS-Verbrechen zum Entlastungsargument des Stalinismus. Denn wer verglich, geriet automatisch unter Relativierungsverdacht. Gleichzeitig wurde der antikommunistische Nazivergleich in der Rumpelkammer des Kalten Krieges entsorgt. Sprecher: Weshalb auch Kanzler Kohl aus der Zeit gefallen schien, als er 1986 den Goebbels-Gorbatschow-Vergleich bemühte und im Bundestagswahlkampf die DDR wieder als "Konzentrationslager" bezeichnete. Kohls Pannen im Umgang mit Geschichte gerieten zum diplomatischen Sicherheitsrisiko. O-Ton Helmut Kohl, Tonbandprotokoll eines Interviews mit Newsweek, veröffentlicht am 06.11.1986 (mit englischer Übersetzung): "Das ist ein moderner kommunistischer Führer. Der war...der war nie in Kalifornien, nie in Hollywood, aber versteht was von PR. Goebbels verstand auch was von PR [Lachen] Man muss doch...man muss doch die Dinge auf den Punkt bringen." Sprecherin: Doch Michail Gorbatschow sollte sich in gewisser Weise zu einem späteren Zeitpunkt revanchieren - getreu der sarkastischen Devise, dass noch in jedem Nazivergleichsopfer auch ein potenzieller Nazivergleichstäter steckt. So griff der letzte Sowjetführer gegenüber Kanzler Kohls Sherpa Horst Köhler in jene Polemikkiste, als im Jahr der Deutschen Einheit die finanziellen Hilfen aus dem Westen nicht rasch genug eintrafen: Zitator: "Was geschieht hinsichtlich der Hilfe für die UdSSR? Wir handeln, wägen ab, rechnen durch [...] Das alles erinnert an die Weimarer Republik in Deutschland. Während die Demokraten untereinander stritten, kam Hitler ohne besondere Anstrengung an die Macht." Sprecher: Es blieb das Rätsel des Kreml-Reformers, was er uns damit sagen wollte - außer, dass sein Land pleite war. Sprecherin: Aber selbst ein ausgewiesener Faschismusgegner mit Emigrationsschicksal wie Willy Brandt bediente sich einer untauglichen Nazi-Parallele und verunglimpfte Heiner Geissler nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 1985 in einer ARD-Elefantenrunde mit Helmut Kohl: O-Ton Willy Brandt und Helmut Kohl am 12. Mai 1985 in der "Bonner Runde": Brandt: "Seit Goebbels der schlimmste Hetzer in diesem Land." Kohl: "Ach, Herr Brandt, Herr Brandt lassen Sie doch solche Vergleiche weg. Die stehen Ihnen überhaupt nicht an. Lassen Sie bitte den Vergleich mit...zwischen Geissler und Goebbels weg. Sie sollten sich schämen." Sprecher: Der Nazivergleich ist nicht nur eine Marotte der Nachfahren des deutschen Tätervolks. Er gilt international als ein begehrtes Denunziationsmittel. So konnte sich Italiens Ministerpräsident Berlusconi den Fraktionschef der Sozialisten im Europäischen Parlament, Martin Schulz, in der Rolle eines KZ-Wächters vorstellen; Vertriebenenchefin Erika Steinbach pflegt in Teilen der polnischen Presse gerne als revanchistische NS-Domina in knapper brauner Kluft dargestellt zu werden. Hakenkreuze und Hitler-Bärtchen muss sich auch die deutsche Kanzlerin auf Plakaten bei Protestmärschen in Griechenland und Spanien gegen den rigiden europäischen Sparkurs gefallen lassen. Selbst in der Knesset hagelt es nur so von SS-Schergen und HJ-Buben, wenn sich israelische Volksvertreter anfeinden. Währenddessen wird in der islamischen Welt der verhasste Staat Israel mit Hitler-Deutschland gleichgesetzt. Danach entsprechen die jüdischen Opfer von damals dem palästinensischen Volk von heute. Sprecherin: Außerdem wurden weltweit noch nie so viele verbrecherische Diktatoren und politische Führer von sogenannten "Schurkenstaaten" mit Hitler verglichen wie seit den 1990er Jahren: Miloševic, Yassir Arafat, Osama bin Ladin, Ghaddafi. Und 1991 vor dem Golfkrieg befeuerte der Dichter Hans Magnus Enzensberger den öffentlichen Disput zwischen Bellizisten und Pazifisten, als er den irakischen Despoten Saddam Hussein als "Wiedergänger Hitlers" bezeichnete. Mit der Konsequenz, dass der Holocaust inzwischen weltweit als eine enthistorisierte Metapher für das absolut Böse verwendet wird. So tauchte die Shoah als Metapher im Kuweit-Feldzug Desert Storm auf, während des Kosovo-Krieges 1999, nach dem 11. September, im israelisch-palästinensischen Dauerkonflikt oder im Kampf gegen die Taliban als "Äquivalent zu Hitlers SS". US-Präsident George W. Bush bemühte beim Überfall auf den Irak Bilder von der Landung in der Normandie und dem Reeducation-Programm im Nachkriegs-Deutschland. Sprecher: Zum beschämenden Nazivergleichsfestival geriet der Bundestagswahlkampf 2002, als mit Edmund Stoiber ein ausgewiesener Nazivergleichsserientäter Kanzler Schröder herausforderte. 1980 hatte er als Wahlkampfleiter des CSU-Kanzlerkandidaten Franz Josef Strauss mit der Bemerkung eine gruselige Debatte losgetreten, auch Nationalsozialisten seien Sozialisten gewesen. Strauss-Unterstützer Golo Mann schlug damals in einem Brief an Stoiber Alarm: Zitator: "Ich bin darüber auf das allertiefste bekümmert. Sie haben hier [...] einen sehr, sehr schweren Fehler gemacht [...] Mit der SPD können Sie die Nazis nun wirklich nicht zusammenbringen [...] Hitler einen Marxisten zu nennen, ist nun wirklich die äußerste Narretei [...] Dergleichen darf sich nicht wiederholen. Sonst kann ich da nicht mithalten." Sprecherin: Auch im Wahlkampf 2002 geriet der Stammtisch zur Geschichtsstunde. Das Terrain war polemisch derart vermint, dass an allen Ecken und Enden kleine Nazianalogien und vulgärhistorische Anspielungen detonierten, woraufhin damals in der Berliner Zeitung geunkt wurde, Zitator: "wer im Wettbewerb um den dümmsten, frivolsten und niederträchtigsten Vergleich am Ende die historische Spürnase vorne haben [würde]." Sprecher: Am Ende des Wahlkampfs büßte die Bundesministerin Herta Däubler-Gmelin ihr Amt ein, als sie den US-Präsidenten George W. Bush mit Hitler verglich und sich dabei auch noch einer auf Helmut Schmidt zurückgehenden Namensverharmlosung Hitlers bediente. Sinngemäß soll sie in einem Hintergrundgespräch mit dem Schwäbischen Tagblatt zum Besten gegeben haben: Zitatorin: "Bush will mit seinen Kriegsplänen nur von seinen innenpolitischen Schwierigkeiten ablenken. Das ist eine beliebte Methode. Das kennen wir aus unserer eigenen Geschichte seit Adolf Nazi." Sprecherin: Der unvergessene TAZ-Kommentator Christian Semler beschimpfte die Tübinger Rede von der "Methode Hitler" als "plattgewalzten Unsinn". Doch die von Nazivergleichen überschattete Wahl sollte noch ein weiteres trauriges Highlight zutage fördern, als ein anerkannter Historiker wie Christoph Stölzl in seiner offensichtlichen Wut über den knappen Wahlausgang zugunsten Schröders die Situation in Deutschland mit der vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten gleichsetzte. Zitator: "Die Deutschen hatten immer Unglück gehabt, wenn sie sich irrationalen Stimmungen hingaben [...] Das war 1914 so, das große Unglück der Erdrutschwahlen von 1931/32 war so, und sie waren immer im Glück, wenn sie nüchtern waren." Sprecher: Damit wurde die bis dato größte öffentliche Debatte über die regressive Gleichsetzungsmarotte in der Politik losgetreten. Der Publizist Gustav Seibt konnte sich nicht erklären, wie der "taktisch idiotische, sachlich verkehrte Satz zustande kommen konnte". Stölzl habe wohl den "Verstand verloren", sei angesichts der unerwarteten CDU-Niederlage seinerseits Opfer einer emotionalen Überreaktion geworden. Sprecherin: Dass mit Stölzl ausgerechnet der Direktor des Deutschen Historischen Museums und einer der wenigen Intellektuellen in der aktiven deutschen Politik sich beteiligte, machte deutlich, dass die Ursachen tiefer liegen müssen, denn fehlendes historisches Bewusstsein konnte man dem damaligen Berliner CDU-Chef kaum unterstellen. Sprecher: Der nächste breite öffentliche Diskurs über eine Missbrauchswelle an Nazivergleichen ereignete sich 2011 im Dauerstreit um das Bahnhofsprojekt "Stuttgart 21". Dort betätigte sich ausgerechnet der als Schlichter eingesetzte Heiner Geissler bei der Beschreibung des eskalierenden Konflikts als polemischer Scharfmacher. Erneut wurde ein früheres Nazivergleichsopfer zum Nazivergleichstäter. Denn Geissler bediente sich der demagogischen Sportpalastrede von Joseph Goebbels: "Wollt Ihr den totalen Krieg?". O-Ton Heiner Geissler und Tobias Armbrüster in "Informationen am Morgen", DLF, 02.08.2011: Tobias Armbrüster: "Herr Geissler, [...] am Schluss der Gespräche am vergangenen Freitag haben Sie Joseph Goebbels zitiert und die Konfliktparteien gefragt: "Wollt Ihr den totalen Krieg?". Was war da Ihre Absicht? Heiner Geissler: "Mal klar zu machen, was los ist. Man kann doch nicht dauernd in Entweder-Oder-Kategorien denken, sondern es gibt auch das Denken Sowohl-als-Auch... " [...] Tobias Armbrüster: "Ich muss Sie das gerade fragen: Verharmlosen Sie damit eine...die Sprechweise der Nazis?" Heiner Geissler: "Ach was, das ist doch keine Sprechweise der Nazis. Der totale Krieg, den...den gibt es auch anderswo, den haben wir zurzeit in Syrien." [...] Tobias Armbrüster: "Ist das denn totaler Krieg, der da in Stuttgart droht?" Heiner Geissler: "[...] Der ist schon seit geraumer Zeit vorhanden, es hat über hundert Verletzte gegeben, ein Mensch ist total blind geworden bei dieser Auseinandersetzung." Tobias Armbrüster: "Und das reicht..." Heiner Geissler:" Ich verharmlose überhaupt nicht, ich glaube Sie verharmlosen." Sprecher: Sie hörten gerade einen Auszug aus der Sendung "Information am Morgen" des Deutschlandfunk im August 2011. Sprecherin: "Hört das denn nie auf?" wurde allerorten geklagt. Der Nachahmungseffekt schlage offenbar immer noch stärker durch als die abschreckende Wirkung. "Wir kommen davon nicht los. Wollen wir davon nicht loskommen?", fragt die Politologin Antonia Grunenberg. In ihrem Buch Die Lust an der Schuld macht sie die "Abwesenheit von Intellektualität" aus. Durch das "Zugedecktsein mit einer obsessiven Vergangenheit, fehle "die Freiheit im Denken". Zitator: "Das hört nie auf, nie hört das auf", Sprecher: hat Günter Grass einmal geschworen. Doch gerade er hat vielfach mit schiefen Vergleichen sein Scherflein dazu beigetragen, dass das nie aufhört. Zuletzt, als er das verheerende Medienecho auf sein israelkritisches "Gedicht" als "Gleichschaltung der Presse" abqualifizierte, wofür er erwartbar in die Fänge der political correctness geriet. Es grenzte an absurdes Theater, dass daraufhin die Gelegenheit für einige seiner Unterstützer wie Albrecht Müller günstig schien, in Zeiten der Globalisierung und des Überwachungsstaates für eine neue Legitimität von Naziparallelen zu streiten - "um den Anfängen zu wehren". Sprecherin: Für die Geschichte des Nazi-Vergleichs steht der Satz des Historikers Eberhard Jäckel: Zitator: "Die Deutschen sind von Hitler befreit worden und werden ihn doch niemals loswerden." Sprecherin: Ist es der "Fluch der bösen Tat", der sich von Generation zu Generation fortzusetzen scheint? Dazu drei Thesen: Zitator: These 1: Hinter der Nazikeule steckt ein völkisches Trauma. Sprecher: Die Nazikeule stellt eine lagerübergreifende Regression dar. Dass sie unabhängig vom Intelligenzquotienten, der Tabuschwelle und verschärfter Sanktionen, ja Berufsrisiken, geschwungen wird, legt die These nahe, dass es sich um ein quasi völkisches Trauma zu handeln scheint: das Eingenebeltsein von einer "obsessiven Vergangenheit". Wir wirken immer noch relativ hilflos im Umgang mit dem geistigen Fortleben des Nationalsozialismus. Die administrativen Pannen bei der totalen Unterschätzung der NSU-Mordserie oder die Debatten um einen NPD-Verbotsantrag verweisen auf ein nach wie vor existierendes Missverhältnis aus Überreaktion und Unterkonsequenz. Zitator: These 2: Die hiesige Erinnerungskultur reicht offenbar nicht aus. Sprecherin: Wer etwa dem Neonazismus und Ausländerhass von Jugendlichen auf den Grund gehen will, kommt nicht umhin, die Modi der hiesigen Erinnerungskultur auf den Prüfstand zu stellen. Denn vom Einfall in die Tabuzone einer immer noch nicht vergangenen Geschichte geht nach wie vor eine abenteuerliche Versuchung auf perspektivlose und mental anfällige Jugendliche aus. Unsere couragierte Zivilgesellschaft hat immerhin Wege aufgezeigt, wie man sich vor Ort erfolgreich gegen Neonazis zur Wehr setzen kann. Ob sie über die alarmistischen Frühwarnsignale hinaus auch eine hilfreiche Sprache gefunden hat, darf eher bezweifelt werden. Sprecher: Skeptische Intellektuelle wie Karl Heinz Bohrer haben dem geschichtspolitischen Frieden einer "offiziellen Kommemoration" schon immer misstraut, weil für ihn ein "authentisches" Geschichtsbewusstsein nicht vorstellbar ist, das auf einer "Holocaustfixierung" basiert. Ebenso problematisierte der französische Philosoph Francois Lyotard die "Rede von Auschwitz", die sich nicht zur Konstitution politischer Kollektiv- und Wir-Identitäten eigne. Auch der Sozialphilosoph Jan Philipp Reemtsma misstraut der Möglichkeit einer museal zentrierten "Kollektiverinnerung" wie der gängigen Formel von den "Lehren aus der Geschichte". Sprecherin: Überdies merken Kulturkritiker von links mittlerweile an, das ganze Land drohe zum Mahnmal zu werden, von einer "Diktatur der Vergangenheit" samt "Verstellung von Zukunft" ist da die Rede. Für solche Kritiker stellt das affirmative Staatsgedenken mit seinen moralisch aufgeladenen Pathosformeln längst keine Alternative zu einem "kritischen Geschichtsbewusstsein" dar. Die hiesige Erinnerungskultur hat ihre Verdienste, zumal sie die lange Phase der Sprachlosigkeit, Verdrängung und Vertuschung der Nachkriegszeit ablösen konnte. Aber weist sie auch einen Weg aus der traumatischen Umklammerung und den Denkblockaden auf, die unser Verhältnis zur NS-Vergangenheit noch immer weitgehend zu bestimmen scheinen. Dazu bedarf es eines neuen Zugangs. Zitator: These 3: Die Historisierung des Nationalsozialismus scheint auf Dauer unerlässlich. Sprecher: Offenbar hat der Nazivergleich als Muster von ultimativer Polemik solange nicht ausgedient, bis eine immer wieder angemahnte Historisierung der NS-Vergangenheit stattgefunden hat. Noch scheint es unmöglich, sich vorzustellen, was Götz Aly unter Historisierung versteht. Zitator: "Dass man einmal über die Nazizeit ruhig und zurückgelehnt urteilen kann wie über den Dreißigjährigen Krieg oder die Französische Revolution." Sprecherin: Zwei gewichtige Gründe scheinen für eine Historisierung zu sprechen. Zum einen ein transnationaler Perspektivenwechsel beim Blick auf eine europäische Geschichte, in deren Zentrum nicht mehr nur die singulären Verbrechen des deutschen Totalitarismus stehen werden. Und zum anderen das Aussterben der Zeitzeugen. Danach wird die Erinnerung nur noch aus zweiter oder dritter Hand stammen können. Es liegt nahe, dass dies Auswirkungen haben dürfte auf unsere Erinnerungskultur, in der bislang das Gedenken an die NS-Zeit Vorrang hatte. Der Sozialwissenschaftler Harald Welzer dazu: Zitator: "Mit dem Verschwinden der Zeitzeugen wird die Geschichte auch wieder frei, zu einer lebendigen Betrachtung nämlich, zum Gebrauch. Sie wird zukunftsfähig. Die Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust wird kalt." Sprecher: Aleida Assmann befürchtet, dass mit der Historisierung eine Abflachung der Erinnerungslandschaft, ja ein Rückfall in eine "gewisse Neutralität" stattfinden könnte: Zitatorin: "Denn wir wollen den Holocaust dann nur noch als ein Sachwissen bewerten und nicht mehr als ein Identitätswissen, zu dem wir selber aufgerufen sind, einen Bezug herzustellen." Sprecherin: Natürlich ist die Historisierung keine Allzweckwaffe zur Entschärfung der Nazikeule. Aber sie verspricht einen ersten notwendigen Schritt, um sich von einer obsessiven Vergangenheit zu lösen, Denkblockaden zu lockern und die Tabubrüche von gestern und heute künftig ins Leere laufen zu lassen. 3