DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Feature Dienstag, 24.02.2009 Redaktion: Marcus Heumann 19.15 - 20.00 Uhr "Immer, wenn ich DRÜBEN sage, meine ich HIER ... " Wolfgang Neuss in Ost-Berlin Von Volker Kühn URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - O-Ton: Ein Skandal ist anzukreiden - Einer im Rentenalter aus Magdeburg will nicht in den Westen - kann die Verwandten sowieso nicht leiden 1. Sprecher: Die deutsche Teilung bot - solange es sie gab - kaum Stoff für Witzblätter und Vorstadtkomiker. Dafür war es eine zu triste Geschichte. Und doch lieferte der tiefe Riss, der über 40 Jahre lang durch Deutschland ging, zuweilen bitter-böse Pointen, wie jene, die Wolfgang Neuss, dem Mann mit der Pauke, damals über die freche Lippe kamen: Deutsch-deutsches aus dem Kabarett-Keller. O-Ton: Ich freu mich so zu jeder Zeit und tu ins Päckchen Ost ein trocken Blümchen zwischen Dr. Oetkers Puddingpulver, ein Viertel Pfund Kaffee und eine Schneck vom Bäcker, ein Amerikaner - weil: Der liebe Gott steckt im Detail. Ich danke Gott und wünsche mir, dass es so ewig bliebe, dass ich noch lange helfen darf, Hauptsache ist, man schießt nicht scharf. Das ist die deutsche Liebe. Ansage: "Immer, wenn ich DRÜBEN sage, meine ich HIER ... " Wolfgang Neuss in Ost-Berlin Von Volker Kühn (Schlagzeugende) O-Ton: Und als ich in die große Stadt rein fuhr, weil sie so breit und lang am Wannsee liegt, da tat ich gleich bei meinem Bart den Schwur, dass mich kein Mensch aus dieser Stadt raus kriegt. Ach, sagte ich zu ihr, ich bleib zunächst mal dein Geliebter hier. Und als ich gerade einmal wieder S-Bahn fuhr, da schossen die Soldaten dumm und stur, kein Panorama war zu sehen vor lauter Rauch, viele rote Löcher schossen sie sich in den Bauch. Ach sagte ich zu mir: Die Menschen in der Stadt sind nicht das Beste hier. Ich kenne Leute, die wollten einmal traben, die wollen heute nur noch kleine Schritte machen, weil sie die Hosen bis zum Rand voll haben. Wir wollen Selbstestimmung, das ist es, was uns zieht, wir wollen selbst bestimmen, was anderwärts geschieht. Ein Schuß, ein Toter, jeder fühlt's, keiner sagt's, jeder weiß es, große Pein. Jeden Tag kann hier in Berlin, hier um die Ecke, ganz neu, 1914 oder 1939 sein. 1. Sprecher: Die deutsch-deutsche Wirklichkeit der 60er Jahre schien denkbar ungeeignet für humorige Stimmungskanonen und ihr Lachkabarett, sie war eher etwas für ätzend beißende Satiren - und Kabarettisten wie Wolfgang Neuss. Der Berliner aus Breslau war damals Westdeutschlands schärfster und zugleich populärster Mann der Kleinkunst-Szene. O-Ton: Wenn wir auch ein armes Land sind und so ziemlich abgebrannt sind, zeigen wir, dass wir imposant sind, weil wir etwas überspannt sind. Wieder hauen wir auf die Pauke, wir leben hoch. Hoch, hoch, hoch, hoch, hoch, höher, hoch. 2. Sprecher: Als "Mann mit der Pauke" war Neuss in den fünfziger Jahren durch seine Präsenz auf der Theaterbühne, durch seine Kabarettauftritte, durch seine mehr als fünfzig Spielfilme, durch Funk und Fernsehen rasch zum Publikumsliebling der Viersektorenstadt geworden. Nach dem Tod seines Bühnen-, Kabarett- und Filmpartners Wolfgang Müller, der 1960 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, dreht Neuss zunächst zwei Spielfilme, zu denen er selbst das Drehbruch geschrieben hat. In "Wir Kellerkinder" setzt er sich auf kabarettistische Weise mit der jüngsten deutschen Vergangenheit auseinander. O-Ton: Auf die Idee bin ich allerdings gekommen, als die Hakenkreuz-Schmierereien in Deutschland begannen und angeblich eine Welle von Neofaschismus über die Bundesrepublik rollte und da habe ich immer gedacht: Ist das Neofaschismus, wenn die Väter den Söhnen die Hakenkreuze an die Tür malen ? Das ist doch nur eine Bekanntmachung, weiter nichts. 1. Sprecher: Auch sein zweiter Film behandelt ein deutsches Thema, das eines geteilten Landes. "Genosse Münchhausen" so der Titel - erzählt die deutsch-deutsche Geschichte als eine Art absurdes Apokalyptical, als reale Fiktion einer Wirklichkeit und des Landes, in dem sie entstand und für die sie gedacht ist. O-Ton : Es war einmal - - nein, das ist kein Märchen. Wir spinnen nicht, wir lügen nicht, wir versuchen, der heiteren Wahrheit nahezukommen. Gerade deshalb, weil diese Grenze so traurig ist. Nicht weit von hier: ein Stück Land. Zwei Deutsche, dazwischen Stacheldraht. So leben sie. Müßen sie so leben? 2. Sprecher: In der Maske des Landwirts Oskar Puste beackert Wolfgang Neuss den Boden der Tatsachen und zeichnet in seiner Satire vom Genossen Münchhausen eine Ost-West-Politik vor, die erst Jahre später unter Bundeskanzler Willy Brandt zum Gegenstand erster sozialliberaler Gehversuche wird. O-Ton: 'Hey, Genosse Münchhausen' - 'Brr, brr Grete. Ich heiße nicht so. Ich heiße Puste, bin Landwirt und außerdem bin ich der rechtmäßige Besitzer dieses Stückchen Landes hier, einen Morgen groß. Es ist ein besonders schöner Morgen, allerdings geteilt. Wo ich bin, ist Westen. Wo drüben der Genosse Altmann traktoriert, ist Osten. Das Ganze findet in Deutschland statt, obwohl es das Ganze nicht gibt. Ich will aber unbedingt, dass mir eines Tages wieder der ganze Morgen gehört. Aber wie?' 1. Sprecher: Die beiden großen Schlagzeilen-Themen anno 1961 - Mauerbau und Sowjet-Major Gagarin als erster Mensch im Weltall -, geben der phantastischen Story die herbe Würze. Aber so sehr sich Neuss auch für seinen Film ins Zeug legt und zu ungewöhnlichen Werbeideen greift - das Leinwandspektakel wird ein Flop. Noch will man mit der deutschen Frage nicht behelligt werden, schon gar nicht im Kino. Sprecherin: Aus der Hörspielfassung des Nordeutschen Rundfunks O-Ton: 'Ich habe genau genommen nichts gegen Weltraumfahrt, ich habe nur etwas gegen blinden Eifer. Was mich beunruhigt, ist, dass wir den Boden unter den Füßen verlieren. Bleiben wir mit unseren beiden Beinen, mit unseren Stiefelchen fest auf der Erde. Nehmen wir die menschliche Intelligenz und Kraft und konzentrieren sie auf die Befriedung unserer Welt. Die Menschheit in ihrer moralisch politischen Gesamtheit ist doch nicht reif, den Himmel, fremde Sterne, ferne Welten zu beglücken.' (Ansage) "Wir senden eine märchenhafte Dokumentation: Genosse Münchhausen." - 'Seien Sie doch mal ruhig. Es ist doch so: Wer von den kleinen und großen Bürgern des Westens möchte nicht einmal erst den Sozialismus in Cottbus, Gleiwitz, Smolensk, Estland, Lettland und auch Rußland sehen mit eigenen Augen, ehe er sich die anderen Löcher im Mond, Mars oder auf der Venus betrachtet? Und wer von den großen und kleinen Bürgern des Ostens möchte nicht mal erst den Kapitalismus in Hamburg, Mailand, London, Paris und auch in Amerika sehen mit eigenen Augen, ehe er sich die Krater auf Mond, Mars und Venus betrachtet? Oder glaubt der Mensch des Westens im Weltraum ist es besser als im Osten? Und der Mensch des Ostens, glaubt er etwa, dass es auf den glitzernden Dingern da im Himmel richtiger wäre als im Westen? Man sollte Raketen besteigen, zu Tausenden und mehr, man sollte seine kleinen Provinzen verlassen, aber man sollte nicht dort ankommen, wo man hingeschossen wird. Ich freue mich über jeden Weltraumschuß, der abirrt, der nicht ankommt, wie es ausgerechnet und geplant war. Jeder Mensch, in den entferntesten unbekannten Ecken unserer Welt ist ein unbekannter Stern. Solche Sterne möchte ich entdecken und erforschen. Menschen.' 2. Sprecher: Der Spaßmacher hat sich politisiert. Nach dem Tod seines Partners beschließt er, seine Rundumschläge und Schmähgesänge nun im Alleingang vorzutragen. Im Westberliner "Domizil am Lützowplatz" bringt er ab Dezember 1963 Abend für Abend sein Soloprogramm "Das jüngste Gerücht" auf die Bühne - ein komödiantisches Stück Polittheater, zeitkritisches Kabarett. O-Ton: Bundesmickimaus Felix von Eckhart streut Gerüchte aus: Adenauer liest chinesische Gedichte. Chinesisch entspricht seinem Wesen. Das soll uns mal erst einer nachmachen, mit achtundachzig noch senkrecht lesen. Das jüngste Gerücht, hat mir Felix erzählt, Adenauer will Marlene Dietrich heiraten. Ich sage: Na und, muss er? So, meine Damen und Herren, spätestens an dieser Stelle beginnt die Pflicht, bis hierhin war Kür. 1. Sprecher: Es ist die Zeit, in der der fast neunzigjährige Konrad Adenauer noch CDU-Vorsitzender ist und Ludwig Erhard sein Bonner Kanzler, als der "Spitzbart" Walter Ulbricht in der SED das sächselnde Sagen hat und Hardliner Leonid Breschnew den umgänglicheren Nikita Chruschtschow im Kreml ablöst. 2. Sprecher: Hüben wie drüben wird lautstark auf der Klaviatur des Kalten Krieges gespielt. Die Frage der deutschen Einheit verkommt unterdes immer mehr zur beschwörenden Floskel politischer Sonntagsreden. Es sei denn, Polit-Spötter wie Wolfgang Neuss nehmen sich ihrer an. O-Ton: In Abwandlung eines sehr bekannten Flüsterwitzes staune ich ja immer noch, wie viele Deutsche intelligent, ehrlich und wiedervereinigungsgläubig sind. Ich meine schön: Diese drei Eigenschaften treffen nie auf einmal zu. Entweder wir sind intelligent und ehrlich, sind wir nicht wiedervereinigungsgläubig, oder wir sind intelligent und wiedervereinigungsgläubig, sind wir nicht ehrlich, oder wir sind ehrlich und wiedervereinigungsgläubig, sind wir ... aber wer will schon dämlich sein. Wissen Sie, wie ich mir über jede Situation helfe, persönliche Dummheit ist nunmal eine gesellschaftliche Vernachlässigung. Da kommt man überall durch, wirklich. 1. Sprecher: Neuss hat mit seinem ersten Kabarett-Solo einen triumphalen Erfolg. Die Presse lobt seinen schnellen Witz, die messerscharfen Pointen, den hellen Verstand und den Mut, gegen Tabus anzurennen. Das Publikum stürmt den Westberliner Kabarettkeller und sorgt monatelang für ein ausverkauftes Haus. Im Parkett sitzen neuerdings die Liebhaber der alten Filmklamotten neben den neuen Fans aus den Reihen der kritischen Intelligenz. Neuss gesteht, er habe sich "in den Geist verliebt". Er sucht und findet neue Freundschaften: mit Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger, Uwe Johnson, Reinhard Lettau. Man trifft sich, tauscht sich aus, beratschlagt, diskutiert über die aktuelle Lage der Nation. O-Ton: Vor dem jüngsten Gericht erscheint eine Dame und sagt: 'Hohes Gerücht, Sie werden es nicht glauben, ich bin eine hundert Jahre alte, gute Fee.' - 'Nanu? Nanu? Nanu? Sie sehen ja aus wie gestern gegründet.' - 'Jaaaa, ich gebäre mich täglich neu.' - 'Ihr Name?' -'SPD'. Im Souffleurkasten sitzt Herbert Wehner. Die SPD tritt in zartrosa Kopftuch von rechts auf. Halbrechts steht stumm ein Pflichtverteidiger der SPD und zwinkert beruhigend mit den Augen. Es ist Günter Grass in der Maske von Millowitsch. Links auf der Bühne sieht man eine Klinke, aber ohne Tür. Es ist die heimatlose Klinke, sie wird ununterbrochen heruntergedrückt. 'Was denn, was denn. Sie sind die SPD? Sie sehen ja aus wie ein Teenager.' 'Hohes Gerücht, ich habe mcih raffen lassen!' Aus dem Souffleurkasten kommt ein warnendes 'Pssst'. 'Wo fand denn die Raffung statt?' 'Godesberg hieß das Städtchen! Dort hat mich der Modearzt Wehner gefettet und mir die Falken aus dem Gesicht geplättet.' Wehner knallt eine harte Formulierung aus dem Souffleurkasten: Zum Tage der deutschen Einheit - 17. Juni - soll jeder westdeutsche Arbeiter einen italienischen Gastkommunisten zugeteilt bekommen, damit er sich in geistiger Auseinandersetzung auf die Wiedervereinigung vorbereiten kann!' 2. Sprecher: Während Neuss am Lützowplatz Abend für Abend sein "jüngstes Gerücht" ausstreut, kommt auch in den deutsch-deutschen Dialog wieder Bewegung. Nach zähen Verhandlungen verständigen sich die Behörden dies- und jenseits der Mauer für Weihnachten 1963 auf ein Passierscheinabkommen, das es West-Berlinern zum ersten Mal seit dem Mauerbau ermöglicht, während der Feiertage und zwischen den Jahren ihre Verwandten im Ostteil der Stadt zu besuchen - über 800 000 Menschen machten von dieser Möglichkeit Gebrauch. Sprecherin: Rundfunk der DDR 1963 O-Ton Wer kennt nicht den Kabarettisten aus West-Berlin? Es ist die Rede von Wolfgang Neuss. In seinen Arbeitsräumen sagt er uns folgende Sätze ins Mikrophon: "Es geht nicht darum, Gramm für Gramm nachzuwiegen, welche Seite in der Vergangenheit mehr Fehler aufeinander gehäuft hat. Mir geht es darum, Gramm für Gramm, und auch unser aller Gram von der Waage runter zu nehmen. Könnte nicht das kommende Jahr dazu benutzt werden, Hass abzubauen, Feindschaften zu beerdigen, Verleumdungen unter Strafe zu stellen. Beispielsweise: West-Berlin ist ein aggressiver Nato-Stützpunkt, Ost-Berlin ist ein einziges KZ. Wenn man erstmal das Vergnügen feststellt, was man empfindet, beim Anderen das Gute zu sehen und dem gegenseitig nacheifert, dann könnten wir ein ganz nettes Städtchen werden. 1. Sprecher: Auch Wolfgang Neuss nutzt jede Gelegenheit, Kontakte mit Gesinnungsgenossen jenseits der Mauer aufzunehmen. So oft es geht, fährt er hinüber in den Ostteil der Stadt, trifft sich mit der Intendantin des Berliner Ensembles, Brechts Witwe Helene Weigel, mit Schauspielerkollegen wie Rolf Ludwig und Wolf Kaiser, den Mackie-Messer-Darsteller der "Dreigroschenoper", mit Systemkritikern wie Robert Havemann und Wolf Biermann - Kontaktversuche, die vom Ministerium für Staatssicherheit argwöhnisch beäugt werden. Schlagzeug Zitator: "Neuss reiste am 11.1.1965 mit Pkw ein, im Handschuhfach 7 Exemplare der Hetzschrift Neuss Deutschland und mehrere Ausgaben des Spiegel. Aufenthaltsgenehmigung durch Frau Weigel. N. gab an, Wolf Kaiser vom BE aufsuchen zu wollen, um ihm die Zeitungen zu übergeben. Sie wurden eingezogen. Verhalten des Neuss: zynisch und frech. Von N. ist bekannt, dass er ein Vertreter des dritten Weges ist und anarchistische Züge trägt." Schlagzeugende 1. Sprecher: Was der Grenzsoldat bei seiner Kontrolle im Autofach des Westberliner Besuchers ausmacht, verstößt nach Ostberliner Lesart gegen das DDR-"Gesetz zum Schutze des Friedens". Bei den beschlagnahmten "Hetzmaterialien", die sich - wie es in den Stasi-Protokollen heißt - "gegen die Demokratie und die Erhaltung des Friedens richten", handelt es sich um die noch druckfrische erste Nummer einer Satire-Zeitschrift, die Neuss neuerdings zusammen mit seinem Westberliner Kabarettkollegen Wolfgang Gruner herausgibt. Ihr Titel: "NEUSS DEUTSCHLAND". 2. Sprecher: "Neuss Deutschland", ein "Organ des Zentralkomikerteams der Satirischen Einheitspartei Deutschlands", ist optisch ein parodistischer Abklatsch des zum Verwechseln ähnlichen SED-Zentralorgans "Neues Deutschland". Das Marx-Porträt des Zeitungskopfes findet man durch ein Bildnis von Charlie Chaplin ersetzt, und statt der Losung, nach der sich die Proletarier aller Länder zu vereinigen haben, heißt es nun: "Komiker aller Länder, vereinigt euch!" 1. Sprecher: Auch was auf den zwei Seiten zu lesen ist, findet kaum Beifall der Funktionäre im Arbeiter- und Bauernstaat. Denn das satirische Neuss-Blatt ist so etwas wie die Fortsetzung des "Jüngsten Gerüchts" mit anderen Mitteln, eins, das man nicht nur hören und sehen, sondern auch schwarz auf weiß nach Hause tragen kann. Hier erfährt man, eine westdeutsche Untersuchung habe ergeben, die DDR, sei - so das Testergebnis - "wenig empfehlenswert". Unter der Rubrik "Aus der Zyne für die Zyne", die auf die RIAS-Sendereihe "Aus der Zone für die Zone" anspielt, gibt Neuss gereimte Einblicke in bundesdeutsche Befindlichkeiten - zum Beispiel Verse über das "Päckchen nach drüben": O-Ton: Ich send' noch stets zu Ostern, Pfingsten, Weihnacht nach Potsdam und nach Merseburg das obligate Fettpaket, das mich vom Denken frei macht. Und hab ich mal Bedürfnis, mich besonders liebevoll zu zeigen, schick ich schnell Schmalz nach Neuruppin mit ein paar Trostesworten drin. Dann darf ich weiter schweigen. 2. Sprecher: Zum Thema Wiedervereinigung, kurz und ironisch "WV" genannt, erfährt der "Neuss-Deutschland"-Leser, sie werde vermutlich am 31. Februar stattfinden, und aufgemacht wird die Zeitung mit einem Deutschland-Plan des Satirikers Jonathan Swift, der in das Jahr 1725 zurückreicht. Unter der Schlagzeile "Des Deutschen Volkes Recht auf Selbstverstümmelung" heißt es da: 1. Sprecher: Um den Streit der beiden Hälften zu beenden und sie miteinander auszusöhnen, nehme man hundert ihrer Politiker, ordne sie nach Kopfgröße und stelle sie paarweise zusammen. Dann lasse man ihnen von zwei Chirurgen die Hinterköpfe absägen und auswechseln, so dass jeder von Stund an über die hintere Kopfhälfte seines jeweiligen Gegenübers verfügt. Da die beiden bisher getrennten Gehirnhälften die Sache nunmehr innerhalb eines Kopfes auszumachen hätten, würden sie bald zu einer Verständigung kommen. Es würde dadurch jene so sehr wünschenswerte Mäßigung und Klarheit in den Köpfen derer eintreten, die sich einbilden, nur deswegen auf die Welt gekommen zu sein, um sie zu überwachen und zu beherrschen. Bei diesem Plan würde der Unterschied der Gehirne aus den verschiedenen Ländern sowohl an Masse wie an Scharfsinn meiner Erfahrung nach überhaupt keine Rolle spielen. 2. Sprecher: Die von DDR-Grenzern konfiszierten Exemplare solch unbotmäßiger Satire landen auf den Schreibtischen der Hauptabteilung XX im Ministerium für Staatssicherheit. Doch dem Westberliner Kabarettisten stehen in Ostberlin noch weit effektivere Wirkungsmöglichkeiten ins Haus als das zweiseitig bedruckte Zeitungspapier. 1. Sprecher: Denn Helene Weigel versorgt Wolfgang Neuss nicht nur mit Passierscheinen, sondern lädt ihn auch zu einem Gastspiel ins Berliner Ensemble ein. Nachdem die SED-Spitze Einwände erhebt, macht die Brecht-Witwe von ihrem Hausrecht als Intendantin Gebrauch, erklärt das Neuss-Solo vom "Jüngsten Gerücht" kurzerhand zur geschlossenen Vorstellung und lädt in die Theaterkantine ein. Man schreibt den 18. Januar 1965. West-Kabarettist Neuss, zum erstenmal auf einer Bühne im "befeindeten Ausland", beginnt mit einer Klarstellung. O-Ton: Zuerst wolln wir mal üben: Immer wenn ich drüben sage, meine ich hier. Wenn ich hier sage, meine ich drüben. Guten Abend ihr lieben Menschen aus Ost und West, guten Abend im Widerstandsnest. Guten Abend, auch du politischer Banause. Wir können hier richtig deutsch diskutieren, richtig deutsch. Wir haben Verbandszeug im Hause. 1. Sprecher: Wie ein Lauffeuer hat sich die Nachricht vom Besuch des Westberliner Kabarett-Trommlers im Berliner Ensemble herumgesprochen, der zum Politikum zu werden verspricht. Und alle kommen, Schauspielerkollegen, Regisseure, Dramaturgen, Techniker, Bühnenarbeiter, Freunde des Hauses. Gern und weniger gern gesehene Gäste der Ostberliner Kulturszene. Was sie zu sehen und zu hören bekommen, ist eine Sternstunde zeitkritischen Kabaretts. Ein Mitschnitt dieses Abends, der offiziell ja gar nicht stattgefunden hat, ist erhalten geblieben. O-Ton : Ich war ja nun Weihnachten ooch drüben. Heiligabend hab ich meine Tante und Onkel in Treptow besucht ... meine Oma in Zehlendorf habe ick schon zehn Jahre nicht gesehen. Drüben habe ich sie wiedergetroffen, sie war auch gerade unterwegs. Ick war allerdings ohne Passierschein, ich habe an der Grenze einen kleinen Terror ausgeübt. Ich habe zu dem Vopo gesagt, ich habe noch Schulden von 1959, in der HO. Nu wuste der gar nicht. 'Gehen Sie bezahlen', sagt er. Ick gehe also rüber. Sagt er: 'Drei Mark umtauschen.' Sag ich: 'Das kommt überhaupt nicht in Frage.' 'Doch', sagt der, 'das müßen Sie, das ist jetzt Gesetz.' Ich sage: 'Damit komme ich nicht aus, ich brauche sechs!'. Damit Sie nur sehen, wie man dem Zwang entgehen kann und trotzdem seine Pflicht erfüllt. Also, ich habe mich dann auf meine mir gelernte Art sofort gerecht, ich bin dann, bevor ick zu Onkel und Tante nach Treptow raus bin, bin ick erstmal im Café Budapest, drei Flaschen Krimsekt, richtig gegessen, leise raus ... ick mache immer Schulden drüben! Ja natürlich, wie soll denn sonst das Regime zusammenbrechen? So'n Regime, das beginnt doch nicht Unter den Linden auf 'm Regierungsschreibtisch zusammen zukrachen. Das beginnt doch in der Familie, in der kleinsten Zelle eines Staates beginnt das doch zusammenzukrachen. Ick hab dann also Onkel und Tante in Treptow besucht, sehr herzlicher Empfang. Onkel hatte richtig was Gesamtdeutsches in der Pupille, wie er mich begrüßte. Er sagte gleich: 'Ich muss dir ehrlich sagen, ich fand der Chruschtschow war ein ordentlicher Junge.Er hatte nur einen Fehler, er war kein Kommunist.' Ich sage: 'Ja, ich glaube, das hat ihm auch nach meiner Meinung in West-Berlin sehr geschadet.' Also nur damit Sie mal sehen, dass ich auf der rein verwandtschaftlich dialektischen Basis einwandfrei mitgehalten habe. Er sagt : 'Eins darfste aber nicht vergessen: Der Mann hat in der Zoffjetunion immerhin das Überleben eingeführt.' Nu muss man wissen, dass mein Onkel ein irre labiler Typ ist. Der ist nach dem dreizehnten August, wo die da gebaut haben, is der gleich drauf Kommunist geworden. Ick bin nich schuld! Ick habe ihm immer geschrieben: 'Hör dir nich die politischen Kommentare im Sender Freies Berlin an!' Deutschlandsender war ihm wohl irgendwie zu langweilig - hat er immer gehört im SFB Dieter Kaeufler, Herbert Hausen ... da is er so sukzessive, ohne es zu merken, ist er in die SED reingerutscht. Ehrlich, also der ist so n Kommunist wie ich früher Nazi war: Halb so schlimm. Onkel meint jetzt, so 3 Millionen Kommunisten von der Sorte hätten sie jetzt da drüben. Ick sage: '3 Millionen?' 'Ja, soviel habt ihr geschafft.' Leistung erkennen sie an. Ja, ja, ja. Ick sage: '3 Millionen Kommunisten, das habe ich ja noch nie gehört. Dann wird's ja nischt mit der Wiedervereinigung, wie ick sie gelernt habe ... Es sei denn, wir stelln bei der Vereinigung den sozialen Wohungsbau hinten an und bauen erstmal Gefängnisse, damit der Strafvollzug ... Wir haben dann noch gegessen. War ja Heilig Abend, gab polnische Ente. Ick hatte eine mitgebracht. Die hatten aber auch eine da. Das kommt ja nunmal vor, dass zwei Länder denselben Import haben. Wenn die Enten gut sind, warum denn nicht? Die waren sehr höflich, haben meine gemacht. Ick wollte gerade den ersten Bissen Ente nehmen, da sagt Tante zu mir: 'Sag mal, Junge, gibt's denn nun ein Leben nach der Wiedervereinigung?' Ick habe die Ente dann erstmal runtergeschluckt. War ja sowieso meine. Ich sage: 'Tante, bitte laß mich mit den mythologischen Dingern in Ruhe' Der Baum brannte ja schon, da kann sie nicht mit so tückische Fragen kommen, das geht nun auch nicht. Ist echt wahr. Man muss ja auch auf sich Rücksicht nehmen, aufeinander. Na ja, Onkel hatte nur eine Bitte: Wir sollten hier drüben nicht immer so laut Wiedervereinigung sagen. Denn wenn ihr mit dem 'Wieder' anfangt, dann kommt ihr gar nicht bis zu dem V. Wenn die Rußen und Polen 'Wieder' hören, dann zucken die zusammen und wenn die richtig zucken, erschreckt ihr euch ... 'Das ginge ja noch', sagt er, 'aber es wäre immer so wechselseitig'. Und an der Stelle hatte er wieder das Gesamtdeutsche in der Pupille. Es ginge ja noch, sagt er, aber auf beiden Seiten kein Luftschutz.' Und da hat er ja Recht. Da war es halb zwölfe, da musste ick dann auch mal wieder rüber. Ich wollte ja auch den Vopo nicht im Stich lassen. Ick habe zum Abschied zu meinem Onkel gesagt, sage ick: 'Onkel hör mal zu.' sage ich. 'Das geht schon alles klar, wie ich das meine. Kannste dich drauf verlassen, die Vereinigung kommt. Eines Tages steht sie vor der Tür. Bist vielleicht gar nicht zu Hause.' 2. Sprecher: Das Publikum, man hört es, geht mit, jubelt lautstark und spontan, hellwach und begierig, keine der trommelfeuermäßig abgeschossenen Pointen zu verpassen. Neuss wird später von diesem Abend als einem Highlight in seiner Karriere sprechen. Unter den Zuschauern in der Theaterkantine: Helene Weigel, die Brecht-Schauspieler Gisela May, Wolf Kaiser, Ekkehard Schall. Brechts Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmann wedelt mit dem Satire-Blättchen "Neuss Deutschland" und zitiert daraus zur Einstimmung die scharfen Sachen. Konrad Wolf, der Filmemacher, bedrängt den Spaßmacher, eine Bemerkung über die in beiden deutschen Staaten ungeliebte KP zu machen. Neuss nimmt die Anregung auf. O-Ton: Selbst die Kuh wählt CSU, denn die Partei deckt alles. Ich würde zum Beispiel, wenn ich hier leben würde, mir eine andere Partei raussuchen. Nicht die ... .nein, nein, nein. Nein, aber ick habe nunmal festgestellt, dass die KPD in beiden Teilen Deutschlands verboten ist. Na ja, wenn man genau sein will: In dem einen verboten, in dem anderen überflüssig. 1. Sprecher: Hans Bentzien, der zuständige Minister für Kultur, glänzt durch Abwesenheit, läßt sich entschuldigen, schickt seinen Stellvertreter und läßt sich später berichten. Zwar hatte er zunächst Helene Weigels Anträge befürwortet, Neuss mehrmals nach Ostberlin einreisen zu lassen. Aber einer endgültigen Positionierung in Sachen Neuss weicht er aus. 2. Sprecher: Für andere Genossen liegt der Fall klarer. Leutnant Gampig von der Hauptabteilung XX des MfS ist davon überzeugt, dass es ... Zitator: Neuss und dem hinter ihm stehenden Personenkreis darum geht, sich Gehör vor allem in Kreisen der künstlerischen Intelligenz der DDR zu verschaffen und diese auf der Linie des Revisionismus festzulegen. 1. Sprecher: In den Stasi-Akten der Birthler-Behörde findet sich der folgende Stimmungsbericht über den spektakulären Auftritt in der Berliner-Ensemble-Kantine: Zitator: Neuss fand mit seinem Programm unter den Anwesenden Zustimmung und Beifall. Es richtete sich im wesentlichen gegen Erscheinungen der Politik der herrschenden Kreise in Westdeutschland, und er verstand es, diese Fragen treffsicherer und schärfer als alle unsere Kabaretts anzusprechen. Somit war sein Programm tragbar - ausgenommen von zwei Darbietungen, die sich gegen den Genossen Walter Ulbricht und gegen eine angebliche Zensur in der DDR richteten. Beide Nummern waren zweideutig und ließen vom Text her nicht die wahre Absicht erkennen. O-Ton: Wenn mann sich nun vorstellt, dass auf dem Stuhl des Staatsratsvorsitzenden in der Vergangenheit - nun ein konzilianter, freundlicher, aufgeschlossener und ein sehr - um mal das Klischee zu benutzen - ein sehr ankommender Mann gesessen hätte. Vielleicht noch sehr, sehr sympathisch. Ich habe gerade kein besseres Beispiel, nehmen wir mal mich. Tschuldigung, Albertz ist mir im Moment nicht eingefallen. Zitator: Zu Beginn seines Programms äußerte sich Neuss sinngemäß: "Wenn Leute von höheren Stellen da sind, so möchte ich sagen, dass ich gerne wieder komme. Aber warum darf Biermann nicht in Westberlin auftreten?" Weiter muss eingeschätzt werden, dass die Veröffentlichungen in der Westpresse den Schluss zulassen, dass die von Neuss verteilten Spitzen gegen die herrschenden Kreise in Westdeutschland zugunsten derer, die gegen die DDR gerichtet sind, in Kauf genommen werden. Im Programm des Neuss kommt das auch verschiedentlich zum Ausdruck. Er sagte zum Beispiel: O-Ton: Wer auch immer, wer auch immer gib, dass das größere Übel hinter der Mauer die immer währende Begründung dafür ist, dass das kleinere Übel vor der Mauer wachsen und gedeihen möge. Zitator: "Das größere Übel hinter der Mauer (gemeint ist die DDR) gebe, dass unser kleineres vor der Mauer wachsen und gedeihen möge". Oder: O-Ton Hinten auf der Mauer entlang kriecht ein neuer Gedanke. Zitator: Der kleine Gedanke kriecht über die Mauer, es ist der Erste. Er trägt Ausgehuniform. O-Ton Alles freut sich, es ist der erste. Zitator: Alles freut sich. Ein Schuß fällt. Und obwohl nur der kleine Gedanke die Schüße verhindern kann, meldet er sich in der Notaufnahme". O-Ton Man hofft, man füttert ihn, man macht Reklame, ein Schuß kracht, der Gedanke meldet sich sofort verängstigt, obwohl nur er Schüße verhindern könnte bei der Notaufnahme. Zitator: Oder: "Das Kabarett im Osten (DDR) darf nichts sagen und nichts ändern. Das im Westen darf alles sagen und nichts ändern. Das ist der Unterschied". 1. Sprecher: Die umjubelten Pointen werden von einem IM gewissenhaft notiert, stoßen aber weitgehend auf Unverständnis. So der ironisch gemeinte Neuss-Vorschlag, der beim WDR Köln agierende Polit-Talker Werner Höfer möge doch Robert Havemann zu seiner sonntäglichen Fernseh-Runde "Der Internationale Frühschoppen" einladen, damit der Ostberliner Querdenker endlich verhaftet werden könne. Auch die Neuss-Prophezeiung, in den achtziger Jahren werde man in West-Berlin Ulbricht-Gedenkkonzerte abhalten, weil man bis dahin erkannt haben werde, dass sich der SED-Chef "große Verdienste um den Antikommunismus" erworben habe, bringt den MfS-Mitarbeiter erheblich ins Schleudern. In seinem Bericht heißt es, die von Neuss abgefeuerten Zitator: "gegen uns gerichteten Spitzen" 1. Sprecher spiegelten bloß die Zitator: "dummen Meinungen, die in Westberlin vorhanden sind". 2. Sprecher: Das Hamburger Nachrichtenmagazin "Der Spiegel", das in den neunziger Jahren über den Aktenfund berichtet, konstatiert treffend: 1. Sprecher: Begnadete Rezensenten hat die Stasi nicht hervorgebracht. O-Ton: Unser Schlusswort zum Leben unserer Brüder und Schwestern in der intoleranten, geisttötenden, menschenverachtenden, selbstgerechten Ostzone wird niemals Amen lauten, sondern: nachahmen. 2. Sprecher: Der Ostberliner Auftritt des Westberliners in der Kantine des Berliner Ensemble ist und bleibt der einzige. Immer wieder setzt sich Neuss für den Liedermacher Wolf Biermann ein, mit dem ihn inzwischen eine enge Freundschaft verbindet. Just in jenem Jahr 1965, als Neuss in Ost-Berlin ist, erhält Biermann zum ersten und letzten Mal die Möglichkeit, bei der staatlichen Plattenfirma AMIGA einige seiner Lieder aufzunehmen. O-Ton Biermann: (Kunststück) Wenn ich mal voll bin, wenn ich mal voll bin, geh' ich kurz zum Teufel runter. und spendier Stalin ein Bier. Armer Alter. Wenn ich mal tot bin, wenn ich mal tot bin, wird' ich Grenzer' und bewache die Grenz' zwischen Himmel und Höll'. Ausweis bitte. 1.Sprecher: Die Aufnahmen werden niemals veröffentlicht. Als die DDR-Führung die Auftrittsbeschränkungen gegen den ungeliebten Politsänger verschärft, sagt Neuss aus Protest seine geplante Mitwirkung an einem DEFA-Projekt ab und beschließt, den Freund im Westen groß herauszubringen. Er baut Biermann kurzerhand in sein Kabarett-Programm ein, mit dem er im April 1965 auf der Abschlussveranstaltung des Ostermarsches in Frankfurt am Main auftritt. O-Ton Neuss und Biermann: (Neuss) Die Mauer bleibt stehen bis Himmelfahrt - die Queen aus England muss sie noch sehen. Ach ihr Armen, das Wetter war trübe. Biermann hat mich den ganzen Tag unterwandert - dem Herbert Wehner zu lieben. Hurra! Neuss, der kapitalistische Pauker, Biermann, der kommunistische Trubadour, der proletarische Poet, und der bürgerliche Trommler - mal sehen ob's geht. Fröhliche Ostern! Fröhliche Western! Merkt's euch und hört Wolf Biermann zu Besuch bei Pauken-Neuss. (Biermann) Keiner tut gern tun, was er tun darf, was verboten ist, das macht uns gerade scharf. Witze riss das Volk schon immer ohne Demut und Respekt. Witze sind wie selbstgebrannter starker süßer Apfelwein. Aber in des Zwanges sauren Apfel mag das Volk nicht beißen. Oh, Gericht, vergälle nicht, uns mit schweren Strafen unsre große Lust am Witzereißen. Keiner tut gern tun, was er tun darf, was verboten ist, das macht uns gerade scharf. Die ihr oben sitzt mit meiner Billigung, ich rat' euch jetzt: Wenn zum Wohl des Sozialismus ihr nur schuftet, strebt und hetzt, plant und sitzt und redet viel, stellt mal unter strengste Strafe jedes Loblied auf den Staat, jede kühne Aufbautat. Wetten, dass das Vorteil hat? Keiner tut gern tun, was er tun darf, was verboten ist, das macht uns gerade scharf. Was verboten ist, das macht uns manchmal scharf. 2. Sprecher: Wolf Biermann ist damals im Westen so gut wie unbekannt, bestenfalls ein Geheimtipp unter Gleichgesinnten der linken Szene. Der Auftritt bei Neuss macht den Ostberliner Liedermacher über Nacht zum Begriff. O-Ton Neuss+Biermann Dies Liedchen, ist das wenige Gesamtdeutsche, was Biermann bei sich und bei Neuss entdeckt hat. Hört Biermann den Kommunisten. Seht, wie das Gesicht eures Feindes euch entsetzt, weil ihr erkennen müßt, wie sehr es eurem eigenen ähnelt. Spürt, wie die DDR langsam aber sicher unter das Glücksrad der Bundesrepublik gerät. Schon Clausewitz sagte: 'Der Puff ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln'. Wir alle, lügen wir nicht, wir alle hoffen darauf, im Kopf irgendeines deutschen Staatsmannes einen Strohhalm zu finden, an den wir uns klammern können. Biermann und Neuss wünschen ihnen alles Schlechte, damit sie aufwachen und das Gesetz ihres eigenen Notstandes verabschieden. Wie denkt der Duo-Deutsche zwanzig Jahre nach dem letzten Krieg? Es genügt nicht nur, keine Gedanken zu haben, man muss auch unfähig sein sie auszudrücken. Das ist der Fluch Doppeldeutschlands, Anti-Denkschablonen. Trotzdem war Biermann, Ost, bei Neuss, West, zu Besuch. 1. Sprecher: Die DDR-Behörden reagieren prompt - mit einem Einreiseverbot für Neuss. Liedermacher Biermann kommentiert die Maßnahme in einem Brief, den der Mann mit der Pauke in seinem Satire-Blatt "Neuss Deutschland" abdruckt: 2. Sprecher: Mein viellieber Neuss, Du hast hoffentlich inzwischen eindeutig kapiert, dass Du eine unerwünschte Person bist, in jeder Beziehung. Mit eben den kommunistischen Ambitionen, die Dich mit den westdeutschen Verhältnissen hätten in angenehm ernsten Widerspruch bringen können, wurdest Du als gefährlich stinkender Fisch wieder in das salzige Totenmeer der heimatlosen Linken geworfen, in eben das Medium, das uns lächerlich ungeeignet erscheint für politische Aktionen. Die Reaktionäre Deutschlands wissen schon, wohin sie ihre unverbesserlichen Verbesserer verbannen: in die unergiebige Position der Verbitterung und der verzweifelt bornierten Revolten im Salon ... Mach's gut, mein Freund, wir werden uns wohl eher auf dem Mond treffen als in Deutschland. Oder Du mußt ganz ekelhaft reaktionäre, revanchistische, militaristische, antikommunistische Töne anschlagen, dann lassen unsre maßgeblichen Kahlköpfe Dich wieder zu uns rein, so wie all die andern auch. Merk Dir endlich: die Ketzer werden geschmort, nicht die Helden. 1. Sprecher: Auch an Wolf Biermann wird von den "maßgeblichen Kahlköpfen" nun ein Exempel statuiert: Auftrittsverbot. Anlass dazu bieten etwa die unbotmäßigen Zeilen aus seinem "Wintermärchen", die er zu Wolfgang Neuss über die Grenze schmuggeln läßt und die sich prompt in dessen Satire-Zeitschrift "Neuss Deutschland" wiederfinden: O-Ton: Im deutschen Dezember floß die Spree Von Ost- nach Westberlin Da schwamm ich mit der Eisenbahn Hoch über die Mauer hin Da schwebte ich leicht übern Drahtverhau Und über die Bluthunde hin Das ging mir so seltsam ums Gemüt Und bitter auch durch den Sinn Das ging mir so bitter in das Herz: Da unten die treuen Genossen ... So mancher, der diesen gleichen Weg Zu Fuß ging, wurde erschossen Manch einer warf sein junges Fleisch In Drahtverhau und Minenfeld Durchlöchert läuft der Eimer aus Wenn die MP von hinten bellt 2. Sprecher: Neuss bleibt uneinsichtig und versteht die Welt nicht mehr, in der die Mächtigen das Sagen haben, nicht die Narren bei Hofe. Realpolitik ist seine Sache nicht. Noch im April 66 beschwert er sich in gewohnt ruppiger Herzlichkeit bei Helene Weigel darüber, dass man ihm die Einreise nach Ostberlin verwehre. Er halte das für nicht akzeptabel, immerhin habe er sich vorgenommen, eine Woche lang sein neues Programm "Neuss Testament" auf der Bühne des Berliner Ensemble zu spielen. 1. Sprecher Liebe Chefin! Ich bin enttäuscht von Dir. Da spielt eine Käthe Reichel in Mannheim, Ekki Schall in München beim Fernsehn, und ich hab noch nicht mal einen Schein, Dich zu besuchen? Ich weiß, ich bin ein Feind der DDR, weil ich Euer Freund bin? 2. Sprecher: Da will einem spontanen Freigeist nicht in den Kopf, dass man hüben wie drüben in der festgefahrenen deutsch-deutschen Frage auf die Vermittlerrolle eines bissigen Spötters lieber verzichten will. Schon im Herbst 1964 hatte er in einem Brief an die Chefredaktion des "Neuen Deutschland" dem SED-Organ auseinandergelegt, wie man ihn für den nicht honorierten Nachdruck einer Neuss-Glosse entschädigen könne: durch den freien Zugang nach Ostberlin. Dort wolle er, so Neuss, "geistig Verwandte" besuchen. 1. Sprecher Da ich mit den Devisenbestimmungen zwischen den beiden Halbstädten beziehungsweise Ganzstaaten beziehungsweise blockgebundenen Teilen nicht so vertraut bin, wie sich das für einen gehört, der demnächst Ihren Sektor betreten will, mache ich Ihnen folgenden, wahrscheinlich den Bestimmungen entgegenlaufenden Plan: Können Sie mir anstelle eines Honorars einen Dauergrenzdurchgangsschein für die Zeit ab dem 30. Oktober 64 beschaffen? Ich habe nämlich keine leiblichen Verwandten, also keine gestatteten Antrags-Stellungs-Menschen in dem Land, in dem Ihre Zeitung erscheinungsberechtigt ist. Weder bin ich mit den Gesetzen der DDR in Konflikt geraten, noch gedenke ich dies zu tun. Die Verkehrsregeln würde ich lernen. 2. Sprecher: Es hilft alles nichts. Es bleibt beim Einreiseverbot für Neuss. 1. Sprecher: Der Rest der Geschichte ist bekannt. Neuss macht noch zwei Solo-Programme, engagiert sich für die Studentenrevolte der 68er und begreift sich als Teil der Außerparlamentarischen Opposition. Sprecherin: Aus dem Programm "Marxmenschen", 1968 O-Ton: Sie entschuldigen doch, dass ich ab und zu in das kleine rote Büchlein gucke? Aber ich habe vor kurzem eine chinesische Revue gesehen, ich habe da im Vietnam Urlaub gemacht - ich kann ohne Mauer nicht leben - habe da eine chinesische Revue gesehen, da hat der Kunstschütze so gezielt, geschossen, nichts getroffen. Dann hat er ins kleine rote Büchlein geguckt und ohne hinzugucken alles getroffen. Also besser, ich gucke ab und zu rein, nich? 1. Sprecher: Er legt sich mit der Springer-Presse an, sucht mehr und mehr seine Zuflucht in Tabletten und Drogen und tritt schließlich - ziemlich lautstark natürlich, ganz so, wie es sich für ein professionelles Großmaul gehört - den Gang in die Stille an. Als er einsehen muss, dass sich die Welt vom Kleinkunstkeller aus nicht verändern läßt, zieht er sich von der Bühne zurück und lebt fortan als Hasch-Guru und Stadtindianer, der Freunde und Kollegen mit kabarettistischen Gags versorgt. In seiner Charlottenburger Wohnung monologisiert er noch 1985 über die Mauer: O-Ton: Unsere Gedächtniskirche für Gehirnpygmäen, unsere Berliner Steinlinie, unsere ständige Stabhochsprung-Möglichkeit, The Wall, die Ulbricht-Barrikade, die Nikita-Chruschtschow-Geißel, der Zaun der Gottlosen und Atheisten - die Mauer - eine Bauhaus-Produktion aus dem Hause Stasi, die geisloseste Idee, seit den Steinigungen von Betlehem, ein Plakat für Brutalität und Ohnmacht - sie steht einfach immer noch. 2. Sprecher: Die deutsche Einheit - eins seiner Lieblings-Reiz-Themen - hat Wolfgang Neuss nicht mehr erlebt. Er stirbt am 5. Mai 1989. Seine letzte Ruhe findet er an der Seite seines Kabarett-Kollegen Wolfgang Müller. 1. Sprecher: Noch wenige Stunden vor seinem Tod läßt Neuss sich filmen und gibt Interviews, in denen er laut darüber nachdenkt, ob man eigentlich so geschickt schweigen könne, dass man auch verstanden wird. Dass er seinen Abschied nahm, ohne den Fall der Mauer abzuwarten, halten seine Freunde und Kenner der Kabarettszene für eine unverzeihliche Laune des Schicksals. Sie sehen sich um eine Neuss-Pointe gebracht, wie sie nur ihm zu diesem Kapitel deutsch-deutscher Geschichte eingefallen wäre. O-Ton: Pauke Absage: "Immer, wenn ich DRÜBEN sage, meine ich HIER ... " Wolfgang Neuss in Ost-Berlin Ein Feature von Volker Kühn Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2009. Es sprachen: Jürgen Becker, Richard Rogler und Ralf Spengler Ton und Technik: Karl Heinz Stevens und Dagmar Schondey Regie: Wolfgang Rindfleisch Redaktion: Marcus Heumann 23