KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : Literatur Titel der Sendung : "Wie gefährlich sind Geschichten?" Indonesiens Literatur im Umbruch Autor/in : Margarete Blümel Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 11.10.2015 Besetzung : Simone Kabst, Sabine Falkenberg und Helmut Gauß Ton : Bernd Friebel Regie : Clarisse Cossais Produktion : O-Töne, Musik Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503 Musik 1 Annie Lennox "Don't let it bring you down" Sprecher 1 ( Zitat): Pujarosmi, mein Kind, du darfst die Männer, deren Mägen sich durch Unterernährung aufgebläht haben, nicht belächeln. Viele von ihnen kommen direkt aus Gefängnissen, in denen sie über ein Jahr lang pro Tag nicht mehr Nahrung bekamen, als in drei Dosen Schuhwichse passen würde. Einer dieser Männer ist über 1.60 m groß und wiegt nur wenig mehr als dreißig kg. Welch hohen Preis man doch für das Recht bezahlen muss, sich "Indonesischer Staatsbürger" nennen zu dürfen! Und doch: Die politischen Gefangenen, von denen ich rede, beweisen immer wieder, dass ihr Lebenswille noch lodert. Weil sie wissen, wie schön das Leben sein kann, besonders für Menschen mit Idealen, die das beste aus ihm zu machen verstehen. Das trifft selbst auf die Häftlinge zu, die ohne die Hilfe derjenigen, die gesünder sind, nicht mehr von ihren Lagern aufstehen oder sich hinlegen können. Musik 1 Annie Lennox "Don't let it bring you down" O-Ton 1 P. A. Toer ( indonesisch ) Sprecher 1 ( VO ) "Verzeihen Sie bitte, dass ich Sie so empfangen muss!" Sprecherin 1: Jakarta, Januar 2005. Pramoedya Ananta Toer, der große alte Mann unter Indonesiens Literaten, liegt auf einer Pritsche im Empfangsraum seines Hauses in Jakarta. Seit Tagen ist der damals Achtzigjährige nicht mehr von seinem Ruhebett aufgestanden. Kaum vermag er noch, seinen Kopf in Richtung der Besucherin zu wenden. Die an ihn gerichteten Fragen kommen trotz des Hörgerätes entweder verspätet oder gar nicht bei ihm an. Beeinträchtigungen, die sich Indonesiens berühmtester Schriftsteller während seiner Inhaftierung und des Aufenthaltes auf der Gefangeneninsel Buru zugezogen hatte. Dreißig Jahre alt war der oft liebevoll "Pram" genannte Autor gewesen, als er in der Nacht vom 13. Oktober 1965 aus diesem seinem Haus entführt wurde. Schon damals zählte der vor neun Jahren verstorbene Schriftsteller zu den bekanntesten Persönlichkeiten der indonesischen Literatur. Wenige Tage vorher hatte es einen angeblich kommunistischen Putsch gegeben, mehrere hochrangige Militärs waren ermordet worden. Vierzehn Jahre lang versuchte die Regierung unter General Suharto, dem Nachfolger Präsident Sukarnos, Indonesiens bekanntesten Autor mundtot zu machen - wegen Prams Nähe zu kommunistischen Organisationen und seiner angeblich aufrührerischen Reden und Schriften. O-Ton 2 P. A. Toer ( indonesisch ) Sprecher 1 ( VO ) "Nach Präsident Sukarrno hat diese Nation keinen wirklichen Führer mehr gehabt. Diese Nation, hat Sukarno einmal gesagt, leide unter ihrer Kulimentalität. Gut: Die Jungen haben es nach unsäglichen Opfern endlich geschafft, seinen Nachfolger Suharto zu stürzen. Aber warum haben wir des ungeachtet noch immer keinen guten Führer? Die Veränderungen innerhalb der vergangenen Jahrzehnte sind doch, wenn überhaupt, nur marginal. Seit der Revolution bis zum heutigen Tag hat es nichts außer einer Unmenge an leerem Gerede gegeben - nichts als Blabla." Sprecherin 1: Die in "Stilles Lied eines Stummen" veröffentlichten Briefe an seine Kinder konnte der Schriftsteller in Indonesien erst 1995 veröffentlichen. Musik 2 Annie Lennox "Don't let it bring you down" Sprecher 1 ( Zitat ): Pujarosmi, mein Kind, im Hafen Sodong von Nusa Kambangan begann das Drama des Hungers bereits, bevor das Schiff ablegte. Den Großteil des Tages waren wir gezwungen, in der sengenden Sonnenhitze sitzend gegen unseren nagenden Hunger anzukämpfen, während wir mitansehen mussten, wie die Wächter andere Gefangene verprügelten, nur weil diese Kleidungsstücke austauschten - die Uniformen waren ohne Berücksichtigung der Körpergröße ausgegeben worden. Diejenigen von uns, die das Glück hatten, nahe am Zaun zu sitzen, rissen vor Verzweiflung Blätter ab und kauten sie. Wir aßen die Blätter roh, obwohl sie mit Dreck überzogen waren, den wir nicht abwaschen konnten. Stell dir eine Mahlzeit aus Kanalratten mit verschimmelten Papaya- und Bananenblättern vor, dazu Blutegel, die vor dem Essen auf Palmblattrippen gespießt werden. Selbst J. P., der zu den kultiviertesten unter uns Häftlingen gehörte, ließ sich dazu herab, Geckos zu essen. Er entwickelte sich sogar zu einem Spezialisten für die Jagd auf diese Tiere. Nachdem die Füße abgerissen waren, zerquetschte er den Nacken der unglückseligen Kreatur zwischen Daumen und Zeigefinger, schob sich sodann das Tier in den Rachen und verschlang es der Länge nach. Der Wille dieses Mannes, sich gegen den Hunger zu wehren, war ein Sieg in sich selbst. Musik 2 Annie Lennox "Don't let it bring you down" O-Ton 3 P. A. Toer ( indonesisch ) Sprecher 1 ( VO ) "Es hängt von unseren Schriftstellern ab, ob wir etwas erreichen können... Verfügen die Einzelnen über Idealismus? Haben Sie Mut? Ohne Ideale wird sich hierzulande nichts ändern. Dann wird alles so bleiben wie es ist." Musik 2 Annie Lennox "Don't let it bring you down" Sprecherin 1: Laksmi Pamuntjak "Alle Farben Rot": Sprecherin 2 ( Zitat ) Ihr Gefühl hatte Amba nicht getäuscht. Dr. Suhadi kam blass und müde zurück, und kaum dass er das Büro betreten hatte, teilte er mit, dass in Jakarta etwas Weitreichendes vorgefallen war. Die Sieben-Uhr-Nachrichten hätten es gemeldet. Da sei eine unbekannte Gruppe, die sich Bewegung vom 30. September nenne. Diese Gruppe werfe einer Reihe von höchsten Offizieren vor, sich in einem Generalsrat zusammengeschlossen und einen Putsch geplant zu haben. Das Kabinett sei jetzt aufgelöst und durch einen Revolutionsrat ersetzt. Und dies alles sei zum Schutz Sukarnos geschehen. Außerhalb des Büros war alles ruhig. Diejenigen, die auf den Stationen, in den Patientenzimmern, in der Küche arbeiteten, wussten offenbar nicht, dass sich etwas Besonderes ereignet hatte, oder falls sie es gehört hatten, so wussten sie nicht, wie sie darauf hätten reagieren sollen. Wer konnte ahnen, dass hier etwas eingeleitet worden war, das bald darüber entscheiden würde, ob ein Mensch weiterleben oder sterben würde und ob sein Leichnam verstümmelt in irgendeinen Graben geworfen würde wie der Kadaver eines Hundes? O-Ton 4 Laksmi Pamuntjak "It is not that easy ..It is painful and it is risky at times as well." Sprecherin 2 ( VO ) "Ich halte es für sehr schwierig, diese Gräueltaten wirklich begreiflich machen zu wollen. Und nicht nur das - es ist auch schmerzvoll und zuweilen durchaus riskant." Sprecherin 1: Dennoch hat die Schriftstellerin Laksmi Pamuntjak das Wagnis auf sich genommen. Ihr Roman "Alle Farben Rot" ist in Indonesien ein Bestseller geworden. Ein wichtiger Teil der Ereignisse, die diese Geschichte bestimmen, spielt auf Buru, einer zu den Molukken gehörenden Insel. In ihrem Werk thematisiert die Autorin das Trauma, das durch die Massenmorde nach dem Putschversuch im September 1965 ausgelöst wurde - die Vorgänge also, in deren Verlauf auch ihr berühmter Kollege Pramoedya Ananta Toer festgenommen wurde und derentwegen er von 1965 bis 1979 auf der Gefangeneninsel Buru inhaftiert war. Sprecherin 2 ( Zitat ) Die Uhr zeigte jetzt Punkt neun. Als Erstes gab es eine Erklärung im Namen der Streitkräfte, die möglicherweise auch schon in den Stunden zuvor gesendet worden war. Die Stimme eines Generalmajors namens Suharto erfüllte den Raum. Dieser erklärte ruhig und entschieden, wobei ein leichtes Zittern in der Stimme Erschütterung und unterdrückten Zorn andeutete, dass die Bewegung vom 30. September eine konterrevolutionäre Gruppierung sei, die einen Staatsstreich angezettelt habe. Auf die Worte dieses Generalmajors folgte die Nachricht von der Entführung und Ermordung einiger hoher Offiziere und eine weitere Erklärung, dass die Streitkräfte gegen die Putschisten vorgehen werden, Ruhe und Ordnung wiederherstellen und für die Sicherheit von Präsident Sukarno sorgen werden. Einige Minuten schwiegen die drei wie gelähmt. In der Hauptstadt hatte es innerhalb von weniger als vierundzwanzig Stunden erneut eine Verschiebung der Machtverhältnisse gegeben. Sprecherin 1: Die dreiundvierzigjährige Journalistin, Essayistin und Lyrikerin Laksmi Pamuntjak hat die bewegte Geschichte ihres Landes mit dem Nationalepos Mahabharata verknüpft. Das Mahabharata ist ein bedeutendes philosophisches und religiöses Epos, in dem unter anderem hinduistische Ethik, religiöse Pflichten, Liebe und Krieg eine große Rolle spielen. O-Ton 5 Laksmi Pamuntjak "It is actually my modern retelling of their stories... These are things which are close to my heart. Sprecherin 2 ( VO ) "In der von mir gewählten, zeitgemäßen Interpretation der Geschichte sind Bhisma und Amba Liebende. Außerdem habe ich Mütter, Töchter und das Thema Adoption eingeführt. Das sind Dinge, die mir ganz einfach nahe sind." Sprecherin 1: Im Epos Mahabharata ist Prinzessin Amba eine zweifach gedemütigte Frau - König Salwa weist sie, die ihm zugedachte Braut, zurück, weil er sich von ihr entehrt fühlt. Und der von ihr geliebte Bhisma, der Ambas Gefühle erwidert, kann sich nicht mit ihr verbinden, weil er ein Keuschheitsgelübde abgelegt hat. In Laksmi Pamuntjaks "Alle Farben Rot" erleben Amba und Bhisma zwar kein klassisches Happy End, aber Amba ist und bleibt eine stolze, eine starke Frau. Ganz anders als im Original, in dem die Protagonistin, sagt Laksmi Pamuntjak, als weibliches Monster dargestellt wird. O-Ton 6 Laksmi Pamuntjak "She is the original monstress feminin. And I hate that... So what is one do about that?" Sprecherin 2 ( VO ) "Ich hasse das! Eine Frau sollte niemals als so schlecht angesehen werden, dass man, wie etwa auf Java, nicht einmal ein Kind nach ihr benennt, weil das Unglück bringen könnte. Und ich habe mich gefragt: Was kann einem Menschen geschehen, der einen Namen hat, der gemäß den javanischen Vorstellungen sein Schicksal bestimmt? Was kann man in diesem Falle tun?" Sprecherin 2 ( Zitat ): Vielleicht möchten Sie jetzt einwenden, dass diese Zeit doch wirklich unvorstellbar lange zurückliegt und sich das Bild von Heldinnen während der letzten Jahrhunderte sehr gewandelt hat. Aber hierin liegt die verstörende Kraft der Mythen: Sie schleichen sich auch jetzt noch an uns heran, um uns das Schicksal anzudeuten. Manchmal können sie die Wahl eines Menschen beeinflussen, lange bevor sich ihm der Zwang zur Entscheidung stellt. Das ist der Grund, warum Sie kaum eine Amba in Indonesien finden und ebenso selten eine Ambika oder Ambalika. Man will Unglück nicht herbeireden. Sprecherin 1: Auch "Larung", ein Roman der Autorin und Journalistin Ayu Utami, thematisiert die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse unter dem Suharto-Regime und die Geschehnisse, die 1965 ihren Lauf nahmen. Außerdem nimmt Utami bei dieser Gelegenheit das Leben und Treiben der indonesischen Mittelschicht unter die Lupe und spricht die Unterdrückung durch das korrupte Militärregime an. Musik 3 London Grammar "Nightcall" Sprecherin 2 ( Zitat ): Die Leute, die deinen Vater umgebracht haben, Junge. Es sind dieselben Leute, die mit den Lastwagen. Sie schleppten alle, die sie für Feinde hielten, heran, lebendig oder tot, Frauen wie Männer, die einen mit Kopf, die anderen ohne, oder überhaupt bloß den Kopf, und warfen sie im Südosten in ein Erdloch. Unterhalb davon floss dieser Bach hier entlang, parallel zum Brantas-Strom. Auf diese Weise wurden die herabgeworfenen Körper von der Strömung erfasst und zum offenen Meer getrieben. Wer noch lebte, kam unterwegs um, vom Strudel erfasst, so dass alles, was dort angetrieben wurde, nur noch weiß aufgetriebene Leichen waren. Blutlos waren sie und stanken. Das geschah im Jahr 66, und noch heute zittern die Leute hier, wenn sie an diese Jahreszahl denken. Musik 3 London Grammar "Nightcall" O-Ton 7 Ayu Utami "In 1966 there were like millions people killed because...to that part of history which is still hidden or not really acknowledged. " Sprecherin 2 ( VO ) "1966 wurden hierzulande Millionen von Menschen umgebracht, weil man ihnen anlastete, der kommunistischen Partei nahezustehen. Dieser grauenvolle Teil unserer Geschichte wurde damals weder öffentlich diskutiert noch im Geschichtsunterricht erwähnt. Heute dagegen gibt es zumindest viele Bücher und andere Veröffentlichungen, die sich jenen Tatbeständen widmen - Fakten, die hier und da immer noch unter den Tisch fallen oder nicht angemessen gewürdigt werden. " Sprecherin 1: Ich treffe Ayu Utami erstmals im Jahre 2005 in Jakarta, wo sie mir im Innenhof ihres Hauses gegenübersitzt und wir das Interview drei Mal unterbrechen müssen, bis der Ruf des Muezzins aus einer nahegelegenen Moschee verklungen ist. Nun, zehn Jahre später in Sydney, haben wir im Wohnzimmer ihres Hotelapartments Platz genommen, wo nicht einmal das Ticken einer Uhr zu hören ist. Die Autorin ist zu einem in Sydney stattfindenden Literaturfestival eingeladen worden. Sie sieht keinen Tag älter aus als vor zehn Jahren in Jakarta. Ayu Utami ist klein und zierlich und hat ein einnehmendes Lächeln. Sie ist dafür bekannt, gesellschaftliche Tabuthemen aufzugreifen - die Identität und Rolle indonesischer Frauen etwa, vorehelichen Geschlechtsverkehr oder auch das Zusammenleben von Christen und Muslimen. Außerdem hat die heute wohl bekannteste indonesische Journalistin und Schriftstellerin von Anbeginn ihr politisches Engagement unter Beweis gestellt. Und sie scheut nicht vor klaren Worten zurück. Musik 4 London Grammar "Nightcall" Sprecherin 2 ( Zitat ) Es war eine ganz furchtbare Zeit. Ein Heer von Todesengeln war auf die Erde herabgefahren und hatte die Gesichter von Menschen angenommen, doch niemand wusste, was für Menschen es waren. Das wusste man erst, wenn sie einen zum Rand eines Grabens schleppten, mit dunklem Gesicht, ohne Augen. Niemandem konnten wir mehr vertrauen, dem Geliebten nicht, nicht einmal uns selbst. Denn damals brauchte man bloß auf einen anderen Menschen zu zeigen, um sich selbst zu retten. Den Schatten des Todes über dem eigenen Kopf auf den eines anderen zu lenken. Doch auch wir waren gepeinigt von der Sorge: Sitzt uns nicht der Tod schon im Nacken? Droht nicht Freunden schon das Unheil? Wie konntest du gewiss sein, Junge, dass deinem Vater nicht dasselbe Schicksal beschieden war wie den Menschen, die man in den unterirdischen Fluss warf? Musik 4 London Grammar "Nightcall" Sprecherin 1: Mit dem Sturz General Suhartos im Jahre 1998 brach für Indonesiens Schriftsteller eine Art "literarischer Frühling" an. Nicht nur die ehemals verfemten Autoren Pramoedya Ananta Toer und der 2009 verstorbene Dichter und Dramatiker WS Rendra konnten ihre Werke in ihrem Heimatland publizieren. Auch die Generation der in den 1960er und 1970er Jahren geborenen Literaten und Literatinnen setzt sich seitdem zunehmend immer wieder mit düsteren Fakten wie Völkermord, politischer Verfolgung und Korruption auseinander. In "Larung" etwa beschreibt Ayu Utami eine Naturkatastrophe und ihre Folgen. Nach einem Vulkanausbruch nutzen einige Betrüger und nicht zuletzt auch die Regierung selbst die Situation auf Kosten der einfachen Bevölkerung zu ihrem Vorteil aus. Musik 4 London Grammar "Nightcall" Sprecherin 2 ( Zitat ) Wir konnten das Meer hören. Aber im Norden, zum Berg hin, war es nicht friedlich, dort herrschten Hungersnot und Aufruhr. Vom Strand her kam ein gewaltiger Donner, eine unsichtbare Kraft, die nicht aus einem aufgerissenen Schlund brach, sondern aus allen Erdritzen austrat, wie ein Todesengel. Dann hüllte Aschenregen die ganze Insel ein. Aber am Hang oben schossen kochende Wolken auf, alles brodelte. Die Leute in den Dörfern konnten nichts davon sehen, sie spürten nur einen jähen Schreck, dann waren sie zu Tode geröstet. Bäume stürzten um wie welke Blumen. Später war davon in der Zeitung zu lesen, aber nicht nur davon, sondern auch von gehamstertem Reis und Wucherern, die - wie es hieß - dem Volk das Blut aussaugten. Die Leute hatten schon Wind davon bekommen, dass das Deputat aus Jakarta nicht gleichmäßig verteilt worden war. Dann war davon die Rede, dass die Bauern gezwungen worden waren, ihren Reis unter Preis an die Regierung zu verkaufen, während gleichzeitig der Preis auf dem Markt so hoch gestiegen war, dass die Leute nicht einmal in der Lage waren, ihren eigenen Reis zurückzukaufen. Musik 4 London Grammar "Nightcall" O-Ton 8 Ayu Utami "Indonesia I think is like a volcano...you will find horrible things not in our daily lives but when there is some riots." Sprecherin 2 ( VO ) "Indonesien ist wie ein Vulkan - ruhig und schön. Und dann kommt es plötzlich zu einem Ausbruch. Sie stoßen manches Mal auf furchtbare Dinge, nicht so sehr in unserem Alltag, sondern eher zum Beispiel, wenn es Unruhen gibt." Sprecherin 1: Sie haben also Pramoedya Ananta Toer getroffen, sagt Ayu Utami während einer Unterbrechung, nachdem ein Kellner uns Kaffee, Gebäck und Obst gebracht hat. Hatten Sie auch einmal Gelegenheit, Rendra kennenzulernen? Pram und Rendra inspirieren nämlich nicht nur mich, sondern auch viele andere Schriftsteller bis heute ungemein. Musik 5 Indonesische Nationalhymne Sprecherin 1: Jakarta, 17. August 2005, am sechzigsten Unabhängigkeitstag des Landes. Musik 5 Indonesische Nationalhymne O-Ton 9 WS Rendra "If it comes to celebration of independence day..I got about a thousand books - it's sold out like that." Sprecher 1 ( VO ) "Jedes Jahr, am Tag der Unabhängigkeit, werden besonders viele meiner Gedichte verkauft. Nicht nur in den Buchläden, sondern auch aus meinen eigenen Beständen, die ich zu Hause gehortet habe. Denn die Läden haben immer wieder Probleme mit dem Nachschub. Warum, weiß ich nicht. Jedenfalls bin ich dem Ratschlag meiner Freunde, die Gedichte selbst nachzudrucken, gefolgt. Und wann immer ich mich außerhalb von Jakarta begebe, nehme ich so, sagen wir mal, tausend Exemplare mit. Die sind sofort weg! Ausverkauft!" ( sehr lebhaft, lacht ) Sprecherin 1: Das lange, schwarze Haar, die blitzenden Augen und die sehr energische Gestik straften Rendras Alter Lügen. 2005, bei unserer Begegnung, war er knapp siebzig Jahre und arbeitete an vier Projekten gleichzeitig. Ebenso wie Pramoedya Ananta Toer stand auch WS Rendra mehrmals auf der Kandidatenliste für den Literaturnobelpreis. Beide waren, im Gegensatz zu den meisten ihrer Schriftstellerkollegen, auch international bekannt. Rendra wurde ebenfalls von der Regierung inhaftiert, weil seine literarischen Werke und die von ihm inszenierten Theaterstücke als zu provokativ empfunden wurden. Während der Suharto-Ära verbrachte er neun Monate auf der Gefangeneninsel Buru. 1978 wurde ein bis heute ungeklärter Anschlag auf ihn verübt. Der Schauspieler, Regisseur, Dichter und Dramatiker aber ließ sich nicht beugen und setzte sein Wirken fort. Seine kulturkritischen Gedichte, in denen er ohne Umschweife Bezug auf die Lebensumstände vieler Indonesier nahm, waren aus verschiedenen Gründen in aller Munde. O-Ton 10 WS Rendra "We get acquainted with prose only at the end of 19th century ...eventually published as books. And then Aaaahhhh..." Sprecher 1 ( VO ) "Bis wir hierzulande endlich mit Prosa konfrontiert wurden - das begann so richtig erst Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Wir kommen nun einmal aus einer mündlichen Erzähltradition! Das hat allerdings auch den Erfolg von Gedichten, die man den Leuten vortrug, sehr begünstigt." Sprecherin 1: Vier Jahre nach diesen Worten, am 6. August 2009, verstarb WS Rendra an einem Herzleiden. Die jüngere Generation der indonesischen Dichter mochte und mag vielleicht den frecheren Ton und die spitzere Zunge haben. Doch eines hatte der alte Dichter ihnen allen voraus: Seine unnachahmliche Art und Weise des Rezitierens. O-Ton 11 WS Rendra "I read Indonesian, o.k.?" Sprecherin 1: Ja, sicher - gern! O-Ton 12 WS Rendra ( Rezitation des Gedichts "Die Armen" / indones. ) nach einer Weile bitte Zitator drüber Sprecher 1 ( Zitat ): Arme Leute auf den Straßen, die in der Gosse wohnen, die in den Kämpfen unterliegen, die genarrt werden von Illusionen, soll man nicht sich selbst überlassen. Der Wind bringt den Geruch ihrer Kleider. Ihre Haare kleben am Vollmond. Schwangere Frauen reihen sich auf am Horizont, Früchte der Straße in sich tragend. Arme Leute. Sündige Leute. Wenn ihr sie als nichtig abtut, werdet ihr auf der Straße von ihren Schatten gejagt, wird euer Schlaf voller Fieberwahn sein und die Sprache eurer Kinder fremdes Gut. Arme Leute auf den Straßen dringen in euren Nachtschlaf ein. Freudenmädchen verschlingen eure Söhne. Hände, schmutzig von den Straßen beschmieren eure Scheiben. Die könnt ihr nicht wegschaffen! Die Armen sind aufgereiht entlang der Geschichte, wie Hitze, die es immer gibt, wie Niesel immer gegenwärtig ist. Die Armen zücken ihre Messer und richten sie gegen unsere Brust oder gegen ihre eigene. Oh, denkt daran: Die Armen stammen auch aus Abrahams Schoß. O-Ton 12 WS Rendra Ende der Rezitation des Gedichts "Die Armen" / indones. bitte nach Beendigung der Übersetzung hochkommen lassen Sprecherin 1: Rendras und Prams Werke, ihre Gedichte und Geschichten, waren aufrührerisch und damit riskant. Ihre Veröffentlichungen kosteten sie nicht den Kopf, aber die Literaten zahlten für ihre Unbeugsamkeit mit Freiheitsentzug, Schaffensverbot und gesundheitlichen Einbußen. Seit 1998, mit dem Ende der Suharto-Regierung, gilt das ehemals kolonialisierte und dann diktatorisch geführte Indonesien als Demokratie. Wie gefährlich sind Geschichten heute? O-Ton 13 Ayu Utami "Indonesian press now is very liberal but it is dominated..censor is not done by the government anymore but by the society groups." Sprecherin 2 ( VO ) "Die indonesische Presse etwa ist inzwischen zwar liberal, aber sie wird von mächtigen Leuten dominiert, die aus der Wirtschaft kommen oder ideologischen Gruppen angehören. Bestimmte Themen sind tabuisiert, also, sagen wir, alles, was den jeweils Betroffenen und ihrem Geschäft oder ihrer Firma schaden könnte. Dann werden ganz einfach die Anzeigen storniert. Wenn es um religiöse Belange geht, kann es auch passieren, dass die eine oder andere Vereinigung gewalttätig wird. Die Zensur wird also nicht mehr von der Regierung, sondern von gesellschaftlichen Gruppierungen ausgeübt." Sprecherin 1: Achtundachtzig Prozent der etwa zweihundertfünfzig Millionen Indonesier sind Muslime. Indonesien ist das bevölkerungsreichste muslimische Land der Welt. Der indonesische Islam ist eher moderat. Allerdings ringen immer wieder radikale Gruppierungen um Einfluss. Und wenn Indonesiens renommierteste Dichterin der Gegenwart, die Katholikin Dorothea Rosa Herliany, in einem ihrer Gedichte mit Gott abrechnet, stößt dies auch bei vielen ihrer muslimischen Landsleute auf Widerstand. Denn der von Muslimen als absolut, als einzig aufgefasste Allah ist Gott, der eine Gott, der unter keinen Umständen beleidigt werden darf. Musik 6 Sprecherin 2 ( Zitat ): Dorothea Rosa Herliany, "Gott, der Herr": gott, endlich habe ich dich gefunden. den turmhohen leib. tausende von lichtern lassen die abenddämmerung verblassen. ich finde dich in einem leib der nach nelken duftet nach feldern von tabak. nehme einen pfad voller abzweigungen, dringe durch menschenversammlungen so beharrlich und bedingungslos folge ich deinen schritten dass allein eine fata morgana geblieben ist. in der grenzenlosigkeit der hügel und wüsten warf ich bibel psalmen und gesangbuch fort. dürstet mich folge ich der spur bis der wald von nelken und tabak durchschritten ist. ich stoße auf die quelle des flusses der schwermut, schlürfe blatt um blatt den überreichen tau. ein unbegreifliches aroma steigt mit meinem verlangen empor: berührt dein herz. gott, endlich habe ich dich wieder verloren. so lange schon bin ich unterwegs, erdulde sehnsucht und allen schmerz. gefesselt von schlingen mein schritt, kurz mein atem einer motte gleich. Musik 6 O-Ton 14 Ayu Utami "Basically you can write anything but you have to face the risk ...and usually they will use these articles to put you in jail or in penalties." Sprecherin 2 ( VO ) "Nun, man kann hier schreiben, was man will. Aber man muss eben mit den Konsequenzen leben. Veröffentlichen Sie zum Beispiel etwas, das gewissen Gruppierungen nicht passt und Sie werden attackiert, wird die Polizei Ihnen nicht helfen. Unsere Polizei paktiert bis heute mit den Mächtigen. Außerdem gibt es Gesetze, die die freie Meinungsäußerung einschränken. Blasphemie und Diffamierungen etwa sind strikt verboten, und man wird diese Paragraphen dazu nutzen, Sie zu bestrafen oder Sie ins Gefängnis zu bringen." Sprecherin 1: Und doch will Indonesien sich nun auf der Frankfurter Buchmesse als Gastland mit allen seinen Facetten vorstellen. Als viertbevölkerungsreichstes Land der Welt, mit an die dreihundert verschiedenen Ethnien, einer jungen - und muslimischen! - Demokratie - und Schriftstellerinnen wie Ayu Utami, Laksmi Pamuntjak oder Dorothea Rosa Herliany, die in ihren Büchern zum Teil explizit das Thema Sex ansprechen. Musik 7 Sprecherin 2 ( Zitate): Dorothea Rosa Herliany. "Telegramm bei stumpfem Sex": ich schicke ein liebestelegramm an etwas das rasch zur fontanelle fließt etwas seltsames, das ich in explosionen suche. die ich in enttäuschung um der enttäuschung willen finde. ich schicke hunderte spitzer schreie in einer welle ohne tür. an wänden und zweifeln prallen sie ab. ich schicke ein liebestelegramm - eine einzige zeile schweißtropfen und keuchender atem. zu einem stummen satz bläht er sich auf zu einer blase aus hass und gift. danach schreibe ich ein pornotreatment das dich zum kotzen bringt über ein schwaches kaninchen gekleidet in ein ränzchen fleisch das schritt um schritt zumarschiert auf "the man with the golden gun". ich adressiere es an "stumpfsex maximus." warum verdammst du dieses kleine vergnügen. versteckst dich doch selbst hinter dem arroganten jaulen des hundes hinter pegasus' wiehern in den seiten eines dicken buches zwischen der graffiti auf der straßenseite des tors. halt die klappe, mann, da an meiner kruppe. verdammst nichts als bruchstücke in deinem eisig erstarrten spiegel. meine hand winkt dich durch, entsorgt deinen leichnam in die grube meines blödesten lächelns der lust. Musik 7 Sprecherin 1: Indonesien will sich auch als ein Land präsentieren, in dem viele Gegensätze nebeneinander bestehen können. Als Heimat einer alten oralen Erzähltradition und einer expressiven Lyrik. Als ein Land mit vielen Regionalsprachen und einer Lingua Franca - der Bahasa Indonesia. Bahasa Indonesia, die "Sprache Indonesiens" ist eine Ausprägung des Malaiischen. In Indonesien sind mehr als dreihundert Regionalsprachen in Gebrauch. Um die vielen verschiedenen Ethnien des Landes zu einer Nation zu einen, führte man 1945 Bahasa Indonesia ein. Viele Indonesier, vor allem jene, die in abgelegenen Regionen leben, bedienen sich allerdings ihrer jeweiligen Regionalsprache. Der Aktivist und Dichter Afrizal Malna: O-Ton 15 Afrizal Malna ( indones. ) Sprecher 1 (VO ) "Wir haben viele verschiedene Kulturen, die im allgemeinen ihre eigene Sprache benutzen. Wenn sie aus dem Haus gehen, sprechen sie dann Bahasa Indonesia. Bahasa Indonesia wird also nur als Lingua Franca benutzt." Sprecherin 1: Ein Gutteil der aus dem Westen stammenden Weltliteratur wird etwa seit Beginn des vergangenen Jahrhunderts ins Indonesische übersetzt. Umgekehrt haben dies jedoch bislang nur wenige indonesische Autoren geschafft. Im Ausland findet die indonesische Literatur am ehesten in Australien, Malaysia und in den Niederlanden Anklang. Auch in ihrer Heimat haben es die Autoren ziemlich schwer. So erscheinen Kurzgeschichten in Indonesien, wenn überhaupt, zunächst in Zeitungen oder in Magazinen. Wenn diese erste Hürde genommen ist, findet sich eventuell ein Verlag für eine Buchfassung. Literaten, die ihre Werke nicht in der Nationalsprache, sondern zum Beispiel auf sundanesisch, balinesisch oder javanisch verfassen, können meist nur auf eine lokale Verbreitung hoffen. Musik 8 Sprecherin 1: Solche Tatbestände werden auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse wohl eher im Hintergrund stehen, meint Goenawan Mohamad, der den Gastlandauftritt Indonesiens leitet. Eher schon solle es zum Beispiel darum gehen, wie sich der aus mehr als siebzehntausend Inseln bestehende Archipel innerhalb von gerade einmal siebzig Jahren von der Kolonie zur Demokratie gewandelt hat - und wie diese Entwicklung einzuschätzen ist. O-Ton 16 Goenawan Mohamad "We happily have our democracy functioning... they make kind of club in the parliament and others being marginalized more or less." Sprecher 1 ( VO ) "Wir sind natürlich froh, nun in einer Demokratie zu leben. Bei den letzten Wahlen hat es keine gewalttätigen Ausschreitungen gegeben. Nur - unsere Parteien sind immer noch korrupt. Sie neigen zur Klübchenbildung und drängen die anderen mehr oder weniger an den Rand." Sprecherin 1: Außerdem, so Goenawan Mohamad, kämen weitere kritische Aspekte zum Zuge - die politische Vergangenheit Indonesiens etwa. Dann natürlich auch gegenwärtige gesellschaftliche Probleme wie Armut oder die weitverbreitete Korruption. O-Ton 17 Goenawan Mohamad "Well of course every writer wants to be read ... a new impetus to the importance of books and literature to our own people, too." Sprecher 1 ( VO ) "Welcher Autor möchte nicht vor allem gelesen werden? Mir persönlich bedeutet es aber gerade jetzt nicht so viel, ob meine Essays und Gedichte in Deutschland gelesen werden. Mir liegt viel mehr daran, dass diese Buchmesse den entscheidenden Impuls dafür gibt, dass meine Landsleute erkennen, wie wichtig Literatur, wie wichtig Bücher sind." Sprecherin 1: An der Alphabetisierungsquote dürfte es nicht liegen, dass in Indonesien verhältnismäßig wenig gelesen wird. Etwa dreiundneunzig Prozent der Indonesier können lesen und schreiben. Allerdings wurde das Thema Bildung über lange Zeit hinweg vernachlässigt. Der Umgang mit Literatur bedeutete vor allem, die in der Schule oder Universität präsentierten Buchausschnitte auswendig zu lernen. Zu den im ganzen Land beliebten Rezitationswettbewerben kommen allerdings immer wieder hunderte von Zuhörern. Mit viel Pathos und ausladender Gestik tragen Dichter dann ihre Verse vor, nicht selten untermalt von traditioneller Musik. Der Essayist und Dichter Goenawan Mohamad besucht solche Events hin und wieder gern. Seine eigenen Verse eignen sich dagegen eher für ein anderes Publikum. Sprecher 1 ( Zitat ): "Herbst-Vierzeiler": In der kalten Luft beginnt es: Die Nacht ordnet Blätter für ein Totenlager. Füllen werden die Tage das Jahr, bevor es scheiden wird. Gleich wird die Sonne untergehen, die zum Strand die Kinder lockte. Nur der Regen bleibt, die Farben wechseln. Und Du fasst es nicht. Auf dem Kalender stehn die Jahreszeiten still. Auf dem Kalender steht mein Überdruss geschrieben. Unter roten Blättern, Herr, sind Deine Spuren verborgen einsam und ewig. Der Sommer war so groß. Die letzten Worte sind nur Schnee, Stimmen aus der Ferne, von der Zeit herangeweht. Wir beten nicht länger. Wir können die Rätsel nicht lösen. Nur die Abendröte bleibt, eine letzte schwache Glut. Sprecherin 1: Die erfolgreichsten Genres in Indonesien, betont Goenawan Mohamad, seien Romane mit religiösem Hintergrund, in denen, wie ein Kollege und Verleger es ein wenig spitz ausdrückt, "eine Frau erst Gott und dann ihren Mann findet". An zweiter Stelle folgen die "Vom-Tellerwäscher-Zum-Millionär"-Bücher, unterhaltsame Erfolgsgeschichten, die "Erfolg" vor allem auf materiellen Zugewinn reduzieren. Die Pflege der Literatur des Landes als lebendiges Erbe jedoch findet nicht statt. Seit etwa fünfzig Jahren ist die nationale Literatur nicht Teil des schulischen Curriculums. Selbst indonesische Klassiker werden im Schulunterricht entweder überhaupt nicht oder, falls doch, dann nur ausschnittsweise im Wahlfach Literatur gelesen. Und: Die etwa tausendvierhundert Verlage des Landes, so Goenawan Mohamad, bringen pro Jahr nur an die vierundzwanzigtausend Titel heraus. O-Ton 18 Goenawan Mohamad "Very few not big one compared with the population..Now they have to change their mindset." Sprecher 1 ( VO ) "Obwohl unsere Bevölkerung so groß ist, kommen die meisten Bestseller gerade einmal auf zwanzig- bis dreißigtausend Verkaufsexemplare. Unsere Verleger sind auch noch nicht wirklich versiert darin, ihre Produkte zu bewerben. Wenn alles gut geht, werden sie sich demnächst ziemlich umstellen müssen. Bisher haben sie Buchlizenzen erworben. Jetzt aber wollen sie Lizenzen ins Ausland verkaufen." Musik 9 Instrumentalstück dann Atmo 1 Dschungelgeräusche Sprecherin 1: Ein Dorf in der Nähe der Kleinstadt Ubud auf der Insel Bali. Die Sonne hat sich durch die grauen Wolken geschoben. Die Dorfbewohner treten aus ihren Hütten, reiben sich den Mittagsschlaf aus den Augen und machen sich mit ihren leeren Krügen auf den Weg zum Dorfbrunnen. Der Regen hat eine milde, vom Duft der vielen Blüten und Blätter gewürzte Luft zurückgelassen. Reiher nehmen Kurs auf die nahegelegenen Reisfelder. Kleine Jungen ziehen ihre mit langen, zuckenden Schwänzen durch die Luft tanzenden Drachen ein. Die Mädchen gehen den Müttern bei der Vorbereitung des Mittagessens zur Hand. Oder sie kommen gerade aus der Dorfschule nach Hause und wollen Meme - der Mutter - erst einmal erzählen, was sie während des Schultags erlebt haben. MUSIK 10 Sprecherin 1: Oka Rusmini "Erdentanz": Sprecherin 2 ( Zitat ) "Meme! ... Meme!"" "Sari, wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst nicht ständig so herumschreien! Komm erst einmal herein, dann kannst du immer noch erzählen." "Was hast du denn heute mitgebracht? Hast du schon wieder etwas gewonnen?" "Ja, heute haben wir in der Schule einen Wettbewerb im Schnelllesen gemacht." "Und das sind wirklich alles deine Preise? So viele?" Telaga strich ihrer Tochter über das Haar und unterdrückte einen Seufzer. "Ja. Die habe ich alle vom Schulrat bekommen. Er ist sehr stark und sieht gut aus, Meme, und er ist nett. Leider hält er immer etwas Abstand zu mir. Dabei habe ich schon so oft versucht, ihn auf mich aufmerksam zu machen. Weißt du, Meme, einmal habe ich mir einfach seine Hand geschnappt und sie geküsst. Da hat er die Augen aufgerissen und mich so komisch angeschaut. Lustig, oder?" Luh Sari kicherte, warf übermütig das Bündel mit den Preisen hoch in die Luft und drehte sich im Kreis.Telagas Augen füllten sich mit Tränen. Wenn die Kleine doch nur wüsste, um wen es sich bei dem Mann handelte, dessen Aufmerksamkeit sie so eifrig zu erregen versuchte. Wie sehr würde Sari sich freuen, all ihren Cousins und Cousinen lautstark mitteilen zu können, dass sie ein Mädchen von guter Herkunft und Nachkomme einer angesehenen Person war. Telaga seufzte. Nur dieses Kind mobilisierte ihren Lebenswillen. Musik 10 dann Atmo 2 Dschungelgeräusche u. Schulkinder Sprecherin 1: Die etwas größeren Kinder der Schule Dorfschule haben sich versammelt, um nach den Übungen im Addieren, Subtrahieren und im Schönschreiben Bekanntschaft mit einer balinesischen Schriftstellerin zu machen - mit Oka Rusmini nämlich, die seit einigen Jahren in Balis Hauptstadt Denpasar lebt. Wie verschiedene andere ihrer Kollegen auch hat die achtundvierzigjährige Autorin von Romanen, Kurzgeschichten und Gedichten es sich zur Aufgabe gemacht, Schulkindern die Literatur ihres Landes nahezubringen. Das stößt nicht immer auf Gegenliebe. O-Ton 19 Oka Rusmini ( indones. ) Sprecherin 2 ( VO )"Hier auf Bali habe ich mir inzwischen einige Feinde geschaffen. Im Ausland war man sehr angetan davon, etwas über den Status balinesischer Frauen zu hören. Noch dazu aus dem Mund einer Betroffenen, die sich sehr kritisch äußert! Hier jedoch ist es schwierig für mich, diese Themen offenzulegen. Ich erhalte immer wieder Drohbriefe und wirklich schlimme Anrufe! Viele Balinesen lehnen mich wegen der Dinge, die ich schreibe, ab." Musik 11 Sprecherin 2 ( Zitat ): Telagas große Hoffnung war es, dass Luh Sari einmal in der Lage sein würde, ihr ein Zuhause zu geben. Ebenso wünschte sie sich, dass sich ihre Tochter zur hübschesten Tänzerin des Dorfes entwickeln würde, einer Tänzerin, die all die Schönheit der Göttinnen des Tanzes besäße. "Was wünschst du dir vom Leben?", fragte Telaga. "Ich werde fleißig lernen, Meme. Wenn ich erwachsen bin, verlassen wir Großmutter. Du kannst bei mir leben, und ich werde für dich sorgen. Ich werde ein schönes Haus für dich bauen. Es wird einen Garten haben, darin kannst du so viele Blumen pflanzen, wie du willst. Du kannst ..." Die Wünsche sprudelten nur so aus Luh Sari heraus. Die Worte des Mädchens machten Telaga nachdenklich. Sie hatte dieses siebenjährige Kind bereits auf die möglichen Schwierigkeiten des Lebens vorbereitet. Es war geradezu ihre Pflicht, die Kleine zu beschützen, die das stille Leid ihrer Mutter lediglich erahnen konnte. Telaga quälte sich ständig mit Selbstvorwürfen. Es kam ihr manchmal vor, als kämpfe sie gegen sich selbst. Die Träume, die sie einst gehegt hatte auf ihrem Weg, eine richtige Frau zu werden, schienen ihr mehr und mehr zu entgleiten. Musik 11 Sprecherin 1: Oka Rusmini ist klein, schlank und überaus energisch. Stahl blitzt aus ihren Augen, wenn sie sich über die auf alten hierarchischen Traditionen basierende Bevorzugung von Männern in Erbschaftsangelegenheiten beklagt. Oder über den Fakt, dass balinesische Hindu-Frauen im Falle einer Scheidung auf das Sorgerecht für ihre Kinder verzichten müssen. Dies und die Mehrfachfunktion der Frauen als Mütter, Hausfrauen und Vollzieherinnen der hinduistischen Rituale hat die kämpferische, aber zugleich auch sehr sensibel wirkende Autorin in zahlreichen Romanen und Kurzgeschichten dargestellt. O-Ton 20 Oka Rusmini ( indones. ) Sprecherin 2 ( VO ) "Die meisten der jüngeren Autoren und Autorinnen widmen sich vor allem kosmopolitischen Themen. Ich aber konzentriere mich darauf, meine Kultur und die Probleme, die ihr zusetzen, zu beschreiben. Auf Bali ist einiges im Umbruch. Das hat zum Beispiel damit zu tun, dass viele jüngere Leute dieses rigide religiöse System hier zunehmend ablehnen. Doch wenn ich zum Beispiel die Benachteiligungen anspreche, die den meisten hiesigen Frauen widerfahren, dann muss ich ausgesprochen vorsichtig sein! Das sind heikle Themen, die ich in eine schöne Rahmenhandlung einbette, um das Ganze eingängiger zu machen. Natürlich merken die Leute trotzdem, worauf ich hinaus will - und das sollen sie ja auch! Aber es ist schwer, sehr schwer, die balinesischen Leser für solche Themen zu gewinnen. Ansonsten ... Ich habe vor, eine vollständige Dokumentation der traditionellen balinesischen Kultur zu erstellen." Musik 11 Sprecherin 1: Eine weitere sehr populäre Geschichte, die nicht nur in Indonesien, sondern auch international Furore gemacht hat, ist Andrea Hiratas "Die Regenbogentruppe". Dieser mehrfach preisgekrönte Roman wurde 2008 in Hiratas Heimatland verfilmt und in fünfundzwanzig Sprachen übersetzt. Sprecher 1 ( Zitat ): Unter den zehn Schülern der Regenbogentruppe werden Sie einem Jungen namens Ikal begegnen. Ikal bedeutet Lockenkopf, und dieser Junge bin ich. An einem verregneten Morgen sah ich meine Lehrerin, diese schmächtige junge Frau, über den Schulhof eilen. Zum Schutz vor dem Regen hielt sie sich ein Bananenblatt über den Kopf. Meine arme Lehrerin. In diesem Augenblick schwor ich mir, dass ich eines Tages, wenn ich erwachsen wäre, ein Buch schreiben würde, um ihr für alles was sie für uns tat, zu danken. Sprecherin 1: In Indonesien ist Hiratas Lebensgeschichte "Die Regenbogentruppe" der Bestseller schlechthin. Fünf Millionen Exemplare wurden im Land verkauft. Die elf Kinder von Minenarbeitern und Fischern, die nur im Schulbesuch eine Chance sehen, der Armut zu entrinnen, machten Hirata zum meistgelesenen Schriftsteller des indonesischen Archipels. Sprecher 1 ( Zitat ) Unsere Schule hatte ständig finanzielle Probleme. Manchmal war nicht einmal genug Geld da, um Kreide zu kaufen. Dann gingen wir nach draußen und unsere Lehrerin Bu Mus benutzte die Erde als Tafel. Wir beklagten uns oft darüber, dass es hineinregnete, weil das Dach des Schulgebäudes überall lecke Stellen hatte. Einmal goss es in Strömen und Blitze schlugen überall ein. Von der Decke tropfte der Regen herunter, aber wir blieben still sitzen, denn wir wollten nicht, dass Bu Mus den Unterricht unterbrach. Pak Harfan und Bu Mus waren uns Freunde, Lehrer und Inspiration. Sie zeigten uns, wie man kleine Spielzeughäuschen aus Bambus baut, halfen uns, die Waschung vor dem Gebet richtig zu vollziehen, guckten nach der Beschneidung in unsere Sarongs, pumpten unsere Fahrräder wieder auf, saugten uns das Gift aus den Füßen, wenn uns eine Schlange gebissen hatte, und manchmal machten sie uns Orangensaft mit Chili. Atmo 3 Koransure / Gesang Sprecher 1 ( Zitat ) Wenn in einer armen Fischerfamilie der Vater stirbt, muss der älteste Sohn für den Lebensunterhalt seiner ganzen Familie sorgen. Das waren im Falle von Lintang vierzehn Personen. Er war nun verantwortlich für seine Mutter, die vielen Geschwister, die Großeltern und arbeitslosen Onkel. Er hatte keine Möglichkeit, seine Ausbildung in der Schule fortzusetzen, weil sein Vater, der schmächtige Mann mit dem freundlichen Gesicht, die zerzauste Kasuarine, gefallen war. Atmo 3 Koransure / Gesang bitte hoch und blenden Sprecher 1 ( Zitat ) Wir mussten Abschied nehmen von unserem genialen Naturtalent. Lintang war unser Leuchtturm. In seiner Nähe wurden unsere Gedanken heller, entflammte sich unsere Wissbegierde, standen die Dinge klar vor unseren Augen. Von ihm lernten wir Bescheidenheit, Willensstärke und Freundschaft. Ein genialer junger Mensch, Sohn einer der reichsten Inseln Indonesiens, musste heute aus Armut die Schule verlassen. Heute verhungerte wieder einmal eine Maus im übervollen Reisspeicher. Atmo 4 Flugzeug Atmo 5 Straße Jakarta Sprecherin 1: Arm sind auch diese Jungen im eine Flugstunde von der "Regenbogentruppe" entfernten Jakarta. Sie verhungern zwar nicht im übervollen Reisspeicher, aber mehr als das Nötigste können sie mit ihrer Arbeit nicht zusammenbekommen. Atmo 6 Straße Jakarta / Regen Sprecherin 1: Seit zwei Tagen regnet es ohne Unterlass. Vielleicht zehn oder zwölf Jugendliche haben sich vorm Eingang eines mehrstöckigen Einkaufszentrums postiert, um die mit Tüten und Taschen beladenen Kunden abzufangen. Sie halten Leihschirme bereit, für die sie am Ende des Tages Miete an den Händler zahlen müssen. Unabhängig davon, wie viele Kunden sie beschirmen konnten und wieviel Geld die Kundschaft zu geben bereit war. Ein paar Meter weiter schauen drei höchstens sechs- oder siebenjährige Jungen in einer Nische am Nebeneingang des Gebäudes vor sich hin. Sie wagen nicht zu betteln, aber als eine elegant gekleidete Dame einem von ihnen im Vorübergehen ein Bündel Bananen in den Schoß wirft, reißen sie einander die Früchte aus den Händen, um sie augenblicks zu schälen und herunter zu schlingen. Atmo 6 Straße Jakarta / Regen bitte hoch und blenden Sprecherin 1: Afrizal Malna ist einer der Gründer der NGO "Urban Poor Consortium", einer Hilfsorganisation, die versucht, das Dasein armer Menschen in der Hauptstadt in den Fokus der zuständigen Politiker zu rücken. Der achtundfünfzigjährige Aktivist und Dichter hat einen angenehm festen Händedruck und wirkt sehr ernst. O-Ton 21 Afrizal Malna ( indones. ) Sprecher 1 ( VO ) "Eine Demokratie im essentiellen Sinne gibt es hierzulande nicht. Schon als Neugeborener definiert die Religion Ihren Namen und Ihr ganzes Dasein. Hinzukommt, dass unsere Politiker keinen Draht zu den Menschen haben. Und damit haben wir ein Verhältnis voller Missverständnisse." Sprecherin 1: Afrizal Malna "Leichenpolitik, von Morgenzeitung vertuscht" Sprecher 1 ( Zitat ): Jemand ist verschwunden. Aber auch jemand zerbrochen. Der Präsident liegt im Krankenhaus. Seine Hände und sein Nacken sondern Sägen ab. Die Indonesische Volksvertretung muss wieder hergestellt werden. Als wollte man eine Sonne machen aus einem Bananenblatt. Jemand ist verschwunden. Die Erde hat seinen Körper wieder ausgekotzt. Armeestiefel kippen aus seinem Mund. Jemand ist verschwunden. Das Parlamentsgebäude stinkt nach Leichen, seine Küche stinkt ebenfalls nach Leichen. Ein Präsident muss wieder hergestellt werden. Ein Kabinett muss wieder hergestellt werden. Aber jemand ist verschwunden. Die aus Sägen gemachte Politik verdeckt seine Augen. Es gibt eine Sonne, hergestellt aus einem Bananenblatt. Komm her. Hör zu. Das ist ein Land für dich. Sieh mich nicht so an. Ich bin eine Leiche. Eine politische Leiche. Jemand, der entführt wurde. Gefoltert. Begrabt mich nicht auf die gleiche Weise wie das Land. Lasst es. Kommt her. Hier ist meine Hand. Noch warm. Wie die politische Binde, die eure Augen bedeckt. Kommt her. Kommt schon. Es liegen noch einmal hundert Jahre in dem Flecken Erde hier. Sprecherin 1: Während der brutal niedergeschlagenen Studentenproteste gegen Präsident Suhartos "New Order" -Doktrin im Jahre 1974 durchsuchten Sicherheitskräfte Malnas Haus. Er ist seit langem politisch aktiv. In seinen Gedichten beschäftigt er sich unter anderem immer wieder mit den Wunden, welche die Kolonialvergangenheit Indonesien beigebracht hat. Mit Abstand am längsten, nämlich vier Jahrhunderte lang, hielten die Niederlande Indonesien besetzt. Allerdings übernahm England zwischenzeitlich für die Dauer von siebzehn Jahren die indonesische Kolonie. Und: Im Zweiten Weltkrieg schließlich okkupierte Japan den Archipel bis zwei Tage nach der Kapitulation Japans Sukarno die Unabhängigkeit der Republik Indonesien ausrief. Im Zusammenhang mit der kolonialen Vergangenheit seines Landes beschäftigt sich Afrizal Malna besonders mit dem, was er als religiöse, politische und kulturelle Codes bezeichnet. Sprecher 1 ( Zitat ): "Englischlektion zum Körpergewicht": Musik 12 ( Techno ) Sprecher 1 ( Zitat ): Entschuldigung, wie viel Kilo wiegst du? Moment mal, mein Kopf ist ein Kubikmeter Sand. Mein Arm 60 cm. Pardon, wie viel Stunden wiegst du? Meine Lippen sind breit. Gewiss, meine Füße sind braun wie Regierungsgebäude. Wie viel Kilo wiegst du denn nun, please? Ich heiße Ahmad, Blödmann. Die Nummer meines Kopfes ist ein Kubikmeter Sand. Da haben wir einen Abwasserkanal. Gehacktes Fleisch im Waschbecken. Warte. Warum ist das Ende deines Armes so hart? Wie Macht. Du hast Kultur, nicht wahr? Dein Gesicht ist rot. Schätzen Sie Tomatensaft? Entschuldigung. (...) Das ist mein Fuß, Blödmann. Please ... please. Leiste meinem Körper Gesellschaft. So doch nicht. Musik 12 ( Techno ) Sprecher 1 ( Zitat ): Die Haar-Wimpel an deinen Augen haben was, durchaus. Beautiful. Zieh' ruhig das Batikteil an. Am Ende wird meine feste Beziehung noch eifersüchtig. Vergiss' nicht, ich heiße Ahmad! Lii, du nimmst ja nicht mal Seife. Ich fass' es nicht, wie sieht dein Ohr denn aus? Tschuldigung, hast du mein Körpergewicht gesehen? Du willst wohl einen Essay schreiben? Über Kultur? Politische und ökonomische Analysen, was? Da wird sie aber wehtun, deine Hand. Musik 12 ( Techno ) bitte hoch und blenden Sprecherin 1: Bevor ich mich von Afrizal Malna verabschiede, spricht er mich auf meine zweite und letzte Begegnung mit Pramoedya Ananta Toer an. Sie hatten mich doch anfangs schon nach ihm und Rendra gefragt, sagt er. O-Ton 22 Afrizal Malna ( indones. ) Sprecher 1 ( VO ) "Rendra und Toer - sie entstammen einer anderen Generation. Aber sie haben vielen von uns den Weg gebahnt. Auch wenn wir dann selbst weitergegangen sind. Auf eigenen Pfaden... " Atmo 7 Regen Sprecherin 1: Jakarta 2005, 18. August. Ein starker, nichtnachlassenwollender Regen, der die kleine Straße, auf der ich zu Pramoedya Ananta Toer fahre, schon bald zu einer Rutschbahn macht. Zum zweiten Mal in diesem Jahr habe ich zumindest für eine halbe Stunde Gelegenheit dazu, den großen alten Mann der indonesischen Literatur zu treffen. Er sieht sehr müde aus. Der Übersetzer muss meine Hoffnung auf eine Besserung seiner Gesundheit dreimal in sein Hörgerät sprechen, bevor der Inhalt des Gesagten zu ihm durchdringt. Pramoedya Ananta Toer beginnt zu lächeln. Ein Lächeln, das von einem Moment zum anderen die ganze Müdigkeit aus seinem Gesicht fortwischt. O-Ton 23 Pramoedya Ananta Toer ( indones. ) Sprecher 1 ( VO ) "Ich bin so froh, dass ihr hier seid! Und ich möchte mich von Herzen dafür bedanken, dass ihr hierhergekommen seid. Denn wenn es einen Kulturaustausch gibt, dann gibt es für unser Land vielleicht noch Hoffnung - Hoffnung auf Demokratie!" Musik 13 Annie Lennox "Don't let it bring you down" Sprecher 1 ( Zitat ) Liebe Tieknong, ich habe dir diesen Brief zu deinem einundzwanzigsten Geburtstag geschrieben. Ich lege ein Photo bei, das vor vier Monaten aufgenommen wurde. Ich hoffe, es gefällt dir. Ich möchte nicht, dass du und die anderen zu Hause euch Sorgen um mich macht. Ich lebe unter sehr kultivierten und zivilisierten Mithäftlingen. Wenn ich sie um Hilfe bitte, tun sie alles, was in ihrer Kraft steht, ohne eine Entschädigung zu erwarten. Diese Männer sind das leuchtende Licht der indonesischen Intelligenz. Sie tolerieren keine Ausflüchte und verwenden weder die hochmütigen Phrasen noch die glatten Formulierungen, die ganz offensichtlich die Welt durchdrungen haben. Zum ersten Mal wurde ich 1947 ins Gefängnis geworfen, im Alter von zweiundzwanzig Jahren. Heute bin ich zweiundfünfzig Jahre alt und immer noch in Gefangenschaft. Doch ich weiß, dass es dich nicht beschämt, dass dein Vater ein Gefangener ist. Diese Zeilen sind alles, was ich dir zu deinem Geburtstag schenken kann. Ich wünsche dir Glück und Wohlergehen, heute und für alle Tage. Stärke deinen Körper und deinen Geist. Nichts ergibt sich von selbst. Alles ist das Resultat menschlicher Bemühungen. Küsse und Umarmungen an dich, deine Mutter und deine Geschwister. Musik 13 Annie Lennox "Don't let it bring you down" 1