Manuskript für DeutschlandRadio Kultur: Sendedatum 12. Februar 2015 "Freiheit oder Liberalismus?" Forschung zwischen Erkenntnis, Risiko und Verantwortung Susanne Billig und Petra Geist BEITRAG: Musik 1 Verhaltene elektronische Klänge S P R E C H E R 1 Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung. AUTORIN 1 So steht es in Artikel 5 des deutschen Grundgesetzes. Die Forschungsfreiheit ist ein Kind des Wissenschaftsoptimismus, der im achtzehnten Jahrhundert seinen Aufschwung nahm. Wissenschaftlicher Fortschritt sollte helfen, die sozialen und ökonomischen Verhältnisse zu verbessern - das löste er vielfach ein. Auch die Meinungsfreiheit ist ein wichtiger Aspekt: In diesen Freiheitsbereich des Einzelnen darf sich der Staat nicht einmischen. Zudem entstand das Grundgesetz unter dem Eindruck des Nationalsozialismus - einer Zeit, in der Wissenschaftler teils von rassistischer Ideologie bedrängt worden waren, teils mit wehenden Fahnen in das Lager der Unfreiheit überliefen. Bernhard Gill, Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. O-Ton 1 Bernhard Gill Forschungsfreiheit meint zunächst mal, dass jeder Bürger in seinen vier Wänden erforschen kann was er will. Und zweitens, dass die Forscher an den Universitäten frei sind von Weisungen. Also ich bin frei von Weisungen. Mein Dienstherr, die Kultusbehörde, kann mir nicht vorschreiben, was ich zu denken und zu publizieren oder zu lehren habe. AUTORIN 2 Doch warum ausgerechnet der Forschungsfreiheit einen solch hohen Stellenwert einräumen? Mit dieser Frage befasst sich Torsten Wilholt, Professor für Philosophie und Geschichte der Naturwissenschaften an der Universität Hannover. O-Ton 2 Torsten Wilholt Das eine sind einmal im weitesten Sinne erkenntnistheoretische Gründe. Wir Menschen sind in unserem Erkenntnisstreben immer fehlbar - und der einzige Mechanismus, den die Wissenschaft hat, der ist im Kern der Mechanismus der wechselseitigen Kritik. Und wechselseitige Kritik wird dadurch möglich, dass innerhalb der Wissenschaft Vielfalt und Kreativität herrscht - und Vielfalt und Kreativität entsteht durch individuelle Freiheit in der Wissenschaft. AUTORIN 3 Denn es zeigt sich immer erst im Nachhinein, welche Forschungsideen Früchte tragen und welche in Sackgassen führen. Darum ist jede Gesellschaft gut beraten, eine vielfältige Forschungskultur zu fördern, die Platz für unorthodoxe Ansätze lässt. O-Ton 3 Torsten Wilholt Und in diesem Punkt sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler empfindlich, weil sie auch die Gefahr sehen, dass diese Vielfalt und Kreativität zu einem sterilen Stillstand gebracht wird, wenn von außen Vorgaben gemacht werden, an die sich alle zu halten haben. AUTORIN 4 Seit sich die Aufklärung der Dominanz von Kirchen und absolutistischen Herrschern entgegen stellte, ist die Forschungsfreiheit aber auch eine politische Forderung. Das gewinnt heute ein besonderes Gewicht, weil der moderne Alltag geprägt ist von Wissenschaft und Technik. Klimawandel, Atomausstieg, Gentechnik - wer will sich politisch darüber ein Urteil bilden ohne Zugang zu den Wissensbeständen einer unabhängigen Forschung? O-Ton 4 Torsten Wilholt In diesem Punkt ist die Forschungsfreiheit eigentlich fast eher ein Recht aller Bürgerinnen und Bürger - ein Recht aller Bürgerinnen und Bürger auf eine freie Wissenschaft, auf eine Art und Weise ihre politischen Präferenzen auszubilden, die dann auch ihre Werte und Interessen zum Ausdruck bringen kann, als wenn wir eben eine Wissenschaft haben, die gelenkt ist und gesteuert und die sich den Einflüssen mächtigerer Akteure unterwerfen muss. AUTORIN 5 Das dritte und für Tomas Wilholt schwächste Argument für Forschungsfreiheit liefert die persönlichen Autonomie des einzelnen Forschers - seiner Neugier und Erkenntnislust zu folgen, wo immer sie ihn hinzieht. O-Ton 5 Torsten Wilholt Wissenschaft ist aber heute im wesentlichen ein von der politischen Gemeinschaft getragenes Gemeinschaftsunternehmen - und da müssen natürlich ganz andere Argumente her. Aus Autonomiegründen kann man alles mögliche für sich selbst an Freiheiten einfordern, was aber nicht gleich bedeutet, dass es ein staatlich finanziertes Gemeinschaftsunternehmen geben muss, was diese persönlichen Interessen auch fördert. Musik 2 Ruhige elektronische Klänge AUTORIN 6 Obwohl das Grundgesetz die Wissenschaftsfreiheit ohne jede Einschränkung garantiert, stößt auch sie an Grenzen - und zwar dann, wenn Forschungsvorhaben mit anderen, ebenfalls im Grundgesetz garantierten Werten und Rechten in Konflikt treten. Dann darf und muss die Politik die Rechtsgüter gegeneinander abwägen. Silja Vöneky, Rechtsprofessorin an der Universität Freiburg und Expertin für Ethik und Recht in der Biomedizin. O-Ton 6 Silja Vöneky Natürlich sind das Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit. Aber als Rechtswissenschaftlerin kann ich nur sagen: Diese Einschränkungen sind gerechtfertigt, wenn sie verhältnismäßig sind und wenn sie legitimen Zwecken, das heißt verfassungsrechtlich verankerten Gütern dienen. Und wenn die Umwelt durch Einschränkungen geschützt werden muss, wenn das Leben, wenn die Gesundheit durch Einschränkung geschützt werden muss - dann muss ein Wissenschaftler dies hinnehmen. Wissenschaft ist nicht absolut frei. Musik 3 Ruhige elektronische Klänge AUTORIN 7 Doch wann ist es so weit, dass Gesundheit, Umwelt, Menschenwürde vor einem Forschungsvorhaben geschützt werden müssen? Und wie lässt sich dieser Schutz gewährleisten, ohne die Forschungsfreiheit übermäßig einzuschränken? Vor allem die Lebenswissenschaften mit ihren neuen Technologien - Gentechnik, Stammzellforschung - stellen Recht und Gesetz vor große Herausforderungen, denn diese komplexen, sich rasant entwickelnden Forschungsgebiete sind für Außenstehende äußerst schwierig zu durchdringen. So richtig begreifen, was an der Laborbank passiert, kann nur ein Laborwissenschaftler. O-Ton 7 Silja Vöneky Das Recht muss sich eben diesen neuen technischen Entwicklungen stellen, für die wir ja in der Regel aufgrund ihrer Komplexität und Dynamik auch keine klare moralische Intuition haben. Biotechnologie ist komplex, die Verfahren sind komplex - es ist schon schwer für die Gesellschaft abzuschätzen, wie weitgehend hier die Wissenschaftsfreiheit eingeschränkt werden darf, gerechtfertigterweise. Musik 4 Elektronische Klänge - leicht dynamisch AUTORIN 8 Die Lebenswissenschaften werfen ethische Grenzfragen auf, wie die Menschheit sie nie zuvor erwägen musste. Aus menschlichen Embryonen im Frühstadium lassen sich die begehrten embryonalen Stammzellen herauslösen. Diese Zellen sind "totipotent" - sie können sich zu einem ganzen Menschen entwickeln, auch zu einem menschlichen Klon. Stammzellen könnten eines Tages aber auch eine wichtige Rolle in der Medizin spielen, bei der Behandlung bislang unheilbarer Erkrankungen wie Parkinson etwa. Der Embryo wird dabei zerstört. Ist das ethisch vertretbar? O-Ton 8 Silja Vöneky Wie weit reicht die Menschenwürde? Reicht die Menschenwürde ab dem Zeitpunkt der Befruchtung, ist dieser frühe Embryo Träger der Menschenwürde? Und viele argumentieren: Ja - ab dem Zeitpunkt der Befruchtung, wenn er sich eben entwickeln kann zu einem Lebewesen, entwickelte er sich als Mensch, wie das Bundesverfassungsgericht sagt, und nicht zum Menschen. Und damit ist er Träger der Menschenwürde. AUTORIN 9 Und der Gesetzgeber muss jede Verletzung der Menschenwürde unterbinden. Das deutsche Recht versucht den Spagat zwischen Forschungsfreiheit und Menschenrechtsschutz. Darum verbietet das Embryonenschutzgesetz, menschliche Embryonen für Forschungszwecke herzustellen, sie zu klonen oder zu zerstören. Das Stammzellgesetz aber lässt die Forschung an importierten Stammzellen zu - in Ausnahmefällen. Der Blick in andere Länder zeigt, dass die Grundrechtsabwägung auch anders ausgehen kann. Von weitgehender Freigabe der Embryonenforschung bis hin zu harten Strafen ist in den europäischen Ländern alles dabei. Auch über Forschungsförderung versuchen Politikerinnen und Politiker lenkend einzugreifen. So verweigert die US-Regierung der Stammzellforschung Fördermittel - verbietet sie aber nicht. Musik 5 Bewegtere elektronische Klänge AUTORIN 10 Wo öffentliche Mittel spärlich fließen, wenden sich Stammzellforscher privaten Geldgebern zu, um dort Drittmittel einzuwerben. Dann kann etwas passieren, das Wissenschaftsbeobachter als "Overselling" bezeichnen: Forscherinnen und Forscher übertreiben den Nutzen ihrer Arbeit. In den USA, wo die Stammzellforschung keine Bundesmittel erhält, hat sich die Forschung verstärkt anderen Finanzierungsquellen zugewandt. O-Ton 9 Torsten Wilholt Häufig eben Biotechnologie-Startups, die mit Risikokapital arbeiten. Und das führt natürlich dazu, dass Forscherinnen und Forscher viel offensiver klarmachen müssen, dass ein zukünftiger, auch finanzieller Profit mit dieser Forschung zu machen ist. AUTORIN 11 Erklärt der Wissenschaftshistoriker Torsten Wilholt. Eigentlich ist es gute wissenschaftliche Praxis, neue Forschungserkenntnisse möglichst angesehenen Fachzeitschriften zur Publikation anzubieten. Häufig müssen dafür aber Daten nachgereicht oder zusätzliche Experimente beigebracht werden, bevor die Zeitschrift die Texte akzeptiert. Wissenschaftler auf Werbetour sparen sich das häufig. Sie gehen mit Pressemitteilungen direkt an die Öffentlichkeit, um angebliche neue Durchbrüche zu feiern und ihre Kapitalgeber zufrieden zu stellen - Overselling. O-Ton 10 Torsten Wilholt Das hört sich erst einmal so nicht ganz so heikel an, na ja gut, dann übertreibt man halt ein bisschen, klappern gehört zum Geschäft - aber wenn man sich klarmacht, dass hier zum Beispiel an schwersten Erkrankungen leidende Menschen mit Hoffnungen gefüttert werden, dann sind das ganz erhebliche ethische Probleme, die mit dem Overselling auch verbunden sind. AUTORIN 12 An diesem Phänomen lässt sich erkennen: In der Debatte um die Freiheit der Forschung sind Wissenschaftler nicht unabhängig und frei - sie stehen auf Seiten ihrer eigenen Forschungsbegeisterung und verfolgen auch finanzielle, auch Karriereinteressen. Das ist der Grund, warum eine ethische Selbstregulierung der Wissenschaften allein nicht ausreichen kann. Silja Vöneky. O-Ton 11 Silja Vöneky Es gibt auch immer mehr Codices, die von Wissenschaftsorganisationen wie der Max-Planck-Gesellschaft erarbeitet werden - als Standard, die im Wege der Selbstregulierung Wissenschaftler anleiten sollen, verantwortlich zu forschen, ethisch zu forschen. Allerdings - wenn Grundrechte Dritter durch die Forschung in Gefahr sind oder einem Risiko ausgesetzt sind - dann brauchen wir eben rechtlich klare Regelungen, die demokratisch legitimiert sind. Ethisch umstrittene Forschung muss kritisch geprüft werden. Musik 6 Ruhige elektronische Klänge 2 AUTORIN 13 Um die enormen ethischen und verfassungsrechtlichen Herausforderungen der Lebenswissenschaften zu meistern, haben so gut wie alle demokratischen Staaten inzwischen unabhängige, interdisziplinäre Ethikräte eingerichtet - als Beratungsgremien der Politik. Hier arbeiten sich Expertinnen und Experten auf den Fachgebieten der Ethik, des Rechts, der Theologie und Sozialwissenschaften in das schwierige Terrain der Biomedizin und Gentechnik ein. Ihre zeitaufwendige Arbeit wurzelt in der Überzeugung, dass ethische Bewertungen mehr sind als Angelegenheiten des persönlichen Geschmacks. Sie lassen sich rational begründen - mit mal besseren oder mit mal schlechteren Argumenten. 2001 wurde der deutsche Ethikrat ins Leben gerufen. Auch Silja Vöneky gehört ihm an. O-Ton 12 Silja Vöneky Aber wenn es dann in der pluralistischen Gesellschaft dennoch Dissense über ethische Prinzipien gibt - trotz rationaler Argumentation und trotz des Austausches von Argumenten, trotz einer Klärung der Faktenlage - dann ist es in der Tat eine politische Aufgabe, hier einen Konsens herbeizuführen. AUTORIN 14 Darum hat der Ethikrat keinerlei Entscheidungsbefugnis, sondern lediglich Ratgeberfunktion. Immer wieder müssen die Sachverständigen auf plötzliche Entwicklungen reagieren. So im Herbst 2014, als der deutsche Ethikrat eine Ad-hoc-Empfehlung zur Stammzellforschung herausgab - obgleich man meinen könnte, das Thema sei bereits erschöpfend debattiert. O-Ton 13 Silja Vöneky Es gibt neue Entwicklungen in der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen und diese ermöglichen eine in weiterem Maße artifizielle Erzeugung von Keimzellen und von Embryonen. Und die Frage ist, inwieweit diese so geschaffenen Embryonen - oder vielleicht, neutral gesagt, Entitäten - von den einschlägigen Gesetzen in Deutschland überhaupt erfasst werden. AUTORIN 15 2006 gelang es dem japanischen Stammzellforscher Shin'ya Yamanaka, ganz normale Zellen des Bindegewebes in einen stammzellenartigen Zustand zu versetzen. Dafür erhielt er den Nobelpreis für Medizin. Diese Zellen sind "pluripotent", das heißt, sie können sich zu einem ganzen Organismus oder in viele verschiedene Gewebe weiterentwickeln. Weil sie im Labor auf künstliche Weise geschaffen wurden, heißen sie "induzierte pluripotente Stammzellen", kurz iPS-Zellen. Die Forschung daran entwickelt sich seitdem rasant - die ethischen Implikationen sind enorm: Ist eine solche iPS-Zelle ein künstlicher Embryo und vielleicht auch Träger der Menschenwürde? Lassen sich damit Menschen klonen, ohne natürliche Embryonen zu manipulieren? Das wirft Probleme auf, denn das deutsche Klonverbot beruht darauf, dass natürliche Embryonen dabei zum Forschungsmaterial gemacht und damit verdinglicht werden. Nicht nur darum musste der Ethikrat dringend tätig werden. O-Ton 14 Silja Vöneky Wenn Totipotenz der zentrale Begriff dafür ist, ob wir etwas als Mensch begreifen - dann muss klar sein, was für Kriterien dafür genau gelten, für diesen Begriff - gerade mit Blick auf die neuen Entwicklungen. Und das ist eben bisher in den Gesetzen nicht hinreichend definiert. AUTORIN 16 In seiner Ad-hoc-Erklärung empfiehlt der Ethikrat, sich auf internationaler Ebene für ein Klonverbot einzusetzen und das nationale Embryonenschutzgesetz dringend zu präzisieren. Denn iPS-Zellen eröffnen - weit vom Klonen entfernt - Anwendungsmöglichkeiten, die in das soziale Gefüge der Gesellschaft eingreifen könnten. Wissenschaftler könnten gleichgeschlechtlichen Paaren zu Kindern verhelfen, die mit beiden Elternteilen genetisch verwandt sind. Möglich wäre sogar, dass ein und derselbe Mensch gleichzeitig Vater und Mutter eines Kindes wird. Was bedeutet es, sich auf solche neuen Fortpflanzungsmöglichkeiten einzulassen? Das muss in der gesamten Gesellschaft eingehend diskutiert werden, mahnt der Ethikrat. Musik 7 Ruhige elektronische Klänge 2 AUTORIN 17 Können die ethischen Fragen der Biomedizin niemals ein- für allemal abgeklärt werden? Hinken Recht und Gesetz der Forschung ständig hinterher? Zwingt die technologische Entwicklung die Gesellschaft, wieder und wieder über Möglichkeiten und Grenzen moderner Forschung nachzudenken? Das ist in der Tat so - ein Resultat und ein Erfordernis der Forschungsfreiheit. Die Juristin Silja Vöneky. O-Ton 15 Silja Vöneky Rechtlich gilt in einem freiheitlichen, grundrechtlich geprägten Rechtsstaat, was nicht verboten ist, ist rechtlich erlaubt. Und deswegen ist es ja so wichtig, dass wir vernünftige und verhältnismäßige rechtliche Regelungen haben, wenn Einschränkung von Forschung erforderlich ist, um die Gesundheit oder Umwelt zu schützen. Damit hat der Forscher Klarheit, und die Einschränkungen sind dann im Übrigen auch demokratisch legitimiert. Das ist auch ganz wichtig in grundrechtswesentlichen Bereichen. AUTORIN 18 Was nicht verboten ist, ist rechtlich erlaubt. Gleichwohl bleibt der einzelne Forscher seinem Gewissen verpflichtet - gerade weil das Recht neuen Entwicklungen immer hinterher hinkt. Da hilft es auch nichts, auf der Grenze zwischen Grundlagenforschung und Anwendung zu beharren. Hier der Lebenszyklus eines Virus - dort die Biowaffe. Hier die spannende Manipulation einer künstlichen Keimzelle im Labor - dort Kinder mit einer Mutter, die gleichzeitig der Vater ist. Die möglichen Konsequenzen der eigenen Forschung zu bedenken, auch wenn sie nicht oder noch nicht verboten ist, gehört zu den persönlichen moralischen Verpflichtungen eines Forschers, so wie alle menschliche Tätigkeit individuell moralisch verantwortet werden muss. Das Gesetz kann immer nur strittige Teilbereiche regeln - möglichst punktgenau und präzise. Das heißt aber auch: Wissenschaftler können die sehr konkreten Verbote zum Beispiel des Embryonenschutzgesetzes mit neuen Erfindungen im Nu umgehen. Silja Vöneky sieht darin eine Stärke des Rechtsstaats. O-Ton 16 Silja Vöneky Strafgesetze müssen bestimmt sein und sie dürfen nicht unverhältnismäßig sein. Insofern sind eigentlich Lücken ein Zeichen dafür, dass wir versuchen, verhältnismäßig nur die Forschungsfreiheit einzuschränken. Und nicht einfach global alles. Aber das Recht kann reagieren. Die Parlamentsgesetze können geändert werden. Rechtsverordnungen können leichter verändert werden als Parlamentsgesetze. Und das kann notwendig sein, wenn sonst hochrangige Rechtsgüter gefährdet werden. Ansonsten sollen wir die Lücken Lücken sein lassen. Musik 8 Nachdenkliche elektronische Klänge 1 O-Ton 17 Bernd Müller-Röber So lange wir im Labor bleiben, können wir unsere Forschung durchführen auf hohem Niveau. Das ist natürlich anders für Kolleginnen und Kollegen, die letztendlich mit ihren Pflanzen auch tatsächlich ins Feld raus müssen, um ihre Forschungsfragen beantworten zu können! Ein Feldexperiment durchzuführen ist ja nicht ganz kostengünstig, das kostet Geld. Und da hängen Karrieren dran, von Doktorandinnen, Doktoranden beispielsweise. Und wenn die Pflanzen vier Monate im Feld stehen und im fünften Monat werden sie zerstört - dann ist natürlich alles hinüber, der gesamte Aufwand, der führt dann zu keinen brauchbaren Ergebnissen mehr - und das hat einfach verschiedene Forschungseinrichtungen veranlasst, solche Versuche gar nicht mehr durchzuführen. AUTORIN 19 Der Professor für Molekularbiologie der Universität Potsdam, Bernd Müller-Röber, über die Schwierigkeiten, in der deutschen Agrarforschung zu arbeiten. Auch die grüne Gentechnik stellt die Gesellschaft vor eine immense Herausforderung. Wie großzügig dürfen gentechnisch veränderte Pflanzen unter freiem Himmel ausgebracht, wie bedenkenlos Lebensmittel daraus produziert werden? Nicht die Menschenwürde, sondern der schillernde Begriff des Risikos steht im Mittelpunkt dieser Debatte. Da gibt es einmal das erfahrungsbasierte Risiko - wie im Autoverkehr, wo alle wissen, welche Unfälle passieren können. Es gibt aber auch das Risiko, das auf Ungewissheit basiert. In diese zweite, schwer fassbare Kategorie fällt die grüne Gentechnik. Katastrophen wie die Atomenergie mit großflächigen Verseuchungen und Toten brachte sie nie hervor. Dennoch wird seit zwei Jahrzehnten teils erbittert darum gestritten, ob genmanipulierte Ackerpflanzen unerkannte ökologische und gesundheitliche Gefahren bergen oder nicht. Der Sozialwissenschaftler Bernhard Gill erforscht den gesellschaftlichen Umgang mit der Gen- und Biotechnologie. O-Ton 18 Bernhard Gill Der Punkt ist natürlich, wenn Sie alles, was neu ist, sofort unter Verdacht stellen, dann können Sie gar nichts Neues mehr machen. Es gibt so viele neue Technologien und überhaupt so viele neue Praktiken - wenn Sie alles sozusagen jedes Mal verbieten wollten, weil es ja mit irgendetwas zusammenhängen könnte, dann können Sie im Prinzip alles verbieten. AUTORIN 20 Dennoch erkennt der Gesetzgeber an, dass die grüne Gentechnik mit ungewissen Risiken behaftet ist. In der Europäischen Union trägt die Freisetzungsrichtlinie dieser Auffassung Rechnung, in Deutschland das Gentechnikgesetz. O-Ton 19 Bernhard Gill Der Technikbetreiber muss nachweisen, dass er kein Risiko darstellt. Es gibt eventuell auch so etwas wie eine Gefährdungshaftung. Das heißt: Von vornherein sieht man den Bereich als gefährlich an. Und die Gentechnik, obwohl ja noch nichts passiert ist, ist anmeldepflichtig und genehmigungspflichtig und so weiter. Da denkt man: Das könnte gefährlich sein - und du musst erst mal alles zeigen, was du hier machst, bevor wir das genehmigen können. AUTORIN 21 Doch mit den hohen gesetzlichen Auflagen ebbte die Debatte nicht ab. Kritikerinnen und Kritiker wünschen sich eine schärfere Risikoforschung. Pflanzenforscher und Agrarindustrie sprechen von einer forschungsfeindlichen Überregulierung transgener Pflanzen. Während in den USA jährlich an die achthundert Freisetzungsanträge gestellt werden, ist die Zahl der Freilandversuche in Europa seit 2009 um drei Viertel gesunken. In jenem Jahr zerstörten radikale Gentechnik-Gegner in Deutschland fast die Hälfte aller Versuche. 2013 und 2014 wurden in Deutschland gar keine Gentechnik-Pflanzen mehr freigesetzt. Wissenschaftler wandten sich mehrfach mit Appellen an die Öffentlichkeit. O-Ton 20 Bernd Müller-Röber Wir müssen Bewertungsmaßstäbe haben. Das ist außer Frage. Das gilt aber wiederum auch für eine traditionell gezüchtete Pflanze! Also es gibt überhaupt kein Argument dafür zu sagen: Eine Pflanze, die mittels grüner Gentechnik hergestellt oder verändert wurde, dass die per se schon gefährlicher sei für die Umwelt oder für die Ernährung - dafür gibt es wissenschaftlich überhaupt keine Belege. Und wenn wir Pflanzen ausbringen, dann ist es egal, ob das gentechnisch modifizierte Pflanzen sind oder klassisch gezüchtete Pflanzen sind oder eine Kombination aus beidem darstellt. Musik 9 Nachdenkliche elektronische Klänge 2 AUTORIN 22 Bewertungsmaßstäbe für gentechnisch veränderte Pflanzen müssen gefunden werden. Doch dürfen - im Sinne der Forschungsfreiheit - dabei tatsächlich nur naturwissenschaftliche Erkenntnisse eine Rolle spielen? Oder ist es auch legitim, wenn Politiker soziale und ökonomische Bedenken vorbringen? Nicht nur die Molekularbiologie, auch die sozioökonomische Forschung bringt ja Wissen hervor, wenn auch in anderer Form. Dabei kann herauskommen, dass Gentechnik-Pflanzen tradierte Sorten verdrängen und den gesellschaftlichen Frieden in einer Region gefährden, dass sich auf dem Saatgutmarkt Monopolstrukturen entwickeln oder es sozial verträglichere Alternativen zur industriellen Landwirtschaft gibt. Gewiss, je mehr Wissenschaft und Technik die Gesellschaft prägen, umso mehr wird naturwissenschaftliche Forschungsfreiheit zu jenem politischen Recht - wichtig für die Teilhabe an der Demokratie, betont der Rechtsphilosoph Torsten Wilholt. O-Ton 21 Torsten Wilholt Gleichwohl lassen sich auch politische Rechte gegen andere Dinge abwägen, zum Beispiel gegen andere wichtige Elemente einer freien demokratischen Gesellschaft. AUTORIN 23 Während Juristen noch darüber debattieren, inwieweit die Rechtsdokumente der EU oder das Gentechnikgesetz Raum lassen für sozioökonomisch motivierte Entscheidungen über die grüne Gentechnik, bewegt sich die Politik bereits deutlich in diese Richtung. EU-weit setzen Politiker auf einen erweiterten Risikobegriff, der über naturwissenschaftliche Überlegungen hinausgeht. Griechenland erklärte sich als erstes EU-Land für vollständig gentechnikfrei, Frankreich, Italien und Österreich mit einem Großteil ihrer Regionen, in Deutschland sind nicht weniger als acht Bundesländer bei der Gentechnikfreiheit mit dabei. Eine deutliche Sprache spricht auch das Tauziehen um den gentechnisch veränderten Mais der Firma Monsanto, MON 810. Von Seiten der EU eigentlich seit 1998 als ökologisch unbedenklich zum kommerziellen Anbau zugelassen, untersagten dennoch mehrere EU-Länder den Anbau des Gentechnik-Mais, darunter auch Deutschland. Der Pflanzenforscher Bernd Müller-Röber hat dafür wenig Verständnis. O-Ton 22 Bernd Müller-Röber Der MON 810 Mais wird weltweit auf sehr großen Flächen angebaut, ohne dass es nachweisbare Schädigungen von Gesundheit gibt. Und ich würde mir schon wünschen, dass hier wieder eine Zulassung ausgesprochen würde. Ich persönlich halte es einfach für vollkommen überzogen, diese Entscheidung. AUTORIN 24 Die damalige Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner beteuerte öffentlich, das Mais-Verbot sei rein fachlich-naturwissenschaftlich motiviert. Auf diese Beteuerung könnte sie heute verzichten. Anfang 2015 haben sich die EU-Länder neue Regeln zugelegt. Jeder Staat darf künftig den Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen, ja, sogar von ganzen Gruppen wie "jeder Gentechnik-Mais" oder "alle herbizidresistenten Pflanzen" untersagen. Und zwar nur aus sozioökonomischen Gründen - agrarpolitischen Zielen, regionalen Entwicklungsplänen oder weil es so besser ist für die öffentliche Ordnung. Lediglich Umwelt- und Gesundheitsrisiken begutachtet weiterhin die EU-Kontrollbehörde. Es erstaunt wenig, dass der Gentechnik-Branchenverband EuropaBio scharf protestierte. Auch Bernd Müller-Röber wünscht sich: O-Ton 23 Bernd Müller-Röber Das Produkt, was am Ende da ist, sollte bewertet werden hinsichtlich seiner gesundheitlichen, ökologischen Konsequenzen - und nicht mit welchen technischen Verfahren man eine Kulturpflanze neu hergestellt hat, gewonnen hat, gezüchtet hat, sondern es sollte immer um das Produkt gehen. AUTORIN 25 Doch im Tauziehen um die Frage der Forschungsfreiheit in der grünen Gentechnik sind die Gegner liberaler Regelungen derzeit der stärkere Part. Sogar das Bundesverfassungsgericht stellte sich im November 2010 auf ihre Seite und erklärte das Gentechnikgesetz für verfassungskonform, trotz seiner strikten Vorgaben. So bedeutsam die Forschungsfreiheit auch sei - in Fragen des Gemeinwohls stehe dem Gesetzgeber ein großzügiger Entscheidungsspielraum zu, urteilten die Richterinnen und Richter in Karlsruhe. Derweil hat laut Umfragen die Skepsis gegenüber gentechnisch modifizierten Lebensmitteln die Hälfte der Bevölkerung ergriffen, nicht nur in Deutschland. Schon stehen die Interessenverbände der Agrarforschung in den Startlöchern, um Europa mit neuen Werbekampagnen zu überziehen - das nächste Tauziehen kommt bestimmt. Musik 10 Nachdenkliche elektronische Klänge 2 AUTORIN 26 Während mit dem Embryonenschutzgesetz ein Weg gefunden scheint, den viele Interessengruppen akzeptieren können, kommen die Auseinandersetzungen um Freiheit und Grenzen der Pflanzen-Gentechnik nicht zur Ruhe. Der Grund liegt möglicherweise darin, dass Wissenschaftler wie Kritiker den weltanschaulichen Gehalt ihrer Positionen zu wenig auf den Debattentisch legen. Überlegungen zur Embryonenforschung drehen sich fast ausschließlich um ethische Fragen - bei der grünen Gentechnik sollte es jahrelang nur nüchtern und rational zugehen, sprich: naturwissenschaftlich im Sinne der Pflanzenforschung. Doch allmählich begreifen auch Pflanzenbiologen, dass sich ihr Forschungszweig weltanschaulich auf seine Kritiker zubewegen muss, sonst bleiben Kompromisse unmöglich. O-Ton 24 Bernd Müller-Röber Hätten die gentechnischen Verfahren von Anfang an andere Produkte hervorgebracht, möglicherweise auch gar nicht mal so sehr von großen Firmen, sondern von kleineren Firmen - Produkte, wo man deren, ich sage es mal so, gesellschaftlichen Nutzen vielleicht eher gesehen hätte - dann hätte, glaube ich, die gesamte Diskussion zum Thema grüne Gentechnik auch anders verlaufen können. Und davon wieder weg zu kommen, ist meine große Hoffnung - dass auch in Zukunft weniger das Geldmachen als Antrieb für grüne Gentechnik gesehen wird. Musik 11 Elektronische Klänge AUTORIN 27 Ob das die Kritiker überzeugen wird? Auf jeden Fall wendet sich die Debatte und auch Naturwissenschaftler beginnen zu verstehen: Was ein Mensch für sicher oder gefährlich hält, für erstrebenswert oder unerwünscht, hängt von seiner weltanschaulichen Perspektive ab. Entsprechend wird er auch die Forschungsfreiheit ausgestalten wollen. Ist die Natur neutrales Lebensumfeld? Rohstoff- und Warenlager? Ein sensibles lebendiges Netzwerk, das der Mensch beschützen und bewahren muss? Je nachdem, wie man diese Fragen beantwortet, wird man sich zur grünen Gentechnik wie auch zu anderen neuen Technologien positionieren - und andere Grenzen ziehen wollen. Das hat mit Irrationalität ebenso wenig zu tun wie die Idee der Menschenwürde für das Zellhäufchen am Anfang des Lebens. Musik ausklingen lassen ENDE 10 von 19 1 von 19