Deutschlandrundfahrt Mit Schlussstein veraltet – Bundesfestung Ulm und Fort Hahneberg Spandau Von Felix Florian Weyh Sendung: 27. November 2016 Was Menschen von heute an sinnlosen Bauprojekten des 19. Jahrhunderts fasziniert. Eine Deutschlandrundfahrt von Florian Felix Weyh Musik 1:„Dream Play IV" Interpret+Komponist:Jürgen Grözinger Bos.Rec, LC 03295 001 Markus Uhl Früher war’s definitiv für uns Abenteuerspielplatz, als wir noch jünger waren. Da haben wir hier Lagerfeuer gemacht, dann dauernd übernachtet, Partys und so. Ist aber seit einigen Jahren anders. 002 Siegfried Wittkopp  Die Festung Fort Hahneberg zur Verteidigung von der Rüstungsstadt Spandau, Bauzeit 1882 bis 1886, und aus 28 Millionen Ziegelsteinen haben 2000 Arbeiter und 100 Festungsmaurer dieses Bauwerk errichtet. 003 Markus Uhl Problem ist, dass wir hier drin nicht allzu viele befestigte Untergründe haben, also sprich ein Großteil unserer Führungswege ist klassisch Waldweg, unbefestigter, da wachsen auch mal Wurzeln. Und ansonsten, im Inneren des Gebäudes, hat man nach Kriegsende zur Baustoffgewinnung die Masse der Fußböden rausgerissen. Mit der Folge, dass wir da heute leider im staubigen Zuckersand langlaufen müssen. 004 Siegfried Wittkopp Das ganze Gebäude ist beeindruckend! Erstens mal von der Architektur, dann von der Logistik, und das sich dieses Bauwerk 130 Jahre so wunderbar erhalten hat. Das ist einfach toll! 005 Markus Uhl Aber im Vergleich mit Ulm kann sich Spandau natürlich bloß verstecken! (lacht) Wenn man bedenkt, was da noch alles erhalten ist. Kennmelodie Deutschlandrundfahrt.  SPRECHERIN „Mit Schlussstein veraltet – Bundesfestung Ulm und Fort Hahneberg Spandau." Was Menschen von heute an sinnlosen Bauprojekten des 19. Jahrhunderts fasziniert. Eine Deutschlandrundfahrt von Florian Felix Weyh 006 Markus Uhl  Ich hatte mit 11 Jahren in der Zitadelle mal ne Führung mitgemacht. Und da hat dann der Erklärer erklärt, warum es so gebaut ist, wie es gebaut ist. Das fand ich halt sehr faszinierend und fing dann an, mich mit der Geschichte der Zitadelle auseinanderzusetzen. Bin also dann die ganzen nächsten Wochen und Monate jedes Wochenende immer wieder zur Führung hin, bis ich da schon Teile selber erklären durfte.(lacht) Und auch sonst mitmachen konnte. Mit 11 Jahren. Und dann hab ich angefangen, mich für den Rest der Spandauer Stadtgeschichte zu interessieren, also für die ganzen alten Häuser in der Altstadt und die Reste der Stadtmauern. Und dann in Verbindung aber doch die anderen Spandauer Festungswerke. Und bin dann irgendwann mit 14 Jahren hier bei einer Veranstaltung im Fort halt mal hängengeblieben. 01 AUTOR „Hängengeblieben" ist gut – seit Jugendtagen investiert der 34-jährige Angestellte Markus Uhl aus Berlin-Spandau unermüdliches Engagement in die Ergründung und den Erhalt von Fort Hahneberg, dem letzten Festungsneubau der Kaiserzeit, gelegen am westlichen Rand der Hauptstadt und in DDR-Zeiten Teil des abgesperrten Grenzgebiets. Der Hahneberg selbst war einst einer der höheren Berge im berlin-brandenburgischen Flachland, bis 1882 zweitausend Arbeiter mit Schippen und Schubkarren kamen, um ihn auszuhöhlen.  007 Markus Uhl Ganz vereinfacht gesagt hat man die Kuppe des natürlichen Hahnebergs hier – bei Baubeginn war der 63 Meter hoch über Meeresspiegel – ausgehöhlt. Dann aus ungefähr 28 Millionen Ziegelsteinen das Fort in die Grube gesetzt. Den ganzen Aushub des Berges wieder rangeschoben an alles Mauerwerk. Und nach oben hin wurde auch alles übererdet. Vorschrift war mindestens anderthalb Meter Sand oben drauf, aber zum Großteil haben wir also Erdüberdeckung von zehn Metern. Musik 2: „Dream Play V" Percussion-Stück Interpret+Komponist: Jürgen Grözinger Bos.Rec, LC 03295 02 AUTOR Zehn Meter, also Hunderttausende Tonnen märkischen Sands, drücken auf die Gewölbedecken des wilhelminischen Ziegelforts mit seinen schier endlosen Gängen und düsteren Gewölben. Man kann das so oder so empfinden – als bestmöglichen Schutz vor allem Unbill der Welt, dort unter der Erde, oder als eine Form des Lebendig-Begrabenseins. Gedacht war das in den Berg gebuddelte Wehrgebäude natürlich als Schutz vor feindlichem Beschuss. Oben auf der neuen, künstlichen Bergkuppe standen Kanonen, die den Feind auf dem flachen Gelände vor Spandau so weit fern halten sollten, dass er wiederum mit seiner Artillerie die Stadt nicht erreichen konnte. Denn:    008 Markus Uhl Spandau war das wichtigste Rüstungszentrum Preußens. Bis Ende des 1. Weltkriegs wurde wirklich ein sehr, sehr erheblicher Teil des deutschen Geschützwesens, der deutschen Gewehre und der dazugehörigen Munition, das Schwarzpulver, hier in Spandau hergestellt. Es gab parallel natürlich auch noch private Rüstungsfabrikanten wie Gruson, Krupp oder Thyssen, aber die staatlichen Fabriken waren zum Großteil hier bis Ende des 1. Weltkriegs in Spandau konzentriert, 03 AUTOR Dummerweise lief es schon in der Bauphase anders als geplant. Wir sind in Berlin, „Großprojekte und ihre Tücken", denkt man unwillkürlich, wenn man Siegfried Wittkopp zuhört, der sich in der „Arbeitsgemeinschaft Fort Hahneberg" seit dem Mauerfall um das Gebäude kümmert. 009 Siegfried Wittkopp Noch während der Bauzeit entwickelte sich die Waffentechnik weiter. 1885 etwa gab es die so genannte „Brisanzgranate". Das war ein Geschoss, das in das Gebäude eindrang und dann erst explodierte. Und somit war das Fort Hahneberg, dieses Ziegelsteinfort ... zur Verteidigung hat’s nicht mehr getaugt. 04 AUTOR Ich habe Markus Uhl, den jung Berufenen, und Siegfried Wittkopp, der mit seinem Schnurbart sogar ohne historische Uniform ein bisschen wie jener Soldat der Kaiserzeit aussieht, den er zuweilen bei Veranstaltungen mimt...  Musik 3: „Kaiser-Franz-Josef-Marsch"  Historischer Aufnahme von 1913 Komponist: Pichler Zonophone, LC 18070  010 Siegfried Wittkopp Da ich gelernter Koch bin, hat man mich in den »Train« gesteckt. Also ich habe eine Uniform des 3. Brandenburgischen Train-Regiments. Der Train wurde ja entwickelt, um eben den Nachschub der vorne Kämpfenden zu sichern, und da waren natürlich Köche sehr gefragt. Und aus dieser Zeit besteht dann ja auch noch der Spruch: »Ohne Mampf keinen Kampf! « 05 AUTOR ... ich habe also diese beiden Geschichts-Enthusiasten an einem Nachmittag im späten Oktober um eine Privatführung gebeten. Wir marschieren durch den zentralen Verbindungsgang von Ost nach West, der das sechseckige Fort Hahneberg durchschneidet – fast 250 Meter lang und entsprechend unheimlich.    011 Siegfried Wittkopp (Geräusch Lichtschalter) Na bitteschön! (Autor: „Ah, jetzt wird es plötzlich … jetzt haben wir den Lichtschalter angemacht, jetzt wird es irgendwie profaner.") Es wird langweilig, genau! Mit Licht verliert es einfach seine Romantik. Und von daher machen wir das auch wirklich nur sporadisch, dass wir dann eben auch diese Wege beleuchten. 06 AUTOR „Romantik" wäre jetzt nicht meine Zuschreibung für die Gefühle, die mich in diesem Gemäuer erfüllen. Doch bin ich, ganz wie meine beiden Führer, vom Gebäude fasziniert. Auf den ersten wie auf den zweiten Blick, viel mehr aber noch auf den ersten wie auf den zweiten ... ja wie sagt man das eigentlich? Gibt es ein Wort für Ganzkörper-Raumerfahrung? Für Kathedralen- und Höhlenwahrnehmung, Wohnraum- und Schutzhöhlenemotion? Mir stellen sich die Nackenhaare auf, gleichermaßen aus Schauder wie aus Geborgenheit. Die Gründe dafür liegen auch in meiner Biografie. Musik 4: „You’re in the army now" Interpret: Status Quo Komponist/Texter: Rob Bolland, Ferdi Bolland Vertigo, LC 01633 012 Jörg Zenker  Ich hab Zivildienst gemacht. Ich lehn das alles ab! Also persönlich, Kriegführung und blinden Gehorsam, das ist absolut nicht mein Ding! Auch wenn ich jetzt zufällig so in diesem Habitus hier herumlaufe, als wäre ich hier voll der Militär, aber ich bin eigentlich Pazifist hoch zehn, wenn’s irgendwie möglich ist. 013 Atmo: Gespräch über den „Militärmantel" (Freistellen: „Du hasch’n schöne Militärmantel" und Zara-Dialog).Dann Autor darüber: 07 AUTOR  Jörg Zenker trägt tatsächlich eine Art military Chic, einen Kurzmantel mit Adlerknöpfen und Schulterklappen. Der junge Schauspieler arbeitet als historischer Stadtführer im württembergischen Ulm. Nicht nur das, er ist auch Vereinsmitglied im „Förderkreis Bundesfestung Ulm", also ebenso engagiert für die Bewahrung des historischen Erbes wie Markus Uhl in Berlin. 014 Jörg Zenker  Man will’s verstehen! Man will einfach verstehen: Warum steht so was da? Dann hat man auch einen Blick dafür und reißt es nicht ab. An diesen ganzen Festungen, und überhaupt diesen ganzen Epochen, kann man sich entlanghangeln und die Stadt kennenlernen. Und wenn da ein Teil fehlt, dann ist eine große Lücke entstanden, das find ich nicht schön. 08 AUTOR  In Ulm habe ich meine Kindheit und Jugend verbracht, dreizehn Schuljahre lang, und direkt hinter der Turnhalle meines Gymnasiums zog sich eine trutzige Mauer mit Schießscharten entlang. Sie wirkte deutlich nicht mittelalterlich – also auch keineswegs romantisch –, nicht ruinös bröckelnd und efeuberankt, sondern eher wie Teil eines Gefängnishofes, alt, doch prämodern zugleich. In den frühen 80er-Jahren blendete ich das, friedensbewegt, ebenso aus wie zahllose andere, gut erhaltene Festungsrelikte im Ulmer Stadtbild. Was sich allerdings nicht ausblenden ließ, war die Grundstimmung der Stadt: eine militärische. 015 Dr. Silvester Lechner  Im 1. Weltkrieg zum Beispiel war ein Viertel der Bevölkerung Soldaten, und Ulm lebte von seinen Soldaten sehr gut. Das war also ein starker ökonomischer Impuls. 09 AUTOR  ... erklärt der Historiker Silvester Lechner den Ursprung dieser Stimmung.  016 Dr. Silvester Lechner  So war Ulm sehr identifiziert mit seinen Soldaten, mengenmäßig, aber schon auch ideologisch. Weil man setzte das schwäbische Militär sehr stark vom preußischen Militär ab! Also die Preußen, die haben alle möglichen Schrecklichkeiten begangen, und Ulm – der Ausdruck fiel immer wieder – war „die gemütliche Militärstadt". 10 AUTOR  Silvester Lechner hat sich zeitlebens mit den dunklen Seiten der Ulmer Festungsnutzung beschäftigt, dazu kommen wir noch. Das Militärische – heute fast aus der Stadt verschwunden – prägte meine Kindheit.  Musik 5:„The fairest of he fair" (Militärmarsch)  Interpret: United States Air Force Band, G. Howard Komponist: J.P. Sousa Reader’s Digest, LC 12660 Ein Drittel der Mitschüler waren Soldatensöhne und -töchter. Im Ulmer Theater, in dem ich als Statist mitwirken durfte, bestand der halbe Ersatzchor aus Offizieren und Unteroffizieren, mit denen wir Statisten uns in der gemeinsam geteilten Garderobe ideologische Schlachten lieferten. Hie die Falken, die blutigen, kriegstreiberischen Nachrüstungsbefürworter – da wir Friedenstauben, die russenhörigen, blauäugigen Pazifisten. Heute ist dieser Konflikt Vergangenheit, selbst die US-Army zeigt keine Präsenz mehr in Ulm und Neu-Ulm, auf der bayrischen Seite der Donau. Die Doppel-Stadt ist entmilitarisiert, befriedet und schon lange entfestet – allerdings besitzt sie die größte, noch erhaltene europäische Festungsanlage aus dem 19. Jahrhundert. Das steht so in verschiedenen Büchern. Markus Uhl, der Spandauer Fort-Hahneberg-Spezialist und Festungs... ja, sagen wir es ruhig: Tourist... 017 Markus Uhl  Ja! (lacht) Genau! Das stimmt. Ich war also Tatsache, mit Tochter allerdings, vor ein paar Wochen eben in Ulm gewesen, und hab mir da also auch mehrere der Ulmer Forts angesehen. 11 AUTOR  ... Markus Uhl hat gegen diese Behauptung allerdings Einwände: 018 Markus Uhl  Allein im deutschen Festungsbau, würde ich sagen, ist Metz … stellt Ulm da schon mal in den Schatten. Und ansonsten auch Städte wie Straßburg, Königsberg oder Posen, Thorn, Köln – die können da also auch locker mithalten. 12 AUTOR  Aber es ist nicht die Größe, die mich von Spandau nach Ulm reisen lässt – Spandau, jenem Berliner Stadtteil, in dem ich seit zehn Jahren lebe, es aber erst in diesem Sommer geschafft habe, die Kasematten des fußläufig zu erreichenden Fort Hahneberg zu besichtigen. Kase – was? 019 Markus Uhl  Als Kasematten bezeichnet man halt Wohn- und Lagerräume in einer Festung, die beschusssicher gebaut sind. Mit überwölbten Decken, mehrere Meter Sand obendrauf. 13 AUTOR  Dabei kam dann plötzlich eine Flut von Bildern hoch. Darunter: Ein Ferienlager im Ulmer „Ruhetal", aus dem wir Kinder ausbüxten und abenteuerliche Pirschgänge unternahmen, bis wir in gruseligen, feuchten, muffig riechenden Grüften landeten – eben Kasematten.    020 Matthias Burger  (Autor: „Also ich hab ja ne Kindheitserinnerung: Ich war im Ruhetal, und dann sind wir mit 12 Jahren irgendwie rumgestreunert, durch einen Zaun durch, und flugs wurden wir von einem Soldaten verhaftet und furchtbar ins Gebet genommen. Das kann gewesen sein, oder?") Das ist durchaus möglich! Die Wilhelmsburgkaserne besteht auch heute noch, nördlich der Wilhelmsburg, in der so genannten Wilhelmsfeste. Und da damals die Burg hier auch dazugehört hat, war das natürlich auch Kasernengelände. 14 AUTOR  ... erklärt Matthias Burger vom „Förderverein Bundesfestung Ulm". Ich erinnere mich allerdings noch an ein weiteres, sehr seltsames Detail. 021 Matthias Burger  (Autor: „Und dann lag da was rum: Weiße Gips-Hohlformen für irgendwelche Töpferwaren!") Da waren Sie dann vielleicht sogar möglicherweise im Fort Prittwitz, ein bisschen nördlich von hier. Denn dort war die »Ulmer Keramik« seinerzeit. Also in der Nachkriegszeit als Ulmer Keramikfabrik eingemietet. Und die hatten dort tatsächlich solche Hohlformen gelagert, ja. 15 AUTOR  Gips-Hohlformen für Teller, Tassen, Schüsseln, Terrinen ... zu Hunderten einfach als Schutthalde in die Kasematten gekippt. Das Bild steht deutlich vor meinen Augen. Aber erst jetzt, vierzig Jahre später, beginnt es lebendig zu werden. Plötzlich interessiert mich – genau wie den Pazifisten Jörg Zenker – diese militärische Nachbarschaft, in meinem Fall sogar eine doppelte, die meiner Kindheit und die meines jetzigen Lebens. Eine Nachbarschaft zu Gebäudemassen, die mit ihrem Schlussstein bereits veraltet waren.  022 Dr. Silvester Lechner  Das war mit der Bundesfestung ja auch der Fall! Es wurde ja beschlossen am Wiener Kongress 1815. Der Bau hat begonnen 1845. Und dann hat’s fast zehn Jahre gedauert, bis das Ding fertig war, und es hat sich herausgestellt: Die Waffen haben sich verändert, Zement ist erfunden worden, es passt überhaupt nicht mehr in die Landschaft! Die Kriegsführung findet woanders und auf andere Weise statt. 16 AUTOR  In Berlin war das sogar während der Bauzeit schon absehbar. Man verwarf dort alle weiteren Festungspläne rund um Spandau, stellte jedoch das funktionslos gewordene Einzelstück Fort Hahneberg trotzig fertig. Dit is Berlin. Bezahlt wurden die gigantomanen Verteidigungsanlagen ja auch nicht vom deutschen Steuerzahler, sondern in beiden Fällen vom französischen, aus Reparationen der Kriege 1813-15 und 1870/71. Musik 6: „Give peace a chance" Interpret: John Lennon, Plastic Ono Band Komponist/Texter: John Lennon APPLE, LC 01074 023 Matthias Burger  (Schlüsselgeräusche) Dann gehen wir mal gschwind hier noch raus. (Schlossgeräusche. Autor: »Ah, Sonnenlicht! Jetzt kommen wir … au upsa, hups … aufs Dach. Ah, eine Fahne! Eine schwarz-weiße Fahne, was ist das, Ulm?) Ja, schwarzweiß ist Ulm. Und diese Fahne wurde hier von uns mal aufgehängt. Die Wilhelmsburg ist von der Stadt unten so schlecht sichtbar, kein Mensch weiß, dass sie hier oben ist, und wir wollen wenigstens durch diesen Fahnenmast, den man tatsächlich vom Münsterplatz aus sehen kann, andeuten: Also liebe Ulmer, vergesst nicht, da oben ist eure Burg! 17 AUTOR Auf der stehen wir gerade und schauen hinab auf das Ulmer Münster mit seinem 161 Meter hohen Kirchturm, dem höchsten der Welt. Bei sehr gutem Wetter, erklärt Matthias Burger, der Vorsitzende des „Fördervereins Bundesfestung Ulm", könne man in 130 Kilometern Entfernung die Alpen sehen. Ein idealer Ausflugsort, sollte man denken, aber ich fühle mich etwas unbehaglich. 024 Matthias Burger (Dieser Bau ist ja doch sehr abweisend!) Ach, das würd ich gar nicht mal sagen! Die Anklänge hier sind wirklich ins Mittelalter zurück. Klar, es ist ein flacherer Bau als Neuschwanstein (lacht) und hat auch natürlich nichts mit der Verspieltheit dieser Bauten zu tun. Aber es ist ein Bau mit wirklich … ja, romantisch-klassizistischen Charme, und den könnte man sehr wohl sich anschauen, ohne dass man an die Abgründe des 20. Jahrhunderts denken muss, denn dort wurde Festung ja nur noch betoniert.  ? 18 AUTOR Mit den Augen des Liebhabers erscheint das so. Jeder Stein speichert Geschichte und verdient Zuneigung. Als ich mit Matthias Burger zum Rundgang aufbreche, inspiziert er im Innenhof der Wihelmsburg... 025 Matthias Burger  So riesig, so groß … das Münster würde hier reinpassen! 130 Meter breit und 90 Meter in der Tiefe. Und hier in der Ecke finden jetzt Bauarbeiten statt. 19 AUTOR ... ein paar Dutzend Holzpaletten mit weißen Kalksteinen, die bei den Bauarbeiten angefallen sind und nun seinem Verein zur Verfügung stehen. Natürlich nimmt er diese Gabe an, für Reparaturen – und überhaupt! Im normalen Leben ist Burger Physiklehrer, aber beileibe kein trockener Theoretiker. Auf Youtube lassen sich erstaunliche Filme von ihm finden, in denen er sein Können im Umgang mit alten Handwerkstechniken demonstriert, etwa beim Bau einer mechanischen Seilwinde. Wozu man die braucht, erschließt sich beim Gang durch die Burg rasch: 026 Matthias Burger  Jetzt gehen wir gerade so eine Rampe hoch. Diese Rampe war im Kehlturm die Möglichkeit, Geschütze von Geschoss zu Geschoss zu bringen. Und diese Rampe, die windet sich jetzt hier in diesem ovalen Turm immer weiter nach oben wie so eine große Schraube nach oben. Und in jedem Stockwerk ist dann die Möglichkeit, die Kanonen in die Stockwerke zu verfahren. 20 AUTOR Zur Bauzeit der Ulmer Bundesfestung von 1842 bis 1859 gab es nichts außer menschlichen und tierischen Kräften. Ein „Hebezeug", dessen Bau Matthias Burger im Video-Zeitraffer dokumentiert leistete als einziges bei dieser Schwerstarbeit Hilfestellung. 027 Matthias Burger (aus Youtube-Video)  Dann kam die Montage der schweren Gussräder. Es gibt ein anderes Video über deren Herstellung. 21 AUTOR  Architektonische Voraussetzung war allerdings die Stufenlosigkeit der endlosen Innengänge, und sie legt heute eine Fun-Sportart als Nutzungsidee nahe...  ? 028 Matthias Burger  Man kann jetzt im Prinzip, wenn Sie jetzt hier die Rollschuhe anziehen, runtersausen bis ins Erdgeschoss. Sie können auch im ersten Stock abbiegen. Sie können eigentlich mit ihren Rollschuhen einmal um die ganze Burg rumfahren. 22 AUTOR Nutzung – das ist natürlich das Problem einer solchen Baumasse. Letztens gab es sogar fünf Millionen Euro Bundeszuschuss für die Entwicklung von Nutzungskonzepten und Erhaltungsmaßnahmen. Das Gebäude mit über 550 Räumen ist allerdings ein echte Herausforderung. Seit Jahrzehnten steht es weitgehend leer. Seine ehemalige Funktion als Zitadelle, die im Belagerungsfall fast 7.000 Soldaten in sehr spartanischer Manier aufnehmen sollte, lädt zivile Mieter nicht gerade ein. 029 Ralf Milde  Ich hab ja damals die »Westside Story« in der Burg inszeniert, war einer der ersten Inszenierungen. Und hab gedacht, es kann nicht sein, dass dieses gigantische Gebäude als Brache quasi da liegt. Und dann hab ich mit einem Grafikdesigner und mit einem Architekten, haben wir zusammen mal einen frechen Entwurf gemacht, haben eine gigantische Kuppel in diesen Innenraum gesetzt, und haben gesagt: Das ist der eigentliche Veranstaltungsort. Und daraus machen wir ein »Fort Future«. 23 Autor  Ein Wortspiel zunächst. „For Future" – also für die Zukunft sollte das „Fort der Zukunft" sein, vor etwa zwanzig Jahren, als sich Ralf Milde mit der gigantischen architektonischen Hinterlassenschaft der Wilhelmsburg befasste. Anfang der 1980er-Jahre war Milde als Dramaturg und Regisseur aus Norddeutschland nach Ulm gekommen und hat dort mittlerweile tiefe Wurzeln geschlagen. Er sitzt sogar für die FDP im Stadtrat. Und als „Neigschmeckter", wie die Schwaben Zugezogene gerne nennen, erlaubt er sich einen unorthodoxen heimatkundlichen Blick aufs Allerheiligste, den Turm des erst 1890 vollendeten Ulmer Münsters: 030 Ralf Milde  Meine Theorie ist ja, dass – nachdem die Burg fertig gebaut war und wir so viele Kneipen hatten und so viele Steinmetze hatten und so viel Equipment und Technik hatten – dass man dann gesagt hat: „Leute, jetzt können wir auch den höchsten Turm der Welt zuende bauen!" Wir verdanken den höchsten Kirchturm der Welt auch in gewisser Weise der Bundesfestung. Weil es war alles da. 031 Matthias Kaiser  Es ist eine militärische Architektur, ganz klar. Das hat mit Burgromantik, obwohl wir immer so flapsig von der »Burg« sprechen, das hat mit Burg in dem Sinne nichts zu tun. Außer dass es ein wirklich umfriedetes Gelände ist. Wobei das Wort »Frieden« in diesem Zusammenhang seltsam anmutet. Sondern es ist eine militärische Architektur, und es ist immer noch dieser verlassene Zustand! Mit den abblätternden Tapeten und … es ist einigermaßen regendicht gemacht worden, oder ziemlich regendicht gemacht worden, aber ansonsten steht das da wie die Truppen damals rausgegangen sind aus dem Gemäuer. 24 AUTOR ... und das war in den 80er-Jahren. Matthias Kaiser ist Operndirektor am Ulmer Theater und kennt die Wilhelmsburg, weil sein Ensemble dort im Innenhof Freilichtaufführungen gibt – kommendes Jahr etwa die „Aida". Man kennt so etwas prinzipiell: Theater macht sich alle Räumlichkeiten Untertan, auch die unwirtlichsten. 032 Matthias Kaiser  Das Erstaunliche ist tatsächlich, in all diesen Aufführungen, die wir dort oben gemacht haben: Die Mauern haben sich nie wirklich verwandelt. Obwohl es viele Versuche gegeben hat, durch Licht, Verhüllung, Teilverhüllung und was wir da alles veranstaltet haben. Sie haben aber nie sozusagen ihre Zähne verloren. Also diese Fensterscharten können wie so Zähne eines steinernen Apparats oder so was [aussehen] ... sondern sie sind das immer geblieben. Und wenn man diese gewisse ... ja passive Aggressivität dieser Mauern einsetzt als Bestandteil eines solchen Theaterabends, ist es möglich, irgendwie der Burg auch ne Nase zu drehen. Musik 7: Sinfonie Nr. 3 d-Moll, 1. Satz  Interpret: SWR Sinfonie-Orchester, Ltg. Michael Gielen Komponist: Gustav Mahler Faszination Musik, LC 10622 033 Matthias Kaiser  Es gibt einen Komponisten, der dort hinpasst, der einen monumentalen Zugriff auf musikalische Architektonik hat. Und der unendliche Trauer über die zerstörte Heimat komponiert hat – Gustav Mahler!(Autor: „Mahler?") Ja. Gustav Mahler, der wahnsinnig geweint hat in seiner Musik über den Verlust des intakten Reiches und intakten Nation und der intakten Kunst. Und diese unendliche Trauer im monumentalen Gewand, die find ich passt dort wunderbar. 25 AUTOR Gustav-Mahler-Festspiele, das wäre doch eine Idee – aber dafür gäbe es in der ehemaligen „Defensivkaserne" Wilhelmsburg gar keine geeigneten Räume. Insgesamt ist die Bundesfestung in ihrer Ausdehnung derart riesig, dass man jedem einzelnen Gebäude eine römische Ziffer auf die Stirn schrieb. Vielleicht ist eine solche Architektur mit Inhalten gar nicht auszufüllen, sondern nur äußerlich von Künstlern in den Griff zu kriegen. Ralf Milde entwirft inzwischen hauptsächlich Stadt- und Lichtinstallationen, und diese Zahlen haben es ihm angetan: 034 Ralf Milde  Ich hab immer gesagt: Was ist das Signet, dass man sofort erkennt, es handelt sich um die Burg? Das sind die Ziffern! Jede Burg hat eine Zahl. Und ich wollte diese Zahlen als Leuchtsymbole haben, so dass wir, wenn wir von Stuttgart nach München über Ulm fliegen, dann schauen wir runter, und dann sehen wir unten in der Landschaft diese Nummerierung nachts, als Lichter. So! ? Musik 8: „Universal soldier" Interpret: Buffy Sainte-Marie Komponist/Texter: Buffy Sainte-Marie  Bear Family Records, LC 05197 26 AUTOR  Römische Ziffern tragen sämtliche der vier Dutzend Einzelgebäude, die sich in neuneinhalb Kilometern Länge rund um den ehemaligen Stadtkern Ulms aneinanderreihen. Manche davon stehen in unmittelbarer Sicht- und Rufweite voneinander, andere thronen hoch oben auf einem der sieben Hügel Roms ... pardon, das war jetzt ein Versprecher. ? 035 Jörg Zenker  Ulm hat sieben Berge, genau wie Rom ... nein! Rom hat sieben Berge, genau wie Ulm. (lacht) So muss man’s sagen. Und der Kuhberg ist einer davon. Also der liegt jetzt genau konträr zum Michelsberg. Michelsberg wäre jetzt der Hauptberg, der höchste Berg. Wo ja auch der Schneider von Ulm seinen Flugversuch gemacht hat, damals. Und der Kuhberg, ja das ist einfach strategische Lage! Dahinter ist das Hochsträß, eine Ebene hier, das muss man unbedingt besetzen, sonst kommt der Feind, setzt sich hier fest und schießt von hier auf die Stadt. Und hier war eben die erste Angriffsfront, weil da liegt Frankreich. Liegt genau im Westen. Und war auch oft der Fall, dass sie von hier gekommen sind. 27 AUTOR  Zuletzt allerdings 1805 in den Napoleonischen Kriegen, danach nie mehr – und das Konzept des Deutschen Bundes, weit im Hinterland eine ganze Stadt als Rückzugsort für über 100.000 Soldaten bereitzuhalten, verkörperte schon bei Baubeginn 1842 einen eher rückwärtsgewandten Reflex. Aber die Anlage ist nun mal da, und Stadtführer Jörg Zenker bietet an diesem Sonntag im späten Oktober eine Veranstaltung im Fort Oberer Kuhberg an. 036 Jörg Zenker  Wir werden erstmal auf dem Glacis stehen, das heißt vor der Festung, und werden die Festung quasi sehen in weiter Ferne und werden schauen: Okay, wie kommt man jetzt da ran? Wenn die jetzt befestigt wäre? Und dann, im zweiten Teil, umkreisen wir die Festung und kommen von hinten auf dem leichten Weg mit dem Schlüssel rein. Aber wir würden nach innen gucken und schauen, wie man von innen quasi den Verteidigern über die Schultern schauen würde. 28 AUTOR  Von Zenker kann man alles über das 19. Jahrhundert, den Festungsbau insgesamt und die dazugehörige Fachsprache lernen. Etwa warum das erste von der Stadt aus zu sehende Gebäude „Kehlkaserne" heißt. 038 Jörg Zenker  Das ist die Kehle! Also die verwundbare Seite. Die Kehle. Die zur Stadt zeigt. 29 AUTOR  Im 20. Jahrhundert erwies sich diese Kehle freilich eher als Schlund. Ein Schlund, der Menschen verschlang und nicht mehr wieder herzugeben drohte. Das Fort Oberer Kuhberg mit der römischen Ziffer XXXII ist ein Ort voller abgründiger Doppelbedeutung. Man kann im weitläufigen, aufgeräumten und gepflegten Gelände eine unbeschwerte 19.-Jahrhundert-Geschichtsvergewisserung vornehmen – es ist ja hier nie ein Schuss gefallen –, man kann aber auch einen Schreckensort besichtigen. In genau derselben Anlage, noch nicht einmal räumlich voneinander getrennt, haben sich zwei Zeitschichten übereinander gelegt. 039 Dr. Nicola Wenge  (Eisernes Tor geht auf. Autor: „Oha! Das ist unschön.") Das ist unschön. Sie hören’s am Hall. Hier gibt’s überhaupt eigentlich keinen Bezugsraum, man ist absolut auf sich selbst zurückgeworfen, in diesem Raum. Und ohne Austausch, ohne Tageslicht ...  ? 30 AUTOR  ... stehen wir in der Zelle von Kurt Schumacher, jenem prominenten SPD-Führer, der fast die ganze Nazizeit über inhaftiert war. Sein Leidensweg begann hier, in der „gemütlichen Militärstadt" Ulm. 040 Dr. Nicola Wenge  Man muss wissen, es gibt unter den frühen Konzentrationslagern, die ja quasi für die Anfänge des Terrors stehen, für die Etablierung der Konzentrationslager, nur noch sehr, sehr, sehr wenige Orte, die noch so aussehen, wie sie damals aussahen, und dazu gehört eben der Obere Kuhberg. In ganz Süddeutschland gibt es keinen anderen, vergleichbaren Ort für die Anfänge des Nationalsozialismus. 041 Dr. Silvester Lechner  Sie müssen sich vorstellen, also die Leute, die sich identifizierten mit der Stätte, das waren wirklich weitgehend ehemalige Kommunisten. Auch Sozialdemokraten – obwohl Sozialdemokraten in diesem KZ waren – haben relativ Distanz gehalten. In Ulm, 50er-, 60er-Jahre, da waren eigentlich diejenigen, die diesen Ort des Erinnerns gefordert haben, das war die Minderheit von der Minderheit. 042 Dr. Nicola Wenge  (Autor: „Also hier ist gar kein Tageslicht mehr.") Hier ist gar kein Tageslicht! Hier war absolutes Schweigegebot, hier waren Häftlinge entweder alleine auch in diesem Loch. Oder bis zu vier Männern. Keine Uhr, keine Orientierung, kein Wissen, wie lange man hier drin ist. Also das war im Grunde die absolute Ohnmacht, verdichtet hier in diesem Raum, in dieser Strafzelle. 043 Dr. Silvester Lechner  Noch in den 90er-Jahren gab’s jede Menge harten Widerstand. Die Militärtradition und „Alles war doch gar nicht so schlimm!" und so was. Und: „Ulm nicht nachträglich zur KZ-Stadt machen!" war eine Parole. 31 AUTOR  ... erzählt Silvester Lechner. Der 72-jährige, auch international hoch geehrte Historiker hat Jahrzehnte für eine Gedenkstätte gekämpft und wurde in den 90er-Jahren schließlich zum Gründungsleiter des „Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg". Dass Ulm – rein terminologisch – tatsächlich keine „KZ-Stadt" war, erläutert seine Nachfolgerin Nicola Wenge. Korrekt lautete die Bezeichnung: 044 Dr. Nicola Wenge  „Schutzhaftlager nach der Verordnung zum Schutz von Volk und Staat". Das hört sich natürlich nicht so brutal und aggressiv an wie Konzentrationslager. (Autor: „Das hört sich auch ein bisschen danach an: Man schützt auch die Häftlinge.") Und das wird auch zum Teil so gesagt, das war auch mit ein Grund bei den Verhaftungen: „Vor dem Volkszorn." 32 AUTOR  Politische Häftlinge saßen hier von 1933 bis 35 ein, Kommunisten, Sozialdemokraten, Regimekritiker. Mit einem gewöhnlichen Gefängnis ließ sich das Lager kaum vergleichen, trug es doch schon alle Spuren späterer KZ-Barbarei in sich. Zur Aura der Bundesfestung gehört es, dass sie sich für eine derartige Nutzung anbot. Auch die Wilhelmsburg diente den Nazis später als Stätte für Zwangsarbeiter, nach dem Krieg wiederum als Flüchtlingsunterkunft. So schreibt sich Geschichte in die Gebäude ein, deren Wände – um Operndirektor Matthias Kaiser zu zitieren – passive Aggressivität enthalten. 045 Dr. Silvester Lechner  Gute Formulierung, passiv-aggressiv! Ja, und sie befeuern und befruchten Männer- phantasien von Macht. In diesen Gebäuden ist konzentriert ein Ausdruck der Macht. Und das ist schon so ein Grundsignal. 046 Dr. Nicola Wenge  (Autor: „Und das geht jetzt hier...") Das geht jetzt hier bis dahinten hin! Und dann sind da diese Latrinen, im letzten Raum. Und dahinter war der Tagesaufenthaltsraum der SA. Es sind hier kleine Schießscharten. Es gibt keine Heizung. Es gibt hier auch kein oder nur sehr wenig natürliches Licht. Es gibt Häftlingsberichte, die haben gesagt: „Unser Vieh können wir doch nicht unter solchen Bedingungen halten wie wir hier leben müssen." 33 AUTOR  ... nämlich in langen Festungsgängen, nicht mal in trockenen Kasematten, sondern im feuchten, zugigen Umlauf, der nie zum ständigen Aufenthalt gedacht war. Dennoch erscheint dieser bedrückende Raum manchen von Hollywoodfilmen beeinflussten Besucher viel zu unspektakulär: 047 Dr. Nicola Wenge  Jedes Zeichen der Festung, also meinetwegen ein großer Ring, der für Lastenzüge an der Decke angebracht ist ... dann fragen sie so fast hoffnungsvoll: „War hier der Galgen? Sind hier Menschen erhängt worden?" Weil das einfach so geprägt ist! Es gibt erstmal auch Besucher, die finden das jetzt enttäuschend! Die finden das langweilig. Die finden: „Hier sieht man ja gar nichts!" 34 AUTOR  Aber man spürt umso mehr, den Raum und dessen Wirkung. Andere, gleichartig angelegte Gänge des Forts haben bei der 19.-Jahrhundert-Führung Jörg Zenkers keinen ähnlichen Eindruck auf mich gemacht. Wer freilich nur visuelle Wahrnehmung kennt, fühlt sich um sein Schreckenserlebnis geprellt. Dabei lässt sich räumliches Unwohlsein sogar mit geschlossenen Augen empfinden.  Musik 9: „Gnossienne III" Interpret: Jürgen Grözinger Komponist/Texter: Erik Satie BOS.REC, LC 03295 35 AUTOR Der Genius loci alter Gebäude teilt sich nicht jedermann mit. Nach 1945 – Ulm war großflächig zerstört – bemaß man Gebäude bloß an ihrem Nutzwert, nicht an ihrem Symbolgehalt. 048 Dr. Silvester Lechner  Ein Wirt aus Söflingen hat daraus eine Gastwirtschaft gemacht. Sieben Jahre lang war das ehemalige KZ, das Hauptgebäude, war ein Wirtshaus, „Wirtshaus zum Hochsträß". 36 AUTOR  ... erzählt Historiker Silvester Lechner über das Fort Oberer Kuhberg. 049 Dr. Silvester Lechner  Es haben auch zu meiner Zeit noch Ulmer Gastwirte angefragt, ob sie dort oben nicht irgendwie eine Weinkneipe einrichten könnten? 37 AUTOR Angesichts der 1a-Ausflugslage ein nachvollziehbarer Wunsch, jedoch aufs falsche Objekt gerichtet. Aber dass Teile der Bundesfestung auch für Feste taugen, haben ganze Generationen junger Ulmer erprobt. „Diese Mauern halten jede Party aus", lautet ein viel kolportierter Spruch. Der bundesweit bekannte Jazzclub „Sauschdall" sitzt in der so genannten Caponniere am Gaisenberg, und in den vielen Türmen überall im Stadtgebiet können Vereine unterkommen oder Bands ungestört üben. Einst gab es sogar größere Ambitionen: 050 Nico Keller  Wie hier ein Kino reinpassen soll, ja ... aber vielleicht damals war das noch kleiner. (Autor: „Es hieß natürlich auch noch viel toller, es hieß ‚Lichtspielhaus". Das hieß gar nicht Kino, ein Lichtspielhaus 1921. Bin ich jetzt gespannt, Sie sagen, es passt nicht rein?") Dann gucken wir hier mal das Lichtspielhaus an. (Autor: „Genau.") 38 AUTOR Ein Architekt wollte 1921 im Böblinger Turm ein Lichtspielhaus etablieren. Ich rufe bei den Sporttauchern an, die heute das Gebäude nutzen, und habe Glück, dass eine Vorstandssitzung ansteht. Nico Keller führt mich kurz zuvor ins angedachte Kino der 20er-Jahre... 051 Nico Keller  (Autor: „Das ist ein ausgesprochen angenehmer Raum! Der erste wirklich angenehme Raum, den ich sehe!") Ja, das ... (Autor: „Die anderen sind so abweisend, und weiß und medizinisch...") Das hören wir öfter. Da mussten unsere Vereinsmitglieder früher auch recht viel Arbeitsstunden reinstecken, dass das heute so ein kleines Schmuckstück geworden ist der Bundesfestung, ja. (Autor: „Aber ganz ehrlich, wie hier sich ein Architekt überlegt hat, hier ein Lichtspielhaus reinzukriegen, ist mir ein Rätsel! Es ist ein runder Raum, es gibt überhaupt keine Fluchtachse für eine ... oder wo man eine Leinwand hinstellen soll. Also sehr kurios.") Ja. (Autor: „Vielleicht haben sich die Historiker geirrt und das ist ein falsche Zuschreibung.") Vielleicht ja. Oder sie haben mit einer Deckenprojektion oder wollten hier einen Sternenhimmel machen, ein Planetarium oder so. Aber sonst ... also die Akustik ist hier auch ganz besonders durch diese Rundkuppel. 39 AUTOR Er demonstriert gleich mal den „Flüsterbogen" von der einen Seite des Raumes zur anderen, durch den persönliche Geheimnisse, fahrlässig ausgeplaudert, zwischen zehn Metern auseinanderstehenden Tischen zu hören sind. Nach all dem Unwohlsein in Festungsgewölben stellt sich hier erstmals das wohlige Gefühl der Geborgenheit ein, das dicke Mauern auch vermitteln können. Dazu haben die Vereinsmitglieder allerdings den aseptischen, weißen Putz abgeschlagen, so dass die eher gelblichen Kalksteinquader und roten Ziegelwände dem Raum ein wohnliches Gepräge geben. Ein „Tauchturm" ist das Refugium der Sporttauchergruppe Ulm/Neu-Ulm allerdings nicht. Darunter versteht man nämlich ein sehr hohes, wassergefülltes Gebäude, in dem sich Druckverhältnisse simulieren lassen; bei mir zuhause in Spandau steht einer der größten dieser Art. Aquanautische Träume erweckt der Ulmer Turm dennoch... 052 Nico Keller  Wir haben schon mal überlegt … aber ne, das geht hier net! Dass man hier auch tauchen könnte in dem Turm. Wenn man hier in der Mitte das macht, wo grad die Treppe hochgeht und dann eben einen Außenzugang. Aber das ist alles net möglich, das ist dann auch … (Autor: „Man könnte sogar bis hier fluten, und Sie müssen durchtauchen, um hier …") Ja, man könnte unten dann das als Grotte oder Höhle nehmen und könnte darin tauchen. Ja klar! (lacht) Da würden wir wahrscheinlich auch mit der Stadt oder mit dem Stadtjugendring Probleme kriegen. 053 Manuela Huschle  Also wir haben eigentlich so 18, 19, 20 Grad, je nachdem. 40 AUTOR  ... sagt Manuela Huschle und meint nicht die Wassertemperatur. Nachdem meine Anstiftung, einen Teil der Bundesfestung zu fluten, fehlgeschlagen ist, habe ich nach wundgelaufenen Füßen doch noch eine ideale Nutzungsart für Festungen gefunden. 054 Manuela Huschle  Wir können auch mal ganz nach hinten gehen, das lohnt sich auf jeden Fall. Hier haben wir zum Beispiel auch ein kleines Archiv, wo dann teure Burgunder drin gelagert sind, plus eine Weinbank, wo unsere Kunden Fächer mieten können und ihre Weine reinlegen. Und da haben sie dann die optimale Temperaturen, Luftfeuchtigkeit einfach für die Reifung. 41 AUTOR  Wir blicken durch ein eisernes Gitter in ein Seitengelass der „Weinbastion". Die besteht aus einem einzigen, endlosen Gang und beherbergt in ihren abzweigenden Kasematten Weinflaschen. Das ist zunächst naheliegend. Die Weinbank allerdings, in die ich einen scheuen Blick werfe ... 055 Manuela Huschle  (Autor: „Die ist auch richtig verschlossen hier?") Ja. (Autor: „Da komm ich jetzt gar nicht rein?") Ne, da kommen wir jetzt gar net rein, weil ich gar keinen Schlüssel dabei hab. 42 AUTOR  ... die Weinbank mit ihren geschmiedeten Einzelkäfigen voller hochwertiger Alkoholika elektrisiert mich.  056 Manuela Huschle  (Autor: „Ich seh das nicht, haben die da ein Vorhängeschloss dran?") Da ist ein richtiges Schloss drangebaut, jawohl, das hat uns der Schlosser gemacht, und da hat jeder seinen Schlüssel für sein Fach. Also da kommen wir auch gar nicht ran. Der Zweitschlüssel ist auf der richtigen Bank hinterlegt, im Bankschließfach. Und unsere Kunden haben ihren Schlüssel da dafür, und die sind da Herr über die Lage, was ihr Fach angeht. 43 AUTOR Wie wäre es in diesen Zeiten der Nullzinspolitik, die Ulmer Bundesfestung zur EWZB zu machen, zur Europäischen Weinzentralbank, in der Privatanleger Flüssiges sparen können, um nicht in ihrer Liquidität zu ertrinken? Geld ist nur Papier – Wein ist Wein! Und Räume dazu wären en masse vorhanden – gesichert gegen Hitze, Kälte, Beschuss, Erdbeben und Einbrecher. 057 Manuela Huschle  Ja, das ist einfach sicher! Richtig, genau. Musik 10: „Suite für Jazzorchester Nr. 2 – March" Interpret: Royal Concertgebouw Orchestra, Riccardo Chailly  Komponist/Texter: Dmitrij Schostakowitsch  DECCA, LC 00171 058 Atmo Fledermausführung  Der wichtigste Satz des Abends heute: Die Fledermaus ist ein Säugetier, so wie wir Menschen auch. Die Fledermaus ist sogar das einzige zum aktiven Flug befähigte Säugetier. Es gibt zwar ein paar andere, die können gleiten, so von Baum zu Baum, aber die Fledermaus kann starten und Höhe gewinnen, und sich eine ganze Weile in der Luft aufhalten. Das macht sie einzigartig. 44 AUTOR  Zurück nach Spandau, ins Fort Hahneberg. Es ist Abend, noch unheimlicher als beim ersten Besuch. Die letzte Fledermausführung des Jahres steht an und erweitert die Frage nach dem Nutzen alter Festungsbauten um die Frage nach ihren wirklichen Nutzern. 059 Siegfried Wittkopp  (Autor: „Könnte man aber ja auch ein Hotel reinmachen, zum Beispiel.") Gott bewahre! Wir werden aus dieser Festung kein Hotel machen können. Das Fort Hahneberg ist seit 2005 unter das oberste Naturschutzgesetz gestellt worden. Das heißt, der Naturschutz ist hier oberste Priorität. 45 AUTOR  ... und das bedeutet praktisch: Es ist bereits ein Hotel für mehrere Hundert eigenartige Gäste. 060 Siegfried Wittkopp  Es ist ein Fledermaushotel, genau! 061 Markus Uhl  Das Grünflächenamt hat hier schon diverse Bäume gefällt. Fledermäuse, haben wir also auch festgestellt, dass die zum Jagen eher freiere Landschaften benötigen. Also wenn der Baumbestand zu dicht ist, da ist weniger Fledermausaktivität als in dem Bereich, wo bloß vereinzelt Bäume stehen. 46 AUTOR  ... sagt Markus Uhl von der „Arbeitsgemeinschaft Fort Hahneberg". Wie Siegfried Wittkopp ist er einverstanden damit, dass das historische Gebäude nicht kommerziell genutzt werden kann. Es peu à peu der Natur zurückzugeben – die friedlichste Lösung für Festungsbauten schlechthin – wäre für ihn aber nur zweite Wahl. Am liebsten sähe er eine Art Zeitschacht, den man im ausgehöhlten Berg hinunterfällt und im 19. Jahrhundert landet: So wie es einmal war. 062 Markus Uhl  Ansonsten liegt mein persönlicher Schwerpunkt, Tatsache, hauptsächlich eher auf der Architektur. Einfach dieses Bauwerk, wie es hier so in diese Bergkuppe eingesenkt ist und eins wird mit der Natur, das hat dann so ne Faszination für mich, dass ich hier wirklich unbedingt jeden letzten, rostigen Nagel, überspitzt formuliert, verstehen will, der hier irgendwo in der Wand steckt. Ich will wirklich genau wissen, was wurde wann und warum wie gebaut? Kennmelodie Deutschlandrundfahrt. O-Ton darüber: 063 Matthias Kaiser  Wenn ich drin sitze in der Festung, kann mich keiner erreichen, weil die Mauern so dick sind. Ich möchte aber gerne, dass Leute zu mir kommen! Ich möchte besucht werden. Das heißt derjenige, der glaubt, in der Festung befriedet zu hocken, macht sich einsam, liefert sich sogar dem Vergessen aus. Was macht das für einen Sinn? PROGRAMMSPRECHERIN „Mit Schlussstein veraltet – Bundesfestung Ulm und Fort Hahneberg Spandau". Was Menschen von heute an sinnlosen Bauprojekten des 19. Jahrhunderts fasziniert. Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Florian Felix Weyh. Es sprach der Autor. Ton: Bernd Friebel. Regie: Roswitha Graf. Redaktion: Renate Schönfelder. Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2016. Manuskript und das Audio zur Sendung finden Sie im Internet unter deutschlandradiokultur.de