COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Kultur und Gesellschaft Reihe: Zeitreisen Titel : Ehrliche Ort für die Kunst. Wie die "documenta" in Kassel das Verhältnis der Kunst zum Raum neu bestimmt Autor: Adolf Stock Redakteur: René Aguigah Sendung: 5. September 2012 / 19:30 Uhr Regie: Klaus-Michael Klingsporn Besetzung: Sprecher; Sprecherin Atmo 1: Hotel Hessenland Bode-Saal Sprecher: Ein fast quadratischer Raum. Es ist dunkel, erst langsam gewöhnen sich die Augen an die Finsternis. Dann sind schwarze Schatten zu erkennen, ein paar Besucher und Mitglieder des Ensembles Sehgal, die fast durch den Saal schweben und Laute improvisieren. Manchmal berührt ein Ensemblemitglied einen Besucher an der Schulter, nimmt ihn fast in den Arm. Es ist irreal und poetisch zugleich. Ein Fest der Sinne. Atmo 2: Hotel Hessenland Bode-Saal Sprecher: Im Begleitbuch der "documenta" fehlen die Seiten 438 und 439. Hier müssten eigentlich Informationen zu Tino Sehgals Performance stehen. Die fehlenden Seiten sind kein Versehen, Tino Sehgal wollte es so: Er will seine Kunst nicht erklären. Erklärungsbedürftig ist allerdings der Ort, wo Schauspieler und Besucher zusammentreffen. Die Dame an der Rezeption im Hotel Hessenland weiß schon gar nicht mehr, dass der Bode-Saal früher zum Hotel gehörte. Er ist auch nur noch über einen Umweg zu erreichen. Man muss einen Garten im Nachbarhaus durchqueren, um in den Saal zu gelangen. Früher war hier der Notausgang, als im Hotel Hessenland noch getanzt und gefeiert wurde. 1953 baute der Architekt Paul Bode das Hotel Hessenland. Er war der jüngere Bruder des "documenta"-Gründers Arnold Bode. Neben dem Bode-Saal gibt es im Hotel Hessenland noch einen großen Ballsaal. Ein schön geschwungener Raum im Stil der Nierentisch-Ära. Hier müsste mal wieder gründlich renoviert werden. Aber wozu? Das Hotel braucht keine Tanzsäle mehr. Während der "documenta" wird der Saal wieder genutzt. Er ist abgedunkelt, auf großen Leinwänden sind Schauspieler zu sehen, die eifrig diskutieren. Atmo 3: Hotel Hessenland Ballsaal Sprecher: Man kann das Spektakel von der Galerie aus verfolgen oder zwischen den Leinwänden unten im Saal umhergehen, so wie es ein Besucher aus Berlin getan hat. Take 1: (Matthias Zins) "Wir haben gerade die Installation von Gerard Byrne gesehen. Auf mehrere Projektionsleinwände verteilt, wird eigentlich ein Theaterstück seziert. Wir sehen gelegentlich Totalaufnahmen der Bühne, wo mehrere männliche Schauspieler sich intensiv darüber unterhalten, was in ihren Augen Sexualität ist, also einmal sieht man einzelne Personen, die zum Teil sprechen, zum Teil aber auch nur der Handlung beiwohnen, man sieht aber auch ganz unvermittelt die Infrastruktur des Theaterstücks, also Reglerpulte der Tonmischer oder die Kamera, die das Stück aufnimmt, oder die Beleuchter oder denjenigen, der das Skript durchguckt, um zu sehen, ob er - wahrscheinlich als Souffleur - eingreifen muss." Sprecher: Die diesjährige "documenta" hat viele ungewöhnliche Orte erschlossen, Orte, die aus dem Bewusstsein der Stadt verschwunden waren. "documenta"-Projetleiterin Christine Litz kann erzählen, wie Carolyn Christov-Bakargiev, die Leiterin der "documenta" 13, nach Kassel kam, und neugierig die Stadt durchstreifte. Take 2: (Christiane Litz) "Wenn die wo sitzt, dann fragt sie immer: Was ist hinter der Wand? Und dann kriegt sie in Kassel erstaunliche Antworten, weil nach dem Krieg auch manche Sachen einfach zugemacht worden sind, weil Heizungskosten zu teuer sind. Also man findet hier zum Beispiel Bode- Architektur, der Bruder von Arnold Bode, Paul Bode, die ganz lange verschollen war, und sowas entdeckt sie dann. Sie weiß aber auch schon, welcher Künstler zum Beispiel eben auch mit dieser Zeit und auch mit dieser spezifischen Architektur gut umgehen kann und lädt dann auch Künstler dafür ein." Sprecher: 1955 war die "documenta" noch kein Event im Kunstbetrieb. Damals sollte eine Wunde geheilt werden, die der Nationalsozialismus verursacht hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg war von Kassel nicht viel übrig geblieben, die historische Innenstadt glich einem riesigen Trümmerfeld. Eine Bundesgartenschau wurde zum sichtbaren Zeichen für den Neubeginn einer Stadt, die nun nicht mehr mitten in Deutschland lag, sondern im Zonenrandgebiet. Die erste "documenta" gehörte zum Rahmenprogramm der Bundesgartenschau. Sie fand in den Ruinen der Orangerie und im notdürftig hergerichteten Fridericianum statt. 2012 ist Carolyn Christov-Bakargiev "documenta"-Chefin. Sie hat ihr Quartier in einer alten Gründerzeitschule, gleich hinter dem Fridericianum, dem Hauptausstellungsort jeder "documenta". Carolyn Christov-Bakargiev lässt ihren kleinen Hund vom Schoss, blickt wach nach vorn und sagt dann: Die erste "documenta" ist aus einem Trauma heraus entstanden. Knapp 60 Jahre später findet die "documenta" auch jenseits der etablierten Ausstellungsorte in den vergessenen Ruinen des Wiederaufbaus statt. Und so könnte man meinen, die "documenta" sei in die Jahre gekommen. Doch Carolyn Christov-Bakargiev und ihre Projektleiterin Christine Litz denken darüber ganz anders. Take 3: (Carolyn Christov-Bakargiev) "I don't think it's very useful to speak in terms of the movement today and the movement yesterday and an art movement tomorrow. ... ... , because I'm not in the past and neither are you." Darüber Sprecherin: "Ich glaube nicht, dass es nützlich ist, von der Bewegung heute und der Bewegung gestern und einer Kunstbewegung morgen zu sprechen. Ich bin an dieser linearen historischen Denkweise nicht interessiert. Alles, was es auf der Welt gibt, ist von heute, sei es ein Fresko von Giotto, sei es ein neues Kunstwerk von William Kentridge. Wenn es sie in der Welt von heute gibt, dann gehören sie zur selben Zeit. Es ist ein Fehler, Dinge aus der Sicht der Kontinuität zu betrachten oder voneinander zu trennen oder zu sagen, das gehört zur Vergangenheit, denn ich lebe ja nicht in der Vergangenheit, und auch Sie nicht." Take 4: (Christine Litz) "Da geht es ja eben um Zusammenbruch und Genesung oder Wiederauf- bau, das hat natürlich erst mal klar auch mit der Geschichte Kassels zu tun nach dem Zweiten Weltkrieg, aber das ist es ja nicht alleine, sondern diese Beschreibung, dieser krisenhaften Erfahrung eines Zusammenbruchs und der Schönheit oder Kraft oder Energie, die aus einer Genesung entstehen kann, oder dieses wirklich relevante Infragestellen, das kann ja in einzelnen Künstlerbiographien, in einzelnen Werken, aber auch in einzelnen Formen oder Thematiken passieren, genau das verbindet sie wieder zurück an die Räume, und das ist auch die Verbindung zur Geschichte Kassels." Sprecher Ein anderer Paul-Bode-Bau ist das Kino "Kaskade" am Königsplatz, das frühere Flaggschiff der Kasseler Kinoszene, aus der Zeit, als Heinz Rühmann, Hildegard Knef oder die Kessler-Zwillinge noch nach Kassel kamen. Heute ist es ein fast vergessener Ort. Der repräsentative Eingang wurde zum Modegeschäft, und wer in den Kinosaal will, muss den seitlichen Zugang nehmen, der eigentlich ein Ausgang war, und nur geöffnet wurde, wenn der Film zu Ende war. Take 5: (Matthias Zins) "Musik - Wir sehen eine Videoprojektion von einer tanzenden jungen Frau, die trotz ihres Down-Syndroms wahnsinnig expressiv tanzt, nach dem Hit von Abba Dancing Queen. Dabei auch sehr erschöpft ist, und das Ganze präsentiert in der Größe auf einer Vollkinoleinwand." Sprecher: Der Saal sieht aus, wie ein zu breit geratenes Tortenstück, mit einer edel gefalteten Deckenkonstruktion. Das Interieur in Gold und Rot wirkt ziemlich ramponiert. Es gab auch eine Wasserorgel, die zwischen Wochenschau und Hauptfilm unter den Klängen von Händels Wassermusik in Betrieb gesetzt wurde. Die 120 Schalter am Bedienpult haben längst keine Aufgabe mehr, und kürzlich hat ein Wasserschaden die Mechanik der Anlage endgültig zerstört. Während der "documenta" tanzen nun Menschen mit Down-Syndrom auf der noch intakten Leinwand und zeigen auf bewundernswerte Weise, was Lebensmut und Vitalität so alles zustande bringen. Atmo 4: Kaskade Leinwand Sprecher Der alte Kinosaal hat weder Selbstheilungskräfte noch Lebensmut. Hier müsste Hilfe von schon von außen kommen, um das Kino vor dem weiteren Verfall zu retten. Wer zweifelt, dass sich das lohnt, braucht nur ein paar Meter weiter zu gehen. Das Ständehaus, ein klassizistischer Bau, hat nach dem Krieg einen neuen Saal von Paul Bode bekommen, er wurde jetzt aufwändig restauriert. Das Ergebnis ist wunderbar, beste Architektur aus den 50er Jahren, mit ein paar wenigen Eingriffen tauglich für die Gegenwart gemacht. Während der "documenta" finden im frisch renovierten Saal Vorträge und Tagungen statt; in den angrenzenden Räumen werden die Journalisten betreut. Im Hintergrund läuft eine Installation von Ana Prvacki, die höflich und freundlich die "Dienstleistungs- und Ideenwirtschaft" unserer Tage kritisiert. Atmo 5: Ständehaus Installation Sprecher: Ein paar Meter weiter hatten die Abrissbagger zu tun. Der braune, selbstgefällige 70er Jahre-Vorbau einer Bank wurde abgerissen. Jetzt sind die klaren Konturen des Gebäudes wieder zu erkennen. Es gehört zu einem Ensemble aus den 50er Jahren und steht an einer Kreuzung, die den Ständeplatz, die Treppenstraße und den Hauptbahnhof miteinander verbindet. Auch die zahlreichen Fußgängertunnel am Bahnhof und am Ständeplatz wurden zugeschüttet. Die Passanten brauchen nun nicht mehr in dunklen Löchern zu verschwinden, um der Majestät Auto den Vortritt zu lassen. Gleichzeitig wurde die Straße vom Durchgangsverkehr befreit. Auf breiten Gehwegen mit weiß-schwarzem Schachbrettmuster lässt es sich jetzt gut flanieren. Es ist paradox: Die autogerechte Stadt, so fast ohne Autos, entfaltet eine ganz eigene Schönheit, eine städtebauliche Kraft, die auf Nostalgie locker verzichten kann. Soll doch das kriegszerstörte Frankfurt sich zwischen Römer und Dom eine neu gebastelte Altstadt auf ein riesiges unterirdisches Parkhaus stellen; sollen doch die Dresdner mit ihrem Investoren-Barock rund um die Frauenkirche glücklich werden - Kassel findet jetzt auf ganz andere Weise ein Stück schmerzhaft vermisster Identität zurück. Jede "documenta" muss, alle fünf Jahre neu, geeignete Standorte finden. Es sind programmatische Entscheidungen, es sind Statements, die das Bild der jeweiligen "documenta" prägen. Vor zehn Jahren wurde eine alte Brauerei zum Ausstellungsort. Wer wollte, konnte 2002 mit dem Schiff auf der Fulda zum Ausstellungsort fahren. Architekt und Ausstellungsdesigner Wilfried Kühn gestaltete die Brauerei damals um. Take 6: (Wilfried Kühn) "Kassel als Ort ist interessant, weil auch die Topographie der Stadt mit involviert wird, der Weg durch die Stadt, die Orte in der Stadt, die Bewegung des Besuchers zwischen den verschiedenen Orten, den Stationen. Ich glaube, dass das auch schön ist, man verbringt dann ja ein, zwei Tage in Kassel. Ich fand immer wichtig, dass jeder Kurator auch definiert hat, wie er die Stadt begreift, also bei der letzten "documenta" die Aue sehr stark thematisiert wurde." Sprecher: In der alten Binding-Brauerei war 2002 noch einmal das Vorläufige, das Improvisierte der ersten "documenta" von 1955 zu spüren. Damals hatte Arnold Bode eine Picasso-Ausstellung in der Ruine des Mailänder "Palazzo Reale" gesehen, danach wollte er unbedingt zeitgenössische Kunst im zerbombten Fridericianum zeigen: Plastiken von Hans Arp und Henry Moore, Bilder von Paul Klee, Max Beckmann oder Henri Matisse. Zeitgenössische Kunst, die in dieser Fülle zum letzten Mal in der Wanderausstellung "Entartete Kunst" unter Hitler zu sehen war, 1937. Nach dem Zweiten Weltkrieg war abstrakte Kunst keine Sache für den Elfenbeinturm, sondern sie war extrem politisch. Nach der NS-Barbarei sollte der uralte Traum von einer besseren Welt mit der abstrakten Kunst eine allgemeingültige Gestalt gewinnen. Die "documenta 13" des Jahres 2012 hat andere Ziele. Sie betont den Prozesscharakter der Kunst. Denn das sei der zeitgemäße Zugang zur Kunst, sagen die Projektleiterin Christine Litz und der Architekt Winfried Kühn. Take 7: (Wilfried Kühn) "Ich glaube, dieser Shift vom Objekt zum Raum ist tatsächlich etwas, was unsere Kunst heute auszeichnet, alle Künstler arbeiten kuratorisch, überlegen sehr stark die Anordnung und auch die Konstellation der Werke. Eigentlich ist die Ausstellung immer mehr selbst das Werk. Und ich glaube, dass die Idee, dass der Besucher auch noch etwas davon wahrnimmt, dass er an einer Produktionssituation teilnimmt und nicht nur in einer fertigen musealisierten, einbalsamierten Schatztruhe umhergeht, dass das gerade wichtig ist für ein Museum auf Zeit, wie die "documenta"." Sprecher: Christine Litz: Take 8: (Christine Litz) "Die zeitgenössische Kunst, die spielt mit den Orten, die braucht die Orte, die stellt nicht einfach nur was in einen White Cube, sondern die fragt nach: Was ist das für eine Geschichte eines Ortes, woher kommen die Orte, wohin gehen die Orte, wofür sind sie genutzt worden. Also die zeitgenössische Kunst ist nicht mehr einfach nur etwas, wo man eine Skulptur oder eine Installation irgendwo abstellt. Die Künstler sind sehr daran interessiert, auch selber ein Prozess zu sein, sich auszusetzen, sich vorzustellen, die Dinge mit zu entwickeln. Und dann wird natürlich ein Kunstwerk extrem komplex und wunderbar." Sprecher: Die "documenta"-Besucher werden als Erstes mit Leere konfrontiert. Der britische Künstler Ryan Gander lässt nur etwas Wind durch das leergeräumte Untergeschoss des Fridericianums wehen. Der Ort ist ein Statement, ein Initiationsritus, wie es ihn schon auf der ersten "documenta" von 1955 gab, als die Besucher durch einen Raum mit afrikanischer Kunst gehen mussten, bevor sie in der eigentlichen Ausstellung ankamen. ((Der leere Raum: ein Prinzip, mit dem die Stadtplaner von Barcelona einst erfolgreich waren. Um die Altstadt zu erneuern, schufen sie einfach leere Plätze, und das Wunder geschah: Die Bürger nahmen ihre Stadt neu an und bespielten sie nach ihren Bedürfnissen. Weitere Maßnahmen kamen hinzu, Häuser wurden renoviert, der alte Industriehafen wurde zum Strand. Doch die gezielte Leere stand am Anfang. Bis heute gilt Barcelona als Vorbild für eine erfolgreiche Stadtsanierung. Die Stadt als Bühne für neue Lebensformen. Auch die "documenta" will eine Bühne sein, eine Bühne, auf der jeder mitspielen darf.)) Barbara Ettinger-Brinckmann, Präsidentin der Architekten- und Stadtplanerkammer in Hessen, lebt in Kassel. Sie steht im Kasseler Kulturbahnhof, ganz begeistert von dieser "documenta". ((Take 9: (Barbara Ettinger-Brinckmann) "Wirklich sehr faszinierend, sehr berührend und faszinierend. Also ich hatte angefangen mit dem Hotel Hessenland, das ist ja auch eben ein 50er-Jahre-Bau, dieser wunderbare Saal, der ist auch wachgeküsst im Grunde genommen. Und dann war ich im Hugenottenhaus mit dem Garten. Toll, einfach toll. Und dann war ich im Fridericianum, und da muss ich sagen, ich fand es sehr schade, dass ich vorinformiert war, dass man in einen leeren Raum kommt. Aber ich muss sagen, ich finde das so klasse, dass man in diesem Foyer steht, nach rechts und links guckt, diese großzügigen Räume als Gesamtheit wieder sieht. Wir kennen die ja, die sind dann immer unterteilt mit Stellwänden, und die Scheiben sind geweißelt. Jetzt kann man raus, man erlebt den Raum, kann rausgucken, und dann dieser Wind, einfach toll.")) Sprecher: Bei ihren Erkundungen ist Carolyn Christov-Bakargiev, die "documenta"-Chefin, in Guxhagen bei Kassel auf ein altes Kloster gestoßen. Es wurde vor fast 900 Jahren von Benediktinermönchen gegründet und diente nach der Reformation im 16. Jahrhundert lange Zeit als Zuchtanstalt und Arbeitshaus. Gunnar Richter ist Leiter der dortigen Gedenkstätte Breitenau. Seine Besucher sollen nicht nur etwas lernen, sie sollen zunächst den besonderen Ort spüren, wo es früher so viel Gewalt und Ausgrenzung gab. Take 10: (Gunnar Richter) "Wie zum Beispiel hier, wo Zellen erhalten sind. Man spürt diese Atmosphäre, das sind ganz besondere Erfahrungen, die man da macht, akustische Erfahrungen, sinnliche Erfahrung, von den Gerüchen und so weiter. Ein besonders beeindruckendes Erlebnis war, als ich das erste Mal mit der Carolyn Christov-Bakargiev hier durch die ehemalige Klosterkirche gegangen bin, und wie sie im Grunde auch entsetzt war über die Art und Weise, wie so eine romanische Klosterkirche durch diese verschiedenen Nutzungen so komplett anders verbaut und umgebaut worden ist, da ist sie auf Dinge gestoßen, die mir vielleicht, obwohl ich jetzt hier schon so lange bin, gar nicht so direkt aufgefallen sind, und das fand ich einfach sehr beeindruckend." Take 11: (Carolyn Christov-Bakargiev) "It's also something which is in our soul, like a sub-conscious element, like a sort ... ... it's like kind of a reality check, many things, it's many things and a ghost, like ghost venue." Darüber Sprecherin: "Es ist auch etwas, das in unserer Seele steckt, wie ein unbewusstes Element, eine Art gewalttätiger, dramatischer Kern von etwas, das in der Geschichte der Menschheit unerklärlich ist. Das ist die Geschichte, wie Menschen Schmerz zugefügt wurde. Breitenau erinnert uns daran, dass wir nicht in einem White Cube - in einem neutralen Raum - leben. Es gibt keinen White Cube, sondern jeder White Cube verbirgt etwas, kehrt etwas unter den Teppich. Und so ist es auch ein Gespenst der "documenta" oder ein Alptraum der "documenta" 13. Ich würde sagen, es ist ein Ort der Inspiration und der Verzweiflung der Menschheit, der Realität, es ist eine Art Reality Check und vieles mehr. Es ist ein Gespenst, ein Gespensterort." Sprecher: Carolyn Christov-Bakargiev hat fast allen Künstlern das Kloster gezeigt. Einige hat es zu konkreten Arbeiten inspiriert. "The Workhouse", die Arbeit der amerikanischen Soziologin Avery Gordon und der Berliner Künstlerin Ines Schaber, ist während der "documenta" am Ständeplatz in einem Raum der Handwerkskammer zu sehen. Noch so ein 50er-Jahre Bau, der frisch renoviert vom Kassel der Nachkriegszeit erzählt und nun Platz bietet für die Auseinandersetzung mit dem Arbeitslager Breitenau. Atmo 6: Handwerkskammer Installation Sprecher: Schon im Vorfeld der "documenta" hat Avery Gordon ihr Projekt in einem der 100 Notebooks beschrieben, die im Vorfeld der "documenta" erschienen sind und nun, gedruckt als Katalog, Teil der "documenta" sind. Sprecherin: "Ines beschließt, ihr Projekt The Workhouse zu nennen. The Workhouse wird kein Museum und keine Gedenkstätte für diejenigen sein, die man zu korrigieren versuchte, sondern stattdessen einen gastfreundlichen Raum zur Verfügung stellen: für die kritische und fantasiereiche Gedankenwelt/Praxis schlechter Arbeiter, Müßiggänger, Streikender, Ausreißer, Landstreicher, überschminkter Frauen, Männer, die auf Straßen politische Lieder singen, und anderer Personen, die Anweisungen nicht gehorchen und keine Korrekturmaßnahmen wollen und benötigen." Sprecher: Avery Gordon und Ines Schaber schaffen einen fiktiven Raum und nehmen sich die Freiheit, in historischen Alternativen zu denken. Take 12: (Carolyn Christov-Bakargiev) "I think the most important thing in a way that I would like visitors to experience is the artworks... ... is precarious, then one attributes also more value to that life, that precarious life. So that's the story of Breitenau." Sprecherin: "Ich denke, das Wichtigste, was Besucher erleben sollen, sind die Kunstwerke, und zwar in dem Bewusstsein, dass man versteht, dass ein anderer Ort präsent ist, obwohl man dort gerade nicht ist. Dieses ständige Gefühl, am falschen Ort zu sein, hier zu sein und nicht in Kabul, verstehen Sie? Ich denke, das bewirkt ein Gefühl der Bescheidenheit, der Menschlichkeit, der Demut. Und wenn man versteht, dass das Leben gefährdet ist oder dass ein Kunstwerk gefährdet sein kann, dass alles gefährdet ist, dann schätzt man auch den Wert dieses Lebens, dieses gefährdeten Lebens höher ein. Das ist die Geschichte von Breitenau." Atmo 7: Hotel Hessenland Bode-Saal Sprecher: Was bedeutet es, wenn verdrängte und vergessene Ort auf einmal wieder im Rampenlicht stehen? Julia Moritz leitet während der "documenta" die Abteilung "Maybe Education and Public", was man etwa mit "Vielleicht Vermittlung und andere Programme" übersetzen könnte. Take 13: (Julia Moritz) "Die dTour, das ist unser Begriff für die Führung, also das englische Wort für Umweg. Da sind wir eben nicht am geraden Weg von a nach b interessiert, sondern mal die Sicherheit, was jetzt so eine Führung so bietet, auch mal außen vor zu lassen, und die Erwartungshaltungen auch ein bisschen zu verunsichern und dann zu schauen, wie können wir gemeinsam in der Ausstellung auch neue Situationen schaffen." Atmo 8: Hotel Hessenland Bode-Saal Sprecher: Früher hieß so etwas schlicht: Museumspädagogik. Aber diesmal will man in Kassel nicht belehren, der erhobene Zeigefinger soll möglichst unten bleiben. Die Umwege sind wichtig, sagt Projektmanagerin Christine Litz. Take 14: (Christine Litz) "Der Weg bei der "documenta" 13 ist immer der Umweg, und dann hat man ganz automatisch die Augen viel offener, weil man sich eben nicht auskennt, weil man eben nicht weiß, oh Gott, wie geht der Weg jetzt hier und hier lang, den man blind finden kann oder den man sich so ein bisschen vorgeebnet hat. Der Umweg ist der, dass man überraschende Begegnungen macht und auch mal stehen bleibt und sagt, ja aber über die Neurowissenschaften habe ich noch nie nachgedacht. Was auch immer, wie fühlt sich eine Tomate? Interessiert mich nicht oder interessiert mich, und dann lässt man sich auf diesen Umweg ein. Der Umweg ist der Weg zur Ausstellung." Sprecher: Das sind Wege jenseits der Event-Kultur. Ob damit die Kunst gestärkt oder geschwächt vom Spielfeld geht, bleibt eine offene Frage. Der Kasseler "documenta" fehlt seit Beginn in den 50er Jahren die bürgerliche Aura der großen Salons, sie steht auch nicht in der Tradition feudaler Sammlerleidenschaft großer Herrscher oder Mäzene. Wer so etwas sucht, muss in Kassel zum Schloss Wilhelmshöhe gehen, wo die vielen Rembrandts hängen und die leicht frivolen Rubens-Schinken, die Jérôme Bonaparte, der jüngste Bruder Napoleons, als König von Westphalen in Kassel gesammelt hat, als der Bergpark Wilhelmshöhe noch Napoléonshöhe hieß. Die "documenta" ist aus anderem Holz geschnitzt. Seit ihrer Gründung will sie politisch relevante Kunst, und diesmal scheint es ihr besonders gut zu gelingen. 2012 ist kein Kunstbetrieb-Ufo gelandet, das Kassel für 100 Tage in Atem hält, um dann auf Nimmerwiedersehen wieder zu verschwinden. Zum Beispiel zeigen Bewohner der Stadt den Besuchern die Kunstwerke. Julia Moritz schwärmt von den "Worldly Companions", es sind ganz normale Bürger, ohne professionellen Bezug zum Kunstbetrieb. Für Christine Litz ist die "documenta" ein großes Experiment. Take 17: (Christine Litz) "Ich mache eigentlich die "documenta" für diejenigen, die die "documenta" zum ersten Mal sehen, weil ich selber war auch irgendwann mal jemand, die es zum ersten Mal gesehen hat, das ist einfach so extrem beeindruckend, und dann findet man aber zwei, drei Sachen, die einen so fesseln, diesen ganz tiefen Eindruck hinterlässt. Und die anderen? Ich vergleich dass immer so ein bisschen mit einem Eco-Roman, den kann ich lesen als Krimi, und dann kann ich sagen, oh ja "Der Name der Rose" ganz toll. Ich kann es aber auch als semiotische Abhandlung, ich kann es als philosophisches Buch lesen, und je nachdem wo ich stehe, oder unter welchen Interessen ich das angucke, kann ich etwas gewinnen, und so ist es aber auch mit der Kunst, also je mehr ich weiß, umso mehr kann ich gewinnen, aber ich kann auch schon, wenn ich nicht viel weiß, sehr, sehr viel mitnehmen." Sprecher: Den vertikalen Erdkilometer auf dem Kasseler Friedrichsplatz hat 1977 der amerikanische Künstler Walter de Maria für die "documenta" 6 bohren lassen. Ein perfektes Kunstwerk, es ist an den Ort gebunden, nicht reproduzierbar und weitgehend unsichtbar, so wie der Wind im leergeräumten Fridericianum. Auch Carolyn Christov-Bakargiev, die "documenta"-Chefin, will neue Räume real und in den Köpfen der Menschen schaffen. Sie denkt radikal und erklärt eine Tomate zum Kunstwerk. Ziemlich schräg - aber andererseits, es stimmt ja auch: Eine Tomate kann uns eine unglaubliche Vielfalt subtiler Rottöne zeigen. Take 18: (Carolyn Christov-Bakargiev) "That has something to do with my interest also in the knowledges of other animals, not human ... ... of the knowledges that all the makers of the world have, not just humans, because we have very little actually." Darüber Sprecherin: "Das hat etwas mit meinem Interesse an der Erkenntnis anderer Lebewesen, nicht nur des Menschen, und anderer Materialien in der Welt zu tun. Welche Erkenntnis hat diese Flasche, wenn sie zu Boden fällt? Sie weiß ganz viel, diese Flasche ist wie der beste Computer der Welt. Wir verfügen nicht über das Wissen, das diese Flasche hat. Unsere Computer können zwar einige Dinge gut simulieren, aber die Komplexität dessen, was diese Flasche im Fallen berechnet, ist immens. Deshalb ist meine Denkweise nicht nur eine Neubestimmung des Raums, sondern der Versuch, über die Welt mit dem Wissen nachzudenken, über das alle Schöpfer der Welt verfügen, nicht nur die Menschen, zumal wir da nur sehr geringe Erkenntnisse haben." Sprecher: Was denkt ein Kunstwerk, wenn es seine Orientierung verliert und von der Erfahrung seiner Umgebung abgeschnitten wird? Kann Empathie für eine Tomate oder eine Flasche im freien Fall neue Erkenntnisse bringen? Die diesjährige "documenta" hat einen furchtlosen Kunstbegriff. Die Kunstwerke sollen selbstbewusst und zugleich bescheiden sein, sie sollen auch dialogfähig sein, im Austausch mit den Wissenschaften. Nichts wird vom Ende her gedacht, der Prozess ist wichtig. Take 19: (Carolyn Christov-Bakargiev) "I am interested in suspending the art in the moment just as it is about to occur. and it is the moment before knowledge is archived and organized in an institutional way." Darüber Sprecherin: "Mich interessiert, die Kunst solange in der Schwebe zu halten, bis sie tatsächlich entsteht. Das ist die Zeitspanne der Intuition, der Moment des Angebots. Es ist der Moment, bevor Erkenntnis archiviert und in eine institutionelle Form gebracht wird." Sprecher: Ein Kunstwerk wird sicher länger bleiben, "Ansichten eines Steins" von Giuseppe Penone, der nun schon zum vierten Mal auf einer "documenta" vertreten ist. In den blätterlosen Ästen eines Baums liegt ein großer Stein. Projektleiterin Christiane Litz erzählt, wie Giuseppe Penone nach Kassel kam. Take 20: (Christiane Litz) "Der kam hier an und sagte, ich brauche einen Ort dafür und ich möchte ihn in einen Park stellen. Und wir sind dann rumgelaufen, und dann war er extrem froh, als er diese Wiese gefunden hat, weil nämlich er auch gelernt hat, dass dieser Hügel, dieser Rosenhügel, der da dabei ist, der ist nämlich im Weltkrieg aus Schutt gebaut worden, und wurde dann angelegt, also auch aus Steinen war, und dieser Stein, der so metaphysisch und vollkommen überraschend in diesem Geäst steckt, der hat dann eben dieses Gegenüber, er hat ihn so in die Mitte gestellt, dass er natürlich auch genau dieses aufnimmt von allen Seiten, also das war ein sehr bestimmt gewählter Ort." Sprecher: "Ansichten eines Steins" ist ein Werk der Arte Povera. Es sind Kunstwerke, die Carolyn Christov-Bakargiev besonders mag, vielleicht, weil diese bewusst arme Kunst von einer Welt erzählt, wo auch Abfall und Reste noch Sinn stiften können - und der Humus für etwas Neues sind. So wie der Rosenhang im Park, der ja eigentlich aus Trümmern besteht; oder wie die Ruinen des Wiederaufbaus, die in Kassel jetzt gerade begehbar sind. Literatur: Avery F. Gordon: Notizen für den Breitenau-Raum von The Workhouse - ein Projekt von Ines Schaber und Avery Gordon. documenta 13. 100 Notizen - 100 Gedanken, Heft 4. Ostfildern (Hatje Cantz Verlag) 2011 1