KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR 00.05 Uhr Titel der Sendung : „Das letzte Territorium“ – Reise durch die Ukraine Autor : Mirko Schwanitz& Jury Andruchowytsch Redakteurin : Sigried Wesener Sendetermin : 10.03.2013 (Wdh. v. 29.11.2009) Besetzung : Erzähler Sprecher 1 Sprecher 2 Sprecherin 1 Regie : Musik/ O-Ton Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig © Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Das letzte Territorium Reise durch die literarischen Landschaften der Ukraine Von Mirko Schwanitz und Jury Andruchowytsch ERZÄHLER SPRECHER 1 (Übersetzungen) SPRECHER 2 (Zitate Autoren) SPRECHERIN 1 (Übersetzungen/Zitate) ATMO 01 Flugzeuglandung ERZÄHLER Wir haben entschieden, dass unsere Reise im Westen der Ukraine beginnen soll. Einem Westen, der für das restliche Europa schon weit im Osten liegt. Das Flugzeug schwebt über eine riesige Betonfläche. Und wenig später betreten die Reisenden den Flughafen von Lwiw, wie die Ukrainer die Stadt nennen. Die Russen nennen sie eher Lwow. Aber sie hat auch noch einen fast mythischen, einen deutschen Namen: Lemberg. Die Abfertigungshalle ähnelt einem Schloss. Auch wenn dessen Bauherrn während der Fertigstellung das Geld ausgegangen scheint, für einen Teppich hat es noch gereicht. Er verschluckt die Schritte auf dem Weg zur Passkontrolleurin. Die spricht weder englisch noch französisch, dafür Russisch und Polnisch und stempelt den Pass mit kokettem Augenaufschlag. ATMO 02 Stadtgeräusche in Lemberg 01. O-TON Jury Andruchowytsch (deutsch) Also ich liebe diese Stadt Lwiv. Die Stadt, in der ich meine besten Jahre verbracht habe. Das war noch in der Studentenzeit. Diese Stadt hat eine sehr interessante geografische Charakteristik. In Lviw geht diese Teilung von zwei Meeresbecken. Also die Gewässer sind nördlicher von dieser Linie – die gehören zur Ostsee. Und die anderen, die südlicher sind, die gehören zum Schwarzen Meer. Das ist Tatsache und gleichzeitig, das ist schon eine Metapher für mich. ERZÄHLER Ich erinnere mich, dass Jury darüber geschrieben hat. Dass es fast so etwas wie eine Obsession von ihm ist. In fast jedem von Jurys Büchern taucht Lemberg auf. MUSIK 01 Enver Izmailov, CD The Eastern Legend, Titel 01 Introduction SPRECHER 1 „…Smytschok erzählte uns einmal abends, er sei gerade durch die völlig ausgestorbene Altstadt gegangen, außer ihm keine Menschenseele. Da hört er – offenbar in der Küche einer abgelegenen Wohnung -, er hört ein Klirren, ein Klimpern, wie wenn ein Löffel ans Glas schlägt. Kannst du dir das vorstellen? Jemand gibt Zucker in seinen Tee und rührt um, und der Löffel klirrt ans Glas. Und das ist in den angrenzenden Vierteln zu hören, auch nach dreihundert, nach fünfhundert Metern ist der Klang noch da. Das ist für mich Lemberg, verdammt. Eine besondere Akustik. Lemberg ist vor allem Akustik, Audio, nicht Video…. (Jury Andruchowytsch, „Geheimnis“, Suhrkamp 2008, Übersetzung: Sabine Stöhr, S.68-69 MUSIK Kreuzblende mit: ATMO 03 Gassengeräusche in der Wirmenska ERZÄHLER Jury erinnert Lemberg an Prag. Mich an Wien. Ein Scherenschnitt vor hellem Himmel: Kuppeln, Zinnen, Kirchtürme. Ich frage mich, ob das Klingeln oder Klappern, das noch immer zwischen den schwarzen Fassaden hängt, aus dem Heute und Jetzt stammt. Oder aus jenem vergangenen Jahrhundert, als Lemberg noch Hauptstadt der Provinz eines Reiches war, in dem man sich gegen irgendeine dunkle Zukunft mit Versicherungen schützen zu können glaubte – wie der von uns beiden geschätzte Karl Schlögel einmal schrieb. MUSIK 01 Enver Izmailov CD „The Eastern legend“, Introduction SPRECHER 1 „…Diese Stadt ist wie aus Stein geschnitten, mit harten Konturen, dicht wie ein Kristall. Für den Besucher der Altstadt gibt es keinen Prospekt, keine Prachtstraße zum Paradieren oder Flanieren. Hier muss man sich in engen Gassen zurecht finden, die, obwohl im Schachbrettmuster angelegt, doch etwas Irreguläres haben. … Das habsburgische Lemberg ist ockerfarben, gelb, das vorhabsburgische ist schwarz …. Wer sich im Stadtkern von Lwow verloren hat, ist auf dem richtigen Weg. Er ist unterwegs in die Urzelle aller europäischen Städte. … Bald sieht er einen Turm, ein Portal, einen Brunnen; bald blickt er in einen Hof, steigt eine Freitreppe hinauf oder in ein Bogengewölbe hinab…. Er wechselt zwischen den Jahrhunderten hin und her. Auf dem Marktplatz des alten Lwows ist er eingezwängt zwischen Kaufmannshäusern des 16. Jahrhunderts und in den Vorstädten findet er Villen mit den Ornamenten der Wiener Secession. … Lwows Geldmittel stammen aus vielen Himmelsrichtungen: von polnischen Königen und ukrainischen Hetmanen, von moldauischen Hosporaden und armenischen Kaufleuten, von jüdischem und deutschem Bürgertum…“ (Karl Schlögel, „Lemberg- Hauptstadt der europäischen Provinz“ aus: „Promenade in Jalta“, Hanser 2001, S.64-65) MUSIK Kreuzblende mit: ATMO 03 Gassengeräusche in der Wirmenska ERZÄHLER In Lemberg richten sich die Härchen auf unserer Haut auf, werden zu Antennen – so als könnten sie aus dem die Gassen durchwehenden Wind die letzten Partikel der Geschichte filtern. Von hier zog mit Alexander Granach, einer der bedeutenden Schauspieler des deutschen Theaters nach Berlin, Paganini, Liszt, Ravel waren hier und für Joseph Roth lief hier, in der Hauptstadt Galiziens, die gesamte mitteleuropäische Welt zusammen. 02. O-TON Jury Andruchowytsch (deutsch) 200 Kilometer, das ist schon Transkarpatien, dort, fünf Kilometer von Rachiv steht ein Zeichen von geografisches Zentrum Europas. Das ist ein Pfosten, zur k.u.k-Zeit dort gestellt. Das wurde 1905 oder 1906 gemacht. Und zehn Meter von diesem Pfosten steht ein anderer Pfosten. Auch ein Zeichen für geografisches Zentrum Europas, durch Sowjets gestellt. Also die hatten eine andere Idee, wo das Zentrum ist. Es gab ein Projekt von meinem Freund, einem Künstler, der wollte einfach eine neues ukrainisches Zentrum Europas dort zwischen diese Pfosten stellen. Vielleicht wird das gerade die Mitte zwischen diesen zwei ehemaligen Zeichen sein…. ERZÄHLER [...] Damals interessierte niemanden wirklich, wo die Mitte Europas lag. Lemberg gehörte einfach dazu. Viele Autoren haben versucht, das Land, in dem dieses Lemberg heute liegt, ins europäische Bewusstsein zurückzuholen, es abzugrenzen vom sowjetisch-russischen Imperium. Und wie Jury haben einige von ihnen in Lemberg studiert. Doch bei den meisten taucht Lemberg als literarischer Ort nur am Rande auf. ATMO 04 Wald / Vögel 03. O-TON Ljubko Deresch SPRECHER 2 Ich heiße Ljubko Deresch. Wir befinden uns hier auf dem Hohen Schloss. Der Schlossberg ist für mich persönlich deswegen interessant, weil hier die Handlung eines meiner Romane spielt. In ihm habe ich versucht, die klassischen Lemberger Mythen zu dekonstruieren, also die Mythen die mit dem österreichischen Kaiser zusammenhängen und das Hohe Schloss, dass passte am besten zu so einer Manipulation. ERZÄHLER Ljubko Deresch ist gerade 25 Jahre alt und hat bereits fünf Romane geschrieben. Drei davon sind ins Deutsche übersetzt. Der, in dem es um Lemberg geht, ist nicht darunter. 04. O-TON Ljubko Deresch SPRECHER 2 Also ich wohne nicht in Lemberg, sondern in einer kleinen Stadt unweit von hier. Eines Tages habe ich bemerkt, dass es sehr ungemütlich ist, in einer Stadt zu leben, die eigentlich nicht vorhanden ist. Was ich sagen will ist, dass alle, die nach Lemberg kommen, doch nur wegen des Mythos hier sind, den diese alte Stadt verkörpert. Aber das ist, als wolle man in den Innereien einer Toten lustwandeln. [...] ERZÄHLER Mit Ljubko Dereschs Büchern reisen, heißt, sich in eine Welt zu begeben, die für jeden Ukrainer ebenso real ist wie für einen Westeuropäer virtuell. Hier oben auf einer Wiese des Hohen Schlosses blättern wir ein paar Seiten auf und blicken in die Ferne, wo die bläulichen Grate der Karpaten zu erahnen sind. Dort irgendwo soll jenes Städtchen liegen, das Deresch für seinen Roman „Kult“ erfunden hat. MUSIK 02 Pink Floyd, CD „Meddle“ Titel 6. „Echoes“ SPRECHER 1 „In Midny Buky spürte man das ganz deutlich. In der Stadt gibt es fast niemanden zwischen zwanzig und dreißig. Wie unter einem Mikroskop erkennt man hier Alterung und Verfall der Nation. Die Dinge gehen kaputt, geraten aus den Fugen und beginnen zu tanzen. Vielleicht, weil überall Musik zu hören ist und nackte Paare im leisen Mondschein umherspringen. Er dachte darüber nach, warum hier alles alterte. Es gab einen Grund dafür, einen äußeren Faktor, der die Dinge dazu brachte, nicht mehr zu funktionieren, irgend etwas füllte die Straßen mit einer Leere, die zuerst in kaltes Erschrecken, später in latente Angst überging. Angst: früher oder später fühlst du sie in dieser Stadt. Vielleicht kommt sie aus den Gerüchen der Wälder und Berge oder aus dem Flussnebel. Aus den feuchten Kellern und leeren Straßen. Aus dem Geruch nach Einsamkeit und Verzweiflung. Von dort ist die Angst gekommen, kommt immer noch und wird weiter kommen. … Die Angst sickert durch die Poren der Realität nach Midny Buky ein, wie Myasmen aus Sümpfen, wo der Schlamm sich bewegt…“ (aus: Ljubko Deresch, „Kult“, Suhrkamp 2005, S. 47-48, Übersetzer: Juri Durkot und Sabine Stöhr ERZÄHLER In Dereschs Karpatenstädtchen leben skurrile Gestalten so, als habe ihr Schöpfer ihnen und der Gesellschaft Marihuana verordnet und beobachte nun, was passiert, wenn sich delirierende Menschen in delirierenden gesellschaftlichen Verhältnissen bewegen. Sie tapezieren ihre Wohnungen aus Geldmangel mit Notenblättern aus Wagners „Fliegendem Holländer“, experimentieren mit selbstgezüchteten Sporenarten oder sind selbst im hohen Alter praktizierende Ninja-Fans. Virtuos spielt Ljubko Deresch mit Elementen aus Popkultur, Underground, Esoterik und Weltliteratur. 05. O-TON Ljubko Deresch SPRECHER 2 Mit dem Schreiben habe ich begonnen, da war ich 14. Es war nach einem Aufenthalt in den Bergen bei meinem Onkel. Der hatte da eine sehr reiche Bibliothek von Science fiction, Horror- und okkultistischer Literatur. Nach dem Lesen dieser Bücher und beim Hören von Pink Floyd entstand mein Roman „Kult“. ERZÄHLER Regen tropft auf einen dampfenden Waldboden, die Nebel wallen und ein Käuzchen schreit. Und hinter einem hell erleuchteten Fenster liest einer, der in der Schule noch den dunkelblauen Komsomolzenanzug trägt und Lenin studiert, Stephen King, Franz Kafka oder H.P. Lovecraft, während das Gehirn alles durcheinander wirbelt. So stellen wir uns die Szene vor – Deresch in der Waldbibliothek seines Onkels. Mit 16 schreibt der heute 25jährige seinen ersten Roman. Inzwischen hat er fünf Romane geschrieben. Drei davon kreisen um jenes imaginär-reale Midny Buky, ein Karpatenstädtchen, nicht mehr wegzudenken aus der literarischen Landschaft der neuen Ukraine. [...] 06. O-TON Ljubko Deresch SPRECHER 2 Wer zwischen Europa und Asien lebt wie wir, der sieht sowohl Europa als auch Asien. Wir hier haben eine andere Perspektive, weil wir stets in beide Richtungen blicken und so vielleicht freier urteilen können. Ehrlich gesagt, ich möchte nicht, das Europa zu uns kommt. Und noch weniger, möchte ich das Asien zu uns kommt. Gerade das dynamische Gleichgewicht, das wir hier haben, gefällt mir außerordentlich gut. ERZÄHLER [...] Wie diese Identität sich ausdrückt im Hier und Heute, welche Gestalt sie annimmt, das ist das, was er literarisch kommentiert – auch in seinem neuesten Roman. Geschrieben natürlich in ukrainisch, auch wenn die Mehrheit im Lande noch immer Russisch spricht. Die Vorstellung, dass überall im Lande die ukrainische Sprache dominieren sollte, ist ihm eher fremd. 07. O-TON Ljubko Deresch SPRECHER 2 Das ist für mich keine prinzipielle Frage, weil ich mich nicht an der Spitze der geistigen Widergeburt sehe, wie vielleicht Jury . Mich interessiert allein, welche Auswirkungen das alles auf mich, auf mein eigenes Leben hat. Das ist für junge Menschen typisch. Mich interessiert nur, was ich sehe und erlebe. MUSIK 02 Pink Floyd, CD „Meddle“, Titel 6 „Echoes“ ERZÄHLER Er verabschiedet sich, setzt sich Kopfhörer auf, dreht am MP 3-Player. Pink Floyd natürlich und noch immer. Dann winkt er und geht. [...] ATMO 07 Bahnhof / Züge fahren ein / Stimmen ERZÄHLER Auch wir verlassen Lemberg. Der Zug, der uns in Jurys Heimatstadt bringen soll, ist fast leer und gibt Geräusche von sich als würde er noch aus jener Zeit stammen, in der man von Lemberg direkt nach Venedig fahren konnte. Entweder über Wien und Innsbruck oder über Budapest und Belgrad. Ohne Grenzkontrollen und ohne Pässe. Wir brauchen auch keine – wir fahren in die andere Richtung. ATMO 08 im Zug 08. O-TON Jury Andruchowytsch (deutsch) Ich wurde geboren und lebe in der Stadt, die heute Iwano-Frankivsk heißt. Die Stadt ist in der Westukraine. Also historisch das Gebiet nennt man Galizien. Der Name Ivano-Frankivsk ist relativ neu. Der alte historische Name ist Stanislau, Stanislawow – polnisch und Stanislaw – ukrainisch. Die Stadt liegt sozusagen gerade auf dem Weg zwischen Lemberg nach Czernowitz. ERZÄHLER Wer von Lemberg nach Stanislau fährt, sieht draußen eine Landschaft, die den Namen des Landes verständlicher macht. „U kraina“ jenes Land „am Rand“, wie der Name ins Deutsche übersetzt lauten würde, gleitet vorbei. Grün und braun und unermesslich weit, bis es irgendwo an der Kante zwischen Horizont und Weltall einfach abbricht. Wir durchfahren, was Jury einmal „Das letzte Territorium“ nannte. Da draußen geistern Geschichten. Lebensläufe, die dieses apostrophierte Mitteleuropa mit unsichtbaren Schnüren am westlicheren Rest des alten Kontinents vertäuen, damit es ihnen nicht davon treibt. [...] 09. O-TON Jury Andruchowytsch (deutsch) [...] Das ganze Problem für die ukrainische Identität ist, dass wir aus westlicher Sicht – wir sind untrennbar von Russland. Aber Russland ist für mich so weit weg wie für meine Kollegen aus Prag oder Warschau. Denn natürlich ist das ein anderer Kontinent. ATMO 09 Bahnhofsgeräusche ERZÄHLER Ankunft. Vor 100 Jahren stieg genau an dieser Stelle ein Deutschböhme namens Karl aus dem Zug. Jury hat die Szene längst beschrieben: Der Mann freute sich nicht, er wusste nur, dass das hier das letzte Loch im Staate war, schmutzige Provinz, ehrlich gesagt, der Arsch der Welt, dennoch beschloss er aus unerfindlichen Gründen hier ein neues Leben zu beginnen, eine Lutherische mit guter Mitgift zu heiraten. Jurys Urgroßvater - bewaffnet mit einem Sac de Voyage stand er da, zog die Luft durch die Nase ein, so wie ich jetzt, um den ersten Morgengeruch des Städtchens einzufangen, bevor wir losstapfen hinein in das, was aus Stanislau geworden ist: Iwano Frankivsk, eine Stadt, die so viele Schriftsteller hervorgebracht, dass man hierzulande schon vom „Stanislauer“ oder „Iwano-Frankivsker Phänomen“ spricht. 10. O-TON Halyna Petrosanjak SPRECHERIN Als ich das erste Mal in diese Stadt kam, war ich schon in der achten Klasse. Ich sollte in eine Internatsschule kommen, auf der bereits eine meiner Cousinen lernte. Sie holte mich also vom Bahnhof ab und bemerkte, wie ich die Leute anstarrte. So gut gekleidete Frauen hatte ich noch nie gesehen. Freizügig, mit solchen Dekolletes. Weder meine Mutter noch meine Großmutter hätten zugelassen, dass ich mich so kleide…. ERZÄHLER Halyna Petrosanjak, stammt von der ukrainisch-rumänischen Grenze. Dort wurde sie 1969 in einem huzulischen Dorf geboren. Die Begegnung mit Iwano-Frankiwsk erlebte sie als einen Kulturschock, der sie schon bald zur Dichterin, zu einer der wichtigsten Stimmen in der ukrainischen Gegenwartsliteratur werden ließ. MUSIK 03 Enver Izmailov, CD The Eastern Legend, Titel 8 Tatarlugum SPRECHERIN Auf die Welt kam ich in den tiefsten Bergen. Erst vor kurzem, hat mir mein Sohn die Augen für ihre doppelte Natur geöffnet. Er war noch nie in den Bergen, und als ich ihn auf eine Gebirgslandschaft auf dem Fernsehschirm aufmerksam machte, blickt er konzentriert hin und sagte dann später gedankenschwer: „Große Löcher“. Das war einer der Fälle, in denen die Wahrheit aus dem Munde der Kinder kommt. Mein Sohn hatte die genaueste Definition der Gegend gegeben, in der meine Kindheit verlaufen ist. Wie anders soll man eine Gegend bezeichnen, in der man am Ende der Sechzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts noch keinen elektrischen Strom kannte und die Bauernkaten mit Gaslampen beleuchtete, [...] wo man die Kuh in vollem Ernst „Mamotschka“ nannte. Wo man die kleinen Kinder ans Bett fesselte, damit sie nicht allzu lästig fielen und wo das aus dem Weltkrieg mitgebrachte Transistorradio des Nachbarn quasi das einzige Anzeichen war, dass wir das Mittelalter trotz allem hinter uns gelassen hatten. Es waren tatsächlich „große Löcher“, und sie waren wunderschön (aus: Halyna Petrosanjak „Leben als Grenzüberschreitung“ S. 132-133 in: „Grenzverkehr – Streifzüge zwischen Ost und West, Drava-Verlag 2006, Hrsg. Annemarie Türk, Übersetzung: Harald Fleischmann) ATMO 10 Auto innen ERZÄHLER Noch heute ist es eine Tagesreise, um von Iwano Frankivsk nach Tscheremoschna zu kommen, in jenes Dorf, aus dem Halyna Petrosanjak stammt. Der Jeep folgt dem Lauf der Bjely Tscheremosch, die sich fröhlich plätschernd durchs Tschernohora-Gebirge frisst. ATMO 11 aussteigen / Autotür klappt ATMO 12 Bjely Tscheremosch / Wald und Vögel, unterblenden ERZÄHLER Von hier also stammt die schmale, zierliche Dichterin – aus diesem schmalen Streifen zwischen der Bukowina und dem ehemaligen königlich-ungarischen Komitat Marmarosch, das später zur Slowakei gehörte. Wir sind im letzten Winkel Galiziens, wo die Polen einst herrschten, lange bevor die Österreicher kamen, wo die Glocken noch läuteten, als die Sowjetmacht längst da war und die Bewohner ukrainisch wurden. Auch Halyna weiß deren kleine struppige Pferde zu reiten, spricht ihren Dialekt - ein merkwürdiges Ukrainisch mit polnischem Akzent und rumänischen Lehnwörtern. ATMO 13 Fluß Wald / Vögel ATMO 14 Pferdewagen rollt vorbei, unter O-Ton blenden 11. O-TON Halyna Petrosnajak SPRECHERIN Das Dorf hieß früher Ferescul. Ich vermute, der Name kommt vom lateinischen Ferrum – Eisen. Und es bekam diesen Namen, weil hier eiserne Menschen leben, in dem Sinn, dass sie alle sehr stark sind, sehr vital und lebensfroh. 06:30 Bis heute beeinflusst das Gebirge hier mein Schreiben, meine Sicht auf die Welt. Auch wenn ich seit Jahren schon in der Stadt lebe, in meinem Herzen bin ich Huzulin und ich spüre das in meinem Blut. ATMO Fluß / Wald / Vögel Kreuzblende mit: MUSIK 04 Paul Giger, CD „Vindonissa“ SPRECHERIN Atmend den Duft vom Reisig in jener Gegend, wo die Schroffheit der Berge, die Kraft und den Ausdruck ihrer Schönheit übertrifft, bin ich ein Zugvogel, der den Weg in den sonnigen Süden vergisst. Das Bergland – eine Falle der Zeit. Die ist kraftlos hier, lässt verzweifelt die Hände sinken. So dass die Toten, auferstanden, keinerlei Veränderung finden, es sei denn die grauen Strähnen im Haar der Enkel. Kälte, hier Hirt über die Herde der Tage, bewahrt das Leben vor dem Anschein der wertlosen Gabe, Wind provoziert der frierenden Bäume Gesang Voll von Schwermut, wie der Hirtenflöte Klang. Und mich, den stummen Vogel, dessen Stimme wohl nur das Tier vernimmt, das im Dickicht der Nacht herum schweift, lässt sie nicht los, die fatale Größe und Ohnmacht der Berge…. (Halyna Petrosanjak „Atmend den Duft von Reisig“ in „Zweiter Anlauf – Ukrainische Literatur heute“ Verlag Karl Stutz, Passau 2004, S.33 Übersetzer: Alois Woldan/Roman Dubasevych [...] ERZÄHLER Immer wieder spielen Erinnerungen an Jugend und Kindheit, an ferne Vergangenheiten in der Literatur westukrainischer Autoren eine wichtige Rolle. Aber warum? Ist es der Versuch, an ein literarisches Erbe anzuknüpfen, zu dem die Brücken im wahrsten Sinne des Wortes weggesprengt wurden? Zwischen der Literatur aus jener Zeit und der Literatur von heute liegt ein ausgetrockneter Canyon, meint Jury, gefüllt mit Geschichten über wechselnde Herrscher, wechselnde Sprachen, Ausrottungsfeldzüge und kommunistische Sprachverstümmelung. 12. O-TON Jury Andruchowytsch In den letzten Jahren erschienen in Czernowitz Bücher, gewidmet einzelnen Autoren, die dieses ganze deutschsprachige Erbe, ukrainische jetzt interpretieren und das ist schon etwas. Also das geht schon in die literarische Diskussion. Das klingt! Das lautet! Paul Celan! Alfred Gong – ja natürlich! Ein wunderbares Buch von Rose Ausländer….. MUSIK 01 Enver Izmailov, The Eastern Legend Titel 1 Introduction SPRECHERIN Um meine Stille sprießen heimlich Ringe, und meine Blüte steht in Licht und Wind. Doch ihre Wurzeln, die verzweigt und blind wie Adern durch die Erde rinnen, sind verflochten mit den Fäden aller Dinge. Die Jahreszeiten drehn sich sanft im Tanze. Wie Regen rinnt die Melodie der Zeit in meinem tiefen Kelch der Einsamkeit. Doch aus den Wurzeln steigt die Ewigkeit Von Lenz zu Lenz empor in neuem Glanze. (Rose Ausländer, „Aus meiner Einsamkeit“ 2. u 3. Strophe, in „An der Zeiten Ränder“, Hrsg. Cécile Cordin, Helmut Kusdat, Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft, Wien 2002) MUSIK ausblenden ATMO 21 Im Bus innen ERZÄHLER Wer wissen will, warum die Erinnerung in den literarischen Landschaften westukrainischer Autoren eine solch große Rolle spielt, muss in die Stadt fahren, in der Rose Ausländer diese Zeilen schrieb. So sind wir wieder einmal unterwegs. In einem jener Kleinbusse, der sich wie ein Schiff durch den wogenden Atlantik ukrainischer Felder kämpft. Zwischen Galizien und der Bukowina ragen Haltestellen wie Anlegestege aus dem Grün. Der Fahrer trägt eine Schiffermütze und kassiert unwirsch das Geld, wenn Passagiere eine Überfahrt buchen. ATMO 22 Stadtatmo Czernowitz ERZÄHLER Czernowitz liegt auf einem Bergrücken. Leicht und anmutig legt sich die Stadt über den Hügel wie ein ausfransender Teppich. Früher war unten im Tal eine Furt über den Pruth, durch die die Handelswege von Konstantinopel nach Nürnberg liefen. Später war die Stadt Schnittpunkt aller Reisenden von Lemberg nach Odessa, von Bukarest nach Warschau. In ihren Cafés lagen täglich über 100 Zeitungen aus. Die fünf deutschen unter ihnen wurden auch in Wien gelesen, in Berlin oder Bukarest. Aber fragen sie heute einmal jemanden, wo Tschernowzy liegt, wie die Stadt auf ukrainisch heißt. Czernowitz heute, das ist ein an die Ränder aller Karten verbannter Punkt. Ein verschwindender Pixel auf der Festplatte des europäischen Gedächtnisses. Die Stadt, so scheint es, führt nur noch ein Dasein in der Literatur ihrer Autoren: Karl Emil Franzos, Rose Ausländer, Alfred Margul-Sperber, Alfred Kittner, Alfred Gong, Gregor von Rezzori. Und – natürlich - Paul Celan. Wegen ihm sind wir hier. Sein Geburtshaus wollen wir suchen. ATMO 23 Springbrunnen ERZÄHLER Am Ringplatz, dem für jedwede Stadtplanung während der k.u.k-Monarchie so unverzichtbaren Zentrum, treffen wir Petro Rychlo. Er ist einer der besten Kenner des alten Czernowitz. Vorbei am Rathaus, der alten Zentralpost, vorbei an großzügigen Höfen unter offenem Himmel mit Loggien und weinumrankten Veranden führt er uns in die Gegend um den alten Springbrunnenplatz, hinein in …. 13. O-TON Petro Rychlo (deutsch) … die ehemalige Wassilko-Gasse, in der Paul Antschel, der dann den Dichternamen Celan angenommen hat, geboren wurde. Da hängt eine Gedenktafel, die wurde 1992 hier angebracht. ERZÄHLER Hell verputzt, fast ein wenig eitel, strahlt das Haus, neben all den bröckelnden Gründerzeitfassaden, die die leicht ansteigende Gasse säumen. Seit Jahren ist das Haus Pilgerstätte für die zahllosen Verehrer Paul Celans. Stumm stehen sie vor seinem renovierten Geburtshaus, manche andächtig wie in einer Kirche. 14. O-TON Petro Rychlo (deutsch) Man hat das Anfang der neunziger Jahre hier ausgesucht, dass es eben die Wassilko-Gasse 5 sein sollte. Und all diese Jahre gab es keinen Zeitzeugen, der das bestätigen könnte. Und war hier eine Cousine von Celan, die ihn noch als kleinen Buben kannte; die heißt Edith Hubermann, die kam aus Israel, also nach 60 Jahren zum ersten Mal hat sie Czernowitz besucht. Und dann sagt sie so ganz resolut: Nicht dieses, sondern jenes Haus! Wir können in den Hof noch gehen… ERZÄHLER J e n e s Haus steht nur ein paar Schritte entfernt. Hier bröckelt die Fassade, von der schweren Eingangstür blättert die Farbe. 15. O-TON Petro Rychlo (deutsch) Edith Hubermann zeigte im Hof diese Fenster der Wohnung. Sie meinte, dass sie als Kinder aus der Wohnung direkt in den Hof klettern konnten. ATMO 24 Tor wird geöffnet 16. O-Ton Petro Rychlo (im Hausflur) Der Vater war lange Zeit arbeitslos, er hat sich als Makler im Brennholzhandel über Wasser gehalten. Und das ist schon sehr wahrheitsnah, dass die Familie tiefer gewohnt hat, nicht in dem schönen Paradehaus, sondern hier. Also diese vier Fenster da gehörten zu der Wohnung. Und da gibt es auch viele Bäume und da versteht man auch dieses Gedicht vielleicht ‚Erst jenseits der Kastanien ist die Welt’. MUSIK 05 Karen Margaryan, 1000 Colours, Titel 4 Confession 0:00-0:56 SPRECHER 1 Erst jenseits der Kastanien ist die Welt Von dort kommt nachts ein Wind im Wolkenwagen Und irgendwer steht auf dahier… Den will er über die Kastanien tragen: „Bei mir ist Engelsüß und roter Fingerhut bei mir! Erst jenseits der Kastanien ist die Welt….“ Dann zirp ich leise, wie es Heimchen tun, dann halt ich ihn, dann muss er sich verwehren: ihm legt mein Ruf sich ums Gelenk! Den Wind hör ich in vielen Nächten wiederkehren: …. Doch wenn die Nacht auch heut sich nicht erhellt Und wiederkommt der Wind im Wolkenwagen: „Bei mir ist Engelsüß und roter Fingerhut bei mir!“ Und will ihn über die Kastanien tragen – Dann halt, dann halt ich ihn nicht hier… Erst jenseits der Kastanien ist die Welt Paul Celan: Gesammelte Werke. Gedichte. Bd. 1. Hrsg. Beda Allemann u. Stefan Reichert, Suhrkamp, Frankfurt a. M., MUSIK ausblenden ERZÄHLER Tatsächlich stehen im Hinterhof des Hauses Wassilko-Gasse 3 noch immer die mächtigen Kastanien, durch deren Kronen der kleine Paul Celan die Sterne am Nachthimmel gesehen haben muss. Jahre lang glaubten die Geldgeber, das richtige Haus renoviert zu haben. Zum wahren Geburtshaus Paul Celans aber hatte dieses Gedicht längst die Spuren gelegt - nur wusste es niemand zu deuten: ATMO 25 Schulgebäude / Klingel / Kinderstimmen unter Sprecher einblenden ERZÄHLER Das Gymnasium, in dem der Dichter sein Abitur machte, steht heute noch in seiner von Efeu umrankten klassizistischen Verspieltheit. Die Metzgergasse, in der Celan bei der Tante die Ferien verbrachte. Erst Petro Rychlo hat diese Orte zurückgebracht ins Gedächtnis der Stadt. 17. O-TON Petro Rychlo Dies Erbe war so gut wie unbekannt. Sagen wir Celan war Sowjetbürger, Rose Ausländer war Sowjetbürgerin, auch andere. Sie sind aus der Sowjetunion geflüchtet, sie wollten nicht im sozialistischen Paradies bleiben. Da waren sie unerwünscht. Ihre Namen waren Tabu. ERZÄHLER Nach der Wende gelingt es Petro Rychlo, an alte Manuskripte zu kommen, er besorgt sich Bücher aus dem Westen, übersetzt die Literatur von Rose Ausländer, Alfred Gong, Moses Rosenkranz, Manes Sperber und Paul Celan ins Ukrainische. 18. O-TON Petro Rychlo (1/8:25) Den ersten öffentlichen Paul Celan-Abend haben wir erst 1990 veranstaltet. Das Wichtigste war, dass der Name Celans zum ersten Mal öffentlich genannt wurde. Und viele Leute entdeckten damals den Namen zum ersten Mal. ERZÄHLER Vielleicht werden wir, wenn wir das nächste Mal kommen, ein renoviertes Gründerzeithaus finden, vielleicht ein Museum in Paul Celans richtigem Geburtshaus? Petro Rychlo ist sich nicht sicher. Wir verabschieden uns, gehen zum Bahnhof, zu dem eine steile Straße hinab führt. Von oben betrachtet sieht er aus wie ein an zahllosen Schienensträngen vertäutes altes Schiff, cremefarben und mondän und mit einer großen Kuppel. ATMO 26 Bahnhof Czernowitz / Ansage des Zuges: Czernowitz-Kiev ERZÄHLER Wir verlassen die Bukowina. Über die Leinwand der Fenster flimmert bald ein endloses Grün, dass irgendwo am Horizont übergehen wird in eine endlos braune Steppe ATMO 27 Zug setzt sich in Bewegung / Musik aus Lautsprechern ERZÄHLER Im Zug verschwimmen alle Zeitvorstellungen. Es knarrt als drehe jemand unter dem Wagen mühsam am Rad der Zeit. Und plötzlich ertönen Partisanenlieder, als wären sie noch immer eingesperrt hinterm kleinen Gitter des Lautsprechers an der Decke. ATMO kurz frei stehenlassen unterblenden ERZÄHLER Richtung Osten fahren wir, wo die ukrainische Sprache ihren polnischen Einschlag verliert und sich langsam mit dem Russischen mischt. Dort, wo der Dnjepr die Ukraine in zwei Hälften schneidet, wo sich das Land in Ost und West teilt, erheben sich die Häusermeere von Kiev, Hauptstadt der Ukraine. MUSIK 06 Musik aus „Carravagio“ von Bruno Moretti, nach C. Monteverdi, SPRECHER 1 „…Hinter dem einzigen Fenster in der ‚Andreaswand‘, zu Hause auf der Desjatinnaja, schneite es. Es schneite nicht gleichmäßig, sondern so, als würde jemand von oben Schaufel um Schaufel herunterwerfen. Und ich erkannte deutlich die Pausen zwischen diesen Würfen. Mal fiel der Schnee dicht, und mal gab er plötzlich meine Lieblingslandschaft frei, meine Lieblingsaussicht aus dem Fenster auf die ersten Häuser des Andreashügels, auf die Kirche mit dem Zaun und der verschneiten steinernen Treppe, auf das erstarrte Bronzepaar aus der alten sowjetischen Filmkomödie. Die Zeit der Komödien war längst vorbei. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt gewesen, ein paar epische Tragödien aus dem Leben zu drehen. Aber bei uns wurden schon lange keine Filme mehr gedreht…“ Andrej Kurkov „Die letzte Liebe des Präsidenten, S. 671, Diogenes, 2005 ATMO 28 Kiev, Stadtlärm 19. O-TON Andrej Kurkov SPRECHER 2 Ich heiße Andrej Kurkov. Ich bin ukrainischer Schriftsteller und schreibe meine Romane auf Russisch. Ich habe 13 Romane geschrieben, 5 Kinderbücher und mehr als 20 Drehbücher für Filme. Ich habe mir die Aufgabe gestellt, die Stadt Kiev wieder in unsere literarische Landschaft einzufügen. Es gab sie ja schon einmal dort als Handlungsort. Zum Beispiel bei Michail Bulgakow. Am Anfang war mein Schreiben eher surealistisch, es hatte keine konkrete Topografie. Aber seit 1995 beschloss ich, die Handlungen meiner Romane ganz konkret zu platzieren. Seitdem schreibe ich über Kiev. Es ist eine fast mediterrane Stadt, in der die Menschen mehr Kaffee trinken als arbeiten“ ERZÄHLER Andrej Kurkov ist mit Abstand der bekannteste ukrainische Schriftsteller. Sein erstes Buch, ein Kinderbuch, erschien 1991 in einer für die Ukraine chaotischen Zeit. Kurkov lieh sich 16 000 Dollar, trieb in Kasachstan sechs Tonnen Papier auf, ein Farbenladen gab den Druck in Auftrag, nicht bei einer Buch- sondern Notendruckerei. Und auch um die Verteilung der 75 000 Bücher musste er sich damals selbst kümmern. Eine große Zahl verkaufte er über kleine Kioske in den Kiever Straßen. 20. O-TON Andrej Kurkov SPRECHER 2 Von 500 Kiosken habe ich 300 alleine kontrolliert. In dieser Zeit kam ich überhaupt nicht zum Schreiben. Ich stellte mich sogar auf den Markt zwischen zwei Matrjoschka-Verkäufer, malte eine Plakat. Darauf stand: Autor verkauft Bücher. Da kam ein kräftiger Mann von der Schutzmafia auf mich zu und fragte, was ich da mache. Ich sagte: das sind Bücher, die ich selbst geschrieben und gedruckt habe. Ich habe ihm angeboten, ein Buch für ihn zu signieren. Aber er sagte: Nein ich lese nicht. Aber wenn Du Probleme hast, dann lass es mich wissen. Ich bin jeden Tag hier ab 12 Uhr. ERZÄHLER In dieser Zeit entdeckte Andrej Kurkov wohl sein Interesse für skurrile Figuren. Da ist Tolja, der seinen eigenen Auftragsmörder anheuern will, und dann doch keine Lust hat zu sterben, Viktor der mit Pinguin Mischa zusammenlebt und Nachrufe auf Menschen schreibt, die noch nicht gestorben sind, Kolja, der auszieht, um die Tagebücher des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko zu finden oder Sergej Pawlowitsch, jenen Mann, der die Ukraine in etwa vier Jahren regieren wird. Doch in welchem Buch von ihm sie auch auftauchen, immer begleitet der Leser sie durch die Viertel und Straßen von Kiev. 21. O-TON Andrej Kurkov SPRECHER 2 Das hängt auch damit zusammen, dass es in den ersten 15 Jahren der ukrainischen Unabhängigkeit Kollegen gab, die behaupteten, ich könne kein ukrainischen Autor sein, weil ich russisch schreibe. [...]Ich bekam sogar Vorschläge, nach Russland und dort zu schreiben. Da habe ich mir gesagt: Gut, wenn ich kein ukrainischer Schriftsteller sein kann, dann werde ich eben ebenso Kiewer Schriftsteller, wie es vor mir schon Bulgakov gewesen ist. ATMO 29 U-Bahn in Kiev, unterblenden und stehen lassen ERZÄHLER In das Viertel, in dem Michail Bulgakov Teile seines berühmten Romans „Der Meister und Margarita“ geschrieben hat, gelangt man vom Zentrum Kiews mit der U-Bahn. Wer sich hinab begibt in die Katakomben der Metro, gerät in ein pulsierendes Geflecht von Gängen, in denen sich Zugtüren öffnen und schließen, wie unablässig arbeitende Herzklappen. Menschenströme werden eingesogen und wieder herausgedrückt. Die junge Schriftstellerin Tanja Malartschuk erinnert sich ungern an die ersten Tage, in denen sie eintauchen musste in dieses Venensystem der Stadt, durch das blitzende Züge wie Blutkörperchen schießen. Inzwischen hat sich die 24jährige daran gewöhnt. Nur eines macht ihr bis zum heutigen Tage zu schaffen. 22. O-TON Tanja Malartschuk SPRECHERIN Ich bin in Iwano-Frankivsk geboren… Dort gibt es nicht so viele Obdachlose und Penner. Hier treffe ich sie auf Schritt und Tritt, auf Bänken, in Metrostationen Ich bin immer noch empfindlich, es schmerzt mich so, dass ich wegschauen muss… ERZÄHLER Jeden Tag fährt Tanja Malartschuk mit der Metro zur Arbeit in einen Fernsehsender. Vom Schreiben allein kann die junge Autorin nicht leben. Auch wenn sie davon träumt. Ihr erster Roman erschien 2004. Inzwischen hat sie ihr drittes Buch vorgelegt, einen Erzählband. Unter dem Titel „Neunprozentiger Haushaltsessig“ ist er vor kurzem auch in deutscher Übersetzung im Residenz-Verlag erschienen. MUSIK 07 Igor Strawinsky „Trois Pieces pour quatour a cordes“ KUSS-Quartett CD “Bridges” Titel 8 SPRECHERIN Wanijka hatte Samagurka nie verlassen. Als sie klein war, kannte sie nicht einmal das Wort „Welt“. Dann, als sie es hörte, beschloss sie, Samagurka müsse die Welt sein. Hinter Samagurka kam nichts mehr. Wanijkas Mutter wiederholte stets aufs neue, hinter dem Dorf sei die Fremde und dorthin dürfe man auf keinen Fall gehen, sonst würde man sterben. Wanijka glaubte das so lange, bis sie einen Versuch unternahm zu sterben…. Wanijka befürchtete, dass der Tod sie hier, zu Hause, vielleicht nicht finden würde. Deshalb beschloss sie wegzugehen. Sie wollte nicht, dass der Tod sie vergaß. Sechs Uhr morgens war es … als Wanijka sich aus dem Haus schlich. … Sie zog ihren schönsten Strickrock und ihre grüne Weste an und schlüpfte in ihre neuen Stiefel für den Fall, dass ihr beim Sterben kalt würde…“ MUSIK Kreuzblende mit ATMO 30 U-Bahn 23. O-TON Tanja Malartschuk SPRECHERIN Es war mein ständiger Wunsch zu fliehen. Ich musste einfach aus Iwano-Frankivsk fliehen. Es ging nicht darum nach Kiev zu kommen, es ging darum, von Iwano-Frankivsk weg zu sein…. ATMO Kreuzblende mit MUSIK 08 Igor Strawinsky „Trois Pieces pour quatour a cordes“ KUSS-Quartett CD “Bridges” Titel 9 SPRECHERIN Samagurka endete auf dem Hügel hinter der Kapelle, … die unsichtbare Grenze dahinter hatte sie aber nie überschritten…. Die breite befestigte Straße hörte plötzlich auf und verwandelte sich in einen Weg, der schon lange unbegangen war… Gegen Mittag stieß Wanijka auf eine große Straße. Viel größer als die, die es in Samagurka gab. Riesig, mit weißen Mittelstreifen. Plötzlich hielt ein Auto neben ihr: „Willst Du vielleicht mit?“, rief es von drinnen. … „Steig ein, wir nehmen dich mit:“ Wanijka schwieg. „Das ist er“, dachte sie, „da ist er gekommen und holt mich.“ Aus Tanja Malartschuk, „Neunprozentiger Hauhaltsessig“, S. 94-96, Residenz, 2009 MUSIK Kreuzblende mit ATMO 30 U-Bahn 24. O-TON Tanja Malartschuk SPRECHERIN Iwano-Frankivsk ist für mich eine typische Provinzstadt, wo jeder jeden kennt und jeden hasst. Wobei man diesen Hass auch als perverse Form der Liebe sehen kann ATMO unter Sprecher ausblenden ERZÄHLER Hass als perverse Form der Liebe, dass ist es, womit sich Tanja Malartschuk in ihrem Erzählband beschäftigt: Da geht es um einen Mann, der seine Freundin so sehr liebt, dass er sich in ihr Muttermal verwandelt. Um einen Tierarzt, der einem sterbenden Mädchen den erlösenden Satz verweigert oder eben um jene Wanijka, die ihr Dorf verlässt, um den Tod zu suchen. In vielen ihrer Geschichten geht es um Menschen, die leben, als seien sie schon gestorben. Manchmal sitzen diese Menschen auf einem Stuhl, der verblüffend jenem gleicht, auf dem Tanja Malartschuk selbst sitzt in ihrer Erdgeschosswohnung, direkt neben dem Fenster und einem Schreibtisch so klein, das der Laptop auf ihm wie ein Ungeheuer wirkt MUSIK 09 Thomas Ades “Et …Tango mortale” KUSS-Quartett CD “Bridges” Titel 12 […] MUSIK Kreuzblende mit: 25. O-TON Tanja Malartschuk SPRECHERIN Wenn man aus einer Kleinstadt in die Großstadt kommt, dann drückt die Stadt so unerträglich, dass man sich wie in einem Urwald fühlt. Unserer heutigen Welt ist so ein Grad von Urbanität eigen, der nicht mehr gesund ist. [...] ERZÄHLER So sind Tanja Malartschuks Geschichten zugleich Geschichten über den Weg von der Provinz in die Metropole. Sie hat ihn genauso zurück gelegt wie Andrij Bondar. Ein junger Autor, der inzwischen in Kiew Wurzeln geschlagen hat. Auch er stammt aus der Provinz, aus dem Westen des Landes, aus einer Region nahe der ukrainisch-rumänischen Grenze. Mit ihm sind wir in jenem Viertel Kievs verabredet, in dem einst Michail Bulgakov Teile seines Romans „Der Meister und Margarita“ geschrieben haben soll. ATMO 31 Jazz-Band spielt / im Hintergrund stehen lassen ERZÄHLER Bulgakows Haus liegt im alten Hafenviertel Podil mit seinen krummen, schiefen und buckligen Gassen. Häuser aus dem 18. und 19. Jahrhundert prägen das Bild. Am Wochenende wird die Hauptstraße zum Fußgängerboulevard, zum Platz für Happenings aller Art. Dann zieht es auch Andrij Bondar oft hierher. 26. O-TON Andrij Bondar SPRECHER 2 Kiew hat für mich eine große Bedeutung. Es ist die Stadt, die mich zum Dichter gemacht hat. Podil ist der Stadtteil, den ich am meisten mag. Früher wohnten hier vor allem ärmere Leute. Aber heute ist es ein sehr dynamischer Fleck, ein Ort, der mich inspiriert, ein ruhige Ecke in dieser Megapolis. Ich kenne kaum eine andere Stadt auf der Welt, die aus so vielen unterschiedlichen Teilen besteht, die aber doch alle irgendwie zusammenpassen und so etwas Komplexes bilden wie Kiev. ERZÄHLER Helles Haar, runde Brille, ein wenig wirkt Andrij Bondar wie ein blonder John Lennon. Seine Lesungen, egal, ob sie hier in einem Club des Kiever Multi-Kulti-Viertels Podil stattfinden oder anderswo, sie sind stets gut besucht. Auch er veröffentlichte bereits mit 24 seinen ersten Gedichtband, die „Frühlingshäresie“, ein Spiel mit den Traditionen der ukrainischen Moderne, voll ausgefeilter Wortspiele und raffinierter Metaphorik. Zugleich aber waren es Gedichte, gehüllt in einen Mantel mit den glitzernden Pailletten der Provinz. Doch schon im zweiten Band war zu spüren, dass er angekommen war in der Großstadt, dass er die Provinz nicht vergessen, aber doch hinter sich gelassen hatte. MUSIK 10 Led Zeppelin, CD Mothership, Titel 9 Since I’ve been loving you (Montage) SPRECHER 1 jemand aus der nächsten umgebung ist gestorben … offen tragen wir den schragen und steigen in den vollbesetzten trolleybus wo sich die Leute auch seltsamerweise nicht wundern … nicht erschrecken sondern helfen wollen und es auch tun indem sie ihn stützen damit ja nichts herausfällt … und eine alte oma ohne zähne grinst mildtätig und krächzt: „spitze – buben – und weiter so spitze!“ einmalig diese lage – in der tat: die trolleybuslinie 23 die an drei friedhöfen vorbeifährt wäre einen eintrag ins guinnessbuch wert – man könnte den zweifelhaften rekord etwa so formulieren „erste in der welt an drei friedhöfen vorbeiführende trolleybuslinie“ oder irgendwie noch blöder wie die leute es heute mögen manchmal scheinen diese Menschen im trolleybus mir ja wirklich keine Menschen im schlichten Wortsinn zu sein manchmal kommt es mir vor es handle sich da um seltsam gütige trolle Aus: Andrij Bondar „spitze, weiter so spitze“ In: Vorwärts, ihr Kampfschildkröten, S. 56/57 Hrsg. Hans Thill, Verlag Wunderhorn, 2006 MUSIK ausblenden ERZÄHLER Andrij Bondar verzichtet in seiner Lyrik auf den Reim. Seine Geschichten erzählt er gern in einer direkten und harten Sprache 27. O-TON Andrij Bondar SPRECHER 2 Meine Eltern hörten merkwürdigerweise genau zu dem Zeitpunkt auf zu lesen, als ich damit begann. Heute haben sie Angst vor dem, was ich schreibe. Zwar wollen sie meine Bücher geschenkt bekommen. Aber dann verstecken sie sie zuhause und zeigen sie niemandenSie können einfach nicht verstehen, warum ich mich dieser harten Sprache bediene. Darin widerspiegelt sich die Sichtweise des ukrainischen Publikums auf die Gegenwartsliteratur. Da ist die Elterngeneration, der man beigebracht hat, dass Literatur dazu bestimmt sei den Menschen besser zu machen. Ich dagegen bin der Meinung, dass Literatur keine Mission haben sollte. Na ja, vielleicht die, den Menschen zu zeigen, dass auch andere Lebenswelten und Lebensweisen möglich sind. ERZÄHLER In die Provinz zurück zu kehren, kann sich Andrij Bondar nicht mehr vorstellen. Auch wenn es dort literarische Zentren wie Iwano-Frankivsk gebe, meint er, das Herz der ukrainischen Literatur schlage doch hier zwischen Podil und Maidan. 28. O-TON Andrij Bondar SPRECHER 2 Die Konzentration an Schriftstellern pro Kopf der Bevölkerung ist sicherlich in Kiev am höchsten. Das im übrigen Europa die Vorstellung herrscht, in der Westukraine gebe es die meisten Schriftsteller, hat vielleicht damit zu tun, dass der Blick nicht weit genug reicht. [...] In Cherson auf der Krim, im Kohlebecken von Dnjepropetrowsk, in Charkiv, überall gibt es Schriftsteller, nur dass sie russisch schreiben. Mein Freund Serhij Zhadan zum Beispiel kommt vom östlichsten Punkt der Ukraine. Er ist im Gebiet Luhansk geboren, das ist praktisch an der russischen Grenze. ATMO 32 Kiew, Hauptbahnhof ERZÄHLER Die Richtung ist vorgegeben. Der letzte Punkt unserer Reise bestimmt. Weiter geht es nach Osten, nach Charkiv, jene Stadt, in der Serhij Zhadan lebt, der vielleicht wichtigste Autor der jungen Generation in der Ukraine. ATMO 33 Zuggeräusche, Schienenstöße (evtl. Archiv) Kreuzblende mit MUSIK 11 Musik aus „Carravagio“ von Bruno Moretti, nach C. Monteverdi, Titel 12 SPRECHER 1 Er steigt in den ersten Waggon und geht vorwärts, also eigentlich rückwärts, gegen die Fahrtrichtung, gegen die allgemeine Bewegung der Finsternis, …stoppt seinen inneren Zeitmesser, der sowieso nicht richtig funktioniert, dreht ihm vom ersten zum zwanzigsten Wagen zurück und wittert dabei die Lüfte und Düfte der Nacht, die er in den zwanzig Wagen erleben wird. Er versteckte sich vor zwei Schaffnerinnen, die heimlich Leichen von einem Abteil ins andere zerrten, ging weiter und tauchte ein in den unendlich süßen Tunnel der Dritte-Klasse-Dämmerung. Im Waggon roch es nach Kohle und Gewürzen, der Geruch kochenden Teewassers mischte sich hinein, und je länger er in den mit Atem gefüllten Korridoren stand, desto mehr Gerüche konnte er unterscheiden … - den Geruch der Schaffnerinnen, die nach Kirschtee und gefärbtem Haar rochen, den Geruch der Soldaten, die nach Rasierwasser und Sperma rochen, den Geruch der Huren, die nach dem Rasierwasser und dem Sperma der Soldaten rochen, den Geruch der Zigeunerkinder, die nach Muttermilch und Anascha rochen und ihre Finger und Lippen nach dem herben Shit aus Cherson, mit dem sie ihre warmen Tonpfeifen stopften; er unterschied den Geruch einer Gruppe von Invaliden, die zu einem Gastspiel ins Bergbaurevier fuhren und nach Lederbörsen und Ringen aus gefälschtem Silber rochen, in all das mischte sich der Geruch von Goldzähnen, Holzprothesen, warmen Äpfeln, Obstschnaps, gestrigen Zeitungen, … der dicke und bittere Geruch Dutzender Soldatendecken, der von Waggon zu Waggon floß… Serhij Zhadan, Hymne der demokratischen Jugend“ S. 109-110, Suhrkamp 2009 MUSIK ausblenden ERZÄHLER Ankunft in Charkiv. Noch sprudeln die Springbrunnen vor dem neoklassizistischen Gebäude. Blumenrabatten. Herbstlaub in den Parks. Ein Club in der Innenstadt. ATMO 34 Clubatmo / Musik / Gedichtvortrag ERZÄHLER Junge Dichter lesen zu Techno-Rythmen. Nicht nur Zhadan ist da, auch Ljubko Deresch sehen wir, Irena Karpa, Dichterin und Rocksängerin. Wo immer die jungen ukrainischen Autoren auftreten ist Literatur ein Happening. Sinnlich, fühlbar. Deshalb sind Kulturzentren und Kneipen nicht selten gefüllt wie bei Popkonzerten. Zhadan mit seinem jungenhaften Gesicht, dem wippenden Pferdeschwanz und gestikulierenden Armen wirkt wie ein ewiger Student. Hier in dieser Stadt hat er seine Schriftstellerkarriere begonnen. Bis heute hat er weit mehr al s12 Bücher geschrieben. ATMO Musik kurz stehen lassen, unterblenden 29. O-TON Serhij Zhadan SPRECHER 2 Das erste Buch, das ich mit Freunden herausgab, trug den Titel „Samisdat“. Wir druckten es auf einer alten Druckmaschine, die gerade einmal 100 Seiten in der Woche schaffte. Wir schliefen neben diesem Ungheuer, weil wir jedes Blatt Papier einzeln einlegen mussten. ERZÄHLER Das war Mitte der 90er Jahre, er war noch nicht einmal zwanzig und von Zuhause abgehauen. Ein Zuhause, um das er ein Geheimnis macht und nicht einmal seine Freunde wissen, ob er Geschwister hat oder welchen Beruf seine Eltern haben. Darüber, was ihn von zuhause forttrieb, schweigt er sich aus. Auch seine Gedichte geben keine Auskunft. MUSIK 12 Sex Pistols, Anarchy in the UKR, unterblenden ERZÄHLER Dafür gibt er in seinem Buch „Anarchy in the UKR“ um so mehr von sich preis. Nicht nur, dass der Titel Hinweis gibt auf einen Song der von Zhadan geschätzten Punk-Band Sex Pistols. Er nimmt uns auch mit auf die „fernen, von Kadavern und gebrauchten Kondomen gesäumten Landstraßen“ seiner Heimat. Das sind die Bilder, die Zhadan mag und mit denen er gern die eigene Seelenlandschaft beschreibt. Und damit auch jene, der ersten postsowjetischen Generation der Ukraine. 30. O-TON Serhij Zhadan SPRECHER 2 Ich muss Euch sagen, dass wir uns nie befasst haben mit unseren sowjetischen Wurzeln. Mir gefällt diese Generation sehr, die man vielleicht sogar als erste antisowjetische Generation bezeichnen kann SPRECHER In den 80iger Jahren, so erklärt er, lag das Sowjetreich bereits in Agonie. Der Punk habe damals nicht nur ihm die die Ideologie ersetzt, erklärt er Augen zwinkernd. MUSIK Sex Pistols „Anarchy in the UKR“ kurz frei stehen lassen, unter – und ausblenden 31. O-TON Serhij Zhadan SPRECHER 2 1992, ich war gerade 17, da gründete ich mit Freunden eine Gruppe. Unser Zuhause war das Literaturmuseum, um das herum sich eine Art Punk-Kommune von Charkiver Verlierern zusammenfand. Ich schlief damals in diesem Museum und ich begann da auch zu schreiben. Aber ich habe das damals noch nicht als ernsthafte Tätigkeit betrachtet. Die Zeit damals war eher eine Schule des Überlebens, an die ich heute mit einer gewissen Sentimentalität zurückdenke ERZÄHLER Trotz seiner an den Punk erinnernden drastischen Sprache gelingen ihm in seinen Romanen und Gedichten melancholische Bilder einer andauernden Zeit-Reise. Verfall und Aufbruch, dass ist das, was Zhadan interessiert. Meine Bücher, sagt Zhadan, empfinde ich selbst als Porträts meiner Generation. Und weder die Ukraine noch der Westen müsse sich um diese erste postsowjetische Generation Sorgen machen. MUSIK einblenden SPRECHER 1 „Ein Kind, das von klein auf die ganze Überflüssigkeit und Sinnlosigkeit … des Systems erkennt, in den es durch den Willen des Schicksals geraten ist – so ein Kind hat keine schlechten Chancen…. Sorgen machen muss man sich eher um die, die sich nicht aus der Abhängigkeit der nächsten Bankfiliale befreien können, um die muss man sich wirklich Sorgen machen, denn aus ihren Reihen kommen die Serienmörder und die öffentlichen Politiker, freie Künstler, gehen daraus nicht hervor“ … MUSIK Sex Pistols 32. O-TON Serhij Zhadan SPRECHER 2 Ich glaube, dass wir heute wieder solche Kommunen brauchen wie damals, weil viele Menschen erst in solchen kreativen Gemeinschaften ihr Potential voll entfalten können. Wenn ich mit meiner Literatur die ersten 100 000 Dollar verdient habe, werde ich ein altes Pionierlager bei Charkiv kaufen und dort 200 Punks ansiedeln. Tagsüber werden sie nützliche Arbeit verrichten, z.B. rote Rüben sammeln und abends werden sie „Sex Pistols“ hören… MUSIK auf – uns ausblenden 1