COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandrundfahrt Engelwurz und Hexensalbe - Bauernbräuche im Allgäu Von Stefanie Müller-Frank Sendung: 29. Oktober 2011, 15.05h Ton: Andreas Krause Regie: Karena Lütge Redaktion: Margarete Wohlan Produktion: Deutschlandradio Kultur 2011 Jingle und Kennmusik O-Ton 1 Bärbel Bentele Warme, heimelige Äpfel. Und die haben jetzt genau dieses Licht wie der Herbst, wie die Sonne. So ein goldenes Licht - alles ist jetzt ausgereift. (LS 466, 11.35) Musik hoch O-Ton 2 Betha Grath Kräuter ernten ist eine Sache, da brauche ich die Muße, Ruhe dazu, das Wetter soll mitspielen, da gehört einfach mehr dazu. (LS 424, 3.10) Musik hoch O-Ton 3 Bärbel Bentele Natürlich stehst du den ganzen Tag am Herd, aber du bist froh müde am Abend. Du hast was geschaffen. Das gibt dir eine ganz große Zufriedenheit. Und es verbindet einen auch mehr mit der Heimat. (LS 466, 9.10) Musik hoch O-Ton 4 Petra Steffen Also das hat mich am Allgäu schon lange fasziniert. Das sind einfach ganz normale Leute, die tragen am Sonntag ihr Dirndl, gehen in den katholischen Gottesdienst und hinterher gehen sie zum Warzen abbeten oder haben ihre Kräuter daheim. Also das mischt sich alles so, wie man's halt braucht. (lacht) (LS 450, 3.10 - lautes Stimmengewirr im Hintergrund) SpvD Engelwurz und Hexensalbe. Bauernbräuche im Allgäu. Eine Deutschlandrundfahrt von Stefanie Müller-Frank. Atmo 1 Grillen und Bienen - entfernt Kuhglocken, Wasser tröpfelt in die Tränke Autorin Im Allgäu leuchtet es - von den Sonnenhängen am Bodensee bis zu den saftig grünen Almweiden der Voralpen. Nicht nur die Apfelplantagen protzen prall mit Früchten, auch die knorrigen Stämme der Streuobstwiesen tragen schwer an ihrer Ernte. Am Feldrand und vor Scheunentoren stapeln sich Holzkisten, aus denen über und über Äpfel quillen. Ein Traktor zockelt die Straße hoch - mit vier, fünf Anhängern, die er wie die Wägelchen einer Spielzeuglok hinter sich herzieht. Aus dem letzten Anhänger hüpft ein kleiner, bunter Apfel, rollt über den Asphalt und landet im Acker. Atmo 2 Kirchturmuhr schlägt Autorin Die Zeit ist reif. Aus den Scheunen riecht es bereits nach Heu und vergorenem Obst. Die Äpfel werden dunkel eingelagert, zu Saft gepresst oder zu Kompott gemacht, zu Most gegoren oder zu Schnaps gebrannt. Die Birnen gedörrt oder in Birnenbrot eingebacken, die Zwetschgen zu Muß verarbeitet, die Hagebutten zu Tee, Vogelbeeren und Holunder als Marmelade eingekocht. Im Allgäu sind viele dieser überlieferten Bräuche noch lebendig - gerade an den unwirtlichen, abgeschiedeneren Orten. Nur wer hier wusste, wie sich die Ernte konservieren und die Heilkraft der heimischen Kräuter nutzen ließ, konnte die langen, schneereichen Winter überleben. Atmo 3 Enten baden - überblenden in Atmo 4 Autorin Heute besinnt man sich im Allgäu wieder verstärkt auf dieses Naturwissen. Erinnert sich an Einmachtechniken der Großmutter und kartiert alte Streuobstwiesen, um die heimischen Äpfel- oder Birnensorten vor dem Aussterben zu bewahren. Man erntet Wurzeln und sammelt Wildkräuter, bindet sie zu Kränzen, räuchert mit ihnen oder verarbeitet sie zu Seifen, Salben und Medizin. Oder zu Schnäpsen. Die Natur sei schließlich die Apotheke Gottes, sagt man im Allgäu. Atmo 4 Holzscheite nachlegen Autorin Bärbel Bentele sagt das nicht. Sie geht auch nicht mit Stock und Hut raus in die Natur, sondern steigt in die Berge wie auf den Dachboden ihrer Großmutter. Auch dort findet sich schließlich alles, was man braucht - solange man nur die Geduld hat zu suchen. Atmo 5 Feuer anzünden Autorin Barfuß steht die zierliche Frau am Herd und legt Holzscheite nach. Die langen, blonden Haare fallen ihr offen auf die Schultern. In der Spüle stapelt sich ein Heer leerer Flaschen und Weckgläser, alles steht bereit zum Abkochen und Einmachen. O-Ton 5 Bärbel Bentele Ich finde, heuer sind noch ein paar mehr wieder dazu gezwungen worden. Das war ein bisschen so eine Stimmung wie im Märchen: So wie bei Frau Holle. Weil wirklich die ganzen Bäume, alles gerufen hat: Rüttle mich und schüttle mich, wir sind reif, mach was aus mir. (LS 466, 7.27) Atmo 6a Feuer beginnt zu knistern Autorin In der Stube ist es warm, es riecht nach selbstgebackenem Zwetschgenkuchen. Die beiden Söhne von Bärbel Bentele sitzen still am Küchentisch, vertieft in ihre Hausaufgaben. Als die beiden klein waren, brauchte die gebürtige Allgäuerin einen Nebenverdienst. Früher hatte sie die Sommer immer auf der Alpe verbracht - ihrem Vater beim Käsen oder im Gasthof geholfen. So lange konnte sie jetzt nicht mehr von der Familie weg. Also fing sie an, Kurgäste mit in den Wald zu nehmen, ihnen zu zeigen, wo Wildkräuter wachsen und welche Heilkraft sie haben. Atmo 6b Ofentür zu Autorin Bärbel Bentele wischt sich die verschwitzten Hände an der Schürze ab, dann greift sie zum Thermometer. Auf dem alten Küchenherd simmern zwei riesige Emailtöpfe mit Apfelsaft vor sich hin. O-Ton 6 Bärbel Bentele Auch die Holunderbäume bei uns, die hängen schwer runter. Ich habe letztens gelacht, weil die Frau in Stiefenhofen in ihrem kleinen Laden, die hat Gläser verkauft en masse und die Dinge zum Einkochen. Es ist grundsätzlich etwas rückläufig. Es hat ja auch nicht jeder mehr alles da. Die Streuobstwiesen sind zurückgegangen. Und natürlich, man kann es ja auch viel einfacher kaufen im Geschäft. Aber wenn man es selbst macht, dann spürt man, dass es eine ganz andere Wertigkeit hat. (LS 466, 7.54) Atmo 7 in Topf schauen Autorin Mindestens 80 Grad muss der Saft heiß sein. Schon ihre Großmutter hat auf diese Weise Apfelsaft haltbar gemacht, erzählt die 42- Jährige. Ihre Mutter aber hat eines Tages angefangen, den Saft im Supermarkt zu kaufen. O-Ton 7 Bärbel Bentele Man darf den Vorgängergenerationen das nicht übel nehmen, wo einfach nur der Not entronnen sind. Und in den Bergen war es nie leicht. Weil du hast immer gegen die Wildnis, gegen die ganze Naturgewalt im Allgäu - mein Gott, wir haben nun mal das halbe Jahr Winter. Also ich denke einfach, wo der Fortschritt gekommen ist, da war das damals für die Menschen schon eine Sehnsucht: Die haben sich einfach mehr Freizeit, mehr Erleichterung von dieser Schwere weg zu kommen. (LS 467, 11.35) Autorin Dennoch haben Mutter und Großmutter das Wissen, all die Bräuche ganz selbstverständlich an sie weitergegeben. So wie die Hühner oder das Spinnrad. Darüber ist sie heute froh. Heute. O-Ton 8 Bärbel Bentele Also wir sind immer zum Kräutersammeln gegangen, wenn andere ins Schwimmbad gegangen sind. Weil ich war die Jüngste von den ganzen Kindern, meine Mama kann gar nicht schwimmen. Und da habe ich das nicht immer so toll gefunden, dass ich jetzt nicht ins Schwimmbad kann und auf so einen Berg muss und was sammeln muss. (LS 467, 7.20 - Stimme oben) Atmo 8 Flaschen holen und Atmo 9 abfüllen Autorin Und noch heute lebt sie wohl zu eng mit und von der Natur, um sie verklären zu können. Ihr Wissen um die Heilkraft der Pflanzen gibt Bärbel Bentele als Wildkräuterführerin weiter - auch wenn sie sich selbst vermutlich nie so nennen würde. O-Ton 9 Bärbel Bentele Wenn man das im Film immer so sieht, wie sie da so laufen mit ihren Körben, da habe ich mir oft gedacht: Die Realität ist oft anders. Natürlich, wenn man es erzählt, dann hast du die Romantik gleich da. Aber wenn du halt musst - dann regnet es oder du kochst den ganzen Tag Apfelsaft ein. Und in drei Monaten kippt er dir oder fängt an zu gären. Und dann denkst du: Warum mache ich das Ganze? (LS 467, 8.04) Atmo 10 Flasche gesprungen Autorin Vielleicht, weil sie so ungern einkaufen geht. Und vielleicht auch, weil dem Apfelsaft aus dem Supermarkt DIE eine Birne fehlt, die Bärbel Bentele immer noch dazu gibt. Oder einfach für diesen Moment, wenn die Nachmittagssonne durch das Fenster über der Spüle scheint und die Flaschen mit dem eigenen Saft golden leuchten lässt. O-Ton 10 Bärbel Bentele Und das wächst einfach neben dem Haus. Und das Schöne ist: Wenn man noch ein bisschen von dem Wissen hat, was im Garten wächst, was um einen herum steht, dann gibt es dir eine Art von Freiheit. Also für mich ist das eine Art von Freiheit, wenn ich hinausgehen und sagen kann: Dies und dies nehme ich, das kann ich verwenden. Alles, was einen Nutzen hat, macht einen Sinn. (LS 467, 9.55) MUSIK 1 Franui: "Abschied" (nach Schubert) Erzähler (mit Musik unterlegt) Es lebte einst im Ostallgäu eine arme Bäuerin. Als sie einmal zu Mittag müde vom Kartoffelacker heimkehrte, schlief in ihrem Bett eine Wilde Frau - eine Salige. Die Bäuerin trat leise näher. Die Salige war wunderschön anzusehen: Ihre Zöpfe glänzten wie Gold und waren so lang, dass sie auf den Stubenboden herunterhingen. Der Bäuerin tat es leid um das schöne Haar, sie bückte sich, hob die Zöpfe auf und legte sie vorsichtig aufs Bett. Davon erwachte die Salige. Als sie sah, was die Bäuerin tat, lächelte sie und stieg aus dem Bett. Sie zupfte sich ein goldenes Haar aus und reichte es der Bäuerin. "Wickle das Haar um den Spinnrocken", sagte sie, "dann wird in deinem Haus das Leinen nie mehr ausgehen. Nur darfst du niemals die Geduld verlieren." Als die Salige fortgegangen war, wickelte die Bäuerin das Haar um den Spinnrocken und setzte sich ans Spinnrad. Sie spann und spann und der Faden nahm kein Ende und die Bäuerin brauchte nie mehr Not zu leiden. Atmo 11 Hühner gackern (entfernt Kuhglocken) Autorin Die Hagebutten rufen - rot und reif, seit zwei Tagen von der Sonne gewärmt - und auch der Mond steht günstig. Bisher hat das Telefon nicht geklingelt, die Wäsche ist gebügelt, die Kühe sind gemolken. Atmo 12 Hagebutten pflücken Autorin Also kann sich Betha Grath endlich eine halbe Stunde Zeit nehmen für die Kräuterernte. Es ist ihr eine Herzensangelegenheit, das spürt man sofort. Und doch musste die Bäuerin erst krank werden, um sich daran zu erinnern, wie ihr Großvater immer raus in den Wald und aufs Feld ging, um Heilpflanzen zu sammeln, die ihm Linderung verschaffen sollten. O-Ton 11 Betha Grath Die Schulmedizin war und ist einfach ganz stark in den Vordergrund getreten. Und seien wir doch ganz ehrlich: Wenn ich zum Arzt gehe und sage, ich brauche was gegen diese Beschwerden und er gibt mir was, ich schlucke es - es ist einfacher als wenn ich rausgehe in die Natur und sage: So, welche Pflanze hilft mir jetzt? Es ist der bequemere Weg. Kräuter ernten ist eine Sache, da brauche ich die Muße, Ruhe dazu, das Wetter soll mitspielen, da gehört einfach mehr dazu. (LS 424, 2.40) Autorin Mittlerweile sind ihre sieben Kinder erwachsen, der jüngste Sohn hat den Hof übernommen und wenn mal kein Enkelkind in der Nähe ist, dann sind die Bienen dran. Oder - wie heute - die Hagebutten. Atmo 13 Hagebutten in Tüte Autorin Die wachsen direkt vor ihrer Haustür, an der Hauswand. Kräftige, rote Hagebutten, die eigentlich mal Edelrosen werden sollten. Aber ihr Urtrieb war stärker. Betha Grath nimmt es gelassen - und macht Marmelade aus ihnen. Mit Daumen und Zeigefinger entfernt sie den schwarzen Butzen und lässt die noch recht harten Früchte in eine Papiertüte plumpsen, die sie sich an den Gürtel gebunden hat. O-Ton 12 Betha Grath Jetzt sammeln wir Hagebutten. Und zwar ist die Zeit jetzt reif. Man sollte eigentlich warten, bis der erste Forst kommt, bloß sind dann die Hagebutten zu weich zum Weiterverarbeiten. Deswegen sammle ich sie, bevor sie den ersten Frost haben und friere sie dann für kurze Zeit noch ein. (LS 423, 1.34) Atmo 14 Hagebutte probieren und Kerne ausspucken Autorin Vor elf Jahren hat die Bäuerin all ihren Mut zusammen genommen und sich dafür entschieden, aus dem Bauernhof einen Kräuterlandhof zu machen. Seitdem hat sie einen eigenen Wildkräutergarten, stellt selbst Tees, Marmeladen, Wildkräutersalze, Pflegeprodukte und Räucherwaren her, die auch direkt auf dem Hof verkauft werden. O-Ton 13 Betha Grath Ich darf nie den ganzen Strauch abernten, weil das ist gegen die Natur. Ich ernte soviel, wie ich jetzt momentan verarbeiten kann, wie ich auch brauche. Man soll nicht Raubbau machen. Es kommt vielleicht noch ein anderer, wo dankbar wäre, er hätte noch ein paar Hagebutten. Und auch der soll die Möglichkeit haben. Und auch die Vögel. (LS 423, 13.10) Erzähler (mit Musik unterlegt) Es war einmal ein Hirtenbub, der sich eines Tages einem Schatz gegenüber fand, einer Truhe voller Goldstücke. Solange er nur soviel mitnahm, wie er brauchte - zum Beispiel für eine neue Schelle, passierte ihm nichts. Eines Tages aber packte er alles und das Gold war weg - und er mit. Atmo 15 Brennesseln ernten Autorin Noch etwas wächst direkt vor der Haustür. Eine Pflanze, die viele nur als Unkraut kennen: Brusthohe Brennnesselbüsche. Betha Grath fasst ohne Handschuhe, ohne Zögern an den Stiel einer Brennnessel und streift von unten die reifen, trockenen Samen von der Pflanze in die Papiertüte. O-Ton 14 Betha Grath Es gibt so ein schönes Märchen, da heißt es: Wer reine Gedanken hat und ein reines Herz, den brennen die Brennnesseln nicht. (LS 423, 24.55) Atmo 16 Samen abstreifen Musik Giora Feidman: "Rhapsody" (unter Text legen) Autorin Kräuter werden im Allgäu seit jeher geerntet und genutzt - ob für die Ernährung oder als Arznei. Über Jahrhunderte, so erzählt man sich hier, wurde das Wissen um die Heilkraft der heimischen Pflanzen und Kräuter von weisen Frauen gehütet - auch Salige oder Wilde Fräulein genannt, weil sie sich nicht zivilisieren ließen und sich nicht zum Christentum bekannten. Angeblich lebten die Saligen hoch in den Bergen, verfügten über außergewöhnliche Kräfte und kamen nur zu Geburten in die Dörfer, bei schwerer Krankheit oder um bei der Ernte zu helfen. Ihr Wissen gaben sie von Generation zu Generation weiter - oft verwoben in Sagen, um sich vor der Verfolgung durch die Kirche zu schützen. Autorin Auch in Bauerngärten werden neben Obst und Gemüse traditionell Heilkräuter angebaut. Im Oktober gilt es dann, sich einen Vorrat für den Winter anzulegen - also die Kräuter in Öl einzulegen, sie zu Tees, Salben, Seifen oder Tinkturen weiter zu verarbeiten. Wer das nicht bei der Mutter oder Großmutter gelernt hat, der kann sich beim Verein "Allgäuer Kräuterland" zu Kursen anmelden und zur Wildkräuterführerin ausbilden lassen. Vor elf Jahren hat Gerti Epple den Verein zusammen mit 35 anderen Frauen und Männern aus dem Allgäu gegründet. Ihr Ziel: Die Artenvielfalt ihrer Heimat zu erhalten, die Heilkräfte der Natur zu nutzen und das überlieferte Brauchtum zu pflegen. Atmo 18 Engelwurzsalbe herstellen Autorin Im Allgäu unterscheidet man nicht, wo jetzt genau welcher Brauch herkommt, erzählt Petra Steffen, während sie zusammen mit zwei anderen Kursteilnehmerinnen in Gerti Epples Küche das Wollfett für eine Engelwurzsalbe erhitzt. Volksweisheiten mischen sich da mit dem Mondkalender, Bauernbräuche mit Wunderglauben. O-Ton 16 Petra Steffen Zum Beispiel hat man immer ein Fläschchen Weihwasser aus Lourdes oder geweihtes Salz. Und das streut man halt im Stall, wenn irgendwas war. Oder dass man halt den Kräuterboschen bindet und den weihen lässt und in den Stall hängt. Oder dass man Lindenblüten pflückt, weil man weiß, es ist gut gegen Erkältung. Oder zum Beispiel, wenn man die Kühe austreibt, dass man nach dem Zeichen guckt, ob das Zeichen passt. Also welcher Planet, welches Sternzeichen. Und da weiß man eben, an bestimmten Tagen darf man keine Kühe austreiben. Ich weiß die Tage nicht, aber die wissen das alle. (lacht) (LS 450, 6.16) Autorin Petra Steffen ist 47 und stammt aus Hamburg. Zuerst hat sie sich in die Landschaft verliebt, dann in einen Mann mit Hof. Und so ist die Diplom-Soziologin seit zwei Jahren Bäuerin. Ein harter Job - erst recht, wenn man nicht mit den hiesigen Bräuchen aufgewachsen ist. Für die Menschen hier, erzählt sie, ist dieses Wissen oft so selbstverständlich, dass sie es gar nicht weiter vermitteln können. Erst recht nicht theoretisch. O-Ton 17 Petra Steffen Selbst bei meiner Schwiegermutter ist es so: Die weiß ein bisschen was - und manchmal weiß sie gar nicht, dass sie es weiß. Die bindet einen Kräuterboschen und lässt den weihen - also das sind so Sachen, die transportieren sich einfach weiter. Die würde auch nie so einen Kurs machen. Aber die würde mal zu einer anderen Bäuerin gehen und mit der reden. (LS 452, 0.56 mit Traktor im Hintergrund) Atmo 19 Grillen zirpen (mit Traktor im Hintergrund wie auf O-Ton) Autorin Oder noch eher: Ihr einfach zur Hand gehen. Petra Steffen lacht ansteckend, sie hat keine Scheu vor den Bräuchen, keine Vorurteile. Man redet hier nicht so viel darüber, sagt sie. Man schaut sich die Dinge einfach ab und macht sie nach. Ob das jetzt Traktorfahren ist oder wie man die Heugabel hält. Nur wenn sie ihre Schwiegermutter nach der Heilkunde fragt, kann es heikel werden: O-Ton 18 Petra Steffen Also alles, was sie weiß, sagt sie mir gerne. Manchmal habe ich das Gefühl, sie geniert sich so ein bisschen. Da wo wir leben, habe ich das Gefühl, dass die Kirche ziemlich viel, dass da viele Verbote drauf liegen. Und das weiß man ja einfach auch, dass Kräuterfrauen, Hebammen und so weiter, die sind ja als Hexen verfolgt worden. Und da ist auch vieles mit Gewalt unterdrückt worden. Das durfte man nicht sagen. Und darum sind viele Sachen auch verschlüsselt weitergegeben worden, heimlich oder eben mit Furcht belegt und nicht weitergegeben. Oder indem man einfach sagt: Das wurde halt immer so gemacht und so tut, als würde man sich darüber keine Gedanken machen. Oder vielleicht macht man sich auch keine Gedanken. (LS 452, 1.23) Autorin Die Frauen hatten Angst davor, stigmatisiert zu werden, meint auch die Wildkräuterführerin Bärbel Bentele. O-Ton 19 Bärbel Bentele Viele Dinge, wo man dann nicht mehr benennen durfte, hat man versucht, verschlüsselt in den Sagen weiterzugeben. (LS 468, 0.54) Autorin Das ist auch der Grund, warum eine Salige niemals ihren Namen preisgab. Das sollte sie davor schützen, zu etwas gezwungen zu werden, das ihr die Kräfte und ihre Unabhängigkeit rauben würde. Daher verließ sie umgehend den Hof, sobald jemand ihren Namen aussprach - und sei es nur durch einen unseligen Zufall. Wie in dieser Sage, in der die Salige unglücklicherweise den gleichen Namen trug wie die Schutzpatronin der Gärtner. Erzähler (mit Musik unterlegt) Es war einmal, tief in den Bergen im Oberallgäu, eine Salige , die das Herz eines Einheimischen erobert hatte und mit ihm zusammen lebte im Hintersteiner Tal. Sie versorgte das kleine Haus aufs Beste und das Gemüsegärtlein vor dem Haus war eines der schönsten im Dorf. Auch die Nachbarn hatten die Frau lieb, aber ihren wirklichen Namen wusste niemand. Eines Tages stand sie im Garten und wurmte das Kraut ab. Da kam eine Nachbarin vorbei und kommentierte das gärtnerische Geschick der Fremden: "Oh, mei liabs Gertrüdle, wia fresset dia Würmle deine Krütle." Da wurde das Fräulein leichenblass, fing an zu weinen und klagte bitterlich darüber, dass sie nicht mehr bleiben dürfe, da man sie bei ihrem richtigen Namen genannt habe. Autorin Vor 14 Jahren hat Bärbel Bentele angefangen, Kurgäste mit auf Kräuterwanderungen zu nehmen, ihnen von den Heilkräften der Pflanzen und den weisen Frauen aus den Bergen zu erzählen. Damals sollte das nur ein Nebenverdienst sein. Heute veranstaltet sie regelmäßig Abende, an denen sie Sagen aus dem Allgäu erzählt. Für Einheimische. Und die Nachfrage ist groß. Niemals hätte sie gedacht, sagt die Allgäuerin, wie groß die Sehnsucht nach diesen überlieferten Geschichten ist. Und wie gering das Zutrauen, sie zu verstehen. Viele Zuhörer wollen bis ins Detail erklärt bekommen, was genau sie bedeuten. Aber damit nähme sie den Sagen doch genau das weg, was sie über Jahrhunderte geschützt hat. O-Ton 20 Bärbel Bentele Also vor kurzem wollte ich, ich wollte sie gar nicht mehr erzählen, weil ich Angst gekriegt habe, ich setze hier Geheimnisse frei, die über Jahrhunderte bewahrt blieben und ich mache jetzt dieses Tor auf und es kommt jetzt so an die Öffentlichkeit, vielleicht in so eine Oberflächlichkeit rein. Da war ich ganz traurig und wollte nicht mehr weitermachen. (LS 467, 20.45) Autorin Nur ihre Vieldeutigkeit und Verschlüsselung kann die Sagen davor bewahren, zu einem Konsumgut zu werden, meint Bärbel Bentele. Deren Vermarktung hält sie für ebenso gefährlich wie damals die Stigmatisierung durch die Kirche. Tatsächlich wirbt das Allgäu heute massiv für sich als Tourismus- und Gesundheitsregion, eine ganze Branche tummelt sich unter dem Kräuterlabel: Es gibt nicht nur Kräuterlandhöfe und Kräuterführungen, sondern auch Kräuterwirte, Kräuterkochkurse und Ortschaften, die sich um den Titel als offizielle Kräuterdörfer bewerben. O-Ton 21 Bärbel Bentele Und dann kommen wir natürlich auch in das Fahrwasser des Konsums rein. Die Menschen wollen immer mehr und alles und jeder denkt: Ah, dieses Thema ist gut, da kann ich vielleicht Geld verdienen damit. Wo sind dann die Grenzen? Wo verkaufe ich meine Welt? (LS 467, 20.03) Erzähler (mit Musik unterlegt) Es lebte einmal ein Bauer im Allgäu, der ein schönes, weißes Frauenhemd fand, es mitnahm und seiner Frau zum Geschenk machte. Dieses Hemd gehörte aber einer Wilden Frau, die es zum Bleichen und Trocknen auf die Wiese gelegt hatte. Am Abend, so geht die Sage, begann ein fürchterlicher Sturm, der an den Fensterläden des Bauernhauses rüttelte. Plötzlich flog die Tür auf und eine bedrohliche Stimme fragte, wo ihr Hemd sei. Der Bauer wurde an den Haaren aus dem Bett und vor das Haus gezerrt. Das Hemd jedoch war aus dem Kasten verschwunden gewesen und draußen lag auf einmal Schnee. MUSIK 2 Franui: "Über die Berge" Atmo 20 Vögel im Garten (mit Brunnen) und Atmo 21 Kirchturmuhr Autorin Hans Lerpscher sitzt auf einer Holzbank vor seinem Haus im Oberallgäu, den Filzhut weit über die Augen geschoben. Neben ihm auf der Bank hat sich eine Katze in der Nachmittagssonne zusammengerollt. Gut einen Monat ist es her, dass Hans Lerpscher den Hof an seinen Jüngsten übergeben hat. Dabei kommt es dem Bauern vor wie gestern, dass seine Söhne in den verzweigten Birnbaum vorm Haus geklettert sind, um dort Karten zu spielen. O-Ton 22 Hans Lerpscher In dem Baum da können zwei Kinder - unsere Jungs, die sind da drin gesessen und haben Karten gespielt in dem Baum, mit der Strickleiter sind sie oben reingeklettert. Und mein Vater hat gesagt, wo ich noch klein war - ich bin jetzt 63 - sein Vater hat gesagt, er kennt ihn schon immer so. Und da oben wächst eine Fichte auf dem Birnbaum. (LS 433, 1.07) Atmo 22 Eimer holen Autorin Hans Lerpscher ist auf dem Hof in Missen-Wilhans aufgewachsen, hat selbst als kleiner Junge unter dem uralten Birnbaum und auf der Streuobstwiese hinterm Hof gespielt. Auch wenn sich der Ertrag der alten Obstbäume kaum rechnet - Lerpscher hat nie in Betracht gezogen, sie abzuholzen. Seine fünf Kinder schätzen den selbstgemachten, ungespritzten Apfelsaft. Der Bauer steht auf, um sich einen Eimer zum Zwetschgenpflücken zu holen. Sein Sohn reicht ihn aus dem Küchenfenster heraus. O-Ton 23 Hans Lerpscher Obstbäume gehören ins Allgäu. Und wenn es eine bisschen robuste Sorte ist, dann gedeihen die auch bei uns. (LS 433, 4.52) Atmo 23 Zwetschgen pflücken Autorin Nur wenige Menschen aber sind bereit, für regionale Produkte auch einen angemessenen Preis zu zahlen. O-Ton 24 Hans Lerpscher Das ist ja heutzutage so, dass ich praktisch den Preisverfall in der Landwirtschaft - ob das Fleisch oder Milch oder Getreide ist - das will der Landwirt ausgleichen durch mehr. Durch mehr Ertrag oder Fläche dazupachten. Und dann komme ich in den Teufelskreislauf hinein: Erstmal pachte ich Fläche dazu, dann muss ich wieder bauen, dann brauche ich wieder größere Maschinen. Und so geht das immer weiter. (LS 433, 18.15) Autorin Vor elf Jahren aber war für den Bauern die Schmerzgrenze erreicht. Immer wieder musste der Tierarzt kommen und Antibiotika spritzen, er konnte die Kühe nicht mehr schlachten und musste sie einschläfern lassen. O-Ton 25 Hans Lerpscher Und dann haben wir umgestellt auf Biolandwirtschaft. Da haben wir dann mitgekriegt, wie das funktioniert und funktionieren kann. Und ich muss sagen: Ich bin jetzt 63, wir haben eben den Hof übergeben. Und mir hat das Bauersein noch nie so viel Spaß gemacht wie die letzten zehn Jahre. (LS 433, 12.01) Autorin Hans Lerpscher hat versucht, sich zu entsinnen, wie eigentlich sein Großvater Unkraut und Ungeziefer Herr geworden ist. Vieles davon probiert er aus, nicht immer mit Erfolg. O-Ton 26 Hans Lerpscher Man braucht einfach in der ökologischen Landbewirtschaftung, man braucht etwas mehr Geduld. Wenn man da meint: Ein Jahr mache ich jetzt mit Urgesteinsmehl oder Lava oder wie auch immer - dass ich das nächstes Jahr schon merke, dass wesentlich mehr wächst, das ist nicht der Fall. Das ist ein langwieriger Prozess. Und die Schäden, die ich viele, viele Jahre gemacht habe, dass ich die eigentlich nicht in einem Jahr ausmerzen kann und dass ich da schauen muss, dass das Ganze wieder ins Gleichgewicht kommt. (LS 433, 14.28) Atmo 24 Zwetschgen in die Küche bringen Autorin Seinen jüngsten Sohn hat er trotzdem auf die Fachschule geschickt, damit er die klassische Intensivlandwirtschaft mit Spritzen, Düngen und allem kennenlernt. Den Vollgasbetrieb, nennt es Hans Lerpscher. Damit er sich dann selbst entscheiden kann. O-Ton 27 Hans Lerpscher Und dem Junior habe ich gleich gesagt: Wenn du jetzt den Vollgasbetrieb gelernt hast und meinst, das ist das Richtige, dann machst du das. (LS 433, 19.20) Autorin Sein Sohn aber hat nur einmal in die Bücher geschaut - und es bei der Biobewirtschaftung belassen. Erzähler (mit Musik unterlegt) Es lebte einmal ein Wildes Fräulein im Oberallgäu, das einen Bauern aufforderte, dass er den Roggen schneiden solle, obwohl das Korn noch ganz unreif und grün war. Er machte es so, obwohl ihn die anderen Bauern auslachten. Aber dann Schneite es und den anderen, die ihn verspottet hatten, erfror das Korn. MUSIK 3 Cat Stevens: "Father and son" Atmo 25 Vögel im Dorf und Ententeich Autorin Seit mehr als 150 Jahren prägen Streuobstwiesen die Landschaft am Bodensee und im Westallgäu. Robuste Obstbäume mit hohen Stämmen und ausladenden Kronen, großzügig über Wiesen und Äcker verteilt: Apfel- und Birnbäume, Kirschbäume, Nussbäume, Zwetschgen. Sie liefern den Bauern Obst, betten die Gehöfte harmonisch in die sie umgebenden Felder ein und bieten dem Vieh Schutz bei Regen und Sonne. Im 19. Jahrhundert sollte diese Form der Mehrfachnutzung die Landwirtschaft revolutionieren: Unter den Bäumen durften die Kühe weiden, eine Etage höher konnte man die Früchte ernten und mit dem Schnittholz wiederum die Holzöfen befeuern. Atmo 26 Traktor fährt weg Autorin Mehr und mehr jedoch verschwinden die Streuobstwiesen aus der Landschaft - altersbedingt, aber auch durch Rodung. Denn der hochstämmige Obstanbau gilt heute als nicht mehr rentabel genug und wurde vielerorts längst durch Hochleistungsplantagen ersetzt: Nicht so mühsam, weniger Handarbeit, mehr Ertrag. Zudem ist Streuobst meist kein Tafelobst, sondern Fallobst - wurde also immer schon zu Saft und Most verarbeitet, zum Dörren, Backen oder Brennen verwendet. Je weniger diese traditionellen Kulturtechniken praktiziert werden, desto mehr geht jedoch auch das Wissen darum verloren, wie sich die alten Sorten schmackhaft verwerten und lange konservieren lassen. Ganz zu schweigen von den Sorten selbst. Atmo 27 Bus parken und Schiebetür zu Autorin Diese Vielfalt will Hans-Thomas Bosch nicht so einfach verloren geben. Bekommt er einen Hinweis auf einen alten Obstbaum, macht sich der Pomologe mit Hund und Kleinbus auf den Weg. Pomologie ist die Kunde von den Obstsorten - nicht nur vom Apfel, wie der Name vermuten ließe. Fürs Land Bayern erfasst und bestimmt er alte Obstbäume, für die Hochschule Weihenstephan betreut Hans- Thomas Bosch eine Versuchsstation, in der die alten Sorten wieder angepflanzt werden. Atmo 28 Bauerngarten Autorin Dafür muss er sie allerdings erstmal aufspüren. Und so ist Hans- Thomas Bosch oft unterwegs - heute früh zum Beispiel ist er zwei Stunden vom Bodensee bis ins Ostallgäu gefahren. O-Ton 28 Hans-Thomas Bosch Ich brauche noch meine Ausrüstung: Verschiedene Kisten, in die ich dann die Proben einsortieren kann: Jede Probe kriegt ein Schälchen und ein Begleitblatt. Das ist meine Pflückstange hier. (Sieht aus wie Fensterputzer zum Ausfahren und oben ist ein Körbchen und ein Greifer.) Genau, das ist eine Teleskopstange, also ein Teleskoppflücker. Den kann ich jetzt ausfahren bis auf 4 Meter 20, da kommt dann noch meine Körpergröße dazu. Man kommt also bis auf 5 Meter 50 an das Objekt der Begierde ran, an die Früchtchen. (LS 479, 3.07) Autorin Hans-Thomas Bosch hängt sich eine große Ledertasche um, schultert seine Pflückstange und geht mit großen Schritten auf das alte Bauernhaus zu, in dessen Schatten ein knochiger Apfelbaum und zwei Birnbäume stehen. Das Gras ist noch nass vom Tau. Eine ältere Bäuerin, den Rücken gebeugt von Jahrzehnten an der Sense, öffnet zaghaft die Tür. O-Ton 29 Bosch und Pracht Ich würde vorschlagen, dann gucken wir uns den Apfelbaum mal zusammen an. Kommen Sie gerade mit raus? - Ich kann schon mit rauskommen, aber ich weiß genau so viel wie Sie. - Aber Sie können mir vielleicht noch sagen.. - Ja, ich komme hinten raus. (LS 479, 2.43) Atmo 29 Kuckuck Autorin Große, gelbe Äpfel hängen am Baum - viele liegen auch schon im Gras, angefault und von Wespen umschwirrt. Die Bäuerin zeigt auf einige Zweige an der Rückseite des Stammes, wo eine ganz andere Sorte zu wachsen scheint. Die Äpfel sehen kleiner, fester und viel grüner aus als die anderen. Sie bückt sich schwerfällig und klaubt einen Apfel aus dem feuchten Gras. O-Ton 30 Bosch und Pracht Das ist der Grüne, oder? Und Sie meinen, das ist ein Anderer? - Das ist ein Anderer. - Oder sind sie grün, weil sie im Schatten wachsen? Das kann schon auch sein. - Das glaube ich nicht, das ist schon eine andere Sorte. - Das kann sein, dass das einfach die alte Sorte ist und das mit dem dann umveredelt hat. Das kann schon sein. (LS 479, 9.20) Autorin Häufig, erklärt Hans-Thomas Bosch ihr, hat man auf den Stamm eines Apfelbaums eine andere Sorte aufgepropft, weil die ertragreicher oder schmackhafter war als die ursprüngliche. So kann es kommen, dass zwei unterschiedliche Sorten Äpfel an einem Baum wachsen. Cäcilia Pracht, die Bäuerin, drückt dem Pomologen verschmitzt den grünen Apfel in die Hand, den sie aus dem Gras aufgelesen hat. O-Ton 31 Pracht und Bosch Das ist doch eine andere Sorte, da sind immer so richtig grüne Äpfel. Die kann man gar nicht essen. Holzäpfel. Müssen Sie auch probieren, reinbeißen! - Na ja, hört sich jetzt nicht so verlockend an. (LS 479, 24.57) Atmo 30 Rabe kräht Autorin Hans-Thomas Bosch holt einen Handcomputer mit Luftbildern aus dem Kartierungsgebiet hervor, öffnet die Karte für das südliche Ostallgäu und vermerkt den Apfelbaum unter der Nummer 1242. Dann beginnt die Detektivarbeit mit einem Fragenkatalog: Wann wurde der Baum gepflanzt? Wann genau sind die Äpfel reif? Wie lange halten sie sich? Die Bäuerin kommt ins Erzählen: Seit 1965 kennt sie den Baum, damals war sie 29 und heiratete auf den Hof, der wiederum ist schon 300 Jahre alt. Seither macht sie jeden Herbst Apfelküchlein und Kompott aus den Äpfeln, weil die sich nicht länger als ein, zwei Wochen halten und recht sauer schmecken. Zu sauer für meine Enkel, sagt die Witwe. Aber das war bei den alten Sorten doch schon immer so, erinnert sie Hans-Thomas Bosch. Die meisten waren Wirtschaftssorten und nie für die Obstschale - also für den Frischverzehr - gedacht. O-Ton 32 Hans-Thomas Bosch Also man hat sie hauptsächlich verarbeitet und auf der anderen Seite hieß das auch, dass sie nicht so schmackhafte Früchte waren. Unter den alten Sorten gibt es zwar auch einige, die ganz feine Aromen haben, aber der überwiegende Teil hat den Leuten früher schon nicht geschmeckt. Nur war das auch kein Thema. Man wusste halt, das ist eine hervorragender Mostapfelsorte, das ist eine hervorragende Dörrbirne, das ist eine Kochbirne. Die war einfach noch nicht reif in aller Regel. Wer eine Kochbirne versucht zu essen, ist auf dem Holzweg. (LS 491, 3.12) Autorin Cäcilia Pracht nickt zustimmend. Die kleinen Birnen von ihren beiden Bäumen zum Beispiel, die würde sie niemals roh essen. Die dörrt sie immer. Ganz kleine, mehlige Birnen sind das, die über Wochen auf dem Herd stehen und trocknen und dabei so süß und weich werden wie Feigen. Zum Advent verbackt die Bäuerin sie dann zu Birnenbrot - eine Spezialität aus der Region. Die übrigens am besten schmeckt mit den sogenannten Würgebirnen. O-Ton 33 Hans-Thomas Bosch Und die Kinder früher wussten schon, wo diese garstigen Mostbirnen hingen, die man eigentlich nicht essen konnte. Die haben schon gewusst, bei welchem Nachbarn, von welchem Baum die etwas schmackhafteren Früchte angeboten waren. (LS 491, 5.00) Autorin Und auch, wo nichts zu holen ist, rutscht es der Bäuerin raus. Die 75- Jährige grinst wie ein junges Mädchen und hält sich verlegen die Hand vor den Mund. O-Ton 34a Frau Pracht Darf ich ja gar nicht sagen! (lacht) Die Birnenbettler. Autorin Birnenbettler - so wurden die Trauchgauer in Buchingen deshalb genannt, weil sie selbst kein Obst hatten. Trauchgau liegt nämlich in einer Senke. OT 34b Frau Pracht Die sind immer gekommen und haben Birnen geholt. Früher, wo man nicht so viel zu essen gehabt hat. Weiß ich noch. Als Kind hat man immer Birnen gegessen. Selbst im Garten gehabt und was runtergefallen ist, hat man gegessen. Da hat man immer Birnen gekaut. (LS 479, 28.30) Atmo 31 Apfel ernten Autorin Hans-Thomas Bosch fährt seine Pflückstange aus, holt sich einen der großen, gelben Sorte Äpfel aus dem Baum, schneidet ihn auf, schaut sich Stengel und Kern an, steckt sich einen Schnitz in den Mund und überlegt. Dann schüttelt er bedauernd den Kopf. O-Ton 35 Hans-Thomas Bosch Also er zählt jetzt sicher nicht zu den bekannteren, verbreiteten Sorten, sondern das ist bestimmt eine seltene Sorte. - Aber das ist schade, dass man das nicht weiß. (LS 479, 22.11) Atmo 32 Apfel aufschneiden und probieren Autorin Der Pomologe verspricht, sich nochmal in der Gegend umzuhören, ob nicht doch jemand diese Apfelsorte von früher kennt. Er weiß, wie wichtig das den Menschen ist. O-Ton 36 Hans-Thomas Bosch Das ist, was die Leute ganz stark motiviert. Also die interessieren sich jetzt nicht so für die Details meiner Arbeit, sondern für die ist ganz wichtig, dass sie nochmal den Namen erfahren. Also neulich hatte ich so eine ältere Frau, die war schon um die achtzig und sagte: Noch nie hat jemand gewusst, wie die Sorte heißt - und jetzt wissen wir es. (LS 498, 2.48) Atmo 33 Rabe kräht O-Ton 37 Hans-Thomas Bosch Ich habe oft den Eindruck, dass diese Bäume am Hofe, das ist wie so ein Bestandteil der eigenen Geschichte. Das ist so was Festes. Und ich glaube, das ist es, was die Leute auch schon berührt. (LS 498, 5.39) MUSIK 4 Pfrontner Buebe: "Im Herbscht" Atmo 34 Vögel zwitschern am Berghang Autorin Nebel hängt über den Wiesen der Alpe Hörmoos, die Morgensonne klettert nur langsam die Berghänge hoch. Ein Spinnennetz spannt sich vom dunklen Holzrahmen der Scheunentür bis zur Regenrinne, in seinen feinen, grauen Fäden glänzen winzige Tautropfen. Atmo 35 Enzianwurzeln schneiden Autorin Dick verpackt in Matrosenpullover, Wollmütze und Gummischürze steht Michael Schneider an der Ladefläche seines Pritschenwagens und zerkleinert Enzianwurzeln mit einem schweren Messer. Gut ein Dutzend Kisten stehen schon zwischen Wagen und Brunnen. Immer wenn eine weitere Kiste voll ist mit Wurzeln, taucht er sie erst kurz ins Wasser und spritzt dann jede einzelne Wurzel nochmal sorgfältig mit dem Schlauch ab. Seine schweren Hände sind rot vom kalten Wasser. Seit drei Tagen hexelt und schrubbt der Schnapsbrenner schon die weißen, knorrigen Wurzeln, sie sehen aus wie Meerrettich - mit viel Erde in den Spalten. Einmal im Jahr steigt der Mann Mitte fünfzig zusammen mit fünf Helfern und riesigen Holzgestellen auf dem Rücken hoch in die Berge zum Graben. O-Ton 38 Michael Schneider Da haben wir Glück gehabt beim Graben: Vom Sonntag auf Montag hat es in dem Gebiet, wo wir gegraben haben, noch geschneit. Am Dienstag war er, Gott sei Dank, wieder weg. (LS 499, 13.20) Atmo 36 Kisten räumen und Schlauch raus Autorin Aus dem Enzian brennt Michael Schneider Schnaps. Dafür musste er nicht nur ein Brennrecht erwerben, sondern auch das Grabrecht. Bis zu 500 Kilogramm Enzian darf er nun im Jahr stechen. Allerdings nur den gelben Enzian - und auch nur zwei Spatenstiche. Fürs Stechen muss die Pflanze nicht nur abgeblüht sein - auch der Mondkalender sollte stimmen. O-Ton 39 Michael Schneider Wir haben jetzt einen Wurzeltag rausgesucht. Dienstag war gerade noch Stier. Und das ist halt ein guter Tag zum Graben. Man geht bei uns nach der Mondzeit im Allgäu noch - und da gibt's Wurzeltage, Fruchttage, Blatttage. (LS 499, 6.14) Autorin Im Allgäu hält man sich oft sogar daran, Wurzeln nur nach Sonnenuntergang auszugraben, um sie nicht dem Tageslicht auszusetzen. So päpstlich hält es Michael Schneider dann aber doch nicht. Aufgewachsen auf der Alpe Hörmoos bei Oberstaufen, hat er sich vor ein paar Jahren aus dem Geschäft zurückgezogen, den Gasthof an seinen jüngeren Bruder übergeben und sich selbst das Brennen beigebracht. Seine Frau ist Heilpraktikerin, hinter ihrem Haus haben sie einen Alpengarten mit Teich und Seerosen angelegt, der alles erblühen lässt, was auf 1.300 Metern noch wächst: Arnika, Meisterwurz, Johanniskraut, Löwenzahn, Vogelbeere. Jeder Heilpflanze und jedem Wildkraut ist eine eigene Tafel gewidmet, die auf ihre Wirkung verweist - ob belebend, beruhigend oder tödlich. Viele von ihnen veredelt Michael Schneider zu Schnaps. O-Ton 40 Michael Schneider Unsere Philosophie ist einfach, nur Sachen zu erzeugen, wo auf unserer Höhe so wächst. Wir sind ja jetzt auf 1300 Metern Höhe. Und da ist natürlich Enzian nahe liegend. Vogelbeeren wachsen bei uns und Kräuter, wo bei uns wachsen, die tue ich natürlich auch rein. (LS 499, 5.25) Atmo 37 Wurzeln waschen Autorin Nachdem die Wurzeln gehexelt und gewaschen sind, wird der Enzian mit Äpfeln zusammen angesetzt. Die Maische muss dann vier bis sechs Wochen gären. Erst Ende November, Anfang Dezember wird dann der Schnaps gebrannt. Michael Schneider hat es nicht eilig. Die Enzianwurzel braucht hier oben ja auch zehn bis zwölf Jahre, um nachzuwachsen. Dafür gibt kein Kraut so viel Kraft. O-Ton 41 Michael Schneider Der Enzian war eigentlich DAS Produkt, das im Allgäu immer bekannt war. Normalerweise hat man einen Obstler, aber wenn man wirklich was gebraucht hat an Kraft, dann hat es den Enzian gegeben. Das war praktisch in jedem Haushalt drin. (LS 499, 14.30) Atmo 38 Kisten untertauchen und Atmo 39 Vögel Autorin In diesem Jahr hat sich Michael Schneider entschieden, seine Brennerei auf Biobetrieb umzustellen. Nur so kann der Verbraucher sicher sein, sagt er, dass nichts reingepfuscht ist ins Produkt. Und wenn die Leute sehen, dass es Handarbeit ist, dann sind sie auch bereit, gut dafür zu bezahlen. O-Ton 42 Michael Schneider Man muss mit der Natur auch leben und geht deswegen auch vorsichtig mit ihr um. Ich denke, dass die Bergbauern die besten Naturschützer sind. Weil sie das erhalten, dass alles so ist, wie es jetzt ist. (LS 499, 16.45) Jingle und Kennmusik SpvD Engelwurz und Hexensalbe - Bauernbräuche im Allgäu Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Stefanie Müller-Frank. Sprecher: Ton: Andreas Krause Regie: Karena Lütge Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2011 Manuskript und eine Online-Version der Sendung finden Sie im Internet unter dradio.de Musik hoch 1