Deutschlandrundfahrt An den Rand gedrängt Die Freie Kunstszene in Berlin Von Susanne Arlt Sendung: 12. April 2015, 11.05h Ton: Martin Eichberg Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Produktion: Deutschlandradio Kultur 2015 COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt wer- den Atmo Oranienplatz, Trommeln, Menschen unterhalten sich Autorin: Berlin im März. Mehr als 200 Menschen sind an diesem windigen Nachmittag auf den Oranienplatz gekommen. Der Platz in Berlin- Kreuzberg steht für Protest. Zuerst waren es Flüchtlinge aus dem Irak, Iran und Afghanistan. Sie campierten hier monatelang, um mehr Rechte für sich zu erstreiten. Jetzt sind es die freien Künstler. Ihre Kunst ist längst ein Markenzeichen der Stadt. Doch jetzt fühlen sie sich bedroht, ihre Existenz in Frage gestellt. Atmo Kundgebung Autorin: Seit Jahren gilt die Stadt unangefochten als die Kunst- und Kultur- metropole. Immer mehr Touristen strömen in die Stadt, um das hip- pe Berlin zu sehen. Berlin läuft Paris und London langsam aber si- cher den Rang ab. Von Hochkultur bis Off-off ist alles dabei. Doch jetzt wird der Freiraum immer enger. Immer öfter drohen private und öffentliche Immobilienunternehmen, den Künstlern den Nährboden, den Raum, zu entziehen. Was passiert mit einer Stadt, wenn ihr der schönste Kunstspielplatz der Welt verloren geht? Kennmusik Deutschlandrundfahrt Sprecher vom Dienst: An den Rand gedrängt Die Freie Kunstszene in Berlin Eine Deutschlandrundfahrt von Susanne Arlt Atmo Musik (immer als akustische Einbettung vor Renner) O-Ton 1 Tim Renner: Die Situation ist eine Umbruchsituation. Wir müssen zusehen, dass die Künstler - und das gilt für alle Künstler - nicht Opfer des Erfolgs der Stadt werden, den sie mit verursacht haben. Und wir müssen gleichzeitig zusehen, dass in der Breite der Stadt, in der Breite der Politik verstanden wird, dass diese Künstler zu halten kein Schützen von Menschen ist, sondern das Eigeninteresse der Stadt sein muss. Es muss das Interesse von Berlin sein, dieses kreative Image halten zu können, diesen kreativen Impuls in Europa weiter zu setzen, denn das macht die Stadt aus. Sprecher: Tim Renner - deutscher Musikproduzent, Journalist, Autor und seit gut einem Jahr Staatssekretär für kulturelle Angelegenheiten in Berlin. Atmo Musik Kreuzblende mit Atmo Wir stapeln jetzt Umzugskartons Autorin: Birgid Bayer-Weiland schaut fast ein bisschen trotzig. In ihren Hän- den hält sie zwei schwarze Umzugskartons auf denen mit weißer Kreide geschrieben steht: Kunst zieht an - und nicht aus! Seit vielen Jahren hat sie ihr Atelier im Wedding. In den Gerichtshöfen, so mun- kelt man, sollen bald Lofts entstehen. Das will Birgid Bayer-Weiland unbedingt verhindern. Sie reicht ihrem Kollegen die leeren Pappkar- tons, der stapelt sie vorsichtig aufeinander. Die schwarze Wand wächst höher, immer höher. Bis eine finstre Mauer dort steht. Davor postieren sich die Mitstreiter von der "Allianz bedrohter Berliner Ate- lierhäuser", kurz AbBa genannt. Weil immer mehr traditionelle Kunstzentren in Berlin gefährdet sind, haben sich 500 Künstler im vergangenen Jahr zusammengeschlossen. Sie wollen um ihre ange- stammten Räume kämpfen und für neue, ungenutzte Gebäude, die in öffentlicher oder privater Hand liegen und sich als Ateliers eignen könnten. Atmo Nee, das kippt sonst, wir haben gesagt maximal sechs, das kippt sonst, auch mit dem Wind und so ... Autorin: Die Warnung kommt zu spät. Just in dem Moment, als Margit Schild, Sprecherin von AbBA, die Kundgebung eröffnen will, bläst der Wind die Papp-Skulptur zu Boden. Atmo Kartons werden vom Wind umgeblasen ... ohhh Autorin: Margit Schild nimmt es gelassen. Und ihre Kollegen richten die schwarze Karton-Wand schnell wieder auf. Dann hält die Künstlerin das Megaphon an den Mund. O-Ton 2 Margit Schild: Wir haben heute zu einer Protestaktion aufgerufen, weil in die- ser Stadt, die weltweit für Kunst und Vielfalt steht, die letzten bezahlbaren Räume für KünstlerInnen an Immobilienhaie ver- schleudert werden. Eine Lawine von Immobilienmaklern und Käufern bewegt sich durch Berlin und walzt die Existenzgrund- lagen von einem Großteil der Berliner Bevölkerung platt. Autorin: Den Anfang machen die Künstler der Freien Szene. Ihre prekären Einkommensverhältnisse stehen oft im krassen Missverhältnis zu ih- rer Ausbildung und der geleisteten Arbeit. Im Schnitt leben sie von 850 Euro im Monat. Nur fünf Prozent des Berliner Kulturhaushaltes fließt in die Förderung freier Künstler und Kulturproduzenten. Dabei machen sie 95 Prozent der Kulturschaffenden aus. Und jetzt sind sie es, die mit als Erste aus der Stadt gedrängt werden. O-Ton 3 Margit Schild: Wir sind dabei, auf die gleichen Verhältnisse wie in Paris und London zuzusteuern... eine protzige Innenstadt für Reiche und einen Rand, in dem die Geringverdienenden wohnen. Atmo Klatschen MUSIK I "Rauch-Haus-Song" Interpret: Ton Steine Scherben Komponist: Ralph Möbius Label: Ariola Express, LC-Nr. 08637 Atmo Musik O-Ton 4 Tim Renner: Verglichen mit anderen Weltmetropolen wie New York, Paris, London, Tokio sicher traumhaft. Berlin ist zu dem geworden, was es ist, weil wir eben diese traumhaften Bedingungen ge- habt haben. Wir müssen jetzt zusehen, dass gerade eben halt bildende Künstler, die noch einmal mobiler sind, weil sie weni- ger im Team arbeiten als darstellende Künstler, als Musiker, dass die nicht ihre Leinwand unter den Arm klemmen und in Leipzig, Krakau oder sonst wo sind, weil sie gar nicht anders können, weil sie rausgedrückt werden. Sprecher: Tim Renner - früher deutscher Musikproduzent, jetzt Berliner Kultur- Staatssekretär. Atmo Musik Kreuzlende mit Atmo Eberswalder Straße, Ecke Kastanienallee Autorin: Treffpunkt Prenzlauer Berg. Atmo Straßenkreuzung kurz hochziehen O-Ton 5 Severine Marguin: Also wir sind jetzt hier Pappelallee Ecke Schönhauser. Ich fand es einen guten Treffpunkt, weil, es gab mal in den 80er Jahren hier zwei Projekträume in der damaligen DDR. Autorin: Zu Zeiten der DDR war der Prenzlauer Berg ein Ort der Opposition. Hier lebten viele Dichter und Künstler. In dem freiheitsliebenden Mikroklima entstanden damals auch so genannte Projekträume, Kunstlabore der Stadt, erzählt die Französin Séverine Marguin. Die 29-jährige Kunst- und Arbeitssoziologin schreibt gerade an ihrer Dissertation zum Thema Künstlerkollektiv. Ein Kapitel widmet sie ih- rer Projektraumstudie. O-Ton 6 Séverine Marguin: Projekträume stehen schon für sehr innovative Praktiken. Nicht nur künstlerische, aber auch in der Selbstorganisation. Da wird experimentiert, also da werden so die Grenzen der Kunst aus- probiert und da werden eben neue Sachen versucht. Also manchmal gelungen, manchmal nicht gelungen. Da wird eben einfach experimentiert. Und ich denke schon, dass ist ein Re- servoir, Inspiration auch für andere Akteure in der Kunstwelt. Autorin: Im Unterschied zu kommerziellen Galerien sind Projekträume non- profit orientiert. Dort macht man noch Kunst um der Kunst willen. Die Kreativen finanzieren sich vor allem durch Spenden, Mitgliedsbeiträ- ge und natürlich Selbstausbeutung. Und doch gibt die Arbeit in ei- nem Projektraum dem Künstler auch viel zurück, glaubt Séverine Marguin. Man arbeitet mit Gleichgesinnten, probiert sich aus, nutzt die Plattform für innovative Kunstpraktiken, die oft interdisziplinär sind, entwickelt seine Kunst im Diskurs. Das bringt zwar kein Geld, aber unbezahlbare Erfahrungen. Etwa 2.400 Künstler aus dem In- und Ausland stellen in diesen Kunstlaboren jedes Jahr aus, sagt Sé- verine Marguin. O-Ton 8 Séverine Marguin: Die Projekträume sind in die Randbezirke gezogen, nämlich nach Wedding und nach Neukölln. Aber in Neukölln werden sie auch schon wieder verdrängt. Daraus muss man natürlich nicht schließen, dass Künstler Gentrifizierer sind. Das ist nur, weil andere eben denken, dass es jetzt gerade den Trend gibt, neben Künstlern wohnen ist attraktiv für Leute, die nichts mit Künst- lern zu tun haben. Kreativität strahlt. Das Problem ist, wenn man dahin geht, dann erhöhen sich die Preise und dann müs- sen die Künstler weg. Autorin: Für Künstler ist es wichtig, mit Künstlern zu leben. Sich mit ihnen auszutauschen, sich gegenseitig zu inspirieren, sich zu interdiszipli- nieren. Darum ist Berlin auch lange Zeit so interessant gewesen. Hier konnte man ein Atelier haben, ohne sich mit drei Nebenjobs über Wasser halten zu müssen. Was aber passiert mit der Stadt, wenn die Menschen gehen, die sie zum großen Teil ausmachen? Séverine kann, mag diese Frage nicht beantworten. Sie schaut auf die gegenüberliegende Straßenseite, zeigt auf eines der noch weni- gen unsanierten Häuser in der Kastanienallee. Auf der grauen, ab- geplatzten Fassade steht mit dicken, schwarzen Pinselstrichen: Ka- pitalismus zerstört, tötet und normiert. O-Ton 9 Séverine Marguin: Ich bin nach Berlin gekommen, weil ich das so toll fand. Die To- leranz, dieser Freiraum, dass man ganz viel erproben kann, weil, Freiraum verkörpert in einem Raum, wo man Sachen ma- chen kann, aber das ist auch im Kopf. Und das ist natürlich sehr wertvoll an Berlin, dass man eben dann denkt, okay ich kann was probieren. Das hier an Berlin, das ist wunderschön. MUSIK II "Non, je ne regrette rien" Interpret: Édith Piaf Komponist: Charles Dumont Label: edel records, LC-Nr. 01666 Atmo Straßen mit Autos Hallo, Hallo, geht es gut? ... Ja, ein bisschen müde, wir haben bis zwei Uhr gearbeitet. Autorin: Freundschaftlich drückt die Soziologin Sevérine Marguin Heimo Lattner zwei Küsse auf die Wange. Der Künstler drückt sie erfreut an sich, die dunklen Ringe unter seinen Augen verraten, nicht nur die gestrige Arbeitsnacht war lang. Trotzdem hat sich der Künstler an diesem Morgen auf den Weg gemacht zur Schönhauser Allee Num- mer 167c. Mit befreundeten Künstlern gründete er hier den Projekt- raum "General Public". O-Ton 10 Heimo Lattner: Man muss dazu wissen, dass das gesamte Haus belegt war von Künstlern, Designern und kreativen Menschen. Und es wurde dann so ein Solidarmodell gebaut, wonach jeder, der hier ein Büro hatte, einen kleinen Beitrag in dieses Erdgeschoss finan- ziert hat. Und dadurch konnte General Public mit zehn Leuten mit relativ minimalem finanziellem Aufwand auch sieben Jahre Programm machen. Autorin: Mehr als 350 Veranstaltungen haben sie gegeben: klassische Aus- stellungen, Diskursabende zu Kunst und Stadt, Klangkunst- Performances. Doch diese Zeiten sind vorbei, was sich schon von außen erahnen lässt. Die einst graue Fassade erstrahlt jetzt in be- stechendem Blau, der Seitenflügel wurde aufgestockt, darüber thront eine riesige Dachterrasse. Luxussanierung war das zwar nicht, aber die erhöhten Mieten konnten sich die Künstler trotzdem nicht mehr leisten und das Solidaritätsmodell für den Projektraum brach in sich zusammen. O-Ton 11 Heimo Lattner: General Public ist jetzt tatsächlich im öffentlichen Raum gelan- det. Autorin: Heimatlos, und das trotz erfolgreicher Arbeit. Der Senat fand die künstlerische Arbeit von General Public nämlich so beeindruckend, dass er das Kollektiv vor zwei Jahren mit einem Förderpreis von 30.000 Euro auszeichnete. Kein Dach mehr überm Kopf, dafür aber 30.000 Euro irgendwo im Keller rumliegen, sagt Heimo Lattner sar- kastisch und schaut auf das Gebäude. Das fünfstöckige Haus liegt in begehrter Wohnlage, nicht weit vom Pfefferberg. Für Kunstschaffen- de eine geradezu exklusive Location. In dem gelungen restaurierten Backsteingebäude, einer ehemaligen Brauerei, hat der international bekannte dänische Künstler Olafur Eliasson sein Atelier - und hier vor sechs Jahren gemeinsam mit der Universität der Künste das Lehr-Institut für räumliche Experimente gegründet. Es heißt, auch der chinesische Kunststar und Regimekritiker Ai Weiwei habe auf dem Pfefferberg einige Räume erworben - den ehemals unterirdi- schen Gärkeller. Zu lange habe die Stadt die Rendite über den Nutzwert gestellt, kritisiert Heimo Lattner. Alles sei meistbietend ver- hökert worden. Die Folge: Wie bei einem Dominospiel brechen jetzt bezahlbare Kunst- und Kulturräume nacheinander weg. In den nächsten Jahren werde die Stadt das schmerzlich zu spüren be- kommen. O-Ton 13 Heimo Lattner: Ich denke, der große Boom ist mal weg. Dieser große Kunst- hype war ja relativ wenig fundiert in der Realität. Es wurde sehr wenig Kunst hier verkauft. Aber es wurde natürlich sehr viel Kunst hier produziert. Und diese Attraktivität Berlins als Kunstmetropole, die bröckelt, diese Fassade. Die bröckelt ge- waltig. Ich denke, das wird sich jetzt alles ein bisschen beruhi- gen, vielleicht auf eine Normalgröße wieder runterschrumpfen, dieser Riesen-Kunstbetrieb. Autorin: Seit dem Mauerfall war Berlin das, was in den 30er Jahren Paris und in den 70er Jahren New York war. Die Verheißung eines Ortes, der für alle offen ist. Verschließt sich aber dieser Raum für solch kreative Modelle wie die Projekträume, dann gräbt sich die Stadt selber den Sand weg, auf dem sie gebaut wurde. Wäre er nicht familiär gebun- den, Heimo Lattner hätte Berlin längst verlassen. Wohin? Er zuckt mit den Schultern, Hauptsache weg. Der tägliche Kampf, General Public mit Leben zu füllen, sei einfach ermüdend. O-Ton 14 Heimo Lattner: Wieviel meiner Energie möchte ich da reinpulvern und ich mer- ke einfach, dass viele Kollegen und ich unglaublich viel Energie die letzten Jahre da reingeworfen haben und irgendwann sagt man, es reicht dann aber auch. MUSIK III "Is it enough" Interpret+Komponist: Frank Straight Label: Columbia, LC-Nr. 00162 Atmo Musik O-Ton 15 Tim Renner: Wir haben eine Umfrage gemacht unter 2.200 bildenden Künst- lern von denen 1.300 zurückmelden, das ihr Arbeitsraum be- droht ist. Das sind 60 Prozent. So schnell können wir gar nicht neue Ateliers aufbauen wie da ne Bedrohungssituation zustan- de kommt. Sprecher: Sagt Tim Renner. Der 50-jährige ist seit einem Jahr Berlins Kultur- Staatssekretär. Atmo Musik Kreuzblende mit Atmo Leute unterhalten sich ... Straße im Hinter- grund ... O-Ton 16 Susanne Chrudina: Ich begrüße Sie ganz herzlich zur Spielstätten-Tour durch Ber- lins Mitte, ich werde Sie auf diesem Spaziergang und bei dieser Exkursion Freien Szene und durch die Kieze Berlin begleiten und führen. ... Autorin: Susanne Chrudina steht vor der Parochialkirche in der Klosterstraße in Berlin-Mitte. Direkt neben der Kirche klafft eine tiefe Baugrube. Auf dem Grundstück sollen Luxuswohnungen entstehen, verrät ein Werbe-Plakat. Susanne Chrudina zeigt auf die gegenüberliegende Straßenseite. Der fünfstöckige Plattenbau ist weder luxuriös noch vornehm, dafür seit einigen Jahren neue Spielstätte des freien Thea- ters "Theaterdiscounter". O-Ton 17 Susanne Chrudina: Der früher am Monbijoupark war. Weil dann die Immobilie sehr viel wert war und verkauft werden musste und sich die Zeiten in Berlin geändert haben, stand der Theaterdiscounter plötzlich in der Situation, ein gefördertes Programm zu haben, aber keinen Ort mehr. Autorin: Erfolgreich, gefördert, Raum-los. In Berlin ergeht es den darstellen- den Künstlern nicht besser als den bildenden. Regisseurin Susanne Chrudina will auf diesen Missstand aufmerksam machen. Als Mitar- beiterin des Performing Arts Programm vom Landesverband freie darstellende Künste führt sie regelmäßig Theaterinteressierte durch die unterschiedlichen Spielstätten der Szene. In Berlin gebe es etwa 23 Spielstätten und mindestens 6.000 Künstlerinnen und Künstler der Freien Szene, erzählt sie ihren zwölf Besuchern. O-Ton 18 Susanne Chrudina: Für uns ist die Lage, was die Räume betrifft, wirklich eklatant. Zuerst brauchen wir einmal die Spielstätten. Und die möglichst nicht am Rande der Stadt, weil, wir sind Teil der Gesellschaft, Teil der Kunstszene. Mit der Preissteigerung sind natürlich Spielstätten verschwunden. Da dann einen neuen Raum zu su- chen, der da adäquat ist, das ist einfach wahnsinnig schwierig. Autorin: Der Theaterdiscounter ist dafür ein gutes Beispiel. Ein Jahr lang war er auf der Suche, bis er endlich in der Klosterstraße eine neue Hei- mat fand. In dem Plattenbau in Berlin Mitte sind überwiegend Ateli- ers untergebracht. Im zweiten Stock wird zeitgenössisches Theater in Eigenproduktion gezeigt. Alle Akteure - egal ob auf und hinter der Bühne - arbeiten auf Honorarbasis. Atmo Ich gehöre zu ... ja genau ... solche Subjekte werden entfernt von unse- rem wunderschönen Planeten. Autorin: Probe in der 370 Quadratmeter großen Halle. Das Ensemble Maria- kron führt in wenigen Tagen die "Irren von Chaillot" auf, eine Lynch- komödie. Ein Stück aus den 40ern. Trotzdem brandaktuell. Eine Gruppe von Frauen wehrt sich gegen die Vertreibung aus ihrem Bohème-Viertel. "Wir oder Ihr!" skandieren sie und ertränken die Spekulanten in den Pariser Kanälen. Atmo Ich warne euch, die 200 Familien sind nicht bösartig, aber wenn man sie angreift, wissen sie sich zu verteidigen... Autorin: Den Besuchern gefällt die Kostprobe. Auch Susanne Lehmann- Bekri, einer älteren Dame aus dem Westbezirk Lankwitz. Und hat ih- re Meinung zur Berliner Stadtplanung. O-Ton 19 Susanne Lehmann-Bekri: Wenn jetzt die Kultur an den Rand geht und wir in der Mitte nur Büroraum haben, dann wird es ja eigentlich auch so tot, ne. Ghettomäßig. Vom kulturellen her, das ist doch furchtbar, das sind dann tote Gegenden und das ist nicht schön. Autorin: Für die bildenden Künstler hat der Senat vor vielen Jahren ein Pro- gramm beschlossen, das mehrere hundert Ateliers mitfinanziert. Für die darstellende Kunst gebe es dieses Angebot leider nicht, bedau- ert Susanne Chrudina. Weder für die Aufführungen noch für die Pro- ben oder die Lagerung von Requisiten. Immerhin sei man jetzt im Dialog mit der Senatsverwaltung für Kultur. Doch wenn nicht in na- her Zukunft Konzepte entwickelt werden, die diese Entwicklung stoppten, dann werde es ganz Berlin treffen, glaubt die Regisseurin. O-Ton 20 Susanne Chrudina: Es geht darum, wie sich eine Stadt entwickelt in den nächsten 30 bis 50 Jahren. Berlin hat eine sehr besondere Geschichte. Berlin hat durch diesen Umbruch und diese Phase der Anarchie letztlich gezeigt, was alles entstehen kann, wenn es Leerräume gibt für Kreative. Und da ist etwas gewachsen, was Berlin so unique macht und es also ausstrahlt in die ganze Welt. Und jetzt ist die Politik dabei, das Ganze zu gefährden und wieder abzutö- ten. Indem eben nicht mehr das bereitgestellt wird, was die Szene braucht. MUSIK VI "Verlorene Kinder" Interpret: Silly Komponist: Ritchie Barton, Tamara Danz, Gerhard Gundermann Label: Amiga, LC-Nr. 00055 Atmo Musik O-Ton 21 Tim Renner: Berlin hat eine Sondersituation gehabt im doppelten Sinne. Zum einen haben wir in dem Moment, wo die Mauer fiel, unglaublich viele Freiräume gehabt. Zum anderen war ja auch schon bevor die Mauer fiel, auf beiden Seiten ein hochsubventioniertes Sys- tem zugange. Die Konsequenz war eben Freiflächen. Mittlerwei- le wächst die Stadt zum Glück. Das bringt natürlich einen gro- ßen Druck auf dem Immobilienmarkt. Das verknappt den Markt für Künstler, weil meistens sitzen sie natürlich genau in den Immobilien drin, die hoch attraktiv sind. Ehemalige Industrie- nutzung, die hervorragend geeignet sind als Lofts. Sprecher: meint Tim Renner. Der 50-jährige hat früher Musik produziert. Jetzt ist er in Berlin Staatssekretär für kulturelle Angelegenheiten. Atmo Musik Kreuzblende mit Atmo S-Bahn ... Nächste Station Schöneweide Autorin: Schöneweide. Der Name verbindet die beiden Ortsteile Niederschö- neweide und Oberschöneweide, was sie trennt, ist die Spree. Der erste Eindruck: Schöneweide liegt am Rand der Stadt, weit im Süd- osten, weit außerhalb des S-Bahnrings. Atmo Also das ist die erste Etage, wir haben im Haus mittlerweile drei Etagen mit Ateliers. Zu der Zeit jetzt mittags sind noch nicht so viele Künstler da, das ist nicht so die klassische Arbeitszeit für die meisten bildenden Künstler. Autorin: Steffen Blunk hat schon mehrere Berufsetappen hinter sich. Zuerst Journalist, dann Inhaber eines Fitnessclubs, Unternehmensberater. Vor sechs Jahren begann er sein Studium der Malerei an der Berli- ner Kunstakademie. In seinen Arbeiten beschäftigt er sich gerne mit gesellschaftskritischen Themen. Krieg, Aggression, Tod und Ver- nichtung. Eine plakative Installation zeigt drei ausgelaugte Soldaten- körper in Latex an der Wand, daneben hängt ein Tropf. Das Feld der Ehre - was am Ende übrigbleibt, so der Titel. Doch ist Steffen Blunk nicht nur Künstler, sondern inzwischen auch Kunstfunktionär. Aus der Not geboren, sagt er. Als Blunk vor sieben Jahren nach Ber- lin zog, war es schon schwierig ein bezahlbares Atelier im Zentrum der Stadt zu finden. Also schaute er sich am Rand um, seine Frau machte ihn auf Oberschöneweide aufmerksam. O-Ton 22 Steffen Blunk: Ich wollte eigentlich gerne woanders hinziehen mit ihr, auch weil das mal ein Nazi-Bezirk war. Und dann hat sie zu mir ge- sagt, wenn Leute wie du nicht hierher kommen, dann überlasst ihr denen das Feld und das war für mich einer der Beweggrün- de hierherzukommen. Und dann habe ich natürlich schnell ge- merkt, dass es hier fantastische Möglichkeiten gibt mit Ateliers. Mit diesen Riesenräumen, mit dem Leerstand, den wir hier ha- ben. Autorin: Als Steffen Blunk sich für einen Raum in dem früheren Verwaltungs- gebäude der Transformatorenwerke Oberspree interessierte, sagte ihm der Vermieter, er vergebe nur noch ganze Etagen. Also gründe- te er die XTRO Ateliers und sucht sich seitdem seine Künstlerge- meinschaft selbst aus. O-Ton 23 Steffen Blunk: Mit denen ich gerne einen Kaffee trinke, mit denen ich gerne Quatsch oder abends mal weggehen kann, mit denen ich mich aber auch vor Bilder stellen kann und sagen kann, was ist daran gut, was ist daran schlecht. Und das ist ein Austausch, der uns heute auch ausmacht. Autorin: Das Konzept geht auf, fast alle Ateliers sind für 5 Euro netto pro Quadratmeter vermietet. Sein eigenes liegt im ersten Stock der alten Fabrik-Villa. Ein riesiger Raum, holzvertäfelt und mit einer imposan- ten Fensterfront. An den Rand gedrängt fühle er sich jedenfalls nicht, und so weit sei es bis Berlin-Mitte nun auch wieder nicht. Zwischen Spree und Wuhlheide - einem städtischen Waldgebiet - lasse es sich doch recht angenehm leben. Der Rand, ein Segen sozusagen. Doch wie lange? Was, wenn Immobilieninvestoren aus aller Welt weiter auf Expansionskurs sind? Steffen Blunk winkt ab, er glaubt, dass der Standort Oberschöneweide für die kommenden Jahre gesi- chert ist. O-Ton 24 Steffen Blunk: Wir haben hier natürlich diesen Industriestreifen, der ja eigent- lich auch erhalten bleiben soll als Denkmal, auch als Gewerbe- standort. Wo wir natürlich schon die Hoffnung haben, dass hier auch über Jahre hinweg Ateliers gesichert werden, als in einem Innenstadtbereich. Autorin: Thomas Niemeyer wünscht sie das ebenso. Der Leiter vom Regio- nalmanagement Berlin-Schöneweide hofft, dass der Bezirk Treptow- Köpenick endlich einen Masterplan für das Mischgebiet verabschie- det. Auf dem alten AEG-Produktionsstandort befinden sich auf knapp 70.000 Quadratmeter denkmalgeschützte Hallen und Ge- schossfabriken. Viele davon stehen leer. Kommen wie in den ver- gangen Jahren aber immer mehr Menschen nach Berlin, dann könn- ten eines Tages auch hier in der Umgebung schicke Lofts entstehen. Die Verdrängungsspirale würde sich einfach weiterdrehen. O-Ton 25 Thomas Niemeyer: Wir wollen wirklich versuchen, gemeinsam hier, Kunst nicht nur warm wohnen zu lassen, sondern das einfach als dauerhaften Faktor am Standort auch etablieren. Weil eine Mischung aus gewachsenem Wohnbezirk, Kunst und Kultur, Kreativwirtschaft, Hochschule, Studierenden und einem großen Areal, wo wir eher technologieorientierte Unternehmen angesiedelt haben. Das ist eine Mischung, die es in dieser Konzentration in Berlin sonst nirgendwo gibt. Und da darf es natürlich nicht sein, dass ir- gendwann ein Pfeiler wegbricht. Und deswegen muss man sich um jeden Pfeiler sehr sorgsam kümmern. Atmo Schritte über Kies-Asphalt Autorin: Zumindest haben die Kunst-Pfeiler jetzt Verstärkung bekommen. Der kanadische Rocksänger Bryan Adams hat auf dem Gelände zwei Gründerzeit-Fabrikhallen erworben. Rock me Oberschöneweide, ti- telte die Berliner Zeitung. Dass Adams sich hier eingekauft hat, ist wohl auch dem Ansiedlungsgeschick von Thomas Niemeyer zu ver- danken. Der 55-jährige wolle hier aber keine Rock-Sessions veran- stalten, erzählt der Regionalmanager. O-Ton 26 Thomas Niemeyer: Sondern eher als Fotograf und wird hier aller Voraussicht nach fünf bis sechs Ateliers für sich und Freunde einrichten, sowie auch einen öffentlich zugänglichen Teil. Der Bauantrag ist ein- gereicht, wird bearbeitet gerade und wir hoffen, dass es spätes- tens nächstes Jahr mit dem Spatenstich losgeht. MUSIK V "Don´t give up" Interpret: Chicane, Bryan Adams Komponist: Nicholas Bracegirelle, Brian Adams, Ray Hedges Label: SME Media, LC-Nr. 02604 Atmo Musik O-Ton 27 Tim Renner: Die Lobby der Kunst ist in Berlin verglichen zu anderen Städten sehr, sehr gut bestellt. Aber das große Problem ist, wenn es um Wissenschaft geht, wenn es um Ausbildung geht für unsere Kinder, dann hat man dort sehr, sehr harte Konkurrenten. Sprecher: Tim Renner - deutscher Musikproduzent, Journalist, Autor und seit einem Jahr Berliner Kultur-Staatssekretär. Atmo Musik Kreuzblende mit Atmo Spree, Möwen Autorin: Oberschöneweide - ein Stadtteil am Rand, aber eins mit Zukunft. Allerdings sieht der neu angelegte Stadtplatz direkt an der Spree noch ziemlich kahl und verlassen aus. Auch der akkurat ausgelegte Roll-Rasen scheint unberührt, die Steganlage unbenutzt. Dabei sind nur einen Steinwurf entfernt 9.000 Studierende an der Hochschule für Technik und Wirtschaft immatrikuliert. Und damit sie nach ihren Seminaren nicht gleich wieder Oberschöneweide verlassen und nach Kreuzberg oder Friedrichshain eilen, entsteht für sie derzeit ein schickes Apartmenthaus mit 160 Miniwohnungen an der Spree. Atmo Spree, Möwen Kreuzblende mit Musik Autorin: Auf der gegenüberliegenden Fluss-Seite liegt Niederschöneweide. Direkt am Ufer steht die weißgetünchte Hasselwerder Villa. Ein wun- derschönes Gründerzeitgebäude mit einem Holzgiebel und Türm- chen. Vor einhundert Jahren lebte dort das jüdische Fabrikanten- Ehepaar Lehmann. Die Familie besaß eine Plüschfabrik nicht weit von ihrer Villa entfernt. In den 20er Jahren engagierten sie sich für das kulturelle Leben im Bezirk, betrieben das Theater-Kino Elysium am Kaisersteg. Als die Nazis an die Macht kamen, beschlagnahmten sie die Villa und richteten in den Räumen ein Gesundheitsamt ein. Die Lehmanns blieben ihrer Heimat trotzdem treu - bis sie 1943 de- portiert wurden. Erst nach Theresienstadt, dann nach Ausschwitz. Das Ehepaar kehrte nicht von dort zurück. Atmo Ende Musik blenden mit Atmo reingehen in die Villa Autorin: Viel ist vom Lehmann-Erbe nicht übrig geblieben, nur die Villa gibt es noch. Jahrelang stand sie leer, Bezirk und Land hatten kein Interes- se an ihrer Liegenschaft, wollten sie höchstbietend verhökern. Bis eine internationale Künstlergemeinschaft vor knapp einem Jahr das Gebäude entdeckte und zum Leben wiedererweckte. Die Moving Poets. O-Ton 28 Till Schmidt-Rümpler: Na dann gucken wir erst mal ein bisschen rum... so wir haben gegenwärtig eine Ausstellung laufen, das ist von einer russi- schen Malerin, die in Berlin lebt. Im Nebenraum, also wir haben hier erst mal das ein bisschen umgebaut, dass es überhaupt nutzbar war für uns. Weil, das waren halt im Grunde Verwal- tungsräume und hier war eine Bücherei drin. Autorin: Mehrere zehntausend Euro haben die Moving Poets in die Villa in- vestiert. Sie haben die Böden neu verlegt, die Wände frisch verputzt. Die Bilder der russischen Malerin Oxana Mahnac kommen jetzt gut zur Geltung: kräftige Acrylfarben, Frauen in sinnlichen Posen, mit ausdruckstarken Augen und großen Mündern. Till Schmidt-Rümpler, Mitbegründer der Moving Poets, führt den Besucher in einen licht- durchfluteten Salon mit Blick auf die Spree. Wir nutzen ihn für Ver- anstaltungen, sagt der gelernte Balletttänzer und Choreograph. Es gibt einen Pianoflügel und eine Bühne für modernen Tanz, Jazz- Musik und Geschichten aus Schöneweide, Berlin und der Welt. O-Ton 29 Till Schmidt-Rümpler: Und da ging es vor allem darum, dass man verschiedene Kunstformen zu- sammenbringt, um gemeinsam miteinander Geschichten zu erzählen. Also wir sind wirklich Geschichtenerzähler. Autorin: Im vergangenen Jahr haben die Moving Poets einen internationalen Mimen-Workshop durchgeführt. Die Künstlergemeinschaft arbeitet in- terdisziplinär und altersübergreifend. Kinder- und Jugendprojekte gehö- ren genauso dazu wie das Arbeiten mit alten Menschen. In den USA wurde die Künstlergemeinschaft für eines ihrer Jugendprojekte ausge- zeichnet. Ähnlich anspruchsvolle Arbeit wollen sie nun in Niederschö- neweide leisten. Ein Bezirk, der vor allem durch seine Neo-Nazis stadt- bekannt wurde. Auch die Bezirksversammlung von Treptow-Köpenick unterstützte die Arbeit der Poeten. O-Ton 29 Till Schmidt-Rümpler: Und dann kam aber im letzten Moment das Studentenwerk. Die dachten dann halt, das ist ein tolles Objekt, das wir gebrauchen können für studentisches Wohnen umzubauen. Die Ironie des Ganzen ist, wir sind der studentischen Nutzung sehr positiv ge- genüber eingestellt, das sind ja überhaupt nicht unsere Feinde. Autorin: Nur als Bewohner sind sie es dann halt doch. Rainer Hölmer, Be- zirksstadtrat für Bauen und Stadtentwicklung, findet die Idee absurd, die Hasselwerder Villa in ein Studentenwohnheim umzuwandeln. Gerade mal 28 Wohneinheiten würden hier entstehen, sagt der SPD-Politiker. Doch in Berlin gilt Landesnutzung vor privater Nut- zung. O-Ton 30 Rainer Hölmer: Es ist sicherlich so, wenn das Studentenwerk sagen würde, wir wollen das Gebäude, wir wollen Studentenwohnungen etablie- ren in dem Gebäude, dann wird das so kommen, das ist in der Tat so. Man kann nur versuchen, mit dem Studentenwerk eine Lösung zu finden ohne Inanspruchnahme dieses Gebäudes. Das ist momentan der einzige Weg. Autorin: Auf der Suche nach Räumen treten in Berlin Minderheiten gegen Minderheiten an. Doch die größten Verlierer sind am Ende die Künstler, meint Till Schmidt-Rümpler. O-Ton Till 31 Schmidt-Rümpler: Jetzt sind wir hier, wie lange, wissen wir nicht. Wir haben eine dreimonatige Kündigungsfrist, was uns natürlich enorm ein- schränkt. Planungsmöglichkeiten - ist im Moment der Horror. Autorin: Auch Rainer Hölmer ärgert sich über diese Entwicklung. Die beson- dere Bedeutung, die Berlin weltweit genießt, die Attraktivität, die sie ausstrahlt, habe sehr viel mit der Künstlerszene zu tun, sagt der SPD-Mann. O-Ton 32 Rainer Hölmer: Und zwar nicht nur mit der Hochkultur, sondern insbesondere was man als Off oder Off-Off bezeichnen könnte. Und es ist ab- solut töricht, das jetzt mit den Füßen zu treten, sondern das muss man genau pflegen. Da muss man genau sehen, dass man diese Künstlerinnen und Künstler, das man die wirklich an Bord hält und denen einfach Rahmenbedingungen schafft, un- ter denen die eben auch weiter arbeiten können. Und da ist aus meiner Sicht das Land Berlin verdammt noch mal in der Pflicht, um das so deutlich zu sagen. MUSIK VI "Jazz Hands" Interpret+Komponist: Thea Gilmor Label: Fullfill LLc UK Limited, LC-Nr. 19552 Atmo Prenzlauer Promenade Autorin: Direkt an der Prenzlauer Promenade, einer hochfrequentierten Aus- fallstraße Richtung Norden, steht eines der größten Atelierhäuser von Berlin. Der Plattenbau beherbergte einst die Akademie der Wis- senschaften der DDR. Nach der Wiedervereinigung herrschte hier überwiegend Leerstand. Atmo in den Plattenbau reingehen ... Autorin: Bis vor mehr als fünfzehn Jahren die ersten Künstler in den inzwi- schen heruntergekommenen Plattenbau zogen. Im Moment arbeiten hier 80 Künstler auf sechs Etagen. Annedore Dietze und Jan Hagen Olbertz haben ihre Ateliers im fünften Stock. Atmo Aufzug Autorin: Der Bau wirkt alles andere als inspirierend. Die Decken sind mit bei- gebraunem Holzimitat vertäfelt, das rosafarbene Linoleum auf den Böden hat längst seinen Glanz verloren, an den Wänden Blüm- chentapete. Der klapprige Fahrstuhl bugsiert den Gast gemächlich in den fünften Stock und hält mit einem Hüpfer. Malte Hagen Olbertz wartet an der Tür. O-Ton 33 Malte Hagen Olbertz: Also im Moment sind wir noch Rand, und bald, wenn dahinten dieses Areal, ich glaube, das gehört der Bahn, noch entwickelt werden wird, dann ist das hier nicht mehr Rand (lacht) Autorin: Sein Atelier ist hell, geräumig und mollig-warm. Auf den weiß ver- putzten Wänden sind überall Farbsprenkel zu sehen. Er malt beson- dere, großflächige Stillleben in Öl: Menschliche Körperteile, die in das Mobiliar geschoben sind, schlafend, träumend, vielleicht auch tot. Vor sechs Jahren machten erste Gerüchte die Runde, erzählt der Künstler. Das Gebäude soll saniert werden. Mehr Miete kann und mag sich hier keiner leisten. Vor kurzem versprach dann Timm Renner, Kulturstaatsekretär von Berlin: Kein Atelier an der Prenzlau- er Promenade werde dichtgemacht, auch wenn in den Komplex demnächst Studierende einziehen. Der Grund: In Berlin gehört die Kultur seit wenigen Wochen offiziell zur Baukultur. Bei Liegen- schaftsfragen darf Renners Verwaltung künftig mitreden. Kultur auf Augenhöhe mit der Wissenschaft. Das klingt gut. Olbertz und seine Kollegin bleiben trotzdem misstrauisch. Fakt ist, jedes Jahr ver- schwinden mehr als 300 Ateliers aus der Stadt. O-Ton 34 Annedore Dietze: Also es sieht so lange schwarz aus, bis wir wissen, dass wir drin bleiben können. Für einen Preis, den wir bezahlen können. Also wir haben da ja auch bestimmte Grenzen, die uns gesetzt sind durch unseren Beruf eben, wir sind ja keine reichen Künst- ler. Autorin: In ihrem Atelier riecht es nach scharfen Lösungsmitteln. Sie habe Kinder, zuhause könne sie ihrer Arbeit auf jeden Fall nicht nachge- hen, sagt die Malerin. Mit Politikern habe sie bislang nicht die beste Erfahrung gemacht. Viele von ihnen denken, Kultur koste nur -. So wie der frühere Finanzsenator von Berlin. O-Ton 35 Annedore Dietze: Als Herr Nußbaum da war, hatte der ne völlig falsche Vorstel- lung vom Künstlerdasein. Wo wir hausen, ohne irgendwas be- zahlen zu wollen. Und ich habe ihm dann erklärt, wir haben alle eine Steuernummer, wir rechnen unsere Sachen ab, wir haben ein ganz normales Gewerbe und brauchen Räume, um eben un- seren Beruf auszuüben. Und wenn wir das verlieren, dann kön- nen wir unseren Beruf nicht mehr ausüben und kommen der Stadt dann auch wieder teuer zu stehen, weil viele von uns letzt- lich wirklich dann in Hartz IV rutschen. MUSIK VII "Heroes" Interpret: David Bowie Komponist: Brian Eno, David Bowie Label: Parlophon, LC-Nr. 00299 Atmo Musik O-Ton 36 Tim Renner: Wir haben nicht die Industrie und werden sie nie haben wie München oder Stuttgart. Wir werden nie die Bankenwirtschaft zurückbekommen von Frankfurt. Also was sollen wir denn an- deres tun? Ohne einen künstlerischen Gedanken, ohne einen sozialen Gedanken, ganz egoistisch für die Stadt gesprochen, muss es im Interesse der Stadt sein, Künstler hier zu halten. Sprecher: appelliert Tim Renner, Berliner Staatssekretär für Kultur. Atmo Menschenmenge Autorin: Im Gegensatz zu den anderen Sparten hat die Stadt für ihre bilden- den Künstler schon vor vielen Jahren das Berliner Atelierprogramm aufgelegt. Es soll immerhin einige bezahlbare Räume sichern. Im Portfolio sind 875 Ateliers. An diesem Morgen ist Besichtigungster- min in der Hagelberger Straße in Kreuzberg. Atmo Leute laufen Treppe hoch Autorin: Das Zwei-Zimmer-Atelier liegt in einem Hinterhaus. Mindestens 80 Bewerber drängeln durch den Treppenflur hinauf in den zweiten Stock. Oben angekommen werden sie von Birgit Nowack erwartet. Die 47-Jährige ist seit vielen Jahren für das Atelierprogramm zu- ständig. O-Ton 37 Birgit Nowack: Für alle, die noch einmal Informationen haben möchten, wie das Bewerbungsverfahren ist. Das sind Atelierflächen, die vom Land Berlin gefördert sind und speziell für professionelle bil- dende Künstlerinnen und Künstler gedacht sind. .... Autorin: Die Suchenden quetschen sich durch den Flur in das erste Zimmer. Der Raum ist knapp 40 Quadratmeter groß, hohe Wände, das Beste - die riesige Fensterfront Richtung Norden. Luisa Pohlmann ist be- geistert. O-Ton 38 Luisa Pohlmann: Ja das ist fantastisch. Es ist groß, viel Wandfläche, große Fens- ter, es kostet nicht viel. Es ist eine schöne Lage. Man ist nicht stundenlang unterwegs, um nach draußen zu fahren. Das ist ein wundervolles Atelier. Autorin: Die 28jährige muss in wenigen Wochen raus aus ihrem Atelier in Berlin-Moabit. Wegen einer Shopping-Mall, sagt sie und nimmt sich einen Bewerbungsbogen. Seit anderthalb Jahren arbeitet Luisa Pohlmann als freischaffende Künstlerin. Fünf Mal hat sie sich in die- ser Zeit bisher beim Atelierprogramm beworben. Fünf Mal eine Ab- sage kassiert. O-Ton 39 Luisa Pohlmann: Ja. es ist enorm. Ich habe das Gefühl, alle zwei Monate werden fünf Atelierplätze ausgeschrieben und zu jeder Besichtigung kommen 100 Leute. Das funktioniert nicht. Das ist ein nettes Angebot, aber halt nicht wirklich unterstützend. Autorin: Das nächste Atelier in Berlin-Mitte schaut sie sich deshalb gar nicht erst an. Atmo Musik Vernissage Autorin: Zwei Wochen später. Luisa Pohlmann und ihre Atelierkollegen ha- ben zur Vernissage nach Berlin-Moabit geladen. Auf den Einla- dungskarten steht "Mall of Berlin", daraus haben die Künstler mit ro- ten Pinselstrichen "Molloch of Berlin" formuliert. An den riesigen Wandflächen hängt auch ein Ölbild von Luisa Pohlmann. Das Porträt einer jungen Frau, Porzellanhaut, große schwarze Kulleraugen, aus denen eine Träne fließt. Man könnte die Veranstaltung auch Finis- sage nennen, denn allen Künstlern wurde gekündigt. Auf dem Ge- lände der ehemaligen Schultheiss-Brauerei soll ein neues Quartier entstehen. Herzstück wird ein Shopping-Center. O-Ton 40 Luisa Pohlmann: Es haben sich auch viele Anwohner beschwert darüber. Aber ich glaube, die Bevölkerung, die Menschen, die hier wohnen und leben, die werden dazu nicht wirklich befragt, was ihre Be- dürfnisse sind, die zählen nicht. Andere Leute entscheiden, die hier gar nicht wohnen, die hier gar nicht arbeiten. Die wahr- scheinlich selber da gar nicht einkaufen. Und trotzdem ent- scheiden die, wir bauen das jetzt. Und das ist halt so ein Punkt, wo man sich denkt, wer entscheidet eigentlich hier? Autorin: Die 28jährige zündet sich eine Zigarette an. Das Feuerzeug hat sie mit ihrer Kunst beklebt. Sie legt es in ihre Bewerbungsmappe mit der Notiz: Licht am Ende des Tunnels. Bislang hatte sie mit ihrer Idee noch keinen Erfolg. Auch jetzt kam wieder eine Absage. Zu viele Künstler versuchen derzeit, durch das Atelierprogramm der Stadt bezahlbaren Arbeitsraum zu finden. Auf eine Zusage kommen im Durchschnitt 50 Absagen. Ja, das ist frustrierend, sagt Luisa Pohl- mann, seufzt. O-Ton 41 Luisa Pohlmann: Jeden Monat muss ich mir überlegen, wie geht es weiter. Und nichts ist halt irgendwie sicher. Wenn weder Arbeitsplatz noch die Einnahmequelle klar ist, das ist generell schon ziemlich an- strengend, eine große Zusatzbelastung. Dafür sind wir Freigeis- ter. Autorin: An den Rand von Berlin will sie jedenfalls nicht ziehen, sagt sie. Dann schon lieber in eine andere Stadt. Kennmusik Deutschlandrundfahrt Sprecher vom Dienst: An den Rand gedrängt Die Freie Kunstszene in Berlin Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Susanne Arlt Ton: Martin Eichberg Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2015 Manuskript und das Audio zur Sendung finden Sie im Internet unter deutschlandradiokultur.de 2