COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandrundfahrt Der Spirit von Berlin Der Prenzlberg und die Start-ups Von Paul Stänner Sendung: 27. Juli 2013, 15.05 Uhr Sprecher: Tonio Arango Ton: Bernd Friebel Regie: Roswitha Graf Redaktion: Ulf Dammann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2013 Atmo Stadt, S-Bahnhof - darüber: Sprecher Eigentlich - so scheint es - klappt in der Hauptstadt kaum etwas: Der neue Flughafen schleppt sich einem ungewissen Eröffnungstermin entgegen. Der neue Hauptbahnhof muss sieben Jahre nach seiner Fertigstellung bereits mit 25 Millionen Euro saniert werden. Die S-Bahn ist störanfällig und hatte in den 20er Jahren bei weitem kürzere Taktzeiten als heute. Und dann stellte sich auch noch heraus, dass die Berliner Polizeihunde in den letzten Jahren zehn Mal so oft Polizisten bissen wie Straftäter. Die Hauptstadt kann also nicht Flughafen, sie kann nicht Bahnhof, sie kann nicht S-Bahn, aber hat sie dennoch den richtigen Biss? Oder, wie ihr Bürgermeister gern sagt: Ist sie dennoch sexy? Wir haben uns auf die Suche gemacht nach dem Besonderen der deutschen Hauptstadt, auf die Suche nach ihrem Spirit. Musik: Kennmusik Spr. v. Dienst Der Spirit von Berlin Der Prenzlberg und die Start-ups Eine Deutschlandrundfahrt von Paul Stänner Musik(überblenden in:) Atmo:Prenzlberg, Kinderspielplatz Sprecher Prenzlauer Berg - ein Berliner Stadtteil mit eigenem Flair und hoher Anziehungskraft. Ohne Anspruch auf statistische Korrektheit zu erheben, lebt hier vornehmlich - zumindest gefühlt - die junge bis mittlere Generation, die Bevölkerungsgruppe also, die nach der Ausbildung ihre Arbeitstätigkeit aufnimmt, eine Familie gründet und oft genug auch ein Unternehmen. Seit der Wende 1989 wurde die Bevölkerung des Bezirks Prenzlauer Berg fast komplett ausgetauscht. Von den Alteingessenen lebt kaum noch einer hier. Atmo: Geschäft, Fitzl berät Neukunden, frei, dann unterlegen Sprecher Im Bezirk Prenzlauer Berg, den man in Berlin meist Prenzlberg nennt, stehen in einem weißen, hellen Ladengeschäft mit großem Schaufenster eine junge Frau und ein junger Mann vor dem Tresen. Darauf sind Schmuck, Ohrringe und andere Accessoires ausgebreitet, die das Pärchen verkaufen will. Auf der anderen Seite des Tresens steht Andrea Fitzl und berät ihre Kunden. Sie ist die "Fachfrau". So steht es jedenfalls auf dem Ladenschild. Atmo: Gespräch, frei - dann darüber: Sprecher Die Einrichtung des Geschäfts besteht aus weißlackierten Schränken mit unterschiedlich großen Fächern. In einem Fach stehen dicht an dicht Schallplatten, daneben sehr bunte, blaustichige Kunstwerke mit fantasievollen Stadtansichten, in dem Fach darunter eine Sammlung von Gläsern und Pokalen. An jedem Fach ein Schild mit Preisen. Andrea Fitzl dürfte etwas über dreißig sein, sie hat die braunen Haare zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden, ist nicht allzu groß und schwanger. Damit wäre sie fast die Normfrau im Prenzlauer Berg, von dem es heißt, hier lebten besonders viele junge Familien mit vielen Kindern. O-Ton:Fitzl (lacht) Wahrscheinlich werd ich das bald sein, das stimmt, Schwangere und junge Mütter, junge Familien, hier im Bötzowkiez vor allem viele junge Familien, das stimmt, da reihe ich mich dann demnächst ein, ja. (lacht) Sprecher Genau genommen: Um das Prenzlauer Berg-Klischee ganz zu erfüllen, müsste Andrea Fitzl einen Mann haben, der sie ernährt, während sie mit anderen, so genannten Latte-Macchiatto-Müttern im Café sitzt, schnattert, während ein Au Pair- oder Kindermädchen auf die Kinder aufpasst. Danach sieht sie aber nicht aus. O-Ton:Fitzl Ich würde es gar nicht ohne aushalten. Ich werde auch viel im Laden sein und regelmäßig da sein, ich werde zwar natürlich nicht Vollzeit hier sein, aber ganz ohne könnt ich mir das nicht vorstellen. Sprecher Damit wären wir bei ihrem Laden mit dem Namen Fachfrau, dessen Geschäftszweck sich folgendermaßen erklärt: O-Ton Fitzl Das ist ein Laden der sogenannten Fächervermietung, d.h. man kann bei uns Fächer mieten, um dort seine Sachen zu verkaufen, entweder Selbstgemachtes, Selbsthergestelltes, Gebasteltes, all das, was kreative Köpfe herstellen oder sich einfallen lassen. Oder auch vintage, secondhand, nach dem ganz klassischen Flohmarktprinzip für Kunden, die nicht mehr in dem Alter sind, dass sie sich nicht den ganzen Tag auf den Flohmarkt stellen wollen oder die mit Internetverkauf nichts am Hut haben. Atmo Verkaufsgespräch mit Mietvertrag, Rechnung, Ware zählen usw. - darüber: Sprecher Wer Kleinhändler ist oder nicht so viel zu bieten hat, dass sich ein ganzer Laden lohnt, geht zur Untermiete in die Fachfrau. Die unteren Fächer werden meist von Kindern gemietet - unter Aufsicht ihrer Eltern, versteht sich. Dort geht es zurzeit sehr rosafarben zu. Darüber die Fächer für Jedermann: Schnallen und Knöpfe, eine alte Schreibmaschine, Ethnotassen aus dem letzten Urlaub. O-Ton Fitzl Wir haben das Rad nicht ganz neu erfunden; den Ursprung soll es angeblich, so wie ich es gehört habe, vor Jahren in den Niederlanden gegeben haben, da gab es erste showrooms zu mieten für Modedesigner, die sich einen showroom mieten konnten für eine oder zwei Wochen, um ihre Kollektion zu zeigen. Und so hat sich das wohl angeblich entwickelt und weitergetragen und ist dann irgendwann in Deutschland gelandet. Und die Idee hab ich aufgegriffen und hab hier meine ganz eigene Note reingebracht, d.h. wir haben hier vintage und secondhand, Kunst und kreativ und das ist genau die Mischung, die sich jetzt über eineinhalb Jahre durchgesetzt hat und sehr gut angenommen wird. Sprecher Andrea Fitzl stammt aus Mecklenburg, kam der Liebe wegen nach Berlin und ist geblieben. Sie ist gelernte Betriebswirtin und hat früher neun Jahre lang im Personalbereich einer Firma gearbeitet, bevor sie sich im November 2011 selbstständig machte. Sie hatte also eine gewisse Vorbildung, als sie ihren eigenen Laden aufmachte. Nach ungefähr sechs Monaten, sagt sie, wusste sie, dass ihre Idee in die richtige Richtung lief. O-Ton Fitzl Positiv denken. (lacht) Ich habe es immer gehofft und immer dran geglaubt. Man muss bei dem bleiben, so wie man sich das denkt und vorstellt und seine Linie reinbringen. Sprecher Inzwischen, nach etwas mehr als einem Jahr, ist die Fachfrau bereits so etwas wie eine eigene Marke geworden, auf jeden Fall im Prenzlauer Berg. Die regionale Anbindung war wichtig. O-Ton Fitzl Mir persönlich war es wichtig, dass es hier ist, weil ich die Ecke kenne, weil ich auch hier wohne und dann macht`s natürlich Sinn, im Zuge der Existenzgründung zu rechtfertigen, warum ein Ladengeschäft hier sein kann. Ich glaube auch nicht, dass es an jeder Ecke funktioniert, aber ich glaub, der Prenzlauer Berg ist ein gutes Zielpublikum auf jeden Fall... Sprecher Die Idee, einen Laden zu eröffnen, um leere Fächer zu vermieten, erscheint zunächst einmal gewöhnungsbedürftig, hat dann aber eine zündende Wirkung. OtonFitzl Wenn Kunden im Laden sind, die nicht aus Berlin sind und hier reinkommen und erst mal ihre Runde gehen und auf dem Rückweg aus dem hinteren Teil des Ladens hier wieder vorbei kommen und sagen: Ach jetzt hab´ ich das verstanden. Und dann kommt der typische Satz: Das ist so typisch, das kann´s nur in Berlin geben, und nur in Berlin funktionieren. (lacht) 1. Musik Titel: Aaron Interpret+Komponist: Paul Kalkbrenner BPitch Control, LC-Nr. 11753 Atmo:Straße, Auto kommt, wir gehen in Bäckerei - Sprecher Es ist früher Morgen, sehr früher Morgen. Mit einem kleinen Transporter kommt Vesta Heyn vor einer Bäckerei vorgefahren. Sie packt Transportkästen aus und betritt die Bäckerei. Knappe Grüße werden mit den Verkäufern der Bäckerei ausgetauscht, die auch noch nicht richtig wach sind, dann packt Vesta Heyn die Brote ein, die für sie beiseite gelegt wurden. Die Biobäckerei ist ausgezeichnet und hat einen hervorragenden Ruf. O-Ton Vesta Das ist auch mein Konzept. Mein Konzept lautet: Gutes Brot vom Vortag, das ist ein himmelweiter Unterschied. Wenn du Sachen vom Vortag verkaufst und die taugen nichts, dann wird das nicht funktionieren. Wenn du hingegen hochwertige Ware vom Vortag verkaufst, dann wird das sehr wohl funktionieren, weil der Kunde realisiert, dass das Brot am zweiten Tag durchaus noch total in Ordnung ist. Atmo:bis Verlassen der Bäckerei Sprecher Vesta Heyn ist auf ihrer morgendlichen Runde. Seit fünf Uhr ist sie unterwegs, fährt ausgewählte Bäckereien an und holt die übrig gebliebenen Backwaren des Vortages ab. Diese Produkte stellt sie dann im Prenzlauer Berg in ihrem kleinen Laden in die Regale. Dreizehn Jahre lang macht sie das nun schon, seit dem vergangenen Jahr ist ein zweiter Laden hinzugekommen. Das Geschäft nennt sich im beliebten Denglisch: "Second Bäck". Woher kommt die Idee? O-Ton Vesta (Atmo vorweg) Eigentlich aus Tübingen. Ich weiß von zwei Leuten in Tübingen, dass die das machen und ich hab mir das von dort abgeguckt und bin davon inspiriert worden. Diese Idee gibt's schon mehrfach in Deutschland, allerdings weiß ich nicht, was die anderen Vortagsbrotverkäufer für eine Logistik haben und ob die mit meiner vergleichbar ist, das kann ich nicht sagen. Sprecher Im Grunde ist das Prinzip, dem wir an diesem frühen Morgen quer durch eine noch verschlafene Stadt folgen, simpel. In Deutschland wird zu viel produziert. Der Kunde in der Bäckerei will noch am Nachmittag frisches Brot und verlangt vom Bäcker, dass er einen Vorrat bereithält. Dieser Vorrat vom Nachmittag ist am Abend "alt", am nächsten Tag erwartet der Kunde "frisches" Brot. Durch dieses Verhalten entsteht hoher Überschuss. Was haben die Bäcker von Vestas Geschäftsidee? Sie könnten die alte Ware doch auch entsorgen. O-Ton:Vesta(im Wagen) Na, die bekommen Geld und die bekommen ein gutes Gefühl, weil sie es nicht wegtun müssen und weil sie genau wissen, dass, wenn ich es zu mir in den Laden bringe, dass ich versuche, es noch mal zu verkaufen, also ich versuch´s nicht, sondern ich geb den Broten sozusagen noch mal eine Chance, in dem ich sie in das Regal stelle oder lege und zum Verkauf anbiete. Ich glaube, dass das gute Gefühl eine wirklich wichtige Rolle spielt neben dem Geld für die Bäcker. Sprecher Vesta - der Vorname stammt von der römischen Göttin, die die Hüterin des Feuers ist - stammt aus Leipzig, hat dunkelbraune Haare, ist nicht übertrieben groß, aber sehr zügig zur Hand mit ihren Brotkörben. Eigentlich hat sie klassische Musik studiert, dann aber ein Problem mit dem Daumen bekommen und das war das Aus für eine Zukunft an den Instrumenten. Anschließend hat sie im Theater als Musikerin und Schauspielerin gearbeitet, hat noch einmal studiert, Sozialarbeit, und in diesem Beruf auch gearbeitet. Es ging nicht. O-Ton:Vesta(im Wagen) Klassische Situation: arbeitslos, wider Willen, das Leben lag trotzdem immer noch vor mir und ich hab gedacht, jetzt mach ich mal mein eigenes Ding. Ursprünglich wollt ich mal Suppen verkaufen, das fand ich eine gute Idee, das kam damals gerade so auf, diese Suppenbars aus New York, und dann hab ich mich einfach umgeschaut und orientiert und dann bin ich auf die Idee gestoßen. Vom ersten Moment an fand ich das reizvoll, vom ersten Moment hat mich das gereizt. Sprecher Die Idee ist der Ausgangspunkt, dann braucht es aber Geld für die Anlaufphase. O-Ton:Vesta Also, ich hatte am Anfang gute Unterstützung, weil ich hatte das sogenannte Existenzüberbrückungsgeld. Das hat mir geholfen, das hab ich ein halbes Jahr gekriegt, das war eine Riesenhilfe und als das halbe Jahr vorbei war, konnte ich schon, zwar sehr low level, aber ich konnte schon davon leben, das hat ziemlich schnell geklappt. Atmo: aussteigen und Tür zu. Sprecher Der Rest war harte Arbeit, zum Teil 16 Stunden am Tag. Atmo: Helmholtzplatz - darüber: Sprecher Vesta Heyns Geschäft im Prenzlauer Berg liegt am schicken Helmholtzplatz. In der Mitte ein Spielplatz und eine kleine Liegewiese, die Häuser sind frisch saniert, die Erdgeschosse mit Cafes und kleinen, zum Teil sehr noblen Läden besetzt. O-Ton:Vesta Zu mir kommen alle, die rundum wohnen, da würd ich überhaupt gar keine Einschränkungen machen, ob das ein Rentner ist, Studenten sind, ob das Nachbarn von nebenan, ob die jetzt viel Geld haben oder ein bisschen weniger in der Tasche. Ich denke mal, die Motivation ist eigentlich immer so ne Mischung aus: Finden die Idee gut, unterstützen das auch von der Philosophie her und freuen sich selbstverständlich, dass sie Geld sparen können. Sprecher Der Second Bäck-Laden ist ein schmaler Schlauch, kaum breiter als die Ladentür. Links sind hohe Tische für Kaffeetrinker aufgestellt, an der Wand ein Möbel, das eher Stehhilfe als Sitzbank ist, im Hintergrund der Tresen und das Regal für die Backwaren. Von der anderen Straßenseite kommt Vesta Heyns Freundherüber, ein großer Mann mit mächtigem Brustkasten. Auf seinem schwarzen T-Shirt steht "the Maultaschenman". Man erkennt den Schwaben, noch bevor er etwas sagt. O-Ton:Stelzer Ich bin nach Berlin gekommen, weil ich in Süddeutschland selbständig war und neue Perspektiven suchte und weil Berlin die größte schwäbische Stadt in Deutschland ist. Sprecher Jürgen Stelzer gehört als Schwabe zu einer gefährdeten Spezies. Schwaben sind am Prenzlauer Berg verrufen, seit sich der ehemalige Bundestagspräsident und einer der letzten Ur-Prenzlberger, Wolfgang Thierse, in seiner Rolle als Populist darüber erregt hat, dass er überall im Kiez schwäbisch höre und beim Bäcker kaum noch Berliner Schrippen kaufen könne. Seitdem gilt der Schwabe als Synonym für Gentrifizierung, steigende Mieten und dicke Autos. Stelzer, der Koch und wirklich ein Maultaschenmann ist, versteht die Kleingeistigkeit nicht: O-Ton:Stelzer Es ist doch egal, ob ich ein Weckle oder Semmel oder ein Brötchen bestelle - Hauptsache es schmeckt, und das müsste Thierse vielleicht einmal lernen. Sollt mal vielleicht mal mit´nem Schwaben reden. Sprecher Bei aller Offenheit - auch das gehört zu Berlin: Eine gewisse Bräsigkeit der Alteingesessenen. Wer als erster da war, schaut misstrauisch auf die Nachzügler. Kreativszene hin oder her: Wie in einem Dorf zählen Stallgeruch und der richtige Dialekt. Mit Vesta Heyn sind wir für später noch einmal verabredet. 2. Musik Titel: Young Folks Interpret: Peter, Bjorn und John Komponist: Peter Moren, Bjorn Yttling WEA International, LC-Nr. 04281 Atmo:Aufbau für Electic Swing darüber: Sprecher Szenenwechsel - Zeitsprung. Vom ehemaligen Ost- nach West- Berlin, nach Kreuzberg. Zurück in den April 2013. Der "Festsaal Kreuzberg" am Kottbusser Tor ist der Rest eines einst großen Hauses. Vermutlich durch Kriegseinwirkungen ist das Vorderhaus zerstört worden. Vom Hinterhaus steht nur noch das Erdgeschoss, das alte Ballhaus. Es hat einen Parkettfußboden, eine Bühne und einen Tresen an der gegenüberliegenden Wand, auf halber Höhe zieht sich eine Empore um die Tanzfläche. Im "Festsaal Kreuzberg" werden Licht- und Tonanlage aufgebaut, weil Martin Heuser eine Party gibt. O-Ton:Heuser Ich bin noch aus der Generation, die Zivildienst machen durfte, musste, und hab dann nach dem Zivildienst eine Reise gemacht, während ich auf meinen Studienplatz gewartet hab. Und nach der halbjährigen Weltreise bin ich nach Aachen gegangen, um da Architektur zu studieren. Und hab das auch ein paar Semester gemacht, aber es hat aus verschiedenen Gründen für mich nicht so gepasst, weder mit der Stadt noch mit dem Studium. Und dann hat es mich mit einer gewissen Sehnsucht nach Berlin gezogen. Sprecher Der gebürtige Kölner Martin Heuser lebt in einer kleinen Einzimmerwohnung in der Nähe des "Festsaals Kreuzberg". Die Küche ist so klein, dass sie auf ein Segelboot passen würde. Aber immerhin, sie steht in Berlin. O-Ton:Heuser Als ich gar nicht mehr wusste, was ich machen will, hab ich gedacht, dann fang ich wenigstens damit an, dass ich mir aktiv aussuche, wo ich sein möchte. Und da war Berlin für mich der einzige Ort, wo ich wirklich leben wollte. Sprecher Wie in Aachen wurde es auch in Berlin nichts mit dem Studium, aber es eröffneten sich neue Perspektiven. Atmo:Soundcheck, die Band probt Sprecher Im Festsaal sind die Aufbauarbeiten einigermaßen fortgeschritten. Die Band, die den Höhepunkt des Abends bildet, macht ihren Soundcheck. O-Ton:Heuser Ich hatte mit zwei Freunden die Idee. eine Bar aufzumachen. Das war ne fixe Idee, wir hatten uns die Bar-Landschaft angeguckt und bei uns selbst Zeit und Interesse festgestellt, hatten den Wunsch, Kunst und Barkultur zu vereinen. Von Lesungen über kleine Bandshows, weiß ich nicht, was man alles einbringen kann, da gab`s für uns erst mal keine Grenzen. Ja da wir gesagt haben, wir wollen keine Kredite aufnehmen dafür, haben wir gesagt, dann wollen wir Geld dafür verdienen. Haben eine Party gemacht, die als Soli-Party funktionieren sollte, sprich, der Eintritt war klar deklariert, um Geld für dieses Projekt zu sammeln. Und das hat super geklappt. Sprecher Martin Heuser vermutet, dass viele nicht nur gekommen sind, um gute Musik zu hören, sondern auch, um ihr Geld nicht irgendeinem Groß-Club in den Rachen zu werfen. Nun ist der 29-jährige auf dem Weg, selbst ein Groß-Club-Unternehmer zu werden. Die Soli-Party lief unter dem Motto "Huldigung der Künste". O-Ton:Heuser Das war der gewunschene Name für die Bar, das war dann auch die Partyreihe, und ja, die Huldigung der Künste ist im Endeffekt dies Sinnbild gewesen. "Huldigung der Künste" ist der Name eines Dramas von Schiller und in diesem kurzen Stück geht es halt darum, dass schönes Leben und Kunst auch nur dann funktioniert, wenn sie interaktiv ist. Sprecher Ein Unternehmen braucht eine Philosophie - hier war es die "Huldigung der Künste", weil an solch einem Partyabend nicht nur eine Kunst, sondern mehrere zusammen kommen: Musik, Tanz, Show, Garderobe oder Maskerade, je nachdem, wie man es sieht. Atmo: "Danke schön", der Song Sprecher Allmählich schwingt sich die Musik in den Abend ein. Am Tresen sind die Kästen verstaut, der Tontechniker an seinem Mischpult hat die Ohrstöpsel bereitgelegt, ist aber noch ganz entspannt, denn noch fährt er Musik aus der Konserve. Martin Heuser, schmächtig und mit szenetypischer Pudelmütze, erzählt davon, dass die Freunde sich an einem bestimmten Punkt entscheiden mussten, ob sie eine gemeinsame Vision teilen. O-Ton:Heuser Gerade wenn man über Kunst redet, über schöne Dinge, die einem viel wert sind, wo auch viel Ideologie drin ist, dann ist auch das Risiko da, dass man verschiedene Meinungen entwickelt. Und in dem Dialog über Kunst, über Partywesen, über die Möglichkeit, die Notwendigkeit sich einem Markt zustellen oder an einem Markt zu orientieren, haben wir uns im Team so ein bisschen verworfen, wir haben festgestellt, dass wir nicht an einem Strang ziehen. Sprecher Der Markt sah so aus, dass die Idee mit der Bar begraben wurde, dafür aber das Party- und Event-Geschäft wuchs. Mit erstaunlichen Folgen: Ein Event auf dem stillgelegten Flughafen Tempelhof geriet glücklich aus den Fugen. Plötzlich standen etliche tausend Menschen vor der Bühne, die sich gegenseitig heran telefoniert hatten. Die Macher fühlten sich kurzfristig überfordert, aber alles ging gut, weil die Polizei geraten hatte, nur einfach weiter Musik zu spielen. Atmo: Swingunterricht , Musik mit Anfeuerungen der Tanzlehrers - darüber: Heute Abend geht es kleiner zu. Im Festsaal Kreuzberg unterrichtet ein Pärchen ca. 60 Personen in der Kunst des Swing-Tanzens. O-Ton:Heuser Heute Abend ist für uns eine Clubveranstaltung, der Electro-Swing- Club. Das ist seit zweieinhalb Jahren ein Format, was wir fahren, was dieser Wechsel von Swing zur elektronischen Musik eben mit sich bringt. Was wir haben, ist eigentlich ein sehr freundliches Scenario, was mit einer Tanzstunde beginnt, wo die Leute an Swing-Musik herangeführt werden. Und wir begleiten die Leute durch den Abend und werden zunehmend elektronischer. Atmo: hochziehen, dann wieder unterlegen Sprecher Es hatte unbedingt Berlin sein müssen für Martin Heuser - aber warum? O-Ton:Heuser Ich glaube, in Berlin kann man mit Motivation sehr viel erreichen. Die Leute verlangen von dir nicht, dass du der Beste darin bist, sondern die verlangen, dass du es machst. Und somit kommt man hier leichter in den Dialog rein, man kann Dinge präsentieren, die auch unfertig sind und einfach sagen, ich möchte das, ich hab die Vision, dass das klappt. Und Leute sind neugierig nach eben diesen Visionen und das ist glaub ich wertvoll. Und es ist auch belebend, dass jemand mit einer Idee rauskommen darf, die noch nicht zu 100% wasserdicht ist. Atmo: Techno-Band- darüber: Sprecher Es ist ein Uhr in der Nacht. Der Tontechniker hat sich den Lärmschutz in die Ohren gedrückt. Erst hat die DJane unter den Swing massive Bässe geschoben, dann ging dem Swing die Luft aus, aber die Bässe sind geblieben. Der Luftdruck der Lautsprecher lässt - wenn man still steht - im Bass-Rhythmus die Hosenbeine flattern. Etliche hundert Besucher stehen nicht still. Manche der Herren tragen Fliege, Hosenträger und drollige Hütchen, manche Damen Pailletten. Auf der Bühne arbeitet die Band, auf der Empore schminken Kosmetikerinnen die Gäste. Vor dem Festsaal wirbeln Jongleure mit Fackeln. O-Ton: Heuser Der Weg vom Student zum Geschäftsführer war bei mir sehr drastisch. An der Stelle habe ich einfach das Studium verkümmern lassen und gemerkt, dass ich da mehr lerne und mir die ganze Zeit Dinge beibringe, und wir da einfach bemerkt haben, das bewegt sich rasant schnell. Und das war sehr faszinierend auch da. Ich war mein eigener Azubi und mein eigener Chef, ich war alles zugleich und da war dann auch nicht mehr viel gedanklicher Spielraum. Musik Techno-Band frei, Sprecher So war es bis Ende Juli 2013, als der Festsaal in Flammen aufging und ausbrannte. Zum Glück war das Gebäude leer. Atmo dann rasant überblenden in Atmo/Oton O-Ton: Komm Vor mir liegt das kleine Mini-DJ-Mischpult, angeschlossen ist auf der linken Seite ein Laptop und auf der rechten Seite ein kleiner iPod. Im Moment läuft der Laptop, den hören wir jetzt gerade und jetzt kann ich ... Ich versuche mal gerade, die Bässe reindrehen und wieder rausdrehen, rein - raus ... den Überblender, vom Laptop überblende ich jetzt zum iPod... vorhören..." (präsentiert das Mischpult, verschiedene Funktionen, vor allem Mischung aus zwei Quellen) wegblenden, wenn es reicht. Sprecher Im Prenzlauer Berg steht Christian Komm, gebürtig aus Oberschwaben, am Tresen dessen, was er seinen flagstore nennt. Der Laden ist so groß wie eine Wohnküche und so spartanisch wie trendy eingerichtet. Komm führt ein kleines Mischpult für iPods vor. Es ist zigarettenschachtelgroß und mit sieben Drehknöpfen und einem Schieberegler bestückt. Komm, schmaler Bart um Mund und Kinn, asymmetrische Frisur, blaues T-Shirt, erläutert die Möglichkeiten des Geräts. Atmo:wegblenden mit Reißblende O-Ton: Komm Wie kam ich auf die Idee? Ich war im Auto unterwegs von Berlin nach Amsterdam und hatte über die Mitfahrzentrale drei Leute dabei und hatte das ganz gern, wenn die Leute ihren iPod einstecken, um fremde Musik zu hören, weil ich selber auch DJ war zu der Zeit. Und auf dieser Fahrt von Berlin nach Amsterdam haben sich auf einmal drei Leute in meinem Auto darum gezankt, wer denn nun sein iPod in mein Autoradio stecken darf. Und in dem Augenblick dachte ich mir, dass es doch perfekt wäre, wenn man jetzt ein kleines Mini-DJ- Mischpult hätte...(Telefon klingelt). Sprecher Die Notwendigkeit lag offen zutage - ein iPod ist nicht genug, nicht mal im Auto. Ohne Mischen kein Vergnügen. Das Gerät dazu gab es noch nicht, also musste es erfunden werden. Christian Komm ist Radio- und Fernsehtechniker und gelernter Tontechniker. Außerdem hat er Betriebswirtschaft studiert und als Eventmanager gearbeitet. Er hatte also alle Voraussetzungen, um der Unterhaltungsindustrie zu einem neuen Gimmick zu verhelfen. Es begann die sogenannte "Garagenphase". O-Ton: Thomalla Christian und ich sind ja befreundet, wir haben uns in der Agentur kennengelernt... Sprecher Robert Thomalla, geschätzte 30 plus, schwarze Nerdbrille, weißes T- Shirt, wenig Haare. O-Ton: Thomalla ... und eines Tages hat er mir gesagt, er würde gern ein Mischpult bauen, ein einfaches Mischpult, und - ich habe es aber nicht verstanden. Es gibt doch Mischpulte. Konnt ich mir überhaupt nicht vorstellen, bis er mir den ersten Bausatzkasten auf den Tisch gelegt hat, und dann hab ich es verstanden und hab dann gleich einen gekauft. Sprecher Thomalla ist der zweite Mann eines Unternehmens, das Pokketmixer heißt. Pokket mit zwei "k". Während Robert Thomalla noch in einer Agentur fest angestellt war, experimentierte Christian Komm mit dem Taschenmischpult herum. Wichtig war, dass das Gerät ohne eigene Stromversorgung laufen sollte, woraus sich viele Probleme ergaben. Doch schließlich stand der Prototyp und die beiden mieteten eine kleine Fabrik am Rande der Stadt an, wo die ersten Pokketmixer in Handarbeit hergestellt wurden. Es gab ein Gründerdarlehen, die Hausbank wurde überzeugt, die Firma ging auf den Markt. O-Ton: Thomalla Bei mir ergab sich das durch die Chance. Ich hatte das gar nicht vorgehabt, ich hab nur gesehen, dass Christan Hilfe benötigt. Es war aber so oder sah so aus, dass es aufwärts geht und dann hab ich das alles abgewogen und mich dazu entschieden, meine Festanstellung aufzugeben und das Risiko einzugehen, selbstständig zu sein und einzusteigen. O-Ton: Komm Berlin ist aber auch wichtig im Zusammenhang mit dem Vermarkten des Produkts. Berlin ist ja nun eine Partystadt und wir haben ein Partyprodukt, das kommt aus einer Partystadt. Die ganze Welt kommt ja nach Berlin, um zu feiern und hier in den bekanntesten Clubs gute Laune zu haben und so weiter. Deswegen kommen ja viele junge Leute, um hier zu feiern und jetzt haben wir ein Produkt, das ist "Made in Berlin". Und das ist auch wichtig für uns, dass wir hier eine Basis haben, das Produkt in die ganze Welt zu bringen. Sprecher Deutschland - und vor allem Berlin - ist ein wichtiger Einstiegsmarkt, wo viele Besucher einen Pokketmixer als Berlin-Souvenir mit nach Hause in die Provinz nehmen, wo noch keiner so was hat. Zukünftig scheint aber vor allem der US-Markt interessant; der Pokketmixer liegt schon im Guggenheim Museum in New York und im "museum of contemporary art" in Chicago. Wichtiger noch: Er wurde auf Messen in New York und Las Vegas vorgestellt. Atmo: Mischungsvorgang einblenden, am Ende 30 sec Musik frei, dann in eine Musik überblenden, die ganz anders sein muss (Gitarre, Flöte - so etwas) Sprecher In Berlin, wo gern alles, was in der Stadt geschieht, als großartig gefeiert wird, hat sich mittlerweile eine eigene Start-up-Kultur etabliert. Die Stadt hat kaum noch Industrie, ist auf den Handel und das Dienstleistungsgewerbe angewiesen und hofft darauf, dass im Umfeld der vier Universitäten und zwölf Hochschulen und von zugewanderten jungen Erwachsenen neue Unternehmen gegründet werden - Start-ups. Neue Ideen braucht die Stadt und sie fördert sie auch. Es gibt Seminare, Tagungen, und vor kurzem sogar ein internationales Gipfeltreffer der Gründerszene. Vor allem Politiker im Wahlkampfmodus zeigen ihr Interesse. Es könnte sein, dass die Stadt, die früher einmal der größte Industriestandort Deutschlands war, sich neu erfindet. Atmo: (einblenden) Festatmo , daraus Atmo einer Ansprache auf dem Holzmarkt-Gelände: "Herzlich willkommen zum Spatenstich des Holzmarktes. (Jubel) Wir haben es geschafft! Wahnsinn, unglaublich, danke an uns alle! Danke, dass wir Spielwiese mit Natur in der Stadt..." (Atmo herunterblenden, wenn es reicht...) Sprecher Ein leeres Grundstück an der Spree in der Mitte Berlins, knapp südlich des Prenzlauer Bergs - das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Auf dem überhitzten Berliner Immobilienmarkt gab es tatsächlich noch ein leeres Grundstück an der Spree. Vier oder fünf Bühnen stehen hier, Lärm von allen Seiten. Die Hälfte des Grundstücks besteht aus einer Sandfläche. Als am späten Nachmittag Tausende von Besuchern über die Fläche strömen, hängen schwere Staubwolken in der Luft. Das Spreeufer ist dicht besetzt mit Leuten, die rauchen und trinken und schauen. Dicht an dicht schieben sich die Massen über ein Gelände, auf dem es nichts zu sehen gibt außer dem Versprechen, dass hier einmal etwas entstehen wird. In Berlin reicht das für eine große Party. Atmo: "Bitten wir als Vertreter der Stiftung Abendrot Hans Ulrich Staufer auf die Bühne. (Applaus) Guten Tag miteinander. Ich sag mal guten Tag, ich war in einem kleinen Restaurant, da hieß es ‚Frühstück bis 18.00 Uhr', also, noch nicht Guten Abend! Sondern Guten Tag! Was ist die Stiftung Abendroth, werden Sie sich fragen. Nun, wir sind eine Pensionskasse, ein Rentenfond. Nun werden Sie sich fragen, was um alles in der Welt bringt eine Schweizerische Pensionskasse dazu, Geld in Berlin zu investieren. Um es gleich zu sagen, es ist kein Rückfluss von Schwarzgeld..." Atmo: (abblenden, wenn es reicht) Sprecher Gegenüber dem Gelände, auf dem noch nichts ist, steht aus dunkelroten Klinkern ein altes Fabrikgebäude: "KaterHolzig", eine Lokalität mit besonderem Flair, besonderer Architektur und einer Vielzahl von Veranstaltungen. Bis die Gäste sich zum Restaurant hochgearbeitet haben, sind sie durch viel Bauruine gelaufen, über einen sandigen Innenhof, vorbei an vollgesprayten Wänden und dunklen Ecken wie man sie aus Zombie-Filmen kennt. Das Essen soll hervorragend sein. O-Ton: Steinhauser Ich bin kein Berliner, ich bin Andreas Steinhauser, alle sagen Steini. Ich komme ursprünglich aus der Nähe von Frankfurt/Main, darum weiß ich, wie Städte sein können, wenn sie nicht so sind wie Berlin. Drum bin ich auch hier. Ich bin so einer aus der IT-, Computer-, Start-up-Welt. Seit 25 Jahren Chaos Computer Club und immer damit beschäftigt, quer zu denken, wenn es um solche Themen geht Sprecher In einem Besprechungsraum zweiter Güte im KaterHolzig sitzt Andreas Steinhauser, glatt rasiert, Stoppelhaare, ausgebauchtes T- Shirt. Gegenüber wird gebaut, man kann den Grundriss eines wenig originellen Renditeobjekts erahnen. Andreas Steinhauser kennt die Macher des KaterHolzig seit Jahren. Das besondere Lokal geht seinem Ende entgegen, die Bauruine ist nicht nur Inszenierung, sie ist wirklich eine Ruine. Nun soll etwas Neues entstehen. Das Gelände gegenüber, das am 1.Mai 2013 so triumphal eingefeiert wurde, gehörte früher der Berliner Stadtreinigung BSR. Die hat es verkauft. O-Ton: Steinhauser Die BSR verkauft das Gelände, warum kaufen wir es nicht? Nun ist das Gelände im Zentrum der Stadt, da kann man sich vorstellen, das kostet ein bisschen was, auch in einer Versteigerung, in einem Bieterverfahren, und darum mussten wir und wollten wir Konzepte entwickeln, die eher bleibend sind. Bisher war der Charakter ja immer: Ja, da bauen wir mal und schau'n, was draus wird. Und jetzt geht es darum schon, etwas Bleibendes zu schaffen, aber mit dem gleichen Spirit ranzugehen. Und daraus entwickelte sich das Holzmarktprojekt - weil es die Holzmarktstraße ist, daher der Name -das bezieht weit mehr mit ein als Club, Restaurant, Bar und Spa, da geht es um ein komplettes kleines Dorf für Künstler, Musiker, aber auch Kleinstgewerbetreibende, für Menschen, die sonst in dieser Stadt keinen Platz mehr hätten, weil man die Mieten nicht zahlen kann oder weil sonst alles von Ketten überschwemmt wird. Sprecher Man könnte meinen, dass die zukunftsorientierte Entwicklung einer Stadtbrache eigentlich eine kommunale Aufgabe wäre, aber das arme Berlin neigt dazu, was immer es noch hat, zu Geld zu machen. Das Bieterverfahren war schon in Gang gesetzt und konnte nicht mehr gestoppt werden, also mussten die Initiatoren sich mit Immobilienhaien messen. Das Areal an der Holzmarktstraße, sicherlich eine Premiumlage, musste zum teuersten Preis ersteigert werden. Von einem Schweizer Pensionsfond. Das ist dann wieder das Erstaunliche an Berlin, dass solche Leute zusammen kommen. Dass ein grundsolider Schweizer Fond, der Renten verwaltet, überhaupt mit Leuten aus einer Bauruine redet - man Könnte vermuten, in anderen Städten wäre das nicht gegangen. Allerdings: O-Ton: Steinhauser Dieser Schweizer Rentenfond ist nicht das, was man sich vorstellt. Die Stiftung Abendroth ist hervorgegangen aus der Schweizer Anti- AKW-Bewegung, in der die Aktivisten keine Lust mehr hatten, genau in die Objekte zu investieren, gegen die sie kämpfen, nämlich die Atomkraftwerke. In der Schweiz ist es möglich, so einen privaten Pensionsfond zu gründen. Das haben die dann gemacht und haben sehr schnell Gleichgesinnte dazu überzeugen können, haben mittlerweile über 10 000 Mitglieder und verwalten etwas über eine Milliarde Schweizer Franken und investieren ausschließlich in kulturelle, ökologische und soziale Projekte, die Nachhaltigkeitsanspruch haben... Sprecher Der Fond hat der Holzmarktgenossenschaft, die das Gelände erschließen und betreiben wird, das Areal in Erbpacht überlassen. Hier sollen - von Osten nach Westen - ein Hotel und andere Unterkünfte für zeitliches Wohnen entstehen. Dann folgt am Ufer ein Restaurant, das architektonisch so gestaltet wird, dass der öffentliche Uferweg nicht unterbrochen wird. Dann folgen ein Park und weitere Anlagen zur kulturellen Nutzung. Dem schließt sich ein Dorf als Wohn- und Lebensbereich an, und natürlich darf ein Club nicht fehlen, nicht in Berlin. Eng verwoben mit dem Projekt Holzmarkt ist das Gründerzentrum "Eckwerk" auf der anderen Seite der S-Bahn. O-Ton: Steinhauser Das Eckwerk ist eine Mischung aus studentischem akademischem Leben, ich sag immer: Nerd-living in Kombination mit Mehrgenerationengewerbe. Also junge, aber auch etablierte erwachsene Unternehmen, die gemeinsam mit den Studenten, mit den Menschen dort forschen und leben wollen an der Lösung, die unsere Zukunft für uns bereithält. Themenorientiert, die unseren Anspruch widerspiegelt. Nachhaltigkeit, ökologischen Umgang, damit meinen wir nicht, es macht die Umwelt etwas langsamer kaputt als andere, sondern tatsächlich im Sinne des Wortes, was hilft und beiträgt, die Welt etwas besser zu machen und nicht weniger schnell schlechter. Sprecher Die Holzmarktgenossenschaft will ein Zentrum sein für beständige Erneuerung. Nicht einfach ein Start-up. Start-ups ab einer gewissen Größe und Komplexität müssen viel Geld akquirieren und dafür hohe Renditen versprechen. So ein Start-up ist erfolgreich, wenn es Summen einspielt, die Investoren und natürlich auch die Starter selbst glücklich machen. Die Holzmarktgenossenschaft denkt an einen anderen Aufbruch, der auch die geplagten Berliner erfreuen wird, denen bei Großprojekten meist Übles schwant. O-Ton: Steinhauser Die Stadt steht nicht am Ende, sondern steht am Anfang einer neuen Zukunft im Umgang mit Ressourcen, aber auch dem Renditeinteresse. Ich sag mal: Gewinn ist nicht unendlich, Ressourcen auch nicht, Wachstum auch nicht und das kann man jetzt langsam mal begreifen. Diesen fatalen Kreislauf wollen wir aufbrechen und sagen: Erfolg wird nicht über Rendite definiert, sondern über funktionierende Konzepte und Geschäftsmodelle, die sich rentieren auch im wirtschaftlichen Sinne, aber die sich mit vernünftigen Themen beschäftigen, die diese Welt auch tatsächlich braucht. Sprecher Daraus folgt: Wer im Holzmarktprojekt Genosse werden will, ist nicht auf Gewinne aus, sondern auf Zukunft. Es sollen neue Geschäftsmodelle entwickelt werden: Die digitale Währung Bitcoin ist ein Stichwort, der Internethandel E-commerce ein anderes, was immer die Zukunft vernünftiger gestalten lässt. O-Ton: Steinhauser Das Eckwerk wird ein dann noch recht großes Gebäude, aber entscheidend auch, auf dem Dach bis zu 2000m2 werden wir ein Gewächshaus für "Aquaponic" bauen, also eine Kombination aus Fischzucht und Gemüseanbau. Ökologisch, deswegen auch, die Fische, die machen ins Wasser, dies Gemüse filtert es wieder raus. Man muss weder düngen noch die Fische mit Antibiotika behandeln, weil: das Gemüse reinigt das Wasser wieder. Damit wollen wir auch im großen Stil tatsächlich fürs Restaurant, die Kantine, aber auch fürs Hotel Gemüse und Fisch produzieren, aber auch im Öko-Laden an die Menschen verkaufen. Sprecher Das Projekt wird nach und nach wachsen, noch immer werden Genossen als Investoren geworben. Berlin scheint, sagt Steinhauser, ein gutes Umfeld dafür zu bieten. O-Ton: Steinhauser In Berlin ist der Raum jetzt nicht nur der quadratmetermäßige Raum, sondern auch der ideologische Raum noch sehr offen, traditionell auch. Vielleicht ist es deshalb eine ideale Grundlage für Ideen, für verrückte Ideen, die sich hinterher als gar nicht so verrückt, sondern als total sinnvoll herausstellten. Oder eben doch als sehr verrückt, aber auch das hat seinen Raum und seine Toleranz in Berlin. Sprecher Die Stadt ist hilfreich. Geld gibt es natürlich nicht, aber zumindest in der Verwaltung und bei den Genehmigungen unterstützt die Politik das Projekt. 3. Musik Titel: Grandma Ska Interpret: Rude Rich & the High Notes Komponist: T. Breekveldt, R.Rich & THN Grover Records, LC-Nr. 03059 Atmo:Prenzlberg (innen) - darüber: Sprecher In der Raumerstraße im Prenzlauer Berg sitzt Vesta Heyn, die Frau von Second Bäck, in ihrer Dachwohnung. Sie hat noch eine Idee, die eben jetzt, im Juli 2013, auf den Markt und online geht. O-Ton: Vesta Der "Mailetti" ist ganz einfach ein künstlerisches Unikat kombiniert mit einem faltbaren Bilderrahmen, den ich zum Patent angemeldet habe. Sprecher Ungefähr 10 mal 10 Zentimeter groß ist der "Mailetti". Mailetti ist ein Kunstwort, geschaffen aus Mail und Letter. O-Ton: Vesta Die Ursprungsidee kommt von dem Ritus, den ich mit meinem Freund immer hatte, dass wir zum Briefkasten gegangen sind zusammen bevor wir nach Hause sind. Und jedesmal, wenn er den Briefkasten aufgemacht hat, hat er gesagt, keine Post ist gute Post. Und das hat er immer wiederholt und irgendwann ist mir das aufgefallen. Und dann hab ich angefangen über diesen Satz nachzudenken und hab gedacht, naja, ich weiß ja, was er meint, keine Rechnungen, keine Mahnungen, aber gleichzeitig dachte ich, das war ja nicht immer so, es gab mal Zeiten da war das anders. Sprecher Sie spricht von den schönen, nostalgischen Zeiten, als man noch mit dem Füllfederhalter schrieb - freundliche Briefe, keine Rechnungen. O-Ton: Vesta Und dann hab ich angefangen, mir Gedanken zu dem Thema Post zu machen, handgeschriebene Post. Dass die verschwindet im Zeitalter des Internets und wofür die handgeschriebene Post eigentlich steht, nämlich für Individualität. Und dann hab ich mir überlegt, dass man das Internet mit seiner wahnsinnigen Schnelligkeit irgendwie kombinieren könnte mit dieser alten, aber eben verschwindenden Tradition und dass man das vielleicht zu was Neuem, Zeitgemäßem transformieren könnte. Sprecher Vom Begriff Handschrift führte die Idee zum Begriff Bild. Was kann es Individuelleres geben als ein gezeichnetes oder gemaltes Bild. Bei Mailetti bekommt man beides: Ein Bild, das selbstverständlich ein Unikat ist, und dazu einen Bilderrahmen aus gefaltetem Karton, der so raffiniert konstruiert ist, dass Vesta Heyn ihn zum Patent angemeldet hat. O-Ton: Vesta Man geht auf www.mailetti.de und sucht sich ein Unikat heraus, was einem gefällt, und kombiniert es mit einem Rahmen in seiner Lieblingsfarbe. Man kann auf der Bestellseite gleich sehen, wie dieses Bild in den verschiedenen Rahmenfarben aussehen wird... Sprecher ... und kann dann noch einen Text schreiben, der dem Bild, einem Original, beigefügt wird. Alles zusammen, Bild, Text, Rahmen kommt per Post. Es ist eine Win-Win-Win-Situation für alle Beteiligten: Der Käufer bekommt ein Original als Bild, der Künstler, der es geschaffen hat, hat ein Werk verkauft und ist gleichzeitig einem Kunden bekannt geworden, der vielleicht später mal ein großes Werk von ihm kauft. Und auch die Mailetti-Unternehmer verdienen noch Geld dabei. O-Ton: Vesta Ich hatte einen strengen Plan, den hab ich auch versucht einzuhalten. Ein wesentlicher Bestandteil war: Suche dir Verbündete. Das hab ich gemacht und ich hab jetzt zwei Geschäftspartner, jeder bringt was mit, was die anderen beiden nicht so in der Tasche haben und das ist natürlich besser, als wenn man so als Einzelkämpfer unterwegs ist. Sprecher Das Produkt ist fertig, Mailetti.de ist freigeschaltet - jetzt noch die wichtige Frage nach drei Jahren Entwicklungsarbeit: Woher weiß sie, dass es funktionieren wird? O-Ton: Vesta (lacht) Ich bin nicht ganz sicher, dass es funktioniert, aber ich bin voller Zuversicht. Ich finde ganz ehrlich, dass das viel wichtiger ist, weil nach meiner Erfahrung ist es nicht wichtig, dass man eine Sicherheit hat, dass die Idee funktioniert, sondern es ist viel wichtiger, dass man die Energie aufbringt, so eine Idee wirklich real ins Leben zu rufen und die Offenheit besitzt, auch den Wendungen, die einem entgegen kommen, flexibel zu begegnen und auch dieses Selbstvertrauen zu haben, dass man auch mit diesen Wendungen kreativ umgehen kann, dass es auf jeden Fall, egal was es ist, eine Form von Bereicherung ist. Atmo (Musik) Sprecher Am Ende der Exkursion im und um den Prenzlberg wagen wir eine Antwort auf unsere Eingangsfrage: Ja, es gibt ihn, den besonderen "Spirit von Berlin"! Und wir sind nicht allein: Oton Vesta Ich glaube, dass die Idee sehr wohl von der Größe und der Vielfalt von Berlin profitiert, und dass es schwierig wäre, auf diese Art, so wie ich das betreibe, schwer wäre, es woanders zu machen. OtonFitzl Und dann kommt der typische Satz: Das ist so typisch, das kann´s nur in Berlin geben, und nur in Berlin funktionieren. (lacht) Oton Heuser Ich glaube, in Berlin kann man mit Motivation sehr viel erreichen. Die Leute verlangen von dir nicht, dass du der Beste darin bist, sondern die verlangen, dass du es machst. Atmo: Musik ausblenden, einblenden Finale, Einladung zur Party - darüber: O-Ton: Steinhauser Ich glaube, Berlin ist eine sehr tolerante Stadt, die sich auch was traut, insbesondere weil Berlin keine sehr reiche Stadt ist und deshalb auch einem Anspruch aus der Ecke nicht gerecht werden muss. Das macht schon erfinderisch. Die Not, die ich ja als solche gar nicht empfinde, die macht schon erfinderisch und die lässt Dinge zu, die anderswo nicht gingen, und das ist ein idealer Nährboden für solche Ideen und Konzepte. Musik Kennmusik zum Abschluss Spr. v. Dienst Sie hörten: Der Spirit von Berlin Der Prenzlberg und die Start-ups Eine Deutschlandrundfahrt von Paul Stänner Es sprach: Tonio Arango Regie: Roswitha Graf Ton: Bernd Friebel Redaktion: Ulf Dammann Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2013 Manuskript und Online-Version der Sendung finden Sie im Internet unter dradio.de 1