DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 15.07.2014 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 ? 20.00 Uhr Choosing Deutsche Bahn today Verspätungsfreuden im ICE Von Ulrich Land Co-Produktion SWR/DLF URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - O-Ton: Jandt Wir haben uns richtig gut // über die deutsche Bahn echauffiert, haha, kann man ja immer sehr gut. Es war richtig schön. Atmo: Lautsprecherdurchsage auf dem Bahnsteig O-Ton: Perband Man muss sich schon viel zu lesen mitnehmen auf 'ne lange Zugfahrt. Banderola: Choosing Deutsche Bahn today - Verspätungsfreuden im ICE Ein Feature von Ulrich Land Autor: Die Bahn ist höchst zuverlässig, munkelt man in Fachkreisen, höchst zuverlässig verspätet! Indes: Noch nicht lange her, da ist der geplagte Autor des Nachts von Südtirol bis ins Rheinland gefahren. Mit der Bahn! Und was soll ich Ihnen sagen? Ich war pünktlich. Auf die Sekunde genau um 6:43 Uhr, wo ich um 6:43 Uhr zu landen anvisiert hatte. Machen Sie das mal mit dem Auto: Ihre Ankunftszeit über eine Strecke von 863 km minutengenau einhalten! O-Ton: Leuchel Der Anspruch aller unserer Mitarbeiter und natürlich unserer Kunden ist, dass wir ?pünktlich wie die Eisenbahn? sind. Autor: Tut mir äußerst leid, aber ich kann in das übliche Klagelied auf die Verspätung nicht einstimmen. Blöd. Aber mein Verspätungskonto nimmt sich ? abgesehen von ein paar wenigen Ausreißern ? echt bescheiden aus. Für die Interviews zu dieser Sendung habe ich 3923 Bahnkilometer zurückgelegt. Und auf die gut 32 Stunden Fahrzeit kamen 27 Minuten Verspätung, mithin eine Zugabe von 1,4% auf die planmäßige Fahrdauer. O-Ton: Aschoff Die Bahn ist ja eigentlich der Inbegriff der Zuverlässigkeit. Auch wenn sie das nicht unbedingt erfüllt. Autor: Fragt sich, wie kommt die Bahn dazu, dieses Label auf der Stirn mit sich durch die Gegend zu fahren. Kein Vehikel, an das man solche Pünktlichkeitserwartungen stellen würde wie an die Bahn. ? Selbst schuld! Schließlich war die Bahn es, die die "krummen" Zeiten einführte und damit massiv ins Alltagsleben eingriff. Indem von Stund an exakte Minutenzahlen eine Rolle spielten. Eine Zeitangabe wie 1127 Uhr suggeriert Pünktlichkeit auf die Sekunde. O-Ton: Jandt Ich habe mal 'n Interview gehabt ? wie hieß der frühere Präsident der Industrie- - nicht Industrie- und Handelskammer, Industrie- - Rogowski hieß der. // Der sitzt // in Heidenheim. Und // der Zug // nach Ulm hatte Verspätung. D.h. ich hab den Anschlusszug nicht bekommen, und so einen wie Rogowski, den kann man nicht sitzen lassen. Und // hab mich ins Taxi geschwungen, // 70 ?! // Dann standen wir erst mal im Stau, und sind dann nach Heidenheim, // ist wohl 'ne kleine Straße gewesen, die kannte jetzt keiner. // Alle zuckten mit den Schultern; // und // bin dann zu spät gekommen, zehn Minuten, völlig verschwitzt, // und er ganz locker: "Naja, kann passieren! Beruhigen Sie sich erst mal. Ne?" Haha. Banderola: "Der Fahrplan ist Gesetz. Eisenbahner! Duldet keine Abweichung ? erzwingt die unbedingte Pünktlichkeit!" - DDR-Reichsbahnplakat von 1956. Autor: Wehe, wenn die Bahn an diesem Punkt, am Zeitpunkt versagt! Wenn die Züge ihrem eigenen Anspruch hinterherfahren. Wenn der ICE sich quasi selbst ? als fahrendes Versprechen von opulentem Zeitgewinn ? zurücknimmt. Dann kann die DB sich auf Ärger, Häme und Entschädigungsforderungen verlassen. Gegen keinen anderen Makel fährt die Eisenbahn so emsig, so hartnäckig und so oft scheiternd an wie gegen den der Unpünktlichkeit. O-Ton: Thomas Lutz Also da sind ungefähr, nageln Sie mich nicht fest, aber bundesweit 300 Mitarbeiter beteiligt an diesem ganzen Prozess. Banderola: Thomas Lutz, Leiter der Fahrplanabteilung der Betriebszentrale Südwest. O-Ton: Thomas Lutz Wir // reden bundesweit von ca. 60.000 Trassen//, die dann // in diesem komplexen Gebilde koordiniert werden müssen, um dann eben in einem Guss dann ein Fahrplan am Ende des Tages zu sein. Banderola: Und die Kollegen Fahrplaner: ? O-Ton: Schulz Wie man das früher wirklich // mit 'm weißen Blatt gemacht hat, mit Bleistift und Lineal das Ganze eingezeichnet hat, und dann auch so Muster, Fahrplantabellen, wie lange braucht man eigentlich von einem Bahnhof zum anderen! Und heute rechnet der Computer das alles aus auf die Zehntelsekunde, also es ist schon Wahnsinn. Autor: Beziehungsweise Mathematik. O-Ton: Bückler Also diese Formel, // diese fahrdynamische Berechnung, da fließen eben die Streckenparameter ein, Steigung, Radien, also Kurven, // und // die Parameter des Zuges, // Last, // Länge, // Lok, die da vorne dran ist, // da wird dann aufgrund der Reibungseigenschaften // berechnet, // ob die Züge jetzt steiler oder eine flachere Zeit-Weg-Linie haben. // Summe, Produkt, alles dann, // großen Bruchstrich noch dazwischen. O-Ton: Kampschulte Im Verantwortungsbereich der Deutschen Bahn liegen weit über 100.000 Uhren ... Banderola: Udo Kampschulte, DB-Pressesprecher in Nordrhein-Westfalen. O-Ton: Kampschulte ? an allen Bahnhöfen sind die Uhren, auf jedem Bahnsteig sind sie mehrfach und teilweise noch in den Bürogebäuden. Autor: Das, sagen wir: gespannte Verhältnis der Bahn zur Zeit ist ein historisch gewachsenes Phänomen. War es doch die Eisenbahn, die Ende des 19. Jahrhunderts die Synchronisation der Zeit besorgte. Denn natürlich funktionierten die versprochenen Anschlüsse nur, wenn die Zeitmessung allerorts einheitlich und verlässlich war. Für einen reibungslosen Ablauf mussten die Uhren in Frankfurt an der Oder genauso ticken wie die in Frankfurt am Main. Damit wurde die Bahn zum eigentlichen, zum kontinent-weiten Uhrwerk. Atmo: Pfiff einer Dampflok + nahender Zug Banderola: "Der Zeiger der großen Bahnhofsuhr weist bald auf halb zehn. Alles ist voller Erwartung. Das rote Fähnchen am Eingang des Bahnhofs winkt, die Glocke tönt - jetzt kommt er, der feuersprühende Drache, und das Pfeifen der Lokomotive tönt furchtbar wider im Gewölbe des Bahnhofs." - Aus dem "Morgenblatt für gebildete Leser", um 1840. (zitiert nach: Beate Clausnitzer: "Bahnhöfe: zwischen Stillstand und Bewegung. Zur Schwellenfunktion von Bahnhöfen", www.culture.hu-berlin.de) Autor: Bis dahin hatte landauf landab jeder Ort seine eigene Zeit. Mittag war, wenn die Sonne am höchsten stand. In Köln 20 Minuten später als in Berlin. Was allerdings niemanden aufgeregt hat. Weil es niemand gemerkt hat. Was sind zwanzig Minuten, wenn man mit der Postkutsche tagelang unterwegs ist? Atmo: Schaffnerpfiff auf dem Bahnsteig Anfahren einer Dampflok O-Ton: Leuchel Über allem thronte die Bahnhofsuhr ? Banderola: Ingolf Leuchel, DB-Beauftragter für den Großraum Berlin. O-Ton: Leuchel Die Zeit musste stimmen. // Und // über die so genannte EFK, Europäische Fahrplan-Konferenz, die einmal im Jahr stattfindet, // ist die Mitteleuropäische Zeit entstanden, so das war der riesige// Fortschritt für die Bahn, // dass man sehr wohl einen Fahrplan machen kann, nach dem man dann auch fährt. Fahren sollte. Atmo: lautes Uhrenticken Autor: Und damit tickte die Bahnhofsuhr den neuen Zeitgeist der Pünktlichkeit in die Köpfe der Zeitgenossen. Nicht von ungefähr wurden praktisch zur gleichen Zeit in den Fabrikhallen Uhren aufgehängt, die die Arbeiter einer verschärften Zeitdisziplin unterwarfen. Die Diktatur der Pünktlichkeit war bestens geeignet, die Diktatur des Proletariats zu verhindern. O-Ton: Lautsprecherdurchsage auf dem Bahnsteig Zurückbleiben bitte! Atmo: Minutensprung im Düsseldorfer Uhrenturm Atmo: Laufgeräusche einer Bahnhofsuhr Autor: Die Spitze der nach Art des preußischen Beamtenapparats hierarchisierten Uhrenpyramide, die Zeitzentrale des Reichs, wurde mit der Sternwartenzeit versorgt, um diese dann top-down durchzureichen. Dabei hatte jeder Bahnhof nur eine wirkliche Uhr, die unter der Obhut des Bahnhofsvorstehers tickte. Und etliche Nebenuhren, die aber nicht selbstständig die Zeit maßen. Atmo: Morsezeichen O-Ton: Eckardt Im gesamten deutschen Gebiet wurde um acht Uhr ein Zeitzeichen über sämtliche Morseapparate der Bahn gegeben. Banderola: Uhrensammler Gerrit Eckardt. O-Ton: Eckardt So hat man also in der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg bis kurz danach über die Morseleitungen bei der Bahn die Hauptuhren synchronisiert. Atmo Morseton Autor: Sodann schickte die Mutteruhr eines jeden Bahnhofs einmal pro Minute einen elektrischen Impuls an die Nebenuhren, der den Minutenzeiger mit Schwung einen Strich weiterschob. Der so genannte Minutensprung! Atmo: Minutensprung im Düsseldorfer Uhrenturm Autor: Und es galt und gilt bis heute die hehre, eherne Maxime: ? Banderola: Abfahrt des Zuges exakt beim Minutensprung der fahrplanmäßigen Startminute! Atmo: Schaffnerpfiff Autor: Neuerdings wird der Kontakt zwischen den Mutteruhren der einzelnen Bahnhöfe und der Zentraluhr nicht mehr über ein Spinnennetz aus kilometerlangen Kabeln hergestellt, die Zeit kommt nicht mehr aus der Steckdose, sondern als digitales Funksignal von der Atomuhr der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt. Der Minutensprung aber bleibt Minutensprung. Auch in digitalen Zeiten. Dieses anachronistische Insignium der chronometrischen Genauigkeit, das über die Jahrzehnte zum Corporate-Identity-Merkmal avancierte, lässt man sich trotz eines gewissen technischen Mehraufwands nicht nehmen. Atmo: Minutensprung im Düsseldorfer Uhrenturm O-Ton: Leuchel Wenn // Sie die Infrastruktur gleichmäßig auslasten, dann kommen Sie in immer wieder ein selbes Intervall. Zu Deutsch: Takt. // Wir sind 1979 im Mai gestartet mit vier IC-Linien durch das westliche Deutschland, die sich an fünf Punkten gegenseitig verknotet haben: Hannover, Dortmund, Köln, Würzburg, Mannheim. Wo viele sagten, das wird nie was. Das hat vom ersten Tag an geklappt wie 'n Uhrwerk. O-Ton: Lautsprecherdurchsage auf dem Bahnsteig Donaukurier von Dortmund zur Weiterfahrt nach Wien-Westbahnhof // meldet in der Ankunft zurzeit eine Verspätung von etwa 50 Minuten voraus. Autor: Ähnlich antiquiert wie der Minutensprung sind an der Schnittstelle zu den Fahrgästen noch andere Überbleibsel des alten Bundesbahn-Beamtenapparats zu beobachten. Etwa die amtsdeutschen Lautsprecherdurchsagen und Begrifflichkeiten. Der vielbeschworene ? Lautsprecherin: ? Personenschaden ... Autor: ? beispielsweise. Oder Sätze wie: ? Lautsprecherin: Über Ihre Anschlusszüge werde ich Sie zu gegebener Zeit informieren. Autor: Oder ? besonders erlesen: ? Lautsprecherin: S8 nach Haltern am See, planmäßige Abfahrt 12:53 Uhr, fällt heute aus. Autor: Die unübertroffene Ignoranz einer Lautsprecherdurchsage! Ohne jede Begründung, ohne Ausweichempfehlung, zusammengebastelt aus offenkundig automatisierten Sprechbausteinen. So geschehen nicht auf einem abgelegenen Milchkannenbahnhof, sondern im Wuppertaler Hauptbahnhof, Anno Domini 2014. Auch wenn sich in den letzten Jahren die Informationspolitik des Scheiterns bei der Bahn deutlich gebessert hat ? es gibt sie immer noch, diese Durchsagen, die den Fahrgast im Regen stehn und die eigene Ohnmacht bestaunen lassen. "Zug fällt aus." Was soll er dieser Hauschnau-Setzung entgegensetzen? Er kann niemanden dafür zur Verantwortung ziehen, denn die Dame da in ihrem Lautsprecher ist unüberhörbar nicht mehr als ein automatisiertes Phrasenpuzzle. Ein Schaffner ist nicht greifbar, ein Bahnsteigmanager noch weniger. Jedes Aufbegehren zwecklos, eine schnöde Automatenstimme duldet keinen Widerspruch. O-Ton: Aschoff Sie spüren, dass sie in fremden Händen sind und nicht mehr so richtig durchschauen können, was da eigentlich passiert. Banderola: Gerd Aschoff, Sprecher des Fahrgastverbandes ProBahn. O-Ton: Aschoff Sitze ich am Steuer eines Autos bin ich immer irgendwo eigenverantwortlich unterwegs, sitze ich da hinten im Zug, kann ich immer viel darüber spekulieren, ob da irgend 'nen Butzemann auffem Stellwerk oder auffer Lok oder wo auch immer grad 'nen böses Spiel mit mir spielt. Autor: Andererseits steht dieser obrigkeitsstaatliche Restbestand für Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Regelmäßigkeit. Wenn es hier mit deutsch-amtlicher Akribie zugeht, dann muss das Ganze mindestens so genau funktionieren wie ein Schweizer Uhrwerk! Der tradierte Pünktlichkeitsanspruch fühlt sich bestätigt. Nicht ausgeschlossen auch, dass man bei der Umstellung der verbeamteten Bahn auf einen Konzern, hier und dort etwas Pünktlichkeitsrelevantes vergeigt hat. O-Ton: Wulff Wahnwitz der Privatisierung! Da wird der Markt als allein selig machender Popanz aufgebaut und // sehr viel Personal entlassen, // die Privatisierung wurde unter dem Eindruck einer größtmöglichen Effizienz realisiert. Unsere Vorväter, // die haben einfach ein enormes Netzwerk geschaffen, und das wird jetzt einfach vervespert. Und man kümmert sich um die Rennstrecken. Autor: Die Tatsache, dass die Bahn bekanntlich nicht von den Gleisen runterkommt, hat den ungemeinen Vorteil, dass die Störfaktoren entschieden geringer ausfallen als etwa auf der Straße. Schienenbindung verspricht a priori Zeitbindung. O-Ton: Huppmann Fasziniert mich einfach, das System Eisenbahn. Es ist ja kein chaotisches System wie der Straßenverkehr, sondern das ist ein durchorganisiertes System. Banderola: Ottmar Huppmann, Vorsitzender des Breisgauer Eisenbahnfreunde e.V. O-Ton: Huppmann Und zwar wirklich durch und durch organisiert. Autor: Die verführerische Idee, das wohlgeordnete H0-Weltlein des Modelleisenbahners lasse sich nahtlos auf die große weite Wirklichkeit übertragen. Die schienenratternde Fantasie, dass das schwere Eisen auf rasenden Rollen beherrschbar und dass mit ihm die Welt beherrschbar sei. Vor allem bestärkt durch die Vorstellung, dass es zeitgenau einzupassen sei in die Abläufe der Zeitläufte. ? Indes: ? O-Ton: Huppmann Stellwerksausfälle gibt's auch mal, // oder eine Weiche geht mal nicht, oder die Drehscheibe gibt mal den Geist auf. Autor: Selbst bei denen, die die Welt nachbauen, gibt es Imponderabilien über Imponderabilien. Kein Tag im Leben eines Modellbahners ohne Störungen. Schon bei diesem Klein-Kleinsystem, diesem Abbild des Vorbilds, das das Kind im Manne zu Tränen rührt. Das die Wirklichkeit als Machbarkeit erscheinen lässt und einen selbst als machtvollen Macher. O-Ton: Huppmann Wir haben auch so empfindliche Bauteile wie Lichtschranken, da // kann es natürlich passieren, dass Sie erst mal unter die Anlage müssen wieder, um das zu beheben. Lautsprecherin: 14 Minuten Verspätung. Grund dafür: Verzögerungen im Betriebsablauf. O-Ton: Leuchel Es gibt leider nun auch unangenehme Störungen, // "Personen im Gleis?, was immer das heißt, z.B. ? da gibt's verschiedene Möglichkeiten zu "Personen im Gleis?, um's nicht näher zu erläutern, // dann wird die Strecke erst mal gesperrt. // Das sind aber Fälle, die jeden Tag, jeden Tag leider passieren. Autor: Pro Tag verzeichnet man bei der Bahn drei bis fünf Personen, die sich vor den Zug werfen. Wobei die genaue Zahl nicht bekanntgegeben wird, um nicht auch noch Nachahmungseffekte heraufzubeschwören. O-Ton: Wulff Ein Bahnhof ist einer der großen mythischen Orte unserer Zivilisation. Also // der mythische Ort der Geschwindigkeit, der Mobilität, auch // des technischen Fortschritts, // der großen Gefühle, der Tränen des Abschieds, der Tränen des Willkommens, aber es ist dann letzten Endes bei solchen Vorkommnissen // auch ein Ort der Enttäuschung und des Vertrauensverlustes. Und man ist dem hilflos ausgeliefert, ja, und dann kommt die Durchsage "wir danken für Ihr Verständnis", und mein Verständnis haben sie dann nicht. O-Ton: Gaschick Wenn Verspätungen auftreten, denkt man sehr an sich? Banderola: Daniel Gaschick, Freiburger Regionalvorsitzender des Fahrgastverbands ProBahn. O-Ton: Gaschick Was ist mit meiner Reisekette, komme ich pünktlich ans Ziel? Ich ärgere mich dann, wenn ein Anschlusszug weg ist, übersehe aber, dass, wenn dieser Anschlusszug gewartet hätte auf mich, das Verspätung für 200 weitere Reisende bedeutet hätte, die dann ihrerseits irgendwo Anschlüsse verpasst hätten. O-Ton: Leuchel Wir haben gemerkt, deutlich gemerkt, als wir die Hochwasserbeeinträchtigungen hatten, als die Elbe übergelaufen war, // da konnten wir ja monatelang nicht von Hannover gradeaus nach Berlin fahren, wir mussten über Magdeburg umleiten, das dauerte eine Stunde mehr, da haben wir deutlich an Fahrgästen verloren. // Die kommen zurück, // die Zahlen steigen wieder, // aber // das hat uns in der Kasse wehgetan, // also der Kunde reagiert verständ-licherweise auf unzuverlässigen Bahnbetrieb, deswegen ist unser größter Anspruch: Wir wollen zuverlässig sein. Erstens sicher, zweitens pünktlich und drittens schnell! O-Ton: Leuchel Die Zugzahl ist enorm gestiegen und das Netz an sich kaum erweitert. // Von daher ist die Empfindlichkeit des Systems auch natürlich gewachsen. Und jetzt gibt es sehr viele Einflüsse von außen. Die zwar den Kunden herzlich wenig interessieren, wenn er in Augsburg auf dem Bahnsteig steht und friert, // weil der Zug zwischen Hamburg und Hannover ein Problem hat. Aber das ist dann leider so. Das schleppt sich durchs ganze Netz. O-Ton: Moosbrügger Das ist ein Abwägungsprozess: Schützt man die Leute, die schon in dem abgehenden Zug sitzen, damit sie pünktlich bleiben ? Banderola: Roland Moosbrügger, Netz-Disponent in der Betriebszentrale Karlsruhe. O-Ton: Moosbrügger ? oder nimmt man die, // die aus dem verspäteten Zubringer kommen, // noch mit, mit der Folge, dass das Gesamtsystem dann Verspätung hat? O-Ton: Leuchel Sie sind mit einem ICE gefahren, der von Interlaken kommt, // diese Strecke hat // einen Laufweg über 1000 km, muss durch sehr viele Ballungsgebiete durchfahren, // Rhein-Neckar und Rhein-Main, muss sich die Gleise teilen mit sehr viel Regionalzügen, mit S-Bahn-Zügen, im Raum Karlsruhe sogar mit der Straßenbahn, die Richtung Freudenstadt fährt,? Autor: Ganz zu schweigen von den Güterzügen. O-Ton: Leuchel Wir fahren überwiegend im Mischbetrieb. // Ist einfach ein Fakt, wie?s gewachsen ist; es hat immer wieder Vorstöße gegeben in Richtung Trennung; Trennung ist an sich das Vernünftige betrieblich, aber's ist einfach nicht bezahlbar. Autor: Die Welt der Bahnstrecken in Deutschland ist ein wirres Geflecht aus hübschen Linien, schon weniger hübschen Verästelungen, hässlichen Knoten und noch hässlicheren Nadelöhren. O-Ton: Leuchel Sie haben große Städte mit einem sehr stark frequentierten Hauptbahnhof, viele Strecken führen auf diesen großen Bahnhof //zu, die verjüngen sich aber. // Sie bringen immer mehr Züge auf weniger Gleise. Wir haben nur sechs Gleise über den Rhein in Köln, aber // zehn Gleise//, die auf Deutz zuführen. // Das ist in Hannover genauso. // Ich mein, Sie können das in Köln aufweiten, aber dann muss erst der Dom zur Seite. Und das dauert natürlich. Und so ist es in Hannover auch. Sie müssten ganze Siedlungen abreißen, nämlich genau da, wo der frühere Bundeskanzler Schröder wohnt. Das wollen wir ja nicht. Autor: Angesichts der logistischen Komplexität eines so vielgleisigen Unterfangens, wie es der Eisenbahnverkehr hierzulande nun einmal darstellt, müsste man sich eigentlich weniger darüber wundern, dass der eine oder andre Zug zu spät unterwegs ist, als darüber, dass es so wenig Verspätungen gibt. O-Ton: Wulff Von den letzten zehn Fahrten, die ich gemacht habe, waren also neun extrem verspätet, mit fast einer Stunde oder auch denn da drüber. Autor: Vermutlich ein Fall von "gefühlt neun von zehn"! So viele Sünden kann einer gar nicht begangen haben, dass er vom lieben Gott derart bestraft werden müsste. O-Ton: Jandt Man muss ja fairer Weise sagen, // zu 50 % ist die Bahn doch pünktlich, Autor: Selbst das ist eher gefühlt als erfahren. O-Ton: Roland Moosbrügger Die Pünktlichkeitswerte im Fernverkehr in Baden-Württemberg liegen zurzeit bei 81%, die Werte im Regionalverkehr liegen bei 95%, bei der S-Bahn liegen sie bei 97 // Prozent. Autor: Auch bundesweit sind im Regionalverkehr 95% und im Fernverkehr drei Viertel aller Züge pünktlich. Bei über 800.000 Personenzugfahrten pro Monat. Wobei gemäß Sprachregelung der Deutschen Bahn AG auch ein Zug mit 5 Minuten, 59 Sekunden Verspätung noch "pünktlich" ist. Erst ab 6 Minuten firmiert die Verzögerung unter "Verspätung". O-Ton: Leuchel Beim Fernverkehr ist eben die Crux, dann passiert Ihnen das in Dortmund, der Zug soll aber noch bis Berlin, dann merken Sie?s auch bis Berlin, wobei also der 3-7-Minuten-Bereich, den kriegen wir hin. Dadrüber fängt es dann an, unangenehm für den Kunden zu werden, // kein Kunde regt sich auf, // wenn er hier 6 Minuten später ankommt. Wenn aber der Anschluss nach Frankfurt/Oder oder nach Cottbus weg ist und er muss 'ne Stunde warten, dann ist er verärgert. Und das können wir auch verstehn. Lautsprecherin: Vielen Dank für Ihr Verständnis. Autor: Getoppt wird die deutsche Zugpünktlichkeit allerdings von der Schweiz. Und von Japan, wo eine halbstündige Zugverspätung ein Thema für die Hauptnachrichten ist. O-Ton: Lautsprecherdurchsage auf dem Bahnsteig Zurückbleiben bitte! Autor: Jede Pünktlichkeitsstatistik indes nützt dem einzelnen Bahn-User wenig. Denn für ihn schaukeln sich bei weiten Touren Verspätungen und Anschlussprobleme schnell zu wachsenden Zeitschrottbergen auf, die er wie ein Schneepflug vor sich herschiebt und weiter anhäuft. O-Ton: Wulff Da fuhr ich mit einer Regionalbahn in der Nähe Kölns, diese Bahn hatte 15 Minuten Verspätung. Ich erreichte also prompt auch nicht den Fernzug in Köln, // und der nachfolgende Zug hatte wiederum eine Verspätung, die dann von dem // Zug in Mannheim beim Umsteigen auch nicht abgewartet wurde. Also am Ende wurden aus 15 Minuten zwei Stunden Verspätung. Banderola: Fahrgasttyp Nr. 1: Autor: Der jungdynamische, ziel- und effizienzorientierte Networker. Atmo: ICE-Fahrgeräusche O-Ton: Gräfe - Galli-Theater, Ronald Gräfe, hallo, ich grüße Sie. Ich rufe an wegen dem Präventionstheatertag in vier Wochen in Geraberg. // HANDYGEQUAKE // - Das mag sein, ich habe das leider bei mir im Computer nicht so genau aufgeschrieben, es kann sein, dass ich da in einer Zeile verrutscht bin, // ich hab hier "300 Schüler" stehn und habe "vier Euro" stehn. Haben wir das miteinander besprochen schon, oder war das noch in der Absprache? // HANDYGEQUAKE // - Gibt es da eine Schmerzgrenze irgendwie, wo Sie sagen, das können die Schüler noch bezahlen? HANDYGEQUAKE // - Püüh. Da muss ich einen guten Sponsor finden, aber ich würde das auf jeden Fall versuchen, bisher haben wir noch keine Schule wegschicken müssen, // Ich würde sie auf jeden Fall nochmal zurückrufen in einer Woche. // HANDYGEQUAKE // - Da würde ich 10:40 Uhr auf jeden Fall zurückrufen bei Ihnen. // Ich schreibe mir das jetzt hier im Computer in den Terminkalender, und dann rufe ich sie da auf jeden Fall zurück. // Tschüss. darüber: Autor: Umstellt von Laptop, Smartphone und zwei klassischen Handys auf dem Abteiltisch im ICE. ? Vor einigen Jahren noch, zu Intercity-Hochzeiten, wurde der bahnfahrende Geschäftsmann unterstützt von Sekretärin und Telefonzelle an Bord, wodurch der eine oder andre 1.-Klasse-Waggon zur rollenden Business-Plattform mutierte. Heute hat der Büro-Bahnfahrer all das selbst in der Hand. Banderola: Roland Gräfe, bundesweit operierender Theatermanager. O-Ton: Gräfe Heute früh hab ich das Telefon piepsen gehabt, // nebenbei habe ich noch eine Überweisung gemacht, hab da noch eine Mail geschrieben, und ? also es ist eine große Herausforderung .... Autor: Und da gibt's nur eins!: ? O-Ton: Gräfe Time Management! // Ich muss halt // gucken, dass ich jede Minute // effektiv nutze, // um alle Sachen pünktlich fertig zu kriegen, rauszuschicken, und da ist es unabdingbar, so viel wie ich unterwegs bin. Geht überhaupt gar nicht anders. // (4:58) Da klingelt auch schon wieder das Telefon // ? "Hallo? HANDYGEQUAKE - Ja, wunderbar! Das freut mich, dass Sie zurückrufen. Ich wollte wegen dem Präventionstheater am Montag fragen. Das geht alles klar, oder? // HANDYGEQUAKE - Super. // HANDYGEQUAKE - Frau Schaller, ich freue mich ganz sehr auf Sie. // Bin grad noch im Gespräch. Bis später. Tschüss. // HANDYGEQUAKE Ja, und so geht das den ganzen Tag. Autor: Wehe, wenn dem Mann eine Verspätung dazwischenkommt! Banderola: Fahrgasttypen Nr. 2 bis 4. Autor: Auf deutlich weniger Verständnis fürs Platzen der Hutschnur als der busy Businessman darf das Pensionärsehepaar aus dem Schwarzwald hoffen, das die Tochter in Hannover besucht. Oder der Astronomiestudent mit dem raspelkurzen Haar und der rand-losen Brille, der sich auf seine Klausur in Sachen Sternzeit vorbe-reitet. Oder der Familienvater auf Oma-Weihnachtsbesuchstour. O-Ton: Gaschick Mit kleinen Kindern ist das noch mal was sehr Spezielles, Verspätungen zu erleben, // wenn man schon sechs Stunden in einem Zug war, dann wird die siebte besonders anstrengend. Das ist der Schweiß, der auf die Stirn dann tritt ? Banderola: Daniel Gaschick. Autor: Der ökokorrekte Immerundüberall-Bahnfahrer mit Kind und mit Kegel. O-Ton: Gaschick Also oft sind Verspätungen der Moment, wo ich mich dann fremd-schäme für die Bahn. Ich verstehe, warum die Schaffner sich dann oft einschließen in ihrem Kämmerchen und grade nicht dann präsent sind, weil sie oft selber die Informationen nicht haben, das ist keine schöne Situation, aber eben das würde ich mir wünschen. // Das würde es einem wesentlich leichter machen, Verspätungen anzunehmen, und dann auch nicht // als // Vorwurf an die Bahn zu richten, die ja eigentlich eine Pünktlichkeit verspricht, die kein anderer Verkehrsträger leisten kann. O-Ton: Lautsprecherdurchsage auf dem Bahnsteig Zurückbleiben bitte! Banderola: Fahrgasttyp Nr. 5: O-Ton: Wulff Fahre ab und zu mit der Bahn, zunehmend auch weniger, muss mich dann leider auf das Auto verlassen, denn auf die Bahn ist nicht immer Verlass. Autor: Der Professor, der auf dem besten Weg ist, sein gutmütiges Lächeln zu verlieren. O-Ton: Wulff Als ich vor einigen Jahren mit einer Reisegruppe von Berlin aus losfliegen wollte, // und ich hatte sämtliche Tickets bei mir von sämtlichen Fluggästen, // aber schon in Karlsruhe hatte der Zug eine Stunde Verspätung. // Am Ende waren es dann irgendwie anderthalb Stunden, // das Flugzeug musste extra später starten, also es war also extrem, extrem schwierig. Banderola: Bernhard Wulff. O-Ton: Wulff Also ich fahre praktisch nie freiwillig. Sondern immer dann, wenn ich es beruflich machen muss. // Wenn es gar nicht anders geht. // Wenn // es Strecken sind, für die man mit dem Auto länger als fünf Stunden // braucht. Autor: Dürfte nicht ganz einfach sein, den Mann wieder zurück auf die Schiene zu holen. Banderola: Fahrgasttyp Nr. 6: O-Ton: Perband Bei uns ist es einfach so, dass der Takt vorgegeben wird durch // die Ankunft im Endbahnhof, das Umspannen und Umsetzen, und auf der Strecke selbst eventuell durch Zugkreuzungen, oder auf einer eingleisigen Strecke muss natürlich der eine auf den anderen warten. Autor: Der Ingenieur, der mit dem Schatten seiner spitzen Nase als Zeigefinger den Fahrplan studiert. Um dann beim Blick auf die verspätungsverheißende Laufschrift auf der Abfahrttafel besagte Nase zu rümpfen. Banderola: Jörg Perband, aktives Mitglied in gleich zwei Modelleisenbahnvereinen. O-Ton: Perband Man hat // ein Strecken-Ensemble, was im Vorbild so existiert haben könnte, und darauf wird ein Fahrplan gemacht, der realistisch ist, // die Zeiten sind etwas verkürzt, // 4 zu 1 oder 5 zu 1, die Zeit läuft etwas schneller als // im Original, weil auch die Strecken deutlich kürzer sind, aber // da muss man sich dann wirklich einem Fahrplan unterwerfen, den andere gebaut haben, und // im Zweifel heißt es dann: ?Uhr steht?, // dann wird // der Fahrplan angehalten, die Uhr wird angehalten, und dann wird erst mal geguckt, wo?s Problem liegt, und dann setzen wir wieder ein. Autor: Ach, wäre die Wirklichkeit doch auch so einfach gestrickt! Wiewohl: Auch das Schalten und Walten eines Modellbahners ist, wie wir bereits hörten, kein Zuckerschlecken. O-Ton: Perband Da kann man auch schon mal 'n Rüffel kriegen. // Man kann einen Fahrplan ja auch mächtig durcheinander bringen. Und damit ist man nicht nur selbst betroffen, sondern auch die anderen, die ihre Züge natürlich auch über die Anlage bringen wollen. Autor: Und so scheinen einen die Modellbahnerfahrungen fürs wirkliche Leben zu wappnen. O-Ton: Perband Was hilft es, aus der Haut zu fahren? Der Zug wird dadurch nicht schneller. Nein, das muss man cool und gelassen nehmen. Eine Verspätung ist da, ja, Gott, das passiert, // Technik ohne Fehler gibt's nicht. Muss man einfach hinnehmen, das gehört mit zum Leben dazu. Autor: Nicht so der passionierte Ausraster! Banderola: Fahrgasttyp Nr. 7: O-Ton: Jandt Da stiegen auf einmal // diese ganzen Teilnehmer des Dresdner Kirchentages in den Zug. Der war völlig überfüllt, es war heiß, und // dann hatte der Zug auch noch Verspätung, und dann hab ich den Anschluss nicht bekommen. Banderola: Dieter Jandt, Autor ohne Auto. O-Ton: Jandt Der kam dann auch nicht, dann fuhr ein Ersatzbus, und dann sollte dann in Hagen ein Zug fahren, und der stand dann auch da, und dann sah ich, wie der Lokführer ausstieg und sagte: "Ich hab jetzt Feierabend." Und dann hab ich die Zugbegleiterin // richtig angeschrien, weil ich so dermaßen sauer war. Autor: Schaffner: ein Job für Leute mit robustem Nervenkostüm. O-Ton: Jandt Oder Lokführer hab ich auch schon angestunken, // der hat in Düsseldorf gehalten, dann steht der da 5 Minuten ? hab ich gedacht, dem tu ich jetzt einen rein. Da bin ich nach vorne hin und hab da dat ? der hatte das Fenster auf ? hab da rein gerufen: "Ey" und hab den zusammengefaltet. // Hab ich manchmal so Momente, wo ich mich dann richtig reinsteiger und sage: "Ich muss dem dat jetzt sagen." // Dann hab ich mir den ? nicht gegriffen, aber zur Rede gestellt. // Muss sein. O-Ton: Aschoff Ja, dann muss man irgendwann halt die Konsequenzen ziehen und sich einen Maserati kaufen. Oder was weiß ich was. O-Ton: Lautsprecherdurchsage auf dem Bahnsteig Zurückbleiben bitte! Autor: Indes ? quasi der Gegenentwurf ? ? Banderola: Fahrgasttyp Nr. 8: Autor: ? die obsessiven Eisenbahnfreaks, die schlicht nicht anders können. O-Ton: F.H. Ich bin fasziniert von der 103, dieser alten // IC-Lok, und von der E 18, E 19? Autor: Die Trophäen-Jäger. Balancieren auf einer wackligen Klappleiter in den Kurven der Schwarzwaldbahn und warten fieberhaft auf jene Lok, die ihnen in der Sammlung noch fehlt. O-Ton: F.H. E 18, E 19, // natürlich gibt?s auch andere, // die E 44, aber die 103 und die E // 18? O-Ton: U.D. 'Ne Lok hat sicherlich 'ne Ausstrahlung, // dann gibt es sicherlich so ne Art Thrill, also wo man, ja, // in höhere Gefühlslagen kommt. O-Ton: F.H. ? die 103 und die E // 18, // oder die Krokodil meinetwegen in der Schweiz, also das sind für mich bezaubernde Maschinen ? O-Ton: Gaschick Etwa wenn die Höllental-Bahn sich bei rutschigem Herbstwetter hinaufquält und ich schon fast mit der Lok mitfiebere, dass sie diese Waggons da hochzieht und nicht ins Durchdrehn gerät, // oder auch eben grade im Dunkeln, wenn die Lok in den Bahnhof einfährt, das ist auch so 'n Moment, wo ich quasi fast die Lok begrüße, // (4:47) sie hat ein Gesicht. Eine Lok, die aus dem Dunkeln auftaucht, hat irgendwas // Warmes. Autor: Wenn die einen mit ihren drei Augen so anstrahlt, sind die 37 Minuten Verspätung schon vergessen. O-Ton: Lautsprecherdurchsage auf dem Bahnsteig Zurückbleiben bitte! O-Ton: Leuchel Nichts, was gut ist, könnte nicht besser werden, // man kann noch einiges tun, dann sind wir aber // bei dem Thema Investitionen in die Infrastruktur! // Unser Engpass, die Riedbahn zwischen Frankfurt und Mannheim: // etwa neun Züge pro Stunde und Richtung. Wenn Sie 60 durch 10 teilen, fahren Sie dort alle 5, 6 Minuten einen Zug. Das ist mal ein ICE, mal ne S-Bahn // oder ein RE oder eben sehr viele Güterzüge, // das ist gar nicht trivial, // wir brauchen zwei weitere Gleise! Autor: Wer ein ehrgeiziges Zeitkonto anstrebt, muss ein großzügiges Bankkonto mitbringen. Kostenneutral ist eine Pünktlichkeits-optimierung bei den noch zu Buche stehenden Verspätungszügen nicht zu haben. O-Ton: Leuchel Das kostet Geld, jooo, und das macht sehr viel Freude bei der Politik vor Ort. // Da wird jetzt 20 Jahre drüber diskutiert; das eine ist das Land Baden-Württemberg, das andere ist das Land Hessen. Dann haben Sie einen Oberbürgermeister, der gehört zu den Grünen, der nächste zur CDU und der übernächste zur SPD. Jetzt versuchen Sie, diese hopsenden Flöhe mal alle in einen Flohzirkus reinzubekommen ? jeder Anspruch ist übrigens legitim, // aber Fakt ist, wir haben bis heute diese zwei zusätzlichen Gleise nicht. // An diesem Fliegenfänger hängen wir. Die zusätzliche Strecke // zwischen Frankfurt und Mannheim gilt bei uns so als das wichtigste Projekt in Deutschland, was wir schaffen müssen. O-Ton: Aschoff Das Schlimmste // ist der Wagenpark! // Es gibt keinerlei Reserven im gesamten Fernverkehr, die Züge werden einfach kaputt gefahren, sie haben // von vornherein keine Wagenparkbemessung gehabt, die ordentlich ist, // es sind auch außerplanmäßige Sachen dazwischen gekommen: // eigentlich hätten diese ICE alle 500.000 km mal in die Werkstatt gehört, um // den Zustand der Achsen zu überprüfen, tatsächlich passiert es im Moment alle 30.000 km, das bedeutet ganz klar, dass diese Züge deutlich weniger unterwegs sein können, als sie eigentlich müssten, aber auch die Zulassung neuer Fahrzeuge hinkt deutlich hinter dem zurück, was erforderlich ist. Banderola: Der Zeitfaktor ist ein Kostenfaktor ... Autor: ? ist Verkehrspolitik. ? Und die schüttet ihr Geld bekanntlich vor allem über des Deutschen liebstem Kind, dem Auto aus. Wenn aber an der Pünktlichkeitsfront ohne Moos nix los ist, dann muss man an der Stellschraube des Zeitdrucks drehen. O-Ton: Wulff Die Züge sind zu eng getaktet, und das ist mir ohnehin ein Rätsel, wie man mit zwei-Minuten-Umsteigezeit so viele Leute ein- und aussteigen lassen kann. // Die Züge sind nicht mehr für Reisende, sondern nur noch für Geschäftsreisende gedacht. Die einfach ein kleines Köfferchen haben, aber eine Familie mit drei Kindern und irgendwie schwerem Urlaubsgepäck, das ist immer ein Theater, wo sollen die damit hin? Autor: Würde man die zweiminütigen Aufenthaltszeiten der Züge in den Bahnhöfen bundesweit um eine Minute verlängern, so würde das etwa für die Strecke Freiburg ? Berlin mit ihren elf Unterwegshalten bedeuten, dass man elf Minuten länger braucht. Eigentlich überschaubar. Auf der Habenseite aber wäre mit einem deutlichen Sicherheitsgewinn bezüglich der Pünktlichkeit zu rechnen. Weniger Stress im System und in den Köpfen. O-Ton: Leuchel Es ist klüger, den Zeitpuffer auf der Strecke zu haben, // im Bahnhof, // wenn alle ein- und ausgestiegen sind, // können Sie eben nicht eher abfahren. Wenn Sie aber nach einem kurzen Aufenthalt abfahren und haben den Puffer vor dem nächsten großen Bahnhof, dann können Sie eine Verspätung // abfangen. // Wir haben zwischen Hannover und Berlin // 8 Minuten Reserve drin. // Wenn der Zug pünktlich fährt, // dann braucht er die 250 nicht ausfahren, dann kann er mit 230 fahren. Im Umkehrschluss: Wenn der Zug // Verspätung erleidet, // dann wird die Höchstgeschwindigkeit ausgefahren und hat der Zug wieder die Chance, seine Zeit einzufahren. Autor: Außerdem merkt der Reisende vom Zeitpuffer auf der Strecke wenig. Verdächtig lange Aufenthaltszeiten in den Bahnhöfen hingegen würden die Frage hervorrufen, warum die Züge nicht zügiger losfahren. Erneuter Protest wäre programmiert. Doch auch besagte Zeitvorräte auf den Strecken wird man wohl kaum ausdehnen. Schon gar nicht auf den großen Längs- und Querachsen in Deutschland. In den Chefetagen der Deutschen Bahn hält man von Entschleunigungsvorschlägen gleich welcher Art wenig, weil man nicht hinter das einmal erreichte Tempo zurückfallen will. Die kurzen Fahrzeiten haben die Bahn gegenüber dem Auto in den letzten Jahren schließlich wieder konkurrenzfähig gemacht. Und: Wer bremst schon gern! O-Ton: Thomas Lutz Ich glaube nicht, dass Verlängerung der Haltezeiten isoliert betrachtet der große Wurf ist. Banderola: Thomas Lutz, Chef-Fahrplaner in der Betriebszentrale Karlsruhe. O-Ton: Thomas Lutz Wir sehen da eigentlich im Fein-Tuning viele, viele, viele kleine Dinge, die man machen muss: // die Infrastruktur, // das Material, // Personal. Autor: Also eigentlich alles. O-Ton: Thomas Lutz Dann wird es halt ein Prozess, der etwas länger dauert. Autor: Worauf freilich der Verspätungseinfahrer nicht zu warten gedenkt. Banderola: Eskalationsstufe 1: offizielle Beschwerde. O-Ton: Jandt Das ist ja mit sehr viel Arbeit verbunden. Man muss sich ja dann gewisse Formulare ranziehn, muss man erst mal zum Schalter, // ein sehr kompliziertes Unterfangen, von dem ich auch nicht viel erwarte. // "Ha gut, ist dann mal so gelaufen, ist ja nicht so schlimm, werter Kunde, wir bemühen uns, tut uns leid", und vielleicht kriegt man dann auch 'n Sparpünktchen oder irgendwie so was. Autor: Wie der Selbstversuch des Autors ergab: Postwendend ein Schreiben mit vergilbten Entschuldigungsphrasen und einem Speisewagengutschein in Höhe von 5 ?. O-Ton: Jandt Brauch ich dann nich. Banderola: Eskalationsstufe 2: Antrag auf Entschädigung. O-Ton: W.F. Wenn ich dann in meinem Ruheabteil sitze // und es gibt Verspätung, dann macht mir das nicht viel aus, // dann kassier ich hinterher Verspätungs-entschädigung. Autor: Wie ebenfalls ein Selbstversuch des Autors ergab: Auch das funktioniert. Banderola: Ab 60 Minuten Verspätung werden 25%, ab 120 Minuten 50% des Fahrpreises erstattet. Autor: Bei einem Aufwand, den man sich allerdings in Online-Zeiten etwas geringer vorstellen könnte. Indem etwa die Schaffner im Zug schlicht die BahnCard der Verspätungsgegeißelten durch den Unterarmcomputer ziehen und nicht umfängliche Leporello-Papiere alias "Fahrgastrechteformulare" verteilen, die man sodann auszufüllen und mit der Post zu schicken hat. O-Ton: Leuchel Es sind keine Peanuts, da zahlen wir schon allerhand? Autor: Geht's auch ein bisschen genauer? O-Ton: Leuchel Joo, das könnte man beziffern. Autor: Tun Sie aber nicht ? O-Ton: Leuchel Nöö. Das ist ehm ? Autor: ? Geschäftsgeheimnis, wie hoch die Summe ist, die für Verspätungsentschädigungen pro Jahr bei der Deutschen Bahn anfällt. O-Ton: Lautsprecherdurchsage auf dem Bahnsteig Zurückbleiben bitte! O-Ton: Jandt Naja, ich nehme immer, schon seit vielen Jahren, immer einen Zug vorher. Autor: Womit denn der Zeitgewinn des ICE wieder null und nichtig wäre. O-Ton: Jandt Fünf Minuten vor der Zeit ist des Soldaten Pünktlichkeit. Und ich bin in der Regel eine halbe Stunde bis zu einer Stunde vorher da, weil ich bin lieber früher da als zu spät. O-Ton: Gaschick Karenzzeiten einzuplanen dauernd, das bin ich bereit für längere Reisen oder für Besuche, aber nicht als Pendler, wenn ich das jeden Tag mache, dann summiert sich das übers Jahr doch enorm auf, da verlier ich sozusagen en ganzen Tag oder mehr allein dadurch, dass ich die Unpünktlichkeit einspielen muss in meine Planungen. O-Ton: Wulff Wenn man in einem großen Orchester spielt, dann gibt es // eine gewisse Trägheit. // Also das gemeinsame Einatmen // führt zu einer // gewissen Verspätung der Attacke, die sogar zu einem ganz besonders schönen Klang führt. Es passiert sozusagen in einem atmenden Kollektiv ein Moment danach. Und diese Verspätung ist etwas sehr Positives. Autor: Die Spannung steigt. Steigt ins Unermessliche. O-Ton: Wulff Ein zauberhafter Moment, weil im Bruchteil einer // Sekunde das Kollektiv gemeinsam entscheidet, jetzt ist der richtige Moment, um diesen Ton zu spielen. Autor: Verspätungen sind gewonnene Zeit. Zeit, die nicht eingeplant und also auch nicht verplant ist. Die Flügel des Zeitfensters plötzlich aufgerissen... O-Ton: Jandt Ich sitz dann blöd rum. // Die zwanzig Minuten sind vertane Zeit. // Ich bin kein Buddhist. // Ich kann mich nicht da breit und bräsig auf der Bank am Bahnsteig dahinsetzen: "Och, ist doch eigentlich schön hier. Macht ja überhaupt nix." Ne? Also so ruhig bin ich nicht. Und so gottergeben und gelassen. Banderola: Therapiekonzept für Bahn-geschädigte Zeitgenossen: ? O-Ton: Wulff Ja, transsibirische Eisenbahn das sind natürlich Züge, // die fahren, sagen wir mal: höchstens zwischen 60 und 80 km/h, also man kann auch die Steine mitzählen. Banderola: Die 9298 km von Moskau bis Wladiwostok werden in einer Netto-Fahrzeit von ca. 160 Stunden zurückgelegt. Durchschnittsgeschwindigkeit also 58 Stundenkilometer. O-Ton: Wulff Die Landschaft // zieht nicht an einem in Streifen vorbei, // eine Wohltat; // nicht so dieses hektische Hamster-rad. // Wir reisen ja nicht. // Wir bewegen uns von A nach B, und das möglichst schnell, aber // es heißt ja: "Reisen bildet." Man ist nicht gebildet, wenn man von A nach B fährt. Autor: Hübsch, die Idee, das Flügelrad zurückzudrehen und die Bahn für die Entdeckung der Langsamkeit heranzuziehen. Hübsch, aber hoffnungslos. O-Ton: Jandt Ruhig Blut, locker, bleibt ruhig! Autor: Dergleichen Appelle verhallen selbst bei mir ungehört. Ich finde es einfach wunderbar, an einem Tag von Karlsruhe nach Kiel und wieder zurück fahren zu können. Wenn's sein muss. Und manchmal muss es eben sein in diesem Leben. Würde heißen: Wir müssen unser Reisebewusstsein zurückfahren, müssen anders leben. Bestechende Moral von der Geschicht!! Bis wir aber so weit sind, würde ich einstweilen mit einem anderen Vorschlag zur Güte aufwarten: Abschaffung der Fahrpläne! Die Fahrzeiten sind ab sofort nur noch für den internen Gebrauch, also unterm Siegel dienstlicher Verschwiegenheit zu handeln und werden nicht nach außen kommuniziert. Auch bei rasend schnellen Suchmaschinen regt sich schließlich kein Mensch drüber auf, dass der alles entscheidende Algorithmus strenger Geheimhaltung unterliegt. Banderola: Choosing Deutsche Bahn today - Verspätungsfreuden im ICE Ein Feature von Ulrich Land Mit: Ulrich Land. Serpil Demirel, Isabelle Demey und Jürgen Franz Ton und Technik: Roland Winger und Andreas Völzing Regie: Tobias Krebs Redaktion: Walter Filz Produktion: Südwestrundfunk mit dem Deutschlandfunk 2014 36