DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hhörspiel Redaktion: Ulrike Bajohr Moskauer Exempel Von der Mühsal, Chodorkowski zu verteidigen Ein Feature von Mario Bandi DLF/SR Regie: Mario Bandi Redaktion: Ulrike Bajohr Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Anna D`hein Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, d. 23. Oktober 2009, 20.10 - 21.00 Uhr Musik: 4.Sinfonie von Arvo Pärt, gewidmet M.Chodorkowski. O-Ton 01: als Atmo Autor: Moskau, Sommer 2009. Im Saal 7 des Bezirksgericht Chamównitscheskij steht vor dem Richter Wiktor Danilkin: Michail Borissowitsch Chodorkowski, Großaktionär. Gründer und Vorstand des russischen Ölimperiums Yukos, mit 8 Milliarden Dollar Vermögen reichster Russe des Jahres 2003. Sprecher 1: auf O-Ton 02- Richter: Angeklagter, erheben Sie sich und beantworten Sie meine Frage: Bekennen Sie sich schuldig im Sinne der Anklage? Ansage /Haussprecherin Moskauer Exempel Von der Mühsal, Chodorkowski zu verteidigen Ein Feature von Mario Bandi Sprecher 3: auf O-ton 03 - Chodorkowski: Euer Ehren! Sie fragen mich, ob ich die Schuld eingestehe ... Tagelang ist mir Anklageakte vorgelesen worden, sie listet mindestens vier sich gegenseitig ausschließende Arten der angeblichen Entwendung von Erdöl auf. Wofür soll ich mich schuldig bekennen: für Diebstahl? Für rechtswidrige Aneignung? Der Verkaufserlöse oder der Gewinne? Ich muss mich zur Anklage äußern, aber ich verstehe sie nicht und bitte um Erklärung. Ich habe eine einfache Frage, zur Tatsache der Entwendung des Erdöls. Wie sind Sie darauf gekommen, dass das Erdöl gestohlen wurde? Wogegen soll ich mich verteidigen? Gegen welchen Paragraphen? Es gibt einen Paragraphen, aber was hat der mit mir zu tun? Autor: (Lachtin- Atmo) Im Jahre 2005 war Chodorkowski zu acht Jahren Haft verurteilt worden. 2009, hatte er, die Untersuchungshaft mitgerechnet, zwei Drittel der Strafe hinter sich, eine vorfristige Entlassung wegen guter Führung wäre möglich gewesen. Dies vor Augen, leitete die Staatsanwaltschaft schon im Dezember 2006 ein zweites Verfahren gegen Chodorkowski ein, verfügte - gewissermaßen parallel zur Verbüßung der ersten Strafe ? eine weitere Untersuchungshaft. Hauptpunkte der 3500seitigen Anklageschrift: der Diebstahl von 350 Millionen Tonnen Erdöl ? der gesamten Yukos-Fördermenge von 1998 bis 2003 sowie Geldwäsche. Chodorkowski und sein Partner Platon Lebedew sollen umgerechnet 20 Milliarden Euro unterschlagen und etwa 17 Milliarden Euro "gewaschen" haben. Nun stehen beide zum zweiten Mal Gericht. Weitere 20 Jahre Haft drohen. Mindestens. Sprecher 3: O-ton 04 -Chodorkowski: Nehmen wir an, ich habe das Erdöl entwendet und den Gewinn daraus haben ich und Lebedew eingesteckt. Zur gleichen Zeit bekam der Staat 40 Milliarden Dollar Steuern von YUKOS. Stellt sich die Frage: wofür hat YUKOS Erdölsteuer gezahlt? Man muss also dieses Geld an YUKOS zurück zahlen. Die Insolvenz von Yukos ist also gesetzwidrig, der Verkauf der Tochtergesellschaften auch. Autor: Eine riesige Welle von Ermittlungen und Nebenprozessen begleitet die Insolvenz und den Verkauf von Yukos seit 2006. Das internationale Ansehen Russlands leidet darunter erheblich. Westliche Yukos-Aktionäre und Investoren machen Ansprüche gegen den russischen Staat in Milliardenhöhe geltend. Die Staatsanwaltschaft bleibt unbeirrt: Sprecher 2: O-ton 05- Staatsanwalt: Euer Ehren! Wir sind in der Lage alle Fragen zu beantworten, die in dieser Sitzung auftauchen, aber wir werden diese Fragen nicht beantworten, weil die Staatsanwaltschaft nicht verpflichtet ist, Erklärungen zum Wesen der Anklage abzugeben. Sprecher 1 Richter: Angeklagter Chodorkowski, gestehen Sie Ihre Schuld... Sprecher 3: Chodorkowski M.: Euer Ehren ... Sprecher 1 : Richter: ...im Sinne der Ihnen vorgetragenen Anklage... Sprecher 3: Chodorkowski M.: Euer Ehren..... ich bitte mich eine Minute mit meinen Anwälten beraten zu können. Sprecher 1 : Richter: Eine Minute Pause. Atmo Straße Autor: Kein fernsehtauglicher Justizpalast beherbergt das Bezirksgericht Chamównitscheskij. Der Prozess findet in einem bescheidenen vierstöckigen Gebäude auf einer schmalen Straße im Moskauer Zentrum statt. Das Haus wirkt wie ein Symbol: der arme betrogene Staat führt den reichen Betrüger einer gerechten Strafe zu. Sprecher 2 : O-ton 07 Rentner: Leider gibt es zu viele solcher Schwindler wie Chodorkowski. Sprecher 5 : O-Ton Junger Mann: Ja, das ist so ein Oligarch, nicht? Hab ich im Fernsehen gesehen. Sprecher 2 : Rentner: Im Fernsehen wurde viel über ihn berichtet. Ein Halunke.... ein Mistkerl. Sprecher 5 : Junger Mann: Ich glaube, er hat sein großes Geld nicht mit den anderen geteilt. Sprecher 2 : Rentner: Der denkt nur an sich. Für sein Volk tut er gar nichts. Sprecher 5 : Junger Mann: Ich bin 30, ... mir ist das so was von egal ... diese Burschen haben doch sowieso alle Dreck am Stecken. Die Angeklagten und die Richter. Sprecher 1 : O-Ton 08 Polizist Kein Kommentar. Autor: Ein Polizist.... Sprecher 1 : O-Ton 08 Polizist Kein Kommentar. Mit Ihnen rede ich nicht. Nein. Unsre Sache ist, zu dienen. Autor ....Der Polizist bewacht nicht das Gerichtsgebäude. Er hat eine der Mahnwachen im Auge. Überall in der Stadt stehen Leute ? einzeln, in Grüppchen, schichtweise. Sie halten Plakate hoch: ein Foto Chodorkowskis, darunter: "Freiheit für die politischen Gefangenen!" Sprecher 6 : O-Ton 09 Älterer Mann Die haben uns unter idiotischem Vorwand die Protestaktionen verboten. Deswegen stehen wir hier einzeln herum. Einzeln auf der Strasse zu protestieren ist in Russland wohl noch erlaubt. Autor: Michail Krieger, etwa Mitte fünfzig. Sprecher 6 : O-Ton weiter Mich empört die Ungerechtigkeit. Ich habe Respekt vor diesen beiden Menschen. In all den Jahren ist es nicht gelungen, sie klein zu kriegen. Musik Sprecher 5: O-ton 010 W.Kluwgant Ich war nicht immer Rechtsanwalt. Ich habe vorher war ich in großen Ölfirmen gearbeitet, daher kenne ich Michail Chodorkowski. Einige Kollegen haben mich gefragt, ob ich an diesem Fall mitarbeiten würde. Das war keine einfache Entscheidung. Autor: Seit zwei Jahren gehört Wadim Kluwgant zum Moskauer Anwaltsteam von Chodorkowski. Sprecher 5: O-ton 010 ? W: Kluwgant: Wenn das Gericht wirklich unabhängig wäre, käme es gar nicht umhin, unseren Mandanten freizusprechen. Wir brauchten keine Hilfe oder keinen Befehl von oben, wir könnten alles selbst erledigen, und der Richter wäre in der Lage, unsere Ansicht nachzuvollziehen. Denn es gibt ja keine schrecklichen Untiefen in diesem Fall. Atmo. Gericht Vorlesen des Anklagetextes. Autor: Die Klageschrift wird verlesen. Statt in dem üblichen Stahlkäfig sitzen die Angeklagten in einem eigens gefertigten prächtigen V.I.P-Kasten aus Panzerglas, den das Publikum sofort "Aquarium" tauft. Ein enger Kasten, man kann sicher schlecht atmen darin. Um sich mit ihren Anwälten zu beraten, müssen die Angeklagten eine Mikrofon-Taste drücken. Ein diskretes Gespräch ist da unmöglich ? zumal links und rechts des Aquariums Polizisten wachen. Weitere sechs oder sieben Mann Spezialeinheit, schwarze Uniform, kugelsichere Weste, Maschinenpistole, sind im Saal verteilt. Kampfbereit, mit todernsten Gesichtern mustern sie das Areal. Nach drei Stunden sind sie fest eingeschlafen. - Heute wird keine gewaltsame Befreiung der Arrestanten mehr erwartet. Atmo. Vorlesen des Anklage Textes. Autor: Draußen auf der Straße nähert sich eine Kundgebung: "Weg mit Putins Justiz, Freiheit für Chodorkowski!" - der Gerichtsdiener schickt sich an, die Fenster .zu schließen, sofort wird in dem kleinen Saal die Luft knapp. Es hat schon vor Beginn der Verhandlung etliche Zeit gekostet, einige Protestierer vom Dach des gegenüberliegenden Hauses herunterzuholen und die Ordnung wiederherzustellen. Die Verlesung der Anklage dauert von März bis September 2009. Atmo. Strasse. Sprecherin 1: O-Ton Ältere Frau Die Spezialeinheit packt uns und befördert uns aufs Polizeirevier, ´zig Male schon. Ich bin bloß Rentnerin, aber ich habe das Gefühl, hier läuft was schief. Wieso darf Abramowitsch Jachten, Flugzeuge und den Chelsea-Club haben? Wieso sitzt kein anderer Oligarch? Wieso machen sie Chodorkowski zum Sündenbock? Er ist ein guter Mensch, hat viel für das Land getan. Ich komme jeden Tag und bringe Blumen für ihn und seine Anwälte mit in den Saal, damit er sieht, er ist nicht allein. Wir sind einfache Bürger, wir können ja sonst nichts bewirken. Sprecherin 2 : O-Ton Junge Frau Einige besonders fiese Polizisten brüllen uns an, wir würden von Chodorkowski bezahlt. Die können sich nichts anderes vorstellen! Wir bezahlen alles mit unserem eigenen Geld. Ich zum Beispiel vertrete nur mich selbst, keinen Verein. Sprecherin 2a : Ich komme, um Chodorkowski zu unterstützen, ich bin der Meinung, er ist unschuldig. Ich habe die Texte seiner Verteidiger gelesen und ich schaue mir ihn an, seine Frau und seine Eltern, ich glaube nicht an seine Schuld. Autor: Michail Chodorkowski wurde 1963 in Moskau geboren. Seine Eltern, Boris Moissejewitsch und Marina Filippowna, waren Ingenieure in einem Werk für Präzisionsmessgeräte. Der begrenzte materielle Wohlstand in der Sowjetunion störte sie wenig. Wie viele Menschen ihrer Generation hielten sie sich an geistige Werte. Heimatliebe. Gemeinschaftssinn. Sie verachteten Verschwendung und jede Art Repräsentationssucht. Im Unterschied zu vielen anderen sind sie so geblieben: herzlich, bescheiden, wohlwollend. Ihre Wohnung in Moskau ist immer noch dieselbe ? 2-Zimmer, 46 Quadratmeter, sagt Marina Filippowna, ohne danach gefragt zu werden. Sprecherin 1 : O-Ton Chodorkowskaja Marina F.: Er benimmt sich und kleidet sich sehr bescheiden, isst auch das gleiche, wie früher. Er sagte mir, Mama, mache Dir keine Gedanken, ich finde mich schon zurecht im Gefängnis, ich kann meine Sachen selber waschen, ich habe keine Angst vor alltäglichen Schwierigkeiten ... Er hat keine Gewissensbisse für die gelebten 45 Jahre. Und ich schäme mich nicht für ihn. Sprecher 6 : O-Ton Chodorkowski Boris M.: In unserer Familie war es immer so, dass wir nie am Geld hingen. Unsere Löhne waren nicht besonders groß und ich habe was dazu verdient mit einfacher Arbeit. Das reichte fürs tägliche Brot, war also gut. So haben wir ihn erzogen, so hat er sich im Leben benommen. Patriotismus ? ja. Wir haben ihm immer gesagt, dein Großvater ist fürs Vaterland gestorben. Wir haben uns immer alle bemüht, für die Menschen zu leben. Dass er beschuldigt wird ? da kann ich nur bitter lachen. Autor: 1986 beendete Michail Chodorkowski das Moskauer Technologische Institut für Chemie. Die Eltern hätten ihn gerne in der Forschung gesehen. Aber er war im Institutskomitee des Komsomol, der kommunistischen Jugendorganisation, aktiv. Eine aufregende Zeit hatte begonnen, die politische Arbeit wurde plötzlich interessant. Keiner konnte wissen, ob sie die Karriere befördert oder verhindert. Besser als zuzusehen war sie allemal. Mit Gorbatschows Perestroika öffnete sich ? langsam - das Denken und ? schneller - die Wirtschaft. Richtig Geld war zuerst mit Computerhandel zu machen. Der Import von PCs, die Entwicklung von Software in russischer Sprache brachten bis zu 3000 Prozent Gewinn. Das war die kurze Zeit des Goldrauschs, der Umwertung aller Werte. Eine Moskauer Wohnung gegen ein westliches Videosystem. Eine Büchse Kaviar für einen Dollar. Für den Besitz dieses Dollars wanderte man nicht mehr in den Knast. Der Kaviar verkaufte sich im Westen mit hohem Gewinn, und der russische Markt sog Westprodukte auf wie ein trockener Schwamm. Große Vermögen entstanden Ende der 80er, Anfang der 90er-Jahre, und ein Begriff: Russenmafia. Sprecher 3: Michail Chodorkowski: Als ich angefangen habe, 1987, gab es noch keine solch schrankenlose Kriminalität. Danach waren wir zu groß für gewöhnlichen Banditen. Unser business war ihnen technisch zu komplex und auch nicht interessant wegen seiner Größe und Durchschaubarkeit. Autor: Aus den Gewinnen eines von ihm gegründeten Technologiezentrums, das erfolgreich Know How verkaufte, baute Chodorkowski eine private Bank auf, mit dem Ziel, die gerade jetzt entstehende Privatwirtschaft zu finanzieren. Sein Freund, Platon Lebedew, nun mit Chodorkowski angeklagt, wurde Geschäftspartner und Präsident dieser Bank. Außerdem war Chodorkowski, der ehemalige Komsomolsekretär, in politischen Kreisen bekannt - so wurde er 1993 Stellvertretender Minister für Kraftstoffe und Energie. Und Boris Jelzins treuer Mitstreiter und Wahlhelfer. Sprecherin 2 : O-Ton I. Jassina: Ich kenne ihn seit den 90er-Jahren. Er war damals Bankier und ich Journalistin. Er war genau wie die anderen, wie Beresowski und Smolenski. Jung, unverschämt, gierig. Klar, es war das Morgenrot des Kapitalismus. Autor: Irina Jassina, Mitglied des Rates für Menschenrechte bei Präsident Medwedew. Sprecherin 2 : O-Ton I. Jássina: Ein Finanzhai, ein Kapitalist, ist nicht automatisch ein Verbrecher. Chodorkowski ist kein Mensch, der das Gesetz gebrochen hat, sondern einer, der Lücken im Gesetz nutzte, das ist wahr. Er häufte ein unerhörtes Vermögen an, kam zu riesigem Eigentum, weil er klug war und schnell, viel arbeitete und wusste, was er will. Letztlich ist in diesen Jahren niemand daran gehindert worden, sein Sofa zu verlassen. Ich finde es sehr traurig, dass er allein für seine ganze Zunft büßen soll. Er ist kein Heiliger, doch das hat er nicht verdient. Sprecherin 1 : O-Ton Chodorkowskaja Marina F.: Das war völlig unerwartet für uns, ein Schock, als wir erfuhren, dass er ein businessman werden will. Wir wollten ihn davon abbringen, ich besonders, weil ich von meinen Eltern wusste, wie es in den 20er-Jahren war, als Lenin die Selbstständigkeit erst erlaubte, und dann gingen die Geschäftsleute doch in den Knast. Ich sagte, Mischa, so wird es enden. - Nein, Mama, das sind neue, andere Zeiten. Sehen Sie ? wieder die alte Geschichte ... O-Ton: Atmo. Anklage Text Autor: Es ist ein offenes Geheimnis, dass Mitte der 90er-Jahre die Leute aus Jelzins innerem Zirkel die besten und größten Portionen aus der russischen Wirtschaftspirogge erhielten, zum Dank für Loyalität und Wahlkampfhilfe. Auch, dass der Staat den künftigen Oligarchen das Geld zum Kauf ihrer Anteile geliehen hat. Nach 80 Jahren Sozialismus gab es keine erprobte Gesetzgebung für die Privatwirtschaft, das Wort des Präsidenten war Gesetz. Andererseits habe die Ölindustrie in dieser Zeit nur riesige rote Zahlen geschrieben , sagt Chodorkowski in einem Interview für das russische Fernsehen 2003, kurz vor seiner Verhaftung. Sprecher 3 : O-Ton Chodorkowski M.: Wissen Sie, als ich zu YUKOS kam, 1996, hatten die einen Schuldenberg von 3 Milliarden Dollar. Die Gesellschaft produzierte 40 Millionen Tonnen Erdöl und die Produktion sank um 7 Prozent pro Jahr. Die Selbstkosten betrugen 12 Dollar pro Barrel, das heißt, sie lagen über dem Marktpreis. Sprecherin 2 : O-Ton I. Jássina: Als er Yukos gekauft hatte, kam er nach Neftejugansk, eine Stadt, wo die Menschen seit einem halben Jahr auf ihre Löhne warteten . Vom ihm, dem neuen Eigentümer forderten sie sie ein: Du bist uns was schuldig! Autor: Als Chodorkowski, eben noch Komsomolzenchef, im Juni 1996 den Direktoriumsvorsitz der YUKOS AG übernahm, war er 33 Jahre alt. Sprecherin 2: O-Ton I. Jássina: Damals hat er plötzlich verstanden, mit diesem Menschen wird er noch lange arbeiten müssen. Das bedeutet, er ist verpflichtet, für sie zu sorgen, ihr Leben organisieren. Ich bin der festen Ansicht, das Eigentum hat ihn zu einem besseren Menschen gemacht. Eigentum, wenn es in gute Hände kommt, weckt Pflichtgefühl, und das ist, sehen Sie, sehr selten in unserem Land. Sprecher 3: O-ton Chodorkowski M.: Heute kostet uns ein Barrel Öl 1,5 Dollar und wir zahlen 3 bis 4 Milliarden Dollar Steuer jährlich ? 3 bis 4 Milliarden Dollar !. Wir wachsen um 20 Prozent pro Jahr und fördern keine 44 Millionen Tonnen Öl, sondern 80. Die Gesellschaft zahlt ihren Aktionären Dividenden und legt Mittel zurück für weitere Großinvestitionen. Autor: Über seine damaligen großen Pläne schreibt uns Chodorkowski aus der Haft in einem von seinem Anwalt übermittelten Brief: Sprecher 3 : Chodorkowski M.: Ich liebe riesige Industrieprojekte, das ist meine Leidenschaft. Es gab Pläne, die Ölfelder in Ost-Sibirien zu erschließen. Dafür wären zig Milliarden Dollar zu wenig gewesen, und ich plante den internationalen Börsengang mit Yukos-Aktien, um die notwendigen Summen zu erzielen. Autor: Die Fusion von Yukos mit "Sibneft", einer Ölgesellschaft, die zu dieser Zeit von Román Abramówitsch kontrolliert wurde, und eine Beteiligung der amerikanischen Riesen Chevron und Exxon Mobile sollte den viertgrößten Erdölproduzenten der Welt entstehen lassen. Der geplante Deal mit den Amerikanern lieferte Putins Massenmedien den Vorwand, Chodorkowski quasi zum Landesverräter auszurufen, der die geliebte russische Heimat an den einstigen Erzfeind verkauft. Der wiederum dadurch die russischen Bodenschätze unter Kontrolle bekommt und den Russen seine Gesetze aufzwingt. Die fixe Idee aus der Zeit des Kalten Krieges lebt hinter dem Aushängeschild "Demokratie" fort. Chodorkowski erklärt sich ? und uns - das so: Sprecher 3: Chodorkowski M.: Die Politik der westlichen Regierungen ist extrem pragmatisch und wird oft zu recht dafür kritisiert. Doch es liegt auf der Hand, dass sich die Öffentlichkeit im Westen Russland als starkes, unabhängiges und demokratisches Land wünscht - schon im Interesse der eigenen Sicherheit und des eigenen Wohlstandes. Ein afghanischer, irakischer oder jugoslawischer Weg in der politischen Entwicklung Russlands muss vom Westen als eine Art Apokalypse empfunden werden. Sehr schade ist nur, dass diese Tatsache in Russland nicht vollständig begriffen wird, auch von den Machthabern nicht. Und dieses tiefes völkerpsychologische Problem wird verschärft durch Propaganda. Autor: In seinem Buch dieser Tage im Verlag der oppositionellen "Nowaja Gaseta" erscheinenden Buch schildert der frühere russische Premierminister Michail Kassjanow die Weiterentwicklung des Konflikts zwischen dem Kreml und dem Yukos-Chef. Chodorkowski habe ihm einen Gesetzentwurf gebracht, der das in den 90er-Jahre weit unter Wert erworbenen Eigentum der Oligarchen legitimieren sollte. Dafür sollten die Oligarchen insgesamt 15 bis 20 Milliarden Dollar an den Staat zahlen. Sprecher 5 : M.Kassjanow Putin las das Papier, sagte nichts, legte es beseite. Ich denke, es war ihm klar, was der Erlass eines solchen Gesetzes bedeutete: Nämlich, dass er die reichsten Geschäftsleute dann nicht mehr an der kurzen Leine halten kann. Solange sie keine staatlichen Garantien für ihre Eigentum haben, bleiben sie manipulierbar. Autor: Als einen weiteren Streitpunkt zwischen Putin und Chodorkowski nennt Kassjanow die Tatsache, dass Chodorkowski mehrere oppositionelle Parteien finanziell unterstützt habe - darunter auch die Kommunisten. Das sei gesetzlich zwar erlaubt, hätte Putin aber ganz besonders gegen Chodorkowski aufgebracht. Und den letzten Funken, der Putins Ärger explodieren ließ, zündete Chodorkowski nach Angaben der "Nowaja Gaseta" im Februar 2003 während eines Treffen der Spitze der russischen Unternehmerunion mit dem Präsidenten. Dort kritisierte Chodorkowski die ins Uferlose gehende Korruption im Staat. Er nannte die Summe von 30 Milliarden Dollar, die 2002 für bestechliche Beamte verloren gegangen sei. Putin soll mit einer Frage gekontert haben: Ob Yukos eigentlich Steuern gezahlt habe und überhaupt, auf welche Weise Chodorkowski denn zu seinem Konzern gekommen sei. Sprecher 3 : O-ton Chodorkowski: Ich verstehe die Situation: der Beamtenapparat, der sich immer sich sehr wohl in unserem Land fühlte, hat beschlossen zu zeigen, wer der Herr im Hause ist. Diese Strukturen untergraben den Staat. Und wir haben die Chance, uns gegen eine totalitäre Zukunft zu entscheiden. Autor: Als Chodorkowski das dem russischen staatlichen Fernsehen sagte, im Herbst. 2003, war sein Freund und Geschäftspartner, Platon Lebedew, schon verhaftet. Chodorkowski hätte noch ins Ausland gehen können. Das ist unter seiner Würde, er wollte kämpfen. Sprecher 3: Chodorkowski M.: Unser Problem auf dem Weg zu einer bürgerlichen Gesellschaft ist nicht eine mythische besondere Mentalität. Es sind dünne Besiedlung und schlechte Infrastruktur, es sind zentrifugale Verwaltungskräfte, Willkür und eine Tradition der Gesetzlosigkeit. Autor: Ein Ölmagnat redet wie ein Regierungschef... Mit dem Geld des Konzerns nahm Chodorkowski öffentliche Aufgaben wahr. Zum Beispiel modernisierte Yukos die komplette Infrastruktur an den Produktionsstandorten. Den Magnaten trieb die Idee um, dass eine allgemeine Aufklärung über Sinn und Funktion von Demokratie den Weg zum Bürgerstaat ebnen müsse. Deshalb gründete er Open Russia, Sprecherin 2: O-Ton I. Jassina: ....eine Nichtregierungsorganisation, die er aus eigener Tasche bezahlte, dazu kommen Spenden von Yukos-Aktionären. Es ist nicht etwa so, dass das Unternehmen Yukos die NGO finanziert hat. Chodorkowskis Hauptprojekt war die Schule für öffentliche Politik. In etwa 50 russischen Regionen gab es Seminare zu Geschichte und Soziologie mit Experten aus Moskau und Petersburg. Die Tagespolitik stand dabei nicht im Mittelpunkt. Autor: Irina Jássina war Programmdirektorin von Open Russia. Sprecherin 2 : O-Ton I. Jassina: Uns wurde später vorgeworfen, dass wir doch Politik betrieben hätten. Mischa saß schon 2einhalb Jahre in Haft, da wurden uns ohne Vorwarnung die Konten gesperrt, mit der Begründung, sie hätten zur Geldwäsche gedient. Etwa 5,5 Millionen Dollar hatten wir, damit hätten wir ein Jahr weiterarbeiten können. Aber nein. Wie haben alle Prozesse verloren, nun liegen die Papiere in Strassburg. Autor: Ein zweites großes Projekt rief Chodorkowski im Jahre 2000 ins Leben: Den "Verein für Internetausbildung". Von der Zentrale in Moskau aus wurden Lehrer in 75 Städten des Landes im Umgang mit modernen Kommunikationsmitteln geschult. Das Projekt bekam einen Ehrenpreis des Präsidenten. Und strandete wie Chodorkowski. Sprecherin 2: O-Ton I. Jassina: Und dann gab es noch andere Projekte: den Ausbau von Dorfbibliotheken zum Beispiel. Und ein großes Netz von Jugendcamps, so eine Art moderner Pionier-Lager mit dem Namen "Newland". Die Kinder haben dort wie in einem Staat gelebt, den sie selbst verwalteten.. Da gab es Zeitungen, freie Wahlen, einige waren Beamten, andere Geschäftsleute. Und sie hatten in ihrem Staat sogar ein unabhängiges Gericht. Atmo - Strasse: Sprecher 5 : O-Ton 029 Kluwgant W.: Gibt es den Menschen nicht, gibt es sein Problem auch nicht. Autor: Zitiert Anwalt Wadim Kluwgant einen Satz Stalins. Sprecher 5 : O-Ton Kluwgant W.: Chodorkowski macht sich zu Recht über seine Sicherheit Gedanken. In Vergessenheit zu geraten, ist für ihn lebensgefährlich. Autor: Chodorkowski sollte vergessen werden. Das war offensichtlich das Ziel der Behörden, die Chodorkowski nach dem ersten Prozess im Jahre 2005 in ein Straflager oder besser gesagt: in ein Arbeitslager bei Krasnokamensk transportieren ließen, in den hintersten Winkel Russlands, an die chinesische Grenze. Allein in einem Sträflingswaggon, streng bewacht. Ein VIP-Arrestant . 6einhalb Tausend Kilometer fuhr er, ohne zu wissen wohin. Seine Familie und seine Anwälte konnten über seinen Aufenthaltsort nur rätseln. Sprecherin 2 : O-ton N.Terechowa Meine Friseurin erzählte mir so nebenbei, ein gewisser Chodorkowski sei in die Stadt gebracht worden, seine Strafe abzusitzen. Na schön, dachte ich, noch weiter von Moskau weg geht es wirklich nicht. Bald danach bat er mich um Kontaktaufname. Andere Häftlinge hatten mich ihm empfohlen, als eine Anwältin, die nicht mit der Leitung der Strafkolonie zusammenarbeitet. Der er vertrauen kann. Autor: Natalia Terechowa listete sofort alle Rechtsverletzungen gegenüber ihrem neuen Mandanten auf. Zum Beispiel darf die Strafvollzuganstalt laut Gesetz nicht so weit vom Wohnort entfernt sein, der Aufenthaltsort des Häftlings darf vor der Familie nicht geheim gehalten werden. Um den prominenten Häftling besser bewachen zu können, wurde neue Technik installiert, ein Sonderbeauftragter kam aus Moskau. Das Personal spürte die lange Hand des Kremls und verdoppelte seinen Diensteifer. Auch die Anwältin musste sich einiges gefallen lassen Sprecherin 2: O-Ton Terechowa N.: Das fing damit an, dass der Chef der Strafkolonie sein Büro vor mir verschlossen hielt, um mir keinen Passierschein zu meinem Mandanten unterschreiben zu müssen. Bis dahin war es auch noch nie vorgekommen, dass Anwälte durchsucht wurden bis auf die Unterwäsche, pardon, aber das haben die mit mir gemacht. In Krasnokamensk. Vor dem Besuch bei Chodorkowski ? bitte Kleid ausziehen, und hinterher noch einmal. Dann haben sie in meinen Papieren gewühlt. Den Verstand haben sie verloren: sie haben einen Protokoll verfasst über die Durchsuchung meines Dossiers! Am 18 Oktober 2005 traf ich Chodorkowski zum ersten Mal. Ein ganz normaler Mensch. Er wollte ein paar Kleidungsstücke, Jeans, ich sagte, Michail Borissowitsch, wir haben hier keine Boutique in der Stadt. Er antwortete, ich bin doch nicht Róman Abramówitsch! Später war die Frage, ob er Lebensmittel bestellen kann, ich verzweifelt, frische Hummer kriege ich hier auch nicht! - Ah! Hören Sie endlich auf! Das erste, was er haben wollte, waren Bücher und Zeitschriften. Eine Liste von 174 Titeln. Autor: Chodorkowski las, schrieb Artikel, entwarf politische Programme, gab schriftlich Interviews. Wanderte dafür und für unbedeutendste Ordnungsverstöße regelmäßig in verschäfte Haft. Eines Nachts versuchte ein psychisch gestörter Mithäftling, Chodorkowski ein Auge auszustechen und verletzte ihn dabei schwer im Gesicht. Tagsüber arbeitete Chodorkowski in der lagereigenen Näherei, nach Feierabend wälzte er Zukunftsprojekte in seinem Kopf. Sprecher 3: ChodorkowskiM.: (Mail) Im Bereich der traditionellen Energieerzeugung kenne ich mich aus, hier habe ich alles erreicht, was möglich war für mich und für mein Land. Alternative Energiequellen sind für mich als Manager interessant. Der Schwerpunkt in der Energiegewinnung darf in den nächsten Jahrzehnten nicht mehr auf den Kohledioxidquellen liegen. Der Bestand unserer Zivilisation hängt davon ab! Ich arbeite darüber, analysiere, sammle Material, schreibe eigene Ideen auf. Atmo?Chodorkowski wird ins Gerichtsgebäude gebracht. Sprecherin 1 : O-Ton 032 Ältere Dame: Sehen Sie, wie er bewacht wird? Wie ein Geisteskranker!. Aber er ist ein normaler guter Mensch. Keiner wird ihn gewaltsam befreien, er läuft nicht weg. Wozu diese Handschellen? Und im Saal das Aquarium, wo man kaum atmen kann ... Mischa, Freiheit für Dich! Atmo: O-Ton. Aufrufe. Strasse Autor: Bis zum baldigen Wiedersehen! hatte Chodorkowski seine Briefe aus der Haft unterschrieben - da war ein Ende in Sicht. Jetzt, beim zweiten Prozess, geht es um Lebenslänglich. Auf der langen Treppe zum Saal 7, Moskau, Bezirksgericht Chamównitscheskij , stehen eng zusammengedrängt: Familienangehörige, Sympathisanten, Politiker, Journalisten, Schriftsteller. "Alle vier Stufen runter!" ? befiehlt der Polizist, schwarze Uniform, kugelsichere Weste, eine Kalashnikow über der Schulter. An ihre Wächter gekettet werden Chodorkowski und Lebedew in den leeren Gerichtssaal geführt, in den Panzerglaskasten. Sprecher 5: O-Ton Besucher: Ich bin zum ersten Mal hier. Ich habe das Gefühl, alle begreifen das Absurde dieser Situation, einerseits - andererseits hat mich der Aufpasser sogar wegen eines Lächelns ermahnt. Wieso grinsen Sie die ganze Zeit? Das ist kafkaesk. Sprecherin 2 : O-Ton 036 Junge Frau mit Buch: Die Bewacher haben mich um dieses Buch gebeten. Die von Chodorkowski und Lebedew! Die Spezialeinheit! Sie lachen uns aus und fragen, was wir hier suchen. Einer meinte, Chodorkowski hätte doch die tschetschenischen Banditen gesponsert. Wir : Nein! Umgekehrt, er hat sie aus Neftejugansk vertrieben! ? Sie: Das ist nicht wahr! ? Wir: Doch! ? Sie: Kann man das irgendwo nachlesen? Atmo. Gerichtssaal. O-Ton Autor: Jetzt dürfen die Anwälte in den Saal, dann rückt das Publikum nach. Wieder Gedränge, es gibt nur 4 Reihen Holzbänke. Harsch schieben die Gerichtsdiener die Stehengebliebenen zurück in den Gang. Die Staatsanwälte tragen blauen Offiziersuniformen, die russische Justiz ist militärisch organisiert..... und dann: der Richter in schwarzer Robe. Atmo. O-Ton Gerichtssaal. Der Richter spricht. Autor: Der Richter fragt, ob Chodorkowski, Michail Borissowitsch, die Anklage klar sei. Und gibt dem Angeklagten das Wort. Chodorkowski, der Manager, liebt Powerpoint-Präsentation. Zu seiner Verteidigung lässt er kurze Texte und Grafiken an die Wand in Gerichtssaal projizieren. Sprecher 3: O-Ton Chodorkowski M.: Nun kommt das Lustigste: Ich werde des Diebstahls von 350 Millionen Tonnen Erdöl bezichtigt. Als ob es um einen Eimer Farbe ginge oder um ein Stück Wurst! Man kann sich ein Fass vorstellen, eine Zisterne ? dafür gibt es einen Paragrafen im Strafgesetz: Aber, Euer Ehren, diese Ermittlungsgenies sprechen von 350 Millionen Tonnen Erdöl. Das ist ein Zug, der dreimal um die Erde reicht! Wo bleibt der Bericht in dem steht, wie, wann, wo genau das Erdöl verschwunden ist? Euer Ehren, schlagen Sie den verehrten Staatsanwälten vor, auf der Stelle den nicht vorhandenen Bericht zu unterschreiben! Sobald Sie die Anklagepunkte auf sachliche Richtigkeit geprüft haben ... Sprecher 2: O-Ton Staatsanwalt: Einspruch! Verzeihen Sie Michail Borissowitsch, Sie sind aufgefordert, sich zur Anklage zu äußern und keine rhetorischen Fragen zu stellen! Euer Ehren, bitte.... Sprecher 3 : O-ton Chodorkowski: Sie bringen ? und dafür sitze ich über zwei Jahre in Untersuchungshaft ?eine Anklageschrift vor Gericht, in der kein wirklich beweiskräftiger Fakt zu finden ist! Autor: Der Richter, Wiktor Danilkin, ist vielen im Saal ein Rätsel. Wie kann ein einziger Mensch einen solchen Berg von Dokumenten überblicken? Und obwohl er mitunter wohlwollend drein schaut und kleine Scherze macht, verfährt er mit den Anträgen und Einsprüchen der Verteidiger rigide und sorgt offensichtlich dafür, dass die Staatsanwaltschaft den Prozess nach ihrem Plan führen kann. Doch die Angeklagten lässt er ausreden. Atmo: Gerichtssaal. Sprecher 3 : O-Ton Chodorkowski M.: Die Hauptaufgabe und gleichzeitig das Problem der Staatsanwaltschaft und des schäbigen korrumpierten Packs, das bei diesem Prozess Regie führt, besteht darin, eigennützige Interessen hinter höheren politischen Zielen zu verstecken. Diejenigen, die an der Zerschlagung von Yukos ein paar Millionen verdient haben, fürchten sich vor unserer Freilassung. Schon während des ersten Prozesses wurde das russische Rechtssystem öffentlich vergewaltigt. Jetzt versucht man das zum zweiten Mal und man wird den Rest Vertrauen in Präsident Medwedew ruinieren. Aber ich rede gar nicht von Politik, nicht von Putin und seinem Stellvertreter Igor Setschin, sondern über die Tausenden Untersuchungsbeamten, die unser Land zu einem bürgerfeindlichen Ort machen, die tagtäglich Tribute eintreiben und den Alltag vergiften. Atmo: Gerichtssaal. Staatsanwältin protestiert. Sprecherin 2 : O-Ton Jassina I.: Die Leute, die sich Chodorkowskis Eigentum genommen haben, ließen seine Verpflichtungen außen vor. Das heißt, die Rosneft-Gesellschaft, die sich Yukos fast vollständig einverleibt hat, unterstützt seine Wohltätigkeitsprojekte nicht. Sie haben sich nur den fette Braten geschnappt. Die Pflichten blieben bei Chodorkowski hängen, und er erfüllt sie. Insbesondere betrifft das das Internat in Koralowo. Autor: Irina Jássina meint die etwa 40 Kilometer von Moskau entfernte Internatsschule für bedürftige Kinder, die Chodorkowski 1992 mit privaten Mitteln - unabhängig von Yukos ? aufzubauen begann und die heute von der "Chodorkowski Foundation" in England finanziert wird. Eine Stiftung, deren Kapital die englische website charitydirect.com für das 2007 mit 317 Millionen Pfund angibt. Atmo: O-Ton Atmo. Schulmädchen 1 Ich komme aus dem Gebiet Samara. Das Zentrum für Familienfürsorge hat mir angeboten, hier zu lernen. Das heißt, meiner Tante wurde das angeboten ... es wurde gesagt, hier habe ich beste Chancen für die Zukunft! Schulmädchen 2 Und ich komme aus Sibirien, aus Angarsk, am Baikalsee. Ich habe ebenfalls den Hinweis vom Sozialamt bekommen. Sie sagten, hier gibt es eine gute Perspektive, ich hab zugestimmt. Vier Jahre bin hier. Wie sind hier die ältesten ... Schulmädchen 3 Wir lernen viel mehr als in einer normalen Schule... und außerdem ist hier alles so.... heimatlich, wie in einer Familie. Wir werden hier gut auf die Härte des Leben vorbereitet. O-Ton Konzert Autor: Jedes Jahr am 16. April ist Tag der offenen Tür in der Internatsschule Koralowo. An einem 16. April wurde Yukos gegründet. Lernen und Leben ist hier für alle Schülerinnen und Schüler kostenlos. Das Lyzeum führt zur Hochschulreife und hat Technik als Lehrplan-Schwerpunkt; Internet und Notebooks für alle sind selbstverständlich. Das Freizeitprogramm geht weit darüber hinaus. Die Klassen besuchen Theater und Museen in Moskau und Sankt Petersburg; die Schule hat auch ein eigenes Theater, einen Chor und ein Jazz-Orchester, es gibt einen Ballettsaal und eine gut sortierte Bibliothek, ein Video- und Webdesignstudio, einen Modesalon. Auf der großen Bühne in der Aula beginnt ein festliches Konzert. O-Ton: Konzert: Applaus. Musik. Gedichte. Autor.: Die Schule liegt auf "Koralowo", dem ehemaligen Landsitz der Fürstenfamilie Wassiltschikow, den Chodorkowski vom Staat erworben hat. Wie der Traum eines Idealisten von einem sanften, solidarischen, wohlerzogenen Russland wirkt hier alles. Park, Wald, Wiesen - ein riesiges, gepflegtes Terrain. Die Verwaltung Direktion amtiert in einem sorgsam restaurierten Herrenhaus, und in den zweistöckigen bestens ausgestatteten "Cottages" wohnen zur Zeit 175 Kinder. Eigentlich sollte Platz für tausend geschaffen werden. Eine große Schar von Chodorkowski-Enthusiasten. Allen voran: Oma und Opa. Chodorkowskis Eltern. Atmo. Konzert Sprecher 3 : Chodorkowski M.: Für meinen Vater ist die unbehauste Kindheit ein schwieriges Thema. Er gehört der Kriegsgeneration an. Dieses Gefühl hat er offenbar auf mich übertragen. Ich kann mir obdachlose Kinder nicht ungerührt ansehen. Das wurde in den 90er-Jahren ein akutes Problem, ist es bis heute. Um es zu lösen, braucht man nicht nur Geld, auch Menschen, die sich für die Kindern aufopfern. Früher haben wir in den Regionen etwas unternommen, in denen Yukos tätig war, haben versucht, den Kinderheimen zu helfen, ich habe meinen Einfluss in der Regierung dafür benutzt. Aber das war alles nicht genug. Also, ehrlich, warum habe ich das Lyzeum geschaffen: für mein eigenes Gewissen, für meine Eltern, für Gott. Autor: Chodorkowskis betagte Eltern verwalten die Schule. Zuerst wollten sie nicht, die Verantwortung war vor allem dem Vater zu groß ? inzwischen tun sie es mit doppeltem Einsatz für den Sohn ... Sprecher 6 : O-ton?Chodorkowski Boris: Vergessen Sie nicht, ich bin schon 76, meine Frau 75. Selbstverständlich wollen wir unseren Sohn noch frei sehen. Das lastet schwer auf der Seele, aber die Kinder lenken mich ab. Ich komme, sie begrüßen mich, fragen, wie es mir geht. Dann wird es leichter. Ich bin ihnen sehr dankbar dafür. Atmo Schule Autor: Die Schüler kommen aus allen Ecken Russlands. Unter ihnen Kinder, deren Eltern 2002, während der Terrorakte von Kaspijsk und im Moskauer Musicaltheater, ums Leben gekommen sind. 26 junge Leute sind hier, die den Anschlag auf die Schule im tschetschenischen Beslan 2004 überlebt haben. Damals starben 334 von 1200 Geiseln. O-Ton Vater und Kind Autor darauf: Marik zum Beispiel hat viele Freunde in Beslan verloren. Er ist jetzt 13 und seit zwei Jahren hier. Er fühlt sich inzwischen wohl, mag Algebra und die Internet-Stunde mehr als Sport. Das Pensum ist streng, kein Vergleich mit der Schule zu Hause in Beslan. Außer sehr guten Lehrern gibt es fest angestellte Psychologen und Ärzte, die sich notfalls Tag und Nacht um schwer traumatisierten Kinder kümmern. Sprecher 1 : O-Ton Vater eines Schülers: Ich heiße Murat Kantemirow, ich bin der Vater von Marik. Damals, nach dem Terror, hatte er starke Verbrennungen und natürlich einen psychisches Schock ... Jetzt ist alles, Gott sein dank, Vergangenheit. Atmo: Konzert im Internat. Autor: Ein Oligarch, ein Ölmagnat, ein Dieb, der sich in solchem Ausmaß für Russlands unglückliche Kinder einsetzt, passt nicht ins Bild des Verbrechers. Es versteht sich von selbst, dass die kremltreuen Medien kein Wort über das Lizeum "Koralowo" verlieren. Wenn es nur das wäre! Im Jahr 2006 stürmten Spezialeinheiten des Innenministeriums das Lyzeum, um Dokumente und Computer der Verwaltung zu beschlagnahmen. Man erhoffte sich Informationen über YUKOS. 2009 forderte der Fiskus von den Eltern der tschetschenischen Kinder aus Beslan Steuern für deren Schulbildung in Koralowo. Es heißt, Präsident Medwedew habe sich persönlich eingemischt, um die übereifrigen Beamten zu stoppen. So etwas ist in der "Republik Koralowo" undenkbar. Hier wird ein Parlament gewählt , aus den Schülern ab Klasse 9, und eine Regierung. Präsident ist zur Zeit ein 17jähriger Tschetschene. Die Gremien unterstützen den Schuldirektor. Die Hymne des Lyzeums hat übrigens Michail Chodorkowski geschrieben. Darin nehmen die Worte "Ehre, Vaterland, Brüderlichkeit" einen großen Raum ein. Im realen Russland wird indessen weiter um Recht und Gesetz gestritten. Eben, im Oktober 2009, hat der zweite Akt der Tragikkomödie mit dem Titel "Das arme, ehrliche russische Volk gegen die reichen Öldiebe" begonnen: die Anhörung von mehreren Hunderten Zeugen. Darüber kann es Frühling werden. Die Verteidigung reichte dem Richter auch eine Liste von Personen, die in den Zeugenstand gerufen werden sollten: darunter Wladimir Putin sowie dessen Freund Gerhard Schröder. Vor dem Hintergrund dieses Prozesses initiierte die Grüne Marieluise Beck im Juni 2009 eine Resolution des Bundestags an Präsident Medwedew, die Korruption im Staat zu bekämpfen. M.Beck.: O-Ton ... die Tatsache, dass über die Öffentlichkeit, über die Parlamentarier, die das sehen, eine Verbindung entsteht, ist einmal eine Ermutigung für die betroffenen Inhaftierten ... ... wir sind da, wir kommen auch wieder, (ich bin) absolut begeistert, dass mein Kollege Polenz sich öffentlich verpflichtet hat, sogar mehrere Male wieder zu kommen, ich werde auch mehrere Male gehen, Frau Leutheusser-Schnarrenberger ist ganz engagiert, es werden Kollegen aus dem Europa-Parlament mit einsteigen, in die Prozessbeobachtung, und das wird registriert im Kreml. Es wird registriert, so. Alles Weitere wird sich finden. O-Ton Chodorkowski M.: ... Ich gestehe meine Schuld nicht ein. Niemand konnte den Diebstahl feststellen und beschreiben. Die in der Anklage genannte Weise der Entwendung- Zitat ? " das physische Entfernen aus dem Besitz oder die Verbergung von 350 Millionen Tonnen Flüssigkeit", ist bewusst inhaltslos formuliert. Der Terminus "Übertragung auf die Bilanz" hat in diesem Kontext keinen Sinn. ... Absage Moskauer Exempel Von der Mühsal, Chodorkowski zu verteidigen Sie hörten ein Feature von Mario Bandi Es sprachen: Philipp Schepmann, Martin Bross, Hans Bayer, Hüssein Michael Cirpici, Axel Gottschick, Claudia Mischke, Ernst August Schepmann, Ilse Strambowski und Bettina Scholmann sowie Laura Laufenberg und Luise Bernau Regie: Mario Bandi Redaktion: Ulrike Bajohr Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Anna D`hein Musik: Arvo Pärt, 4. Sinfonie, gewidmet Michail Chodorkowski Eine Produktion des Deutschlandfunks mit dem Saarländischen Rundfunk 2009 30