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Der Tag, an dem sie, wie sie sagt, neu geboren wurde. Wir treffen die 60-jährige Rentnerin in Hamburg, wo sie regelmäßig mit anderen Landsleuten zusammen sitzt und über frühere Zeiten spricht. Sie erzählt, wie sie von einer Konservenfabrik in Dingolfing angefordert, in Istanbul eingehend von deutschen Ärztinnen untersucht wurde, mit vielen anderen Türken als sogenannte Gastarbeiterin am Hauptbahnhof in München ankam und von dort aus gleich weiter geleitet wurde: O-Ton 2: Gülgün "Das haben sie uns zugeteilt, Fahrkarte gegeben. Dann haben sie uns mal Plastikflasche mit Wasser gegeben, Tüte mit Bananen, Apfel haben wir jeder bekommen, dann haben sie uns wieder zu Zug gebracht. Bin ich zu Dingolfing gefahren, da haben sie uns gefangen. Waren wir vier Frauen, und da waren wir in einem Heim, 26 Frauen." Sprecher: Dass die Bundesrepublik Deutschland Neuankömmlinge mit Bananen begrüßt, scheint Tradition zu haben. O-Ton 3: Gülgün "War Badewanne da, aber kein warmes Wasser haben wir gekriegt. Da war Heizung da, aber Heizung ist nie an gewesen. Da haben wir Briketts angemacht auf dem Ofen drauf auf Herdplatten, dann haben wir ins Bett genommen, dass wir nicht frieren." Atmo 1: Musik Sprecher: In Deutschland lebten damals schon 900.000 Türken. Sie waren dem deutsch- türkischen Anwerbeabkommen gefolgt, das am 31. Oktober 1961 in Kraft getreten war. Es war das vierte Anwerbeabkommen - nach Italien 1955, Spanien und Griechenland 1960 - und es sollte die Bundesrepublik Deutschland grundlegend verändern. Vorausgegangen ist eine historische Zäsur, der Bau der Berliner Mauer. Damit stoppte die DDR im August 1961 den Flüchtlingsstrom, der auf über 200.000 Menschen jährlich angeschwollen war. Die boomende westdeutsche Wirtschaft brauchte Arbeitskräfte. Statt der Landsleute aus DDR kamen nun also die neuen Arbeitskräfte aus dem Südosten Europas, aus Kleinasien, Anatolien, unter ihnen viele Frauen, die von der Industrie bald bevorzugt angefordert wurden. Anfangs sollten die Gastarbeiter nur kurz bleiben, erinnert sich Haci-Halil Uslucan: O-Ton 4: Uslucan: "Die ersten Verträge waren Zeitverträge, meistens auf zwei Jahre begrenzt. Man hat relativ schnell davon Abstand genommen. Nicht aus Gutmenschentum: Man hat gemerkt, erstmal braucht man die doch länger. Zum anderen brauchen die lange Einarbeitszeiten und wenn dann Leute anfangen, profitabel zu werden für einen Betrieb, dass man die dann wegschickt und neue holt, die man neu einarbeiten müsste, wäre ja ökonomisch sinnlos." Sprecher: Der Psychologe Haci-Halil Uslucan ist Professor an der Universität Duisburg-Essen und wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung. Wir treffen ihn an einem Samstagabend in einem Café am Heinrichplatz in Berlin-Kreuzberg. Vor dreißig Jahren, sagt Uslucan, war hier, nahe der Mauer, das Ende der westlichen Welt. Eine arme Gegend, in der sich Wohnungen kaum vermieten ließen. Jetzt liegt das Quartier in der Mitte von Berlin und es brummt. In den vielen türkischen Restaurants, die ihre Tische auch nach draußen gestellt haben, ist kaum ein Platz zu bekommen. Alle Kandidaten der großen Parteien, die sich hier direkt für die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus bewarben, waren türkischen Ursprungs. Auch Haci-Halil Uslucan ist Kind eines Gastarbeiters. Er wurde 1965 im türkischen Kayseri geboren und tauschte 1973 als Achtjähriger seine anatolische Welt mit der eines Berliner Kiezes. Zuerst wohnte seine Familie mit sieben weiteren türkischen Familien in einem Mietshaus in Kreuzberg, doch bald ging es ins "bessere" Schöneberg, wo sie die einzigen Türken im Haus waren. Die deutschen Nachbarn waren freundlich, damals seien die "Türken" als besondere Bevölkerungsgruppe noch kaum im Blick gewesen. Wenn das Gespräch auf Migranten kam, ging es um "Ausländer" allgemein: O-Ton 5: Uslucan "Damals, die Ausländerkinder, das war ein bunter Strauß. Das waren die Italiener, das waren die Türken, die Griechen, Araber gab es noch zu wenig und auch Russen, vielleicht noch Spanier. Während heute, wenn von Ausländern die Rede ist, hat man kaum die Spanier im Blick, man hat auch selten die Italiener im Blick, sondern heute weitestgehend Türkeistämmige und arabisch-sprachige. Auch das Bild des Italieners, was in den sechziger Jahren auch nicht immer positiv war, hat sich sehr geändert. Die Vorstellung, die zücken gleich ein Messer, Wendigkeit, die Tricksereien, das sind nicht Dinge, mit denen wir Italien und die Italiener verbinden." Sprecher: Die "Gastarbeiter" arbeiteten überwiegend in der industriellen Großproduktion. Türken hatten einen gut Ruf, galten als fleißig, belastbar und gehorsam. Doch am 28. August 1973 sieht Deutschland andere Gastarbeiter. Türkische Arbeiter besetzen die Ford-Werke in Köln. Sie stellen dort bereits ein Drittel der Belegschaft und verdienen im Schnitt zwei Mark weniger als ihre deutschen Kollegen. Als 300 türkische Arbeiter ihren Jahresurlaub eigenmächtig verlängerten, weil sie von den 28 Tagen allein zehn für die Hin- und Rückfahrt über den "Autoput", die staubigen Landstraßen Jugoslawiens, brauchten, wurden sie fristlos entlassen. Die Mehrarbeit sollte von den verbliebenen Türken nebenbei mit erledigt werden. Verhandlungen mit der Geschäftsleitung blieben ohne Ergebnis. Türken besetzen das Werk. Mit der anfänglichen Sympathie von Betriebsrat und Gewerkschaften ist es vorbei. Zeitungen schreiben vom "Türken-Terror" bei Ford. O-Ton 6: Streik 1973 bei Ford Köln "Also, ich bin ein ausländischer Mitarbeiter," "Sie werden beschuldigt, die Arbeiter aufzuwiegeln. Stimmt das?" "Ich kann das ganz klar antworten. Das ist so: Sie sehen, dass tausende Arbeiter hier marschieren. Glauben Sie, dass nur ein einziger Mensch einfach so schaffen kann, wenn keine richtigen Gründe gibt?" Sprecher: Die Geschäftsführung holt die Polizei. Streikführer Baha Targün wird in die Türkei abgeschoben, weitere 700 Türken werden entlassen. In keinem einzigen Fall legt der Betriebsrat Widerspruch ein. Nein: die Türken ließen sich durchaus nicht alles gefallen. Auch die Gastarbeiterin Sevgi Gülgün, die ihren schlecht bezahlten Arbeitsplatz in der Dingolfinger Konservenfabrik bald zugunsten eines besser dotierten in einem Stuttgarter Altersheim tauschte, wusste sich zu wehren. Sie erweiterte auf diese Weise ihre Kenntnisse der deutschen Sprache, die sie sich ohnehin im Selbststudium bei bringen musste: O-Ton 7: Gülgin "Am Sonntag, ich sollte Fenster putzen. Ich habe gemacht, was sie gesagt haben. Da war natürlich Küchenarbeit, alles mussten wir zusammen machen. Einen Monat lang habe ich immer die Pfannen, große Töpfe geputzt. Einen Tag habe ich zu denen gesagt, wir arbeiten alle zusammen, warum soll ich denn immer die schwere Arbeit haben. Mir tut Arm weh. Dann dreht sie sich um: "Schwarze Schlange!" Ich wusste nicht, ich hab vom Kopf behalten, was das sein soll, habe ich geguckt, was das sein soll, "Schwarze Schlange" hat sie gesagt und ich habe das behalten." Sprecher: Im Oktober 1973 steht die Bundesrepublik unter Schock. Der Ölschock markiert die Zeitenwende in der Wirtschaftsentwicklung nach dem Krieg. Die arabischen Länder beschließen, die Rohölproduktion um fünf Prozent zu drosseln. Wenig später verfügt das Bundeskabinett in Bonn den sogenannten Anwerbestopp. Zu diesem Zeitpunkt zählt man in Deutschland bereits 2,6 Millionen Ausländer, die dem deutschen Wirtschaftswachstum Schwung verleihen. In der Pressemitteilung der Bundesregierung vom 27. November 1973 heißt es: Zitator: "Bundesarbeitsminister Walter Arendt hat die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg angewiesen, zeitweilig keine Arbeiter mehr aus dem Ausland zu vermitteln. Der Minister betonte dazu: Es handelt sich um eine vorsorgliche Maßnahme zur Eindämmung der Ausländerbeschäftigung. Es kann aber auch nicht ausgeschlossen werden, dass sich aus der Energieverknappung gewisse Beschäftigungsrisiken ergeben. Für diesen Fall wollen wir schon heute vorsorgen." Sprecher: Jetzt sollen auch keine weiteren Arbeiter aus der Türkei geholt werden. Mehr noch: Die Regierung rechnet mit einer nennenswerten Rückwanderung. Doch dazu kommt es nicht. Selbst sogenannte Rückkehrprämien können die Türken, die nun fürchten, nie wieder nach Deutschland gelassen zu werden, nicht zur Ausreise bewegen. Sie holen stattdessen verstärkt ihre Kinder nach, die bei der Ausreise vielfach noch in der Türkei bei der Großmutter, einer Cousine, Schwester oder Tante geblieben sind, weil die Eltern ja doch bald zurück kommen würden. Tausende dieser "Kofferkinder", wie sie bald genannt werden, erleben nach der frühen Trennung von ihrer Mutter eine neue Entwurzelung, sagt der Entwicklungspsychologe Haci-Halil Uslucan: O-Ton 8: Uslcuan "Das Kind erlebt eine zweite Traumatisierung, jetzt verliert es plötzlich die geliebte Oma. Und wenn man jetzt "worst-case"-Szenario aufmacht, im Alter von 3 Jahren verliert es die Mutter, baut zwei, drei Jahre neue Kontakte zur Oma und Tante auf und erlebt plötzlich, dass die Tante wegfällt - aus der Sicht des Kindes sind diese drei Jahre, wenn das Kind sechs Jahre alt wird, Hälfte des Lebens." Atmo 2: Musik Sprecher: 1981 unterschreiben fünfzehn deutsche Hochschullehrer das sogenannte "Heidelberger Manifest". Sie veröffentlichen es in drei rechtsextremen Zeitungen, darunter der "Deutschen Wochenzeitung": Zitator: "Mit großer Sorge beobachten wir die Unterwanderung des Deutschen Volkes durch Zuzug von vielen Millionen von Ausländern und ihren Familien, die Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums. Völker sind lebende Systeme höherer Ordnung mit voneinander verschiedenen Systemeigenschaften, die genetisch und durch Traditionen weiter gegeben werden. Die Integration großer Massen nicht deutscher Ausländer ist daher bei gleichbleibender Erhaltung unseres Volkes nicht möglich und führt zu den bekannten ethnischen Katastrophen multikultureller Gesellschaften." Sprecher: Das Zitat findet sich in einem Aufsatz von Yasemin Karakasoglu. Er trägt den Titel "Gegen den Gedächtnisverlust in der Migrationspolitik", veröffentlicht 2011 in dem roten Büchlein "Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu", eine in roten Leuchtfarben gehaltene, selbstbewusste Einmischung deutscher Muslime in die Integrationsdebatte. Yasemin Karakasouglu, 1965 als Kind einer deutschen Mutter und eines türkischen Vaters in Wilhelmshaven geboren, ist Erziehungswissenschaftlerin und Pro-Dekanin der Universität Bremen. Sie beschäftigt sich seit Langem mit den Themen, um die es seit den siebziger Jahren häufig geht, wenn von Migration die Rede ist: Die Schule und das vermeintliche Versagen türkischer Eltern, besonders die Unterdrückung der Mädchen: O-Ton 9: Karakasoglu "Was wir sehen, die Rede von den benachteiligten Mädchen, seit den siebziger Jahren immer wiederholt in der Literatur, "Die verkauften Bräute" und die "Fremde Braut", also die benachteiligten Mädchen, die quasi dazu verdammt sind, zuhause zu bleiben und nur durch eine Ehe die Möglichkeit haben, einmal ein eigenes Leben zu leben, das ist ein Stereotyp, das sich in den Statistiken überhaupt nicht abbildet. Das heißt nicht, dass es das nicht gibt. Aber es ist nicht so, dass das die Lebensrealität der türkischen Mädchen ist." Sprecher: Zwar gebe es in manchen muslimischen Familien eine Unterdrückung der Mädchen, aber sie würden nicht das Bild bestimmen. Türkische Mädchen würden beispielsweise häufiger Abitur machen als die Jungen: O-Ton 10: Karakasoglu "Da belohnt das deutsche Schulsystem einen Erziehungsstil, der sehr behütend ist und der sehr auf Disziplin und Selbstbeschränkung ausgerichtet ist, verbunden bei den Eltern, das wissen wir über Untersuchungen, mit großer Zuneigung, mit Liebe und Fürsorge. Sie zeigen sich insgesamt anpassungsfähiger als die Jungen." Sprecher: Bildung sei das große Migrationsthema der Vergangenheit - und der Zukunft: O-Ton 11: Karakasouglu "Wir müssen uns sehr stark für die nächste Generation in Deutschland einsetzen, für deren Bildung und da sind sehr viele Bildungsmaßnahmen, die inzwischen gestartet werden, um diese Kinder und Jugendlichen zu unterstützen, türkische Unternehmer, die ihre Verantwortung neu entdecken als diejenigen, die in ein Stiftungswesen eintreten müssen, um hier unterstützend zu wirken und Intellektuelle, die auf die negativen Aspekte traditioneller Orientierung hinweisen und sagen, wenn wir daran festhalten, oder wenn ihr daran festhaltet, dann könnt ihr von der anderen Seite nicht erwarten, dass sie Euch akzeptiert und respektiert." Atmo 3: Musik Sprecher: 1989 fällt die Berliner Mauer. Dass nicht wenige Deutsche dieses Ereignis nach anfänglicher Euphorie skeptisch sehen, verwundert die deutschen Türken. Dass eine Nation zusammen gehört, inhalieren schon die Schüler am Bosporus mindestens durch regelmäßige Fahnenappelle. Aber die deutsche Wiedervereinigung bringt für die türkischen Bewohner in der Bundesrepublik und West-Berlin auch Nachteile: Mit der Öffnung der Grenzen kommen hunderttausende Menschen aus dem Osten, die sich "Deutsche" nennen. Sie werden den vorgezogen beim Kampf um die knapper werdenden Arbeitsplätze: Nicht nur aus diesem Grund drängen immer mehr Kinder der ehemaligen Gastarbeiter in die Selbstständigkeit, auch Ertan Celik in Hamburg. Alles begann mit dem Imbiss "Bol Kepce", auf Deutsch: "großzügige Kelle": O-Ton 12: Celik "Es gab ein Imbiss im Schanzenviertel, Susannenstrasse, der sehr gut lief. Mein Bruder war dort beschäftigt, hat dort gearbeitet und dann wollte der Inhaber diesen Imbiss verkaufen. Dann haben wir unseren Vater gebeten, dass er uns das Geld leiht, er hat das gemacht. Eigentlich wollte ich damit gar nichts zu tun haben. Es war die Zeit, wo ich mein Abitur machen wollte, Fachabitur. Mein Bruder und mein Schwager haben das ein Jahr gemacht, aber dann sind sie nicht weiter gekommen. Ich wollte nur denen helfen, höchstens ein Jahr, aus diesem Jahr sind 21 Jahre geworden." Sprecher: Ertan Celik sitzt in einem kleinen Büro am Fleischgroßmarkt, Tor 2, in unmittelbarer Nachbarschaft der Schanze. Er ist nun - eher aus Zufall - mittlerweile Dönerfabrikant, einer von 400, die es in Deutschland gibt. Seine Firma wurde vielfach prämiert. Er setzt auf Qualität und hat 55 Angestellte. O-Ton 13: Celik "Was die Integration betrifft, kann man sagen, dass es Döner gelungen ist. Ich würde sagen, dass Döner hier angekommen ist und sich auch der Gesellschaft angepasst hat". Sprecher: Celiks Vater kam 1967 nach Deutschland und arbeitete 30 Jahre bei der Bundesbahn im Reinigungsdienst. 1980 holte er einen seiner Söhne nach: Ertan. Die Mutter bleibt mit den anderen Kindern in der Türkei: O-Ton 14: Celik "Ich war ja sechs Monate alt, als er Türkei verlassen hat, das heißt, dieses Verhältnis Vater und Sohn gab es ja gar nicht. Dann hatte ich natürlich die Mutter in der Türkei, die restlichen Geschwister in der Türkei, es war nicht einfach, es war gar nicht einfach." Sprecher: Ertan Celik ist ein sehr politischer Mensch. Er engagiert sich auch über seine Firma hinaus und unterstützt humanitäre Projekte. Er beschäftigt sich mit Fragen der Migration. Ihm missfällt, dass es etlichen Türkeistämmigen schwer fällt, sich in Deutschland zurecht zu finden: O-Ton 15: Celik "Wenn ich mir einige Migranten ansehe, dann stelle ich fest, dass sie zwar in Deutschland leben, aber eigentlich so mit den Gedanken in der Türkei sind. Und diese ganzen Fernsehsendungen, die von morgens bis spät nachts laufen, führen natürlich dazu, dass die Migranten gar nicht wissen, was in Deutschland los ist. Wenn man will, dass man hier ernst genommen wird, dann muss man etwas dafür tun und etwas dafür tun, heißt, dass man sich Gedanken macht. Ich bin der Meinung, dass hier lebende Migranten nicht nur ein Problem darstellen, dass die durchaus auch in der Lage sind, diese Probleme zu lösen." Atmo 4: Musik Sprecher: Am 11. September 2001 steuern islamische Terroristen zwei Flugzeuge in das World Trade Center in New York und töten 3.000 Menschen. Es ist der Tag, an dem die dreizehnjährige Kübra Yüksel, die heute mit Nachnamen Gümüsay heißt, politisch wird: O-Ton 16: Gümüsay "Der 11. September war für mich wichtig, ab diesem Punkt habe ich angefangen, Medien genau zu verfolgen, die Diskussionen genau zu verfolgen. Mit 14 Jahren habe ich dann einen langen Leserbrief mit einer Kurzgeschichte an den "STERN" geschrieben und sie darum gebeten, bitte nicht so schlimm über den Islam zu schreiben, weil ja nicht alle so sind. Ich habe ihn leider damals nicht abgeschickt, weil ich zu große Angst vor dem STERN hatte." Sprecher: Kübra Gümüsay ist eine moderne junge Frau. Ihre Familie verlässt die Türkei, weil die Mutter wegen ihres Kopftuches nicht mehr an der Universität Istanbul unterrichten darf. Der Vater baut am Rande von Hamburg mit drei seiner Brüder eine Im- und Exportfirma auf. Tochter Kübra, geboren in Hamburg, studiert dort Islam und lebt derzeit in Oxford. Sie ist eine sogenannte "Bloggerin". Ihre regelmäßige Online-Seite "fremdwoerterbuch" wird 2011 für den renommierten Grimme-Online-Award-Preis nominiert. Die 22 jährige kann mit einem rückwärtsgewandten Gastarbeiterislam wenig anfangen. Sie steht für eine Aufbruchsstimmung vieler junger, gebildeter Muslime: O-Ton 17: Gümüsay "Inzwischen ist es so, dass die junge muslimische Community angefangen hat, selber zu bestimmen, wer sie eigentlich sind. Was die junge muslimische Community derzeit und aktuell macht, ist, dass sie selber medial produziert, ihre eigenen Medien schafft, ihre eigenen Kanäle schafft, Musik macht, Kunst macht, sich in vielen Bereichen einfach ausdrückt und damit eine Identität schafft. Wenn man so will, kann man von einem deutschen Islam sprechen, die Sozialisierung ist eine deutsche Sozialisierung, die Religion ist der Islam. Sie sind sehr selbstbewusst in dem, wie sie sind. Obwohl ich heute noch viele Reaktionen erfahre wie, "Sie sprechen aber gut Deutsch" oder "ist ja interessant, dass Sie studieren, dass Sie so selbstbewusst sind": Sie kreieren ein neues Rollenbild, wenn man so will." Sprecher: Die Muslima hat eine regelmäßige Kolumne in der "taz" mit Namen "Tuchkolumne". Sie dürfte die einzige kopftuchtragende Kolumnistin in einer überregionalen deutschen Tageszeitung sein. Das Kopftuch ist für sie selbstverständlich: O-Ton 18: Gümüsay "Ganz in der Nähe der Wohnung gab es damals eine Moschee und für uns Kinder war die Moschee ein riesengroßer Spielplatz. Wir sind da gerne hin gegangen und meine Eltern waren sehr aktiv in der Community damals, deshalb habe ich viel durch sie gelernt und konnte denn schon mit sechs arabisch lesen im Koran." Sprecher: Zu ihren Online-Texten bekommt sie viele Kommentare. Häufig sind es Hassmails, die sie bewusst nicht löscht: O-Ton 19: Gümüsay "Weil ich möchte, dass man das weiß, dass es solche Menschen gibt und dass wir ein Problem damit haben in unserer Gesellschaft. Und wenn man solche Kommentare entfernen würde, würde man nur noch dafür sorgen, dass nicht klar wird, warum es wichtig ist, dagegen anzugehen." Atmo 5: Musik Sprecher: 2010 sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem "Deutschlandtag der jungen Union", Multikulti sei gescheitert - total gescheitert. Der Volkswirt und Bundes- Banker Thilo Sarrazin schreibt den antimuslimischen Bestseller "Deutschland schafft sich ab". Es ist, so scheint es, die Bilanz der Mehrheitsgesellschaft, die vor 50 Jahren mit einem Anwerbeabkommen die Türken ins Land holte. Landauf, landab wird das Buch erregt diskutiert. Auch die Journalistin Hilal Sezgin, 1970 in Frankfurt am Main geboren, eine erklärte Tierfreundin, die auf einem Bauernhof in Norddeutschland lebt, wird immer wieder zu Diskussionen eingeladen. Sie, Tochter zwei muslimischer Wissenschaftler, soll der Mehrheitsgesellschaft erklären, wie der Moslem eigentlich funktioniere. Über ihre Erfahrungen schreibt sie in der Wochenzeitung "Die Zeit": Zitatorin: "Ein schrecklicher Moment jedes Mal, wenn die Diskussion fürs Publikum freigegeben wird. Mit der geballten Frustration von vierzig Berufsjahren schleudert mir in egal welcher Kleinstadt eine pensionierte Hauptschullehrerin die Kopftuchfrage an meinen unbedeckten Kopf. Ein Herr in einem blauen Sakko zitiert eine Koranstelle, die völlig aus dem Kontext gerissen ist, doch seiner Meinung nach Mohammeds Blutrünstigkeit belegt. Eine Zuhörerin mit weißen Haaren hat eine Tabelle für mich zusammen gestellt, die links die Vorzüge des Christentums und rechts die Mängel des Islam aufführt. Wenn sie mir den Zettel überreichen will und ich ihn ablehne, wird sie erst richtig auftrumpfen: "Wusste ich es doch." Sprecher: Was die Türkeistämmigen von Deutschland halten, zeigen Umfragen. Sie schätzen die Demokratie und das Grundgesetz, deutsche Behörden und Krankenhäuser, bekunden mehr Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat als die Deutschen. Doch richtig anerkannt fühlen sie sich nicht. Dafür führen sie Beispiele an. Als in der Wirtschaftskrise der 70er-Jahre etliche Arbeiter in ihre Heimat Türkei zurückgehen, zahlt ihnen Deutschland die angesammelten Rentenbeiträge aus - bis auf den Arbeitsgeberanteil, den behält die deutsche Rentenkasse. Als im Mai 1993 infolge eines rechtsextremen Anschlages in Solingen ein Wohnhaus abbrennt und fünf türkeistämmige Menschen verbrennen, weigert sich Bundeskanzler Helmut Kohl trotz mehrmaliger öffentlicher Aufforderung, die betroffene Familie zu besuchen. Er lehne "Mitleidstourismus" ab, lässt er einen Sprecher ausrichten. Als in den neunziger Jahren türkischen Mitbürgern in Anerkennung ihrer Lebenssituation eine doppelte Staatsbürgerschaft ermöglicht werden soll, erhebt sich dagegen in der Mehrheitsgesellschaft massiver Protest. Der Plan wird fallen gelassen. Während derzeit mehr als 50 Prozent aller neu Eingebürgerten ihren alten Pass behalten dürfen, bleibt dies den Türken bis heute versagt. Und nun noch das Sarrazin-Buch, das gerade die treffe, auf die es in Zukunft besonders ankomme, sagt Haci-Halil Uslucan: O-Ton 20: Uslucan "Und plötzlich wird ihnen attestiert, du kannst machen, was du willst, du gehörst nicht dazu. Gerade, wenn gut gebildete Menschen aufgrund ihres Aussehens signalisiert wird, du bist nicht Teil dieser Gesellschaft, ist ja die die Wirkung viel fataler: wenn sie sich zurück ziehen, ist ja der gesamtgesellschaftliche Schaden viel größer als bei einer Personen, die ohnehin viel seltener in interethnisch gemischten Kontakten sind." Atmo 6 : Musik Sprecher: 1961 - 2011. 50 Jahre Deutsch-türkisches Anwerbeabkommen: Eine Erfolgsgeschichte? O-Ton 21: Uslucan "Wenn man hier was geschafft hat, wenn man sich ein bisschen fortgebildet hat, waren gesellschaftliche Höherplatzierungen deutlich eher gegeben. Das ist heute für junge Migranten nicht immer der Fall. Das heißt, Anpassung führt heute nicht unbedingt zu besserer Platzierung. Wir haben heute auch Migranten, die sehr gut Deutsch sprechen, die sehr eloquent sind, die auch gute Schulabschlüsse haben und trotzdem keine gesellschaftlich bessere Platzierung. Sodass man etwa kritisch sagen muss, für die Ersten hat sich die Mühe gelohnt, für die heutigen ist es ungewiss, ob sich die Mühe lohnt." Sprecher: Die 60-jährige Rentnerin Sevgin Gülgün, die 1973 nach Deutschland kam, um zu helfen, in einer Konservenfabrik Gurken, Karotten und Sellerie zu verarbeiten, bilanziert: O-Ton 22: Gülgün "Wir haben hier gearbeitet, wir waren noch jung. Kraft hatten wir auch gehabt, Deutsche haben besser gelebt, da haben sie versucht, normal zu arbeiten, normal zu leben. Wochenende mit seinen Kind und Kegel, reisen, essen gehen und das und dies. Unsere Generation haben meistens gearbeitet, wir waren unbewusst. In die Türkei gefahren, da haben wir verteilt, weil die so getan, dass sie arm sind, und da sind wir mit Schulden wieder gekommen, Kredite abbezahlt, haben wir uns geopfert, eigentlich. Sprecher: 1961 - 2011. In der Bundesrepublik Deutschland leben heute über 2,5 Millionen Menschen, die in der Türkei geboren wurden oder türkische Wurzeln haben. Nicht wenige der Zuwanderer, vor allem aus ländlichen Gebieten Anatoliens, haben einen Kulturschock erlebt und schotten sich vor der fremden, unverstandenen und bedrohlich erscheinenden Umwelt ab. Andere haben in Deutschland Karriere gemacht und sind Teil der bürgerlichen Gesellschaft Deutschlands. Bekannte Sänger, Schriftsteller sind selbstverständlicher Teil des bundesdeutschen Alltags heute. Vor allem aber haben viele - wie die Rentnerin Sevgin Gülgün hier einen harten Job gemacht. Wo ist ihre Heimat? Die Frage stellt sich schließlich bei der letzten aller Fragen: Wo möchte sie, die türkische Deutsche, begraben sein? In ihrem türkischen Dorf oder in Hamburg, wo ihre Kinder leben? O-Ton 23: Gülgin "Überlegen wir manchmal mit meinem Mann. Manchmal denken wir, lieber zu Dorf. Weil, in Deutschland, nach 20 Jahren das Grab wird weiter verkauft, wenn man nicht bezahlt. In der Türkei, wenn ein Dorf ist, keiner rührt. Das bleibt ja ewig. Und dann sagen wir. Wer kommt uns besuchen. Man merkt das eigentlich nicht, ob Kinder gekommen sind oder nicht. Aber innerliches Gefühl manchmal sagt, dann kommen sie wenigstens zum Geburtstag mit einem Blumenstrauß. (lacht)". 1