Verehrt und angespien Die Lange Nacht über den künstlerischen Grenzgänger Hanns Heinz Ewers Autor: Dr. Sven Brömsel Regie: Rita Höhne Redaktion: Dr. Monika Künzel Erzählerin: Birgit Minichmayr Hanns Heinz Ewers: Wolfgang Rüter Erich Kästner OT Rufer 1-5: Erich Mühsam: Martin Willems OT Dr. Marian Bisanz-Prakken OT Dr. Winfried Kugel OT Ilna Wunderwald: Sendetermine: 28. Oktober 2017 Deutschlandfunk Kultur 28./29. Oktober 2017 Deutschlandfunk __________________________________________________________________________ Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - insofern zutreffend. 1. Stunde Einleitung Musik – Swing aus dem Palais am Zoo, 14.9.1927 Konzertorchester Julian Fuhs: Positively Absolutely, untergelegt Erzählerin: Zwischen 1910 und 1930 ist Hanns Heinz Ewers über Deutschland hinaus bekannt wie ein bunter Hund. Seine künstlerische Laufbahn gewinnt an ständig beschleunigender Fahrt mit Oscar Wilde und endet als entsetzlicher Unfall mit Adolf Hitler. Kapriziöse Ekstasen und schlummernde Dämonen werden zu ständigen Begleitern des rastlosen Geistes, formen ihn zum Grenzgänger par excellence. Neben seinem literarischen Werk, das unerhörte Auflagen erfährt und in zwanzig Sprachen übersetzt wird, sowie seinem Schaffen als Filmpionier heben ihn die Medien häufig als Privatperson hervor, was allerdings nicht immer Huldigung bedeutet: Hanns Heinz Ewers: Von rechts und von links, wie aus der Mitte wurde ich in gleicher Weise beschimpft. Ein konservativ-antisemitisches Blatt nannte mich einen perversen Judenjungen, dessen widerlicher Reklamesucht nichts heilig sei, eine unabhängige sozialistische Wochenschrift beschimpfte mich als einen pornographischen Nichtskönner, der stets nur mit fremden Federn prunke, ein Zentrumsblatt meinte, dass es sich vermutlich um den kindischen Versuch eines talentlosen Maulhelden handle, gegen die Jesuiten Stimmung zu machen. Erzählerin: Tatsächlich befördern Abenteuer, Exzesse und ein wüstes Leben die Popularität seiner Werke. Skandale, wie der durch eine junge Wienerin, die sich aus Liebe zu Ewers erschießt und von diesem post mortem zur literarischen Figur gemacht wird, hallen lange nach. Seine Schilderungen menschlicher Abgründe mit bestialischem Ereignis-Charakter verstören die Zeitgenossen. Bei Lesungen kommt es zu Ohnmachtsanfällen. Nicht umsonst wird er damals als „deutscher Edgar Allan Poe“ und heute als „Steven King des wilhelminischen Kaiserreichs“ bezeichnet. Wir begeben uns mit diesem Paradiesvogel (???) auf ortlose Gebiete zwischen Bohème und bürgerlicher Existenz, Philosemitismus und Nationalismus, Voodoo und Wissenschaft, Mann und Frau sowie sphärischen Wandlungen und realen Drogen. Die erste Stunde unserer Sendung steht im Zeichen künstlerischer Selbstfindung und zeigt den jungen Hanns Heinz Ewers zwischen Hypnose, Cabaret, Märchen und Weltenbummel. Die zweite Stunde beschreibt den glanzvollen Erfolg seiner Bücher ab 1906, zeigt den Provokateur und Dandy sowie das frühe Film-Geschäft. Die dritte Stunde umreißt die Zeit in den USA während des 1. Weltkriegs und widmet sich Ewers als Ameisenforscher in den 20er Jahren. Und schließlich erleben wir einen Teufelspakt in Nazideutschland und den daraus resultierenden Untergang eines schillernden Künstlers. Musik – Zarah Leander: Davon geht die Welt nicht unter [nur 2. Kehrreim!] [1:28] O-Ton Erich Kästner [ca. 1:10]: [Über den Text gesprochen: Erich Kästner spricht] Ich stand vor der Universität, eingekeilt zwischen Studenten in SA-Uniformen, den Blüten der Nation, sah unsere Bücher in die zuckenden Flammen fliegen und hörte die schmalzigen Tiraden des abgefeimten kleinen Lügners. Begräbniswetter hing über der Stadt. Der Kopf einer zerschlagenen Büste Magnus Hirschfelds stak auf einer langen Stange, die, hoch über der stummen Menschenmenge, hin und her schwankte. Es war widerlich. Plötzlich rief eine schrille Frauenstimme: Dort steht ja Kästner! Eine junge Kabarettistin, die sich mit einem Kollegen durch die Menge zwängte, hatte mich stehen sehen und ihrer Verblüffung laut Ausdruck verliehen. Mir wurde unbehaglich zumute. Doch es geschah nichts. (Obwohl in diesen Tagen gerade sehr viel zu geschehen pflegte.) Die Bücher flogen weiter ins Feuer. Die Tiraden des kleinen abgefeimten Lügners ertönten weiterhin. Und die Gesichter der braunen Studentengarde blickten, die Sturmriemen unterm Kinn, unverändert geradeaus, hinüber zu dem Flammenstoß. Knisternder, historischer Sound von 1933, knackendes Feuer 1. Rufer: Gegen Klassenkampf und Materialismus, für Volksgemeinschaft und idealistische Lebenshaltung! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Marx und Kautsky. 2. Rufer: Gegen Frechheit und Anmaßung, für Achtung und Ehrfurcht vor dem unsterblichen deutschen Volksgeist! Verschlinge, Flamme, auch die Schriften von Tucholsky und Ossietzky!  3. Rufer: Gegen seelenzerfasernde Überschätzung des Trieblebens, für den Adel der menschlichen Seele! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Sigmund Freud. 4. Rufer: Gegen Dekadenz und moralischen Zerfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Heinrich Mann, Erich Kästner und Hanns Heinz Ewers. 5. Rufer: Gegen literarischen Verrat am Soldaten des Weltkriegs, für Erziehung des Volkes im Geist der Wehrhaftigkeit! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Erich Maria Remarque. Hanns Heinz Ewers: Widerlich… einfach widerlich. Wollte mich mit diesen Possen ein wenig aufheitern – und nun ist mir kotz-übel… Mein Gott, die Büste von Hirschfeld. Wie gut, dass ich dich in Ascona weiß, Magnus. Die würden dich einfach… Ist das alles real? Sowas hätten wir nicht zu träumen gewagt. [nachdenklich] Die Poesie des Augenblicks zogen wir aus einer hypnotischen Wirklichkeit. Vielleicht waren wir nie auf dieser Welt... Aber wer will das bei dem Anblick? Waren unsere Entgrenzungen von Gesetz und Uhr nicht wundervoll? Meine Vorträge im wissenschaftlich-humanitären Komitee zur geschlechtlichen Offenheit – deine Idee… die drei Prachtbände Liebe im Orient über die Kunst sexueller Praktiken – meine... [lacht] Jetzt sind wir hart aufgeschlagen. Im Gegensatz zu mir, hast du geahnt, wo die hübsche Reise hingeht… Äh… gibt’s doch nicht, da ist Kästner... Kaum zu glauben; steht genauso dämlich wie ich bei der eigenen Bücherverbrennung. Aber glotzt durch mich durch, der feine Herr... will mich nicht kennen... wie die Anderen... [lacht]… Bin der Einzige, der auch noch von den Verfemten verfemt wird… Und Recht habt ihr! Pazzo, Pazzo Pierrot!! Seit ich den Wessel-Roman geschrieben hab, dies more than rotten work, bin ich... [lacht]… Yes! Wer sich mit Nazi-Pack einlässt, wird selbst zu Kot. Mir ist verdammt übel... muss nach Hause. Musik – Franz Schreker: Der Geburtstag der Infantin, Part 2 [2:19] Erzählerin: Schon der junge Hanns Heinz, der 1871 in Düsseldorf geboren wird, versteht sich als Außenseiter und versteckt sich hinter der Maske des Pierrots. Sein Leben gleicht einem Abenteuerroman, und seine Geschichten sind erlebte Gestaltung. Der Versuch, Wirklichkeit und Phantasie dieser Schriften aufzuschlüsseln, endet in Maskeraden ad infinitum. Hanns Heinz Ewers: – – Du lieber Gott, das konnte ich schließlich. Ich bin von Natur aus sehr schamhaft! Ich glaube, nie hat sich ein Junge mehr „geniert“ bei all und jeder Gelegenheit, als ich es tat! Dann, um das zu bekämpfen, lernte ich schon sehr früh Masken zu tragen! – Machte die wildesten, unglaublichsten Sachen, die gar nicht meiner Natur entsprachen – nur um die „Scham“ zu überwinden! – Ein Beispiel: in Bonn hieß ich als Student der „Pistolenhans“ – und oft genug gingen andere Studenten aus dem Lokal, indem ich saß mit den Worten: „Hier riechts nach Pulver!“ – Ich galt als (und war!) ein wilder Raufbold – und doch war es reine Maske – ich war drinnen unendlich weich! – – Männer sahen das nicht – Frauen merktens leicht instinktiv! Erzählerin: Auch beim Mummenschanz geliebter Kollegen wie dem Dramatiker und Bürgerschreck Frank Wedekind oder dem modernen Tonschöpfer Ferruccio Busoni schaut er sehr genau hin; für die Erinnerungen der allseits bekannten Fratellini-Clowns schreibt er ein Vorwort. Zwischen den späten 1890er Jahren und 1911 zeichnet Ewers seine Essays in Zeitschriften häufig mit Cyrano, aber auch mit Nazi. Im Nachlass des Dichters findet sich die siebenseitige Handschrift der Erzählung Nazi vom Oktober 1891. Dort schreibt der 19-Jährige: Hanns Heinz Ewers: On aime partout, mais on ne sait aimer qu’à Paris! – das „qu’à Paris“, das ist er, der Nazi! Erzählerin: Die frühen Ewers-Texte bieten natürlich keineswegs frühe Merkmale seiner vierzig Jahre späteren Mesalliance mit den Nationalsozialisten. Denn Nazi hat hier noch die mundartliche Bedeutung von Wagemut oder Schürzenjäger und ist in dieser Form auch von Wilhelm Busch benutzt worden. Von dieser Konnotation zwischen Liebeskunst und Draufgängertum ist der junge Schwärmer durchdrungen. Vor allem versucht er Lili, die gescheiterte Liebe seiner Jugend, zu kompensieren, was nicht recht gelingt, denn sie wird in unterschiedlichen erotischen Facetten über vierzig Jahre durch seine Werke schimmern. Hanns Heinz Ewers: War ein Bub von sechzehn Jahr, als sie mich gefangen, mir den Strick von Mädchenhaar um den Hals gehangen. Lili pfiff ein narrig Stück aus verschleimter Kehle, doch ich glaubt an die Musik wie an meine Seele. Lili pfiff! Und feierlich schwang ich meine Beine wie ein Äffchen tanzte ich stolz an ihrer Leine. Heut spiel ich zum Tanze auf, rausche und posaune, und die Mädchen schaun herauf, springen meiner Laune. Polka hopst Elisabeth, Walzer schleift mir Ella, Cancan tanzt die schwarze Gret, Stenie Tarantella. Ach, wie gerne gäb ich doch Fiedeln, Hopsen, Schleifen, tanzt als Äffchen einmal noch ich an Lilis Pfeifen. Erzählerin: Trotz der Krise mit Lili bewältigt Hanns Heinz im März 1891 knapp sein Abitur und notiert ins Tagebuch: Hanns Heinz Ewers: Wenn ich im Examen durchgefallen wäre, hätte ich einen guten Grund gehabt, mich totzuschießen! Ich hatte mir einen Revolver besorgt und ein paar Worte an Lili geschrieben. Sonst war ja nichts zu tun! – Leider Gottes fiel ich nicht durch, sondern bestand recht gut, so muß ich’s wieder aufschieben! Wie lange – –? Erzählerin: Der 19-jährige tritt unmittelbar dem Kaiser-Alexander-Gardegrenadier-Regiment No. 1 in Berlin bei, wird jedoch nach 44 Tagen wegen Kurzsichtigkeit entlassen. Einmal in der Stadt seiner Wünsche, schreibt er sich sofort an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität für Jura ein und notiert am 20. Mai 1891: Hanns Heinz Ewers: Ich brauche Liebe und ich muss Liebe haben. Ich giere nach einem Herz, das für mich schlägt, ich sehne mich danach, das ist mein Traum im Wachen und im Schlafen. Liebe, Liebe, ich will lieben und ich will geliebt sein. Erzählerin: Ewers genießt ausgiebig das Studentenleben, hat ungezählte Affären, fühlt sich in der künstlerischen Halbwelt Berlins zu Hause und sammelt Erfahrungen mit Prostituierten. Die Herausgeber der Briefe Franziska zu Reventlows, bringen den Schwerenöter in die Nähe der sagenumwobenen Gräfin, die die Münchner Bohème in Atem hielt, was mentalitätsgeschichtlich gut gepasst hätte, verwechseln ihn dabei jedoch mit dem Autor Ludwig Ewers. In Wirklichkeit gilt seine Leidenschaft der jungen Malerin und Philosophin Margarete Susman, die später im George-Kreis agiert und mit ungewöhnlichen Publikationen reüssiert. Stefan George schätzt ihre Verse und fordert sie auf, die Blätter für die Kunst zu bereichern; eine nur wenigen Autoren vergönnte Gunst, welche die selbstbewusste Intellektuelle jedoch ablehnt. Denn bereits mit Ewers lernt Susman eigene Wege gehen. In ihren Erinnerungen schreibt sie, dass ihr dieser Liebhaber „das Leben in mehr als einer Hinsicht erschwerte“, aber sie von ihm eine Anzahl „wirklich schöner Gedichte bewahrt“ habe. Nach „der stürmischen Art von Hanns Heinz Ewers“ fühlte sie sich zu einem Mann mit stillem und zurückhaltendem Wesen hingezogen. In Ewers‘ Nachlass findet sich das an sie gerichtete vierseitige Fragment eine nacht vom Juli 1895: Hanns Heinz Ewers: weiß gefieder wilder schwäne in der luft ein irrer reiter meine steuerlosen kähne treiben langsam weiter. Erzählerin: Die an den George-Duktus angelehnten Verse des nunmehr 25-jähigen formulieren das Lebensmotto eines unabhängigen und ruhelos umherirrenden Geistes. Der entwickelt, neben feinen Nerven für Poesie und Märchen, auch ein sensibles Gespür für avantgardistische Literatur, Erfolg versprechende künstlerische Inszenierungen, – und stimulierende Drogen. Ewers setzt sich intensiv mit Hypnosetechniken auseinander und tritt in seiner Heimatstadt Düsseldorf der Psychologischen Gesellschaft bei, die in Wahrheit ein spiritistischer Zirkel ist. Die Gründungsmitglieder werden kompromittiert, indem er bei Seancen vorgibt, ein begnadetes Medium zu sein und einem vorgegaukelten Chopin derbe Sottisen in den Mund legt. Die Notabeln der Gesellschaft zeigen ihn wegen Ehrenwortbruchs und Betrugs an. Während des Karnevals 1896 wird daraufhin einer der Ankläger von Ewers geohrfeigt und zusätzlich werden ihm von seinen maskierten Freunden die Kleider heruntergerissen. Das sich daraus ergebende öffentliche Aufsehen wurde anderthalb Jahre von der Presse verfolgt. Privat machte Ewers Hypnose-Experimente mit seinen Liebhaberinnen. Auch mit Lili – und thematisiert dies im Jahr 1899 in einer sehr frühen Geschichte. Hanns Heinz Ewers: Sie war ein prachtvolles Medium. Jeden Befehl führte sie aus, sang, spielte – wir hätten so auf die Bühne gehen können. – Ein leichter Druck der Hand – „Schlafe Liebchen!“, und sie lehnte sich zurück, schlummerte. Es war mir ein unbekanntes, unbeschreiblich süßes Gefühl, sie so schlafend in meinem Arm zu wissen. Atemlos, unbeweglich lag sie da. Ich küsste ihre Locken, ihre Augen, den Mund, die Hände. Und dann – o ich wusste kaum was ich tat – riss ihr Kleid auf und bedeckte mit Küssen ihre weißen Brüste. Und jeden Tag nun ließ ich sie einschlafen; wenn wir eben allein waren, jeden Tag. Am 24. Juni glühte die Sonne am Himmel, o sie glühte. Und an dem Tag jagte und pulste mein Blut, wie es nie getan. Da geschah es. Ich zog sie aus, Röcke und Hemd, alles nahm ich ihr weg. Sie rührte sich nicht. Und dann nahm ich ihre süße Unschuld – sie wehrte sich nicht, ihre Augen blieben geschlossen. Nur ein kleiner Schrei, wie ihn das Reh ausstieß, das meine Kugel einst traf im Kottenforste. Seitdem hab ich sie kaum mehr wachend gesehen; war ich bei ihr, schläferte ich sie ein – Und nun fing es an. Es kletterte mir die Brust hinauf, schnürte mir die Kehle zu. Es krampfte sich mit glühenden Fingern in meinem Hirn und ließ mir die Augen in den Höhlen brennen. Es quälte, marterte mich unglaublich. „Mein Gott! Mein Gott!“ Ich versuchte mich zu beruhigen. – „Pah – du – und Gewissen!“ Aber es ging nicht. Ich musste – Um sechs war ich in der Schlosstrasse; sie empfing mich mit heißen, glühenden Küssen; kaum konnte ich mich losmachen aus ihren Umarmungen. „Lass mich, ich muss dir etwas sagen!“ „So sprich!“ Aber es ging nicht. Ich lief wie verrückt im Zimmer herum, konnte es nicht sagen, konnte nicht. Die Hände zitterten, nahmen Bleistifte, Federhalter – brach alles in kleine Stücke. Sie trat zu mir: „Mein lieber Junge!“ Die Tränen stürzten mir aus den Augen, sie küsste sie von der Wange weg, einzeln, Träne für Träne. Als sie auch meinen Mund küssen wollte, stieß ich sie weg. „Lass mich, du weißt nicht, wen du küsst! – Lass mich – ich will dir’s sagen – –alles!“ Und ich erzählte ihr, was ich getan, mit zusammengebissenen Lippen, die Augen auf dem Boden. Ich war fertig, aber wagte nicht, sie anzusehen. Schließlich hob ich den Blick – Und sah auf ihren Lippen ein Lächeln, so seltsam, so wunderlich – – oh, ein Lächeln – teuflisch – kokottenhaft – – – Es sagte mir, dass sie alles gewusst und die Trance nur gespielt hatte! Musik – Marlene Dietrich: Kinder, heut‘ Abend, da such ich mir was aus [2:38] Erzählerin: Die Studentenverbindungen stoßen ihn durch den dort waltenden Proletengeist ab und faszinieren zugleich durch die maskulinen Riten. Folglich ist der junge Ewers mehr auf Fechtböden und Tanzsälen als im Hörsaal anzutreffen. Das Ergebnis sind mehrere Schmisse, ein Haufen Schulden, verschiedene Händel und vier Wochen Festungshaft. Die Skandale tönen weit und sind willkommener Anlass, den ohnehin nur durch Impertinenz und Faulheit auffallenden Referendar aus dem Staatsdienst zu entlassen. Doch bevor er sich gänzlich der Bohème verschreibt, erlangt er die Doktorwürde, welche er sein Leben lang – sich ständig über Juristen und Gelehrte lustig machend – als absurdes Schild bürgerlicher Etikettierung vor sich herträgt. Seine weiche Seite lebt Ewers in den Märchen aus, die er hauptsächlich zwischen 1902 und 1905 verfasst. Sie sind sofort beliebt, weil sie unprätentiös und natürlich daherkommen – und bestechen noch heute, jenseits höherer Moral und politischer Korrektheit mit Charme und Lässigkeit. Der anarchistische Poet Erich Mühsam schreibt 1905: Zitator: Ewers ward Märchendichter im großen Stil. Er schrieb ein Buch „Die verkaufte Großmutter“, das für die moderne Kinderliteratur eine neue Ära einleitet. Dieses Märchenbuch darf eine literarische Tat ersten Ranges genannt werden. Im Gegensatz zu allen anderen Kinderbüchern vereinigt es Anschaulichkeit, den plastischen Stil, die behagliche Vertrautheit, die notwendig ist, um sich dem Kinde verständlich zu machen, mit einer erquickenden Phantasie, einem entzückenden naiven Humor und einem prachtvollen Verständnis für alles das, was das Leben in der Kinderseele pulsieren lässt. Und – was das Erfrischendste an diesem Buche ist – es hält sich frei von all der albernen Moraltrompeterei, die den Kindern die Lektüre der üblichen Dutzendmachwerke so ungenießbar macht. Erzählerin: Und wirklich, der Dichter ist sein Leben lang – wie seine Kunstfigur Jupp Quetschbüdel – ein Lausebengel geblieben. In der Schule fällt Hanns mit guten Aufsätzen und schlechten Manieren auf. Seine mathematischen Kenntnisse lassen zu wünschen übrig und die Renitenz gegen den Lehrkörper ist so geballt, dass er das Gymnasium von Düsseldorf nach Kleve wechseln muss. Hanns ist von Natur aus schüchtern, was er durch besondere Dreistigkeit zu verstecken sucht. Nationalsozialismus, Verbot, Tod und Vergessenheit stehen am Ende einer Reise, die mit Sang und Sage beginnt. Ewers reimt bereits als vierjähriger Knabe und ersinnt kleine Märchengeschichten. Das frühkindliche Talent wird von seiner Mutter Maria Ewers aus'm Weerth gefördert, die in jungen Jahren mit Gottfried Keller befreundet war und nun eine beliebte Märchenerzählerin ist. Wenn sie beim Fabulieren für ihre Kinder nicht mehr weiter weiß, übernimmt der kleine Hanns das Zepter und erzählt aus seiner Sicht die Geschichte weiter. Sein populäres Kinderbuch Die verkaufte Großmutter und die beiden in diesen Märchen eingetauchten Knaben erinnern nicht zufällig an Mutter Maria, Hanns und dessen jüngeren Bruder Ernst. Im Jahr 1922 setzt Ewers seiner Mutter, die er ausgesprochen liebt und der er fast täglich schreibt, mit der Erzählung Meine Mutter die Hex ein Denkmal. Darin schreibt der weltgereiste Herr Dr. Krazykat einen langen Brief an seinen bald 50-jährigen Bruder Ernst in Bezug auf die gemeinsame über 80-jährige Mutter Johanna Nepumucena Hubertina Maria. Bis auf Nepumucena stehen diese Namen tatsächlich in Maria aus’m Weerths Taufschein und Todesurkunde. Der 16. Mai 1839, Marias Geburtstag, ist dem heiligen Nepomuk geweiht. Deshalb hat Ewers diesen Namen in die Geschichte getragen. Das Alter des Bruders und der Mutter sowie ihre angeführten Vornamen, deuten unmissverständlich auf Ernst und Maria, der Whisky-mit-Soda trinkende Briefschreiber Dr. Krazykat auf den Dichter selbst. In den Zeilen wird der Bruder inständig gebeten, seine gerade bekannt gegebene Verlobung aufzuheben, um nicht zu heiraten und Kinder in die Welt zu setzen. Der erstaunliche Wunsch des nahen Verwandten rührt aus der Überzeugung, dass die gemeinsame Mutter eine Hexe sei und die häufig erst in der dritten Generation ausgeprägten Erbmerkmale in diesem Fall nicht zu verantworten wären. Die ungewöhnliche Natur der Mutter wird durch Beobachtungen des Dr. Krazykat ausführlich beschrieben. Beispielsweise erzähle sie manchmal in den Dämmerstunden den Nachbarskindern Märchen. Doch sind es keine bekannten Geschichten Andersens, Wildes oder Grimms, wie sie sie früher belebte. Hanns Heinz Ewers: Es sind überhaupt keine Geschichten, die sie erzählt. Die Kinder nennen es nur „Märchen“, weil sie keinen anderen Ausdruck dafür haben. Es sind vielmehr ganz kurze lyrische Ergüsse oder auch Stimmungsgemälde in Worten, wenn man es so bezeichnen will. Aber die Wirkung ist eine Erstaunliche: wenn die Mutter schweigt, sitzen die Kinder noch lange da, starren wie hypnotisiert in die Luft und sehen das seltsame Nachtbild, das die Stimme der alten Frau ihnen malte. Erzählerin: Neben solch poetischen Situationen berichtet er auch von unheimlichen Begebenheiten, mystischen Spielen und Hexenzauber. Drei Wochen später erhält Dr. Krazykat Post von seiner Schwägerin. Darin erfährt er, dass sie und sein Bruder den Brief lasen, zuerst darüber lachten, dann aber immer ernster nahmen. Schließlich habe er mit seinen Zeilen erreicht, was er wolle, und sie beide mit dem Anliegen vollkommen überzeugt. Doch hätten sie daraus einen anderen Schluss gezogen und erst recht geheiratet. Nun hoffen sie Kinder zu bekommen, und wenn Mädchen darunter sind, dass sie Hexen werden, wie die Mutter. Die Geschichte ist sowohl eine Liebeserklärung des Sohnes wie auch ein Weiterführen und Anknüpfen an künstlerisch-soziale Traditionen der Romantik: Das Erzählen, Dichten, Illustrieren, Darstellen, Übersetzen und Briefeschreiben im Ewersschen Familien- und Freundesverband ist vom romantischen Hexenglauben besetzt, mit poetischen Momenten die Realität verzaubern zu können. Johanna Nepumucena Hubertina ist überdies in Ewers‘ populärstem Werk Alraune die Mutter des Protagonisten und die Titelfigur in der Geschichte Ginsterhexe. Die erste Gattin des Dichters, Ilna Wunderwald, findet sich im Märchen Ilna und der Quakfrosch wieder – und so fort. Neben Ilna und Mutter Maria werden auch Freunde in verschiedene Literaturproduktionen einbezogen. Der früh verstorbene Vater August Heinrich Ewers hatte eine Ausbildung als Sänger in Paris und als Maler in Amsterdam gemacht – und arbeitete danach als Hofmaler in Schwerin. Das Genre-Übergreifen der Künste spielt bereits in früher Kindheit eine Rolle für den werdenden Dichter, dessen Interessen zusehend synästhetischen Charakter bekommen. So fließt auch das Genre der Malerei in seine Werke ein, die allgemein einen stark biographisch gefärbten Charakter tragen. Ausgenommen den letzten Roman, könnte Ewers' gesamtes Opus mit weltenfernen, phantastischen, abenteuerlichen und psychedelischen Aspekten als Märchen für Erwachsene gelten. Auch wenn sie als Reisebücher, Stücke, Gedichte, Romane oder Erzählungen gezeichnet sind, haben sie sich eine verspielte Poesie erhalten, wie sie nur Kindern und Träumern zu eigen ist – ohne dabei infantil zu sein. Denn die fabelhafte Welt ist vollkommen lebens-real. Die differenzierten Wanderbeschreibungen der beiden Buben im Schatz in der Höhle gehen auf Capri-Erfahrungen zurück, wo Ewers 1903 – im gleichen Jahr, wie das Märchen erscheint – eine Grotte entdeckt. Er nennt sie Maravigliosa, Wundergrotte, die daraufhin touristisch erschlossen wird. Am Ende der Verbannten Fee wünscht sich ein kleines Mädchen: „Ich möchte einmal eine Ansichtskarte vom Feenland bekommen!“ Wie seiner Figur zum Gefallen wird Ewers bald nach der Publikation dieser Geschichte zum Globetrotter aller Kontinente – und verschickt mit Vorliebe Ansichtskarten aus unbekannten Fernen. Musik – Arnold Schönberg: Verklärte Nacht [Ausschnitt noch nicht definiert] Hanns Heinz Ewers: Im Karpfenteiche schwamm einmal eine bläulich bleiche und schleimig weiche Wasserleiche. Ein Karpfenjüngling kam heran und fing wie folgt zu reden an: „O Menschenlos! Gewiss in Flammen, die aus verschmähter Liebe stammen, verbrannten seinen armen Sinn und trieben ihn zum Wasser hin!“ Ein andrer Karpfen hört sein Klagen und hub verächtlich an zu sagen: „Ach wat! Im Dusel hat er sich verloffen, fiel in den Teich und ist darin ersoffen!“ Jedoch ein alter, hundertjähriger Knabe Erfreute sich der guten Gottesgabe. Er sprach kein Wort, er fraß und fraß, dass er die Welt darob vergass, und dacht: „Nicht immer gibt’s im Teiche solch eine schöne, schleimig weiche und bläulich bleiche Wasserleiche!“ Erzählerin: Im Jahr 1901 hat Ewers schon viele Gedichte, Essays und Geschichten geschrieben; doch ist der angehende Dichter müde, ausschließlich mit der Feder zu wirken, und schließt sich dem Kabarett Überbrettl an. Mit verschiedenen Ensembles tourt er erfolgreich durch halb Europa, trägt seine Texte selbst auf die Bühne und kostümiert sich zwischen Biedermeier und Décadence. Zur Vertonung der Chansons wird eine Zeit lang der junge und vollkommen unbekannte Arnold Schönberg unter Vertrag genommen. Ewers freundet sich besonders mit Erich Mühsam an, mit dem er auch eine immer wieder aufgelegte Reimgeschichte für Kinder und einen Führer durch die moderne Literaturgeschichte schreibt. Die beiden Hasardeure sind begeisterte Anhänger des freien Körperkults und der Sonnenanbetung. 1905 zeigt sich Ewers für den prächtig ausgestatteten Jahresband der Zeitschrift Heim der Jugend mitverantwortlich. Hier trifft sich die impressionistische und reformbewegte Wortschmiede eines Max Dauthendey, Richard Dehmel oder Erich Mühsam und wird von Jugendstil-Künstlern wie Peter Behrens, Heinrich Vogeler und Ilna Wunderwald illustriert. Ästhetische Betrachtung und Nudismus fließen dieser Zeit in Ewers‘ Werk synonym ineinander. Da heißt es, dass menschliche Schönheit nur hüllenlos genossen werden könne. [Vitale Genüsse werden transparent gemacht und sich nicht wie Karl Wilhelm Diefenbach als sakrosankter Naturapostel aufgespielt.] Hanns Heinz Ewers: Rote Kirschen in der Schale von Kristall, Josephshöher im Pokale, heller Gläserschall – Und sie holt die Zigaretten vom Gesims, sie die liebste der Koketten, Dona Mims! Kleine, weiße Waschbärzähne, kerngesund, blonder Locken Schüttelmähne, roter Kirschenmund – Und die grünen Nixenaugen kichern hell: „Senor, soll das Leben taugen, lebt es schnell!“ Rote Kirschen in die Locken flecht ich ihr, während ihre Finger locken Schmeicheltöne vom Klavier. La Paloma! – Weiße Taube! – Weiß wie du! Rauschegold und Mädchenglaube klingt mir zu. Schuh und Strümpfe meiner Süßen zieh ich aus, Küsse brennen auf den Füßen meiner wilden Maus. Rote Kirschen wind ich leise um die Zehn – La Paloma – Nixenweise – Schifferflehn. Roten Kirschen – Nixenaugen, Kuss um Kuss Heißer Lippen, die sich saugen in den weißen Fuß – Rauschegold und Mädchenglaube klingt mir zu – La Paloma – weiße Taube – weiß wie du! Erzählerin: Ewers macht gründliche Erfahrungen mit dem „Maulkorb der Zensur“, wie er es nennt, und den dazu gehörigen Klagen und Gerichtsprozessen. Im Frühjahr 1900 wurde sein Gedichtszyklus Goldene Kätie wegen der Verbreitung unzüchtiger Schriften unter Anklage gestellt. Und der Dichter ist durchaus nicht nur Erotiker des Wortes; denn seiner Kätie, einer Katharina Kreis aus Leipzig, schenkt er mit den Liebes-Gedichten auch ein uneheliches Kind. In seinem Buch Das Cabaret gibt er Auskunft über ein anderes Verbot: Hanns Heinz Ewers: In einem Gedicht lasse ich eine Frau zu ihrem Geliebten sagen „Liebster, ihr zwei seid warm, die Sonne und du!“ Die Arbeit wurde mir verboten und zwar wurden die Worte: „Ihr zwei seid warm“ blau angestrichen und mit Ausrufungszeichen versehen. Ich konnte mir nicht versagen, andern Tags in den Polizeipalast zu gehen und mich zu erkundigen, was denn daran unzüchtig sei. Entrüstet antwortet mir der Herr Geheimrat: „Da fragen Sie noch? – Wissen Sie denn nicht, dass man unter „warm“ in Berlin ein päderastisches Verhältnis versteht?!“ Vergebens versuchte ich ihm beizubringen, dass doch ganz unmöglich ein Mensch ein „päderastisches Verhältnis“ denken könne, wenn ein Weib zu dem von ihr geliebten Manne spreche! Der Geheimrat wusste das besser, er erklärte mir: „Sie können sich gar nicht vorstellen, was für Gemeinheiten das Publikum sich ausdenkt!“ – Und mein Lied blieb verboten! – Erzählerin: Natürlich hatte der an der Nase herum geführte Geheimrat den richtigen Riecher, denn Ewers setzt sich sehr wohl für die Rechte Homosexueller ein und wird selbstverständlich von der Presse, Zensur und Gerichten wegen viel stärkerer „Vergehen“ der Feder angegriffen. Doch der junge Wilde zeigt sich ungerührt und greift seinerseits die Justiz an, beispielsweise wegen der Verurteilung Oscar Wildes. Er berichtet, ihn auf Capri kennengelernt und das Treffen literarisch verarbeitet zu haben. Die entstandene Novelle C. 33 korrespondiert im Titel mit der Zellenummer des im Zuchthaus zu Reading berühmten Inhaftierten. Gemeinsam mit Wilde-Übersetzungen von Hedwig Lachmann und Johannes Gaulke zeugt die Novelle von frühen Bemühungen, das deutsche Publikum für den irischen Dichter zu begeistern. Ferner gibt Ewers dessen Märchen, Erzählungen und den Roman Das Bildnis des Dorian Gray heraus. Er schreibt in homosexuell konnotierten Zeitschriften und engagiert sich gegen den Paragraphen 175, der Männerliebe unter Strafe stellt. Im Jahr 1903 schreibt Ewers das Drama Enterbt, das die Nöte gleichgeschlechtlich orientierter Intellektuelle thematisiert: Hanns Heinz Ewers: Meine Kommilitonen neckten mich und nannten mich einen Waschlappen, weil ich nie ein Liebesabenteuer hatte. Namentlich einer war da, der mich ärgerte und quälte bis aufs Blut. – Er hatte meinen Zustand erkannt, ehe ich selbst eine Ahnung davon hatte. Eines Tages sagte er mir im Rausche auf den Kopf zu – dass ich auch so einer wäre. Ich war entsetzt und antwortete erregt; eine Säbelmensur war die Folge. Aber ich begann selbst über mich nachzudenken und kam zu dem Schluss, dass dieser Mensch tief in meiner Seele gelesen hatte – dass er nur allzurecht hatte. Ich will nichts von den entsetzlichen Qualen erzählen, die ich damals durchlebte, nichts von den jammervollen, vergeblichen Versuchen, die ich machte, mich dem Weibe zu nähern. Es kam soweit, dass ich es nicht mehr wagte, in der Gesellschaft meiner Kameraden zu erscheinen, dass ich mich als Ausgeschlossener fühlte, der seine armselige Bude nicht mehr verließ. Ich kam mir vor, wie ein Aussätziger, der aus seiner Hütte vor den Toren sehnsüchtig auf die Stadt hinblickt, wo die Glücklichen wohnen: die Gesunden! Erzählerin: Später ist Ewers auch im Wiener Kabarett Fledermaus mit Dichterpersönlichkeiten Egon Friedell, Peter Altenberg, Hermann Bahr, Richard Dehmel, Alexander Roda-Roda und Detlev von Lilencron dabei. Oskar Kokoschka fertigt das Bühnenbild, während sich Gustav Klimt um die Kostüme kümmert. Klimt ist von Ewers fasziniert und liefert ihm eine Illustration für den Novellenband Das Grauen. Später entwirft er eine auf die seelische Disposition des Dichters abgestimmte Schreibmappe: Die ist ein aus Silber getriebenes und mit Opalen besetztes Spiel von Disteln, Meerspinnen, nackten Frauen, Teufelsfratzen und dem Ewers-Monogramm HHE. Dieser behauptet, dass niemals ein König oder eine Geheime Kommerzienrätin eine schönere ihr eigen genannt hätten – aber gebrauchen könne man sie nicht. Hanns Heinz Ewers: Haben in Farben geträumt durch Wochen und Jahre. Und wir haben Theater gespielt. Haben uns angeschrien und angeschimpft, uns Verbrecher und Schufte und Muttermörder geheißen, in heiligem Ernst – nur in dem einen großen Interesse für alle bunte Kunst. Für ein kleines Liedchen warfen wir viele Tausende fort; machten für drei schöne Frauen hintereinander drei Dutzend Kostüme, bis endlich – die Farben zusammenklangen. Fünf Monate arbeitete man Tag und Nacht an drei Gewändern: die trugen drei schöne Frauen ganze fünf Minuten lang auf der Bühne. Garnichts begriff davon das Publikum, keinen Klang, keine Farbe, kein kleinstes Wörtchen. Aber hinten saß Ferruccio Busoni, ließ roten Burgunder in den Krystall fluten, und weinte. Und wir waren sehr stolz: der eine begriff diese reine Schönheit. Und dachten, dass wir alles ganz ausgezeichnet ausgegeben hätten: alle unsere unendliche Arbeit, unsere Kunst, unsere Nervenqual. An das Geld dachte keiner. Erzählerin: Ewers verachtet alles, was mit Geld zusammenhängt, – und hegt eine Sehnsucht für mondänes Leben und Luxus des Gaumens. Er fühlt sich in anarchistischen und subkulturellen Kreisen um Robert Reitzel, Senna Hoy und Erich Mühsam zu Hause, schreibt in deren Organen – und ist getrieben von exotischem Fernweh. Will jedoch partout kein Clochard sein – und keinesfalls wie der obdachlose und kranke Dichterkollege Peter Hille enden; doch ist er mit Alkohol und Spielsucht auf dem besten Wege dahin. Die Heirat mit der Malerin Ilna Wunderwald im Jahr 1901 ist immerhin eine bürgerliche Konzession – was die finanzielle Misere nicht bessert. Hanns Heinz Ewers: Was ist die Ehe? – Der höchste Irrsinn, den die Kultur hervorgebracht, das raffinierteste Mittel, um die Kräfte zu unterbinden und die Entwicklung zu hemmen … Eine überflüssige Mühe, alle Demütigungen aufzuzählen, die auf diesem Lebenswegen dem Manne wurden. Erst durch die Ehe konnte die ganze soziale Frage aufgerollt und der Besitzwahnsinn, in dem alle Frechheit und Zügellosigkeit wurzeln, geboren werden. Die Bösartigkeit der besitzanzeigenden Pronomina erfährt ihre grellste Beleuchtung in der Formel: Mein Mann. Erzählerin: So fällt er – wie ein Protagonist seiner Märchen – Knall auf Fall den Entschluss, ein Leben als Globetrotter und Abenteurer zu führen. Tatsächlich fährt er in die Karibik, nach Indien, Ceylon, Australien, Ostasien und in die Südsee. Seine Reiseberichte sind in aller Munde; in Kolumbien versucht er sich als Großwildjäger und in Argentinien als Schatzsucher. In Indien hofiert der Maharadscha von Vigatpuri den Dichter wie einen Staatsgast, doch Ewers spürt lieber den Bajaderen, Fakiren und Schlangenbeschwörern nach. Musik – Albrecht von Weech: In meiner Badewanne bin ich Kapitän [2:48] Erzählerin: Ohne die Geringschätzung für Finanzielles zu ändern, entwickelt Ewers ein kaufmännisches Geschick – und gehört plötzlich zu den gefragten Autoren. Hanns Heinz Ewers: Ich habe, als ich vor einigen Monaten von meiner Indienreise zurückkehrte, in einer Reihe deutscher Städte Vorträge gehalten. Mit Lichtbildern natürlich – ohne die geht’s ja nicht mehr. Ich sagte zu Beginn meines Vortrages den verehrten Damen und Herren, dass ich durchaus nicht deshalb auf dem Podium stehe, weil ich mich so gern reden höre, auch deshalb nicht, weil ich der Ansicht sei, nun endlich den mystisch-magischen Schleier, der über dem Wunderlande Indien liege, lüften zu können. Sondern, dass ich das nur aus dem recht prosaischen Grunde tue, weil mir dieses Geplauder Geld eintrage… Dann lachten die Leute. Sie hielten das für einen Witz. Wenn sie nur wüssten, wie bitter ernst mir das war! Ich benutzte eben, recht kaufmännisch und gemein, die günstige Kombination, dass gerade der deutsche Kronprinz auch in Indien herumreiste, und dass also Indien „aktuell“ war. Und tat eigentlich nichts – als für das Geld, das ich bekam, mich ein paar Wochen lang Abend für Abend zu prostituieren. Und doch bin ich, und durchaus bewusst, noch dankbar für dieses Geld, das ich mit solcher Prostitution erwerbe, bin dankbar den Redakteuren, die meine Aufsätze veröffentlichen, dankbar dem Konzertagenten, der mich auf Tournee schickt, dankbar endlich dem Publikum, das meine Aufsätze liest und meine Vorträge besucht. Denn nur dadurch ist es mir möglich gemacht, die Reisen zu machen, die Lande zu sehen, das Leben zu führen, aus dem meine Kunst Wurzel schlägt. Und mit dieser Kunst mache ich kein Geschäft. Ich verschenke sie. Was mir meine Kunst einträgt, das ist so lächerlich gering, dass ich kaum meine Zigaretten damit bezahlen kann… Erzählerin: Gerne drückt sich Ewers drastischer aus: Hanns Heinz Ewers: Nackt! Nackt! Ihr Liesen und Lotten, Dirnen und Huren, Metzen, Kokotten! Nackt! Nackt! Ihr lieben Verwandten, Schauspieler und Dichter, Maler und Musikanten. Reißt die Fetzen herab, dreht euch vor und herum Vor dem zahlungskräftigen Publikum. Nur keine Scham vor Mann oder Weib, Nackt, nackt, Seele und Leib. Der da? Die da? – Der Gönner und Zahler Wirft auf den Teller den Silbertaler. Kauft euch wie Käse, wie Pflaumen und Birnen Dichter und Dirnen. Erzählerin: Finanziert wird der aufwendige Karneval des Daseins also durch Vorschüsse von Verlagen und Zeitungen oder Reiseunternehmen, denen er im Gegenzug positive Bewertungen ihrer Leistungen verspricht. Das läuft bei dem Exzentriker nicht immer reibungslos. Im Oktober 1908 schreibt ihm die Direktion der Hamburg-Amerika-Linie, dass seine verbreiteten Argentinien-Essays zu Verstimmungen in der Regierung des lateinamerikanischen Landes geführt hätten und als Folge der dortige deutsche Generalkonsul einbestellt wurde. Der argentinische Staat drohe nun zwei von Ewers genutzten deutschen Reedereien mit Repressalien, deren geschäftliche Folgen nicht abzusehen seien. Deshalb geht an ihn die Aufforderung, wenigstens die weitere Verbreitung der inkriminierten Essays zu verhindern. Die Reaktion des Dichters ist in einem Brief an seine Gattin Ilna erhalten: Hanns Heinz Ewers: Es ist doch einfach unglaublich, was diese kleinen frechen Gernegroße sich herausnehmen! Ich habe sofort sehr energisch geantwortet, gebeten, ob ich davon für die Öffentlichkeit Gebrauch machen könne, usw. – Erzählerin: Auf den Reisen des Globetrotters – zumindest zwischen 1906 und 1910 – ist Ilna Wunderwald immer an seiner Seite. Ich zähle auf: Cuba, Mexiko, Puerto Rico, Curaçao, Trinidad, Dominikanische Republik, Haiti, Kolumbien, Argentinien, Paraguay, Brasilien, Australien, die Philippinen, Hongkong, Japan, China, Singapur und natürlich Indien. Obwohl Ilna eine starke Persönlichkeit ist, sucht man sie in den Reiseberichten von Ewers vergeblich. Sie firmiert für den Leser unkenntlich ganz am Rande unter „schöne Frau“ oder „Herrin“. Und heute ist sie vollkommen vergessen. Martin Willems, Archivar am Heineinstitut und Hüter des dortigen Ewers-Nachlasses: Zitator: Es ist sehr schwer, Ilna Wunderwald wiederzuentdecken, da ihre Biografie erhebliche Lücken aufweist und sie in der Kunstgeschichte nie recht angekommen zu sein scheint. Aus diesem Grund ist es beispielsweise besonders vertrackt, heute noch Bilder von ihr zu finden. Die Spezialität Wunderwalds ist die Arbeit mit leuchtender Wasserfarbe in Verbindung mit Federzeichnung, sie zeigt sich dabei von Hokusai und Beardsley beeinflusst, entwickelt aber rasch eine eigene Note, die sie beispielsweise 1911 in Berlin, 1912 in der Münchner Sezession oder 1918 im Museum Kunstpalast in Düsseldorf präsentiert. Wunderwald lernt Ewers 1895 in der Villa des Düsseldorfer Künstlervereins „Malkasten“ kennen, er ist sofort fasziniert von ihrem südlichen Teint und ihrer extravaganten Art. Ebenso eingenommen ist er von ihrer Malerei, die zwischen Jugendstil und Symbolismus changiert. Ilna arbeitet insbesondere mit chinesischer Tinte und ist auf phantastische Weise dekorativ, es entstehen Illustrationen zwischen Blüten und Tierwelten mit japoneskem Charakter. Nicht umsonst wird sie zahlreiche von Ewers Büchern gestalten, u. a. das wunderschöne Indienbuch-Titelbild. Darüber hinaus übersetzt sie mit ihrem Gatten sechs Bände Théophile Gautier und weitere Autoren aus dem Französischen. Der von Wunderwald erstmals ins Deutsche übertragene Roman Mademoiselle de Maupin galt im Paris des 19. Jahrhunderts als Bibel der Dekadenz. Und Wunderwald identifiziert sich mit der Titelheldin, läuft wie die Maupin in Männerkleidern herum und raucht ständig Zigaretten. Gleichzeitig entwirft sie avantgardistische Frauenmode. Ohne Zweifel ist Wunderwald ihrer Zeit weit voraus, denn Frauen im Herrenanzug, mit Kurzhaarschnitt und Zigarette werden in den Metropolen erst in den zwanziger Jahren modern. Eine Zeitgenössin dokumentiert: „Schon das Äußere der jungen Frau war ungewöhnlich: Sie trug Hosen aus braunem Samt, eine englische Herrenjacke, dazu einen breiten Sombrero auf ihren dunklen, kurzgeschnittenen Locken.“ 1907 spielt sie erfolgreich mit Ewers im Wiener Cabaret „Fledermaus“, wo auch Persönlichkeiten wie Egon Friedell, Hermann Bahr, Richard Dehmel, Peter Altenberg, Oskar Kokoschka und Gustav Klimt mit von der Partie sind. Altenberg verliebt sich sofort in Ilna: „Sie hatte ihm vom ersten Augenblick an gefallen“, schreibt dessen Lebensgefährtin. Und weiter: „Bald wurde eine hoffnungslose, verzehrende Leidenschaft daraus. Er hatte für nichts und niemanden mehr Augen, als für die schöne, exzentrische Frau.“ Ewers geht im „Roman der XII“ ironisch darauf ein. Wunderwald, die auch dieses Buch gestaltet, steht lebenslang im Schatten ihres berühmten Mannes, obwohl die Ehe nur zehn Jahre hält und schon lange davor zerrüttet ist. 1911 zieht sie zu dem Komponisten Gustav Krumbiegel nach Leipzig, der drei Jahre später im Ersten Weltkrieg fällt. Sie verbringt ab 1917 ihr Leben mit der Düsseldorfer Bildhauerin Elly Unkelbach und gerät immer mehr in Vergessenheit. Im Archiv des Heinrich-Heine-Instituts liegen neben Briefen und Lebensdokumenten ihre (noch immer unveröffentlichten) Indien-Tagebücher von 1910: Ein herrliches Pendant zum Reisebericht von Ewers. Auch über die Ehekrise der letzten Phase ist daraus einiges zu erfahren. Zitatorin: Wir streifen wieder durch die versunkene Stadt und ich wiege mich wieder in Träumen, in Träume, die man nur in Indien träumen kann. Wir fahren zur weißen Stadt auf roter Erde, den flammenden Bäumen, den weißen Tempelblumen. Kühl weht es vom Meere, als wir in den großen Garten der Villa „Siriniwesa“ und dem Kavalierhause einfahren. Unser Prinzchen Heinrich hatte sich auch wieder eingefunden. Er schwamm in kindlicher Begeisterung, träumte von Edelsteinen für seine zukünftige Frau. Man legte ihm die Schätze Indiens vor, aber kaufen konnte er sie nicht, armer Prinz! – Außerdem war ich wütend, denn der indische Kaufmann hielt mich für die Prinzessin, ich finde, er hätte mir zu Liebe wirklich einen Stein kaufen können, für seine zukünftige Frau. Ein Prinz meint, er müsse sich wirklich für alles interessieren und so wollte er eine Edelsteinmiene sehen. Man schrieb also an den Fürsten von Ratrapura. Alles war vorbereitet, als ein Telegramm „Durchlaucht“ nach Tokio rief. Nun aber hatten wir andern uns auch für den Ausflug erwärmt und wollten ihn nicht aufgeben. So ließen wir den indischen Fürsten im Glauben eines Prinzenbesuches. Und Sonntag früh um 5 Uhr fuhren wir, Reinhardt u. Siegmund Freudenberg, Wild, Ewers, Degen, in zwei Autos mit Chauffeur, Diener, Körben mit Eis, Wein, Bier und Speisen ab. Um 9 Uhr frühstückten wir im Dschungel. Da Hanns ein Monocle trug, so wurde er zum Prinzen erwählt, ich zur Prinzessin. Hanns war so saublöd, wie man es eben von einem Prinzen verlangen kann. Ich fiel eigentlich andauernd aus der Rolle. Nur unsere Begleiter spielten glänzend. Nach dem Tiffin im Rasthause schliefen wir auf der Veranda in bequemen Liegestühlen ein. Zwei heftige Donnerschläge brachten uns auf die Beine und ein schweres Gewitter prasselte herunter. Wir atmeten aus vollen Lungen die feuchte Luft ein. Aber Hanns, dieser Mensch!, vergaß seine Durchlaucht. Er zog sich, weiß Gott, pudelnackt aus und lief in den kühlen Regen hinaus. Wir waren konsterniert im höchsten Grade, aber wir beneideten ihn alle und nur die Anwesenheit des Fürsten hinderte uns daran, das gleiche zu tun. Wir mussten das Dekorum wahren und dieses würdelose Betragen möglichst vor dem Radja entschuldigen. Außerdem war mein Schönheitsgefühl verletzt. So ein weißer, im wahrsten Sinne des Wortes nackter Körper sieht unglaublich geschmacklos in Indien aus. Wie harmonisch und schön sieht so ein nackter brauner Körper aus. Als der Regen aufgehört hatte, fuhren wir ab nach einem glänzend gespielten Abschied. Wir hatten einen kleinen Kampf mit einer Herde Wasserbüffel, die hinterlistig und dumm nicht aus dem Weg gehen wollte. Als die Sonne sank, näherten wir uns dem letzten Rasthause, wo wir zwei Diener mit Proviant am Morgen zurückgelassen hatten, damit wir nur ja das Abendessen gut hergerichtet und serviert bekämen. Ich habe schon längst vergessen, dass ich aus einem ‚Kulturstaate‘ komme, dass wir im Jahre 1910 uns befinden, modern sind usw. Vor diesem Tempel aber halte ich es überhaupt nicht mehr für möglich, dass ich noch vor wenigen Tagen ein moderner Mensch aus dem Jahre 1910 war. Denn wie ist das für uns denkbar, dass heute noch so etwas erreicht wird. Übermenschliche, mystische, übernatürliche Geschehnisse auf offener Straße, ganz natürlich, ohne Machwerk, ganz selbstverständlich. Ich möchte das Empfinden kennen, dass sich hinter diesen, von Schmerzen gepeinigten, schmerzlosen Körpern regt! Sicherlich besitzen diese Selbstpeiniger etwas, was wir nicht kennen, außer der elementaren Willenskraft muss da noch etwas anderes sein. Behandeln sie nicht ihren Körper und ihren Geist wie ein Instrument und beweisen sie nicht durch ihre Marter, dass sie über die Fähigkeit ihrer Kräfte vollständig Herr sind und diese Potenziale genau kennen, so dass sie mit ihnen machen können, was sie wollen? Musik – Charles Koechlin: Le Livre de la Jungle – IV, Op. 175, Intro [1:16] Hanns Heinz Ewers: Es gibt Leute, die reisen, um sich zu erholen. Andere reisen, um Geschäfte zu machen, andere weil es eine Mode ist. – Ich reise, weil ich muss. Weil es mich forttreibt, wo ich auch bin, weil ich überall fremd bin und doch zu Hause – überall. Ich muss reisen, wie ich essen und trinken muss. – Draußen nämlich bin ich – immer mit dem Gelde, das ich zu Hause so jämmerlich sauer zusammenscharrte, draußen bin ich ein Sahib. Gehe meinen Weg, meinen ureigenen Weg, bin mein eigener Herr und lebe mein Leben. Bin nicht mehr Zeitungskuli und vagierender Vortragsreisender, wie zu Hause. Ich werde mir freilich den Luxus nie gestatten können, ein „eigen Heim zu haben und eine Familie zu gründen“. Aber ich darf mir dafür erlauben, Träume zu Träumen, die kein anderer vor mir je zu träumen wagte… Erzählerin: In der zweiten Stunde erleben Sie den Tausendsassa Hanns Heinz Ewers als Bestseller-Autor, Provokateur und exponierten Filmemacher. Wortende: 51‘ Musik – Charles Koechlin: Le Livre de la Jungle – IV, Op. 175, Intro weiterführend [3:08] Musik mindestens 5‘ 2. Stunde Musik – Paul Hindemith: Der Dämon, op. 28, Part 1 [1:13] Erzählerin: Ewers entwickelt auf seinen Reisen einen sensiblen Blick für entlegene Kulturen und einen großen Appetit auf Drogen. Dafür fühlt er sich insbesondere von den großen Literaten französischer Moderne wie Théophile Gautier und Charles Baudelaire inspiriert, die bereits in den 40-ger Jahren des 19. Jahrhunderts mit Drogen experimentierten und darüber reflektierten. Exotische Weltwinkel sind ihm nicht entfernt genug; stimulierende Pulver werden ihm Reisebegleiter in virtuelle Weiten. Wegen der Konzeption eines umfangreichen Buchs über Drogen setzt sich Ewers intensiv mit Halluzinogenen und Opiaten auseinander. Das Werk bleibt zwar Fragment, doch ein Bruchstück der Studien wird im Aufsatz Rausch und Kunst verwertet: Hanns Heinz Ewers: Nun ist aber in der durch Narkotika bewirkte Rausch zweifellos geeignet, unter gewissen Umständen späterhin einmal eine Ekstase hervorzurufen – warum soll man sich also dieses Mittels nicht bedienen? Etwa weil es nicht „natürlich“ ist? Das in Eisfabriken hergestellte Eis macht gerade so kalt, wie das auf dem Teiche gefrorene; und ob die zum Schaffen nötige Ekstase aus einer großen Liebe hervorgeht oder aus einer Weinflasche, erscheint völlig gleichgültig für den Wert des Kunstwerkes. Im Grunde ist ja auch nicht der Unterschied: „natürlich und künstlich“, sondern das: bewusst und unbewusst. Erzählerin: Der Dichter stellt die Behauptung auf, durch Narkotika hervorgerufene Rauschzustände seien für künstlerische Prozesse eminent wichtig, bemerkt aber früh, dass mit den kapriziösen Ekstasen auch schlummernde Dämonen geweckt werden, Entziehungskuren nur begrenzt wirken und scheinbare Heilungen von einem süßen Gift nur die Vorliebe für ein anderes wachsen lassen. Ewers weiß, wovon er schreibt, wenn seine Figuren somnambul zwischen Realitätsverlust, Ich-Spaltung und Traumverlorenheit hin und her gleiten. Sein breites Œuvre ist von einem psychedelischen Grundton getragen, der eine Bewusstseinserweiterung bis ins Phantastische zum Klingen bringt. In der Novelle Die blauen Indianer transzendiert die halluzinogene Wirkung eines Mescalin-Rausches in unbekannte Zustände der Vorahnen. Auch der als verwilderter Roman in Fetzen und Farben markierte Vampir, das Drama Mädchen von Shalott und die Erzählung Fastnacht des persischen Märtyrers sind bei aller historischen Verbindlichkeit Drogenliteratur. Doch das ist ein Aspekt am Rande. Die breite Leserschaft nimmt Ewers als Märchenerzähler, Abenteurer, Reiseschriftsteller und Künstler düsterer Verborgenheit wahr. Der Bohemien und Dichter satanischer Welten Stanislaw Przybyszewski äußert sich folgendermaßen: Zitator: Viel Mut gehört dazu, um in diese Sphäre einzudringen, denn der Zugang zu ihr ist durch das bürgerliche und kirchliche Gesetz streng verboten und jedem dieser waghalsigen, tollkühnen Forscher droht der schwerste Bann. „Poètes maudits“ waren Baudelaire und Verlaine und Rimbaud, in der Hölle der Giftkammern moderten die Werke eines Barbey d’Aurevilly oder eines Villers de L’Isle-Adam, mit dem schwersten Fluch wurde sogar „Madame Bovary“ belastet, – ganze Bände müsste man anfüllen, wollte man nur die wichtigsten Werke, in denen ihre Schöpfer auf die Suche nach der menschlichen Seele ausgegangen sind, anführen, die vom Bannstrahl des gesetzlichen Interdikts getroffen wurden – und dasselbe Schicksal trifft das Werk eines der Mutigsten unter den deutschen Künstlern – Hanns Heinz Ewers. Cave canem! Und dieser Ewers ist ein verteufelt bissiger Hund, der sich gern an den „Ordentlichen vergreift“, er ist aber für den, der sich willig seiner Obhut übergibt, ein großer Künstler. Erzählerin: Mehr und mehr werden dessen Schilderungen menschlicher Abgründe mit bestialischem Ereignis-Charakter populär. Im Dezember 1905 schreibt er an seine Gattin Ilna über eine von dem Herold der Berliner Moderne, Herwarth Walden, organisierte Lesung: Hanns Heinz Ewers: Am Donnerstag las ich im Verein für die Kunst, das ist das beste in literarischer Beziehung; alle 14 Tage hatten Dehmel, Wedekind, Scheerbart, Liliencron, Harden, Hofmannsthal usw. gelesen. Ich hatte großes Pech, ich hatte nämlich eine falsche Mappe mitgenommen und so die besten Sachen (Gedichte etc.) nicht da! Zum Glück hatte ich Weißes Mädchen und Tomatensauce da, letztere schlug kolossal ein, ein Jüngling wurde ohnmächtig und musste herausgetragen werden, einer Reihe von Damen wurde auch ganz mies! Die Kritiken sind alle sehr gut, nur das Berliner Tageblatt, von dem irgendein Esel drin war, hat geschimpft! Erzählerin: Ewers hält sich in seinem Brief an Ilna über die Lesung eher zurück, denn die Vossische Zeitung ist auf das Moment der Ohnmacht und die angstverzerrten Gesichter junger Zuhörerinnen ausführlicher eingegangen. Auch die zwischen 1907 und 1909 erscheinenden Bücher Das Grauen, Die Besessenen, und Der Zauberlehrling verstören die Zeitgenossen, erlangen aber in kürzester Zeit Riesenauflagen. Der Dichter kokettiert mit satanischer Autorität und der Kennerschaft des Abgründigen, spielt mit der voyeuristischen Erwartung des Lesers. Doch die schockierenden Darstellungen von Bluttaten, wüster Ekstase und pathologischen Sehnsüchten sind kein effekthaschender Selbstzweck, sondern zeichnen suggestiv gesellschaftliche Ängste und Identitätskrisen kurz vor dem 1. Weltkrieg. Auch stilistisch ist Ewers, mit seiner narrativen Sprach-Eleganz der frühen Moderne zuzurechnen. Die subtil psychologisch ausbalancierten Figuren verraten eine ausgeprägte Beschäftigung mit der gerade bekannt werdenden Psychoanalyse. In der von Sigmund Freud herausgegebenen Zeitschrift Imago wird in der Rezension des Alraune-Romans auf die fantasievolle Anwendung der Lehren Freuds verwiesen. Dass Ewers nicht – wie oft behauptet – widerlichen Obsessionen frönt, sondern bis ins Groteske provoziert, um bürgerlichen Kleingeist zu desavouieren, zieht sich bis ins Private. Sein jüngerer Bruder Ernst war zum Fregattenkapitän in der kaiserlichen Marine aufgestiegen. Nach Quellen aus dem Nachlass lässt sich folgende Begebenheit rekonstruieren: Zu Ernst Ewers‘ Hochzeit sind entsprechend viele Offiziere in Uniform geladen. Auch Hanns Heinz erscheint in einer auf Haiti erstandenen bunten Phantasieuniform. Darin will er sich von den Gästen als Exzellenz, kommandierender General der karibischen Insel, Duzbruder des in Chicago exekutierten Frauenmörders John Hollesby und Blutsbruder des Chaco-Indianer-Häuptlings Matepe vom Stamme Macà lobpreisen lassen – was der Hochzeitsgesellschaft arg missfällt ... Musik – Sergej Prokowjew: Marsch aus Die Liebe zu den drei Orangen [1:53] Erzählerin: Acht Jahre vor Franz Kafkas berühmter Erzählung über die Metamorphose in einen Käfer publiziert Ewers die Novelle Aus dem Tagebuche eines Orangenbaumes. Sie dokumentiert eine Verwandlung aus der zweckorientierten Gesellschaft in eine poetische Welt: Hanns Heinz Ewers: Wenn ich, verehrter Herr Sanitätsrat, Ihrem Wunsche nachkomme und die Seiten des Heftes, das Sie mir gegeben haben, ausfülle, so wollen Sie mir glauben, dass ich das nach reiflicher Überlegung und mit einer wohldurchdachten Absicht tue. Denn im Grunde handelt es sich doch nur um einen Kampf zwischen uns beiden, Ihnen, dem leitenden Arzt dieser Privat-Irrenanstalt und mir, dem Patienten, der seit drei Tagen hier untergebracht ist. Die Anklage, wegen der ich hier gewaltsam untergebracht bin – entschuldigen Sie einem Studenten der Rechte, dass er mit Vorliebe juristische Phrasen wählt! – wirft mir vor, dass ich „an der fixen Idee leide, ein Orangenbaum zu sein“. Nun, Herr Sanitätsrat, versuchen Sie den Beweis zu erbringen, dass das eine „Vorspiegelung falscher Tatsachen sei“, – gelingt es Ihnen, mich von dieser Ihrer Meinung zu überzeugen, so bin ich ja „geheilt“, nicht wahr? Wenn sie mir beweisen, dass ich ein Mensch sei wie alle anderen, dass ich lediglich infolge einer Fülle nervenzerrüttender Aufregungen von einer krankhaften Monomanie befallen sei, wie viele Tausende von Kranken in allen Sanatorien der Welt, so haben Sie mit diesem Beweise zugleich mich den Lebenden wiedergegeben: die „Nervenkrankheit“ ist dann im Nu von Ihnen weggeblasen. Auf der anderen Seite habe ich als Angeschuldigter das Recht, den Wahrheitsbeweis anzutreten. Es ist der Zweck dieser Zeilen, Sie, sehr geehrter Herr Sanitätsrat, von der Unanfechtbarkeit meiner Behauptungen zu überzeugen. Denn wenn es mir gelingt, einen Psychiater von europäischen Rufe, wie Sie, Herr Sanitätsrat, von der Richtigkeit meiner Aufstellungen zu überzeugen, so muss auch der größte Skeptiker sich vor dem sogenannten „Wunder“ beugen. Sie baten mich, in dies Heft einen möglichst ausführlichen Lebenslauf meiner Person zu schreiben, auch alle meine Gedanken über das, was Sie meine „fixe Idee“ nennen. Ich verstehe sehr wohl, wenn Sie das auch nicht aussprachen, dass es sich für Sie, einen pflichttreuen Diener der Wissenschaft, darum handelt, aus dem „Munde des Kranken selbst ein möglichst getreues Krankheitsbild zu erhalten“. Ich will bis aufs kleinste Ihren Wünschen nachkommen, in der bestimmten Voraussetzung, dass Sie, nachdem Sie Ihren Irrtum erkannt, auch mir bei meiner von Stunde zu Stunde realeren Formen annehmenden Baumwerdung hilfreiche Hand leisten werden. Erzählerin: Es folgt die Geschichte des Protagonisten, wie Ewers ein promovierter Referendar der Rechte. Dieser lernt eine Dame kennen, die in ihrer geräumigen Bonner Villa vorzüglich Offiziere des Husarenregiments und Mitglieder der Korpsstudenten empfängt, denen er auch angehört. Offiziere und Korpsbrüder sind ausnahmslos dem ungewöhnlichen Charme der Gastgeberin erlegen. Bei den abendlichen Gesellschaften geht es jedoch, ganz im Gegensatz zu kursierenden Gerüchten, immer gesittet zu. Doch eines Tages wird per Regimentsbefehl der Salonbesuch verboten, weil das Verschwinden eines Leutnants im Zusammenhang mit der mysteriösen Dame gebracht wird. Letzte Zeilen des Reiteroffiziers offenbaren den Wunsch zu verschwinden, um ein Myrtenbaum zu werden. Der Regiments-Oberst geht von einem Selbstmord aus und will die restlichen Offiziere vor ähnlichem Ungemach schützen. Auch alle Korpsbrüder versprechen die Villa nicht mehr zu betreten. Doch es bedarf nur eines Briefes der weiblichen Hand an den Helden der Geschichte – und es ist um ihn geschehen. Die harmlose Bitte, abends Orangenblüten vorbeizubringen zerreißt ein Band mit der pragmatischen Welt. Er verfällt dieser magischen Frau und teilt das Lager mit ihr unter Orangenzweigen. Bald verströmt er selbst mehr und mehr den Geruch von Orangen, hat die Offenbarung ein Wunder zu vollenden, in der Sonne zu stehen, weiße Blüten und goldene Früchte zu tragen. Dann erhält er ihren letzten Brief. Darin steht, dass – wenn er sie liebe – es zu Ende bringen solle. Hanns Heinz Ewers: Nun bin ich fertig, Herr Sanitätsrat. Mit List brachte man mich hierher, aber ich danke dem Schicksal, das mich hierhin führte. Die Aufregungen sind vorüber, in dieser wunderbaren Ruhe habe ich meinen Frieden wiedergefunden. Ich sitze in dem süßen Dufte der von mir ausgeht, und fühle, weiß, dass ich es zu Ende bringe. Schon wird mir das Schreiben schwer, Herr Sanitätsrat, die Finger wollen nicht mehr zusammenhalten, sie spreizen sich, streben auseinander wie die Zweige. Ihre Anstalt liegt in einem herrlichen weiten Parke; ich bin heute Morgen darin gewandelt, er ist groß und schön. Ich weiß, Herr Sanitätsrat, meine Worte haben sie überzeugt, oh, sie haben es getan! Wenn also die Stunde kommt, die so nahe ist, so wollen sie nicht versuchen, die Erfüllung zu hemmen. Dort hinter der großen Wiese werde ich stehen, wo die Kaskaden plätschern. Ich weiß, Sie werden mich pflegen lassen, Herr Sanitätsrat, der Gärtner vom Bonner Talweg versteht sich ja auf Orangenbäume, er wird Ihnen Anweisungen geben. Denn ich will ja nicht verkümmern, ich will wachsen und blühen, damit sie sich freue an meiner Pracht. Sie wird schreiben, Herr Sanitätsrat, Sie werden ihre Adresse wissen. Und noch eins: in jedem Sommer, wenn meine Krone funkelt von tausend goldenen Früchten, dann wollen Sie die schönsten brechen und in ein Körbchen legen. Das senden Sie ihr. Ein Zettelchen aber soll man hineintun mit den süßen Worten, die ich Nächtens einmal auf den Straßen Granadas hörte: Liebste, nimm die Blutorange, die ich still im Garten brach. Liebste, nimm die Blutorange! – Doch nicht schneit sie mit dem Messer, denn du wirst mein Herz zerschneiden mitten in der Blutorange! Erzählerin: Die 1907 erschienene Novelle Aus dem Tagebuche eines Orangenbaumes nimmt mit seiner metaphorischen Flucht aus einer rationalen Welt Kafkas Thematik der Verwandlung vorweg. Aber auch die poetisch zurückgenommene Sprache im Erzählerischen Ewers-Werk, ihr fast sachlich, nüchterner Ausdruck gegenüber dem Unerhörten erinnert an den späteren Kafka. Motive wie Prozess, Urteil oder Weltensicht aus der Perspektive eines gehetzten Tieres finden sich ebenso bereits bei Ewers. Besonders prägnant erscheint die stilistische Übereinstimmung in Kafkas Strafkolonie, wo eine unbeteiligt und neutral erscheinende Hauptfigur in horrorartige Geschehnisse involviert wird. Musik – Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 6, Allegro, Intro [1:51] Erzählerin: Um 1900 zieht sich – beeindruckt von Wagner und Nietzsche – durch die Musik, bildende Kunst und Literatur eine erotische Explosion; sogenannte moralische Entartung wird neu verortet und umgewertet. Die Oper Salome von Richard Strauss, das Stück Der Erdgeist mit seiner Figur Lulu von Frank Wedekind und das Bildnis Judith von Gustav Klimt wirken als genialische Schöpfungen moderner Sinnlichkeit. Die künstlerische Avantgarde stilisiert in ihren Werken ein Frauenbild zwischen anbetungswürdiger Reinheit und femme fatal, zartfühlender Schwester und Verführerin, Heiliger und Hure. Das Weibliche wird gleichzeitig zum literarischen Inbegriff für Ästhetisches und Dämonisches, für Beseeltes und Amoralisches – Ophelia und Salome stehen für ein Geschöpf. Die mit 24 Jahren an Schwindsucht verstorbene russische Malerin Maria Bashkirtseff verewigt sich mit ihren nachgelassenen Tagebüchern in den Hirnen lebensmüder Adulescenten und den Herzen avancierter Künstler. Der morbide Reiz vergänglicher Schönheit wird im Verbund lasziver Empfangsbereitschaft besungen. Weibliches wird zur Folie männlicher Projektionen und Wunschvorstellungen. Gleichzeitig sind in den Metropolen die Dienste Prostituierter so leicht zu bekommen wie Mokka und Cognac in den Cafés. Der Diskurs um das Geschlechtliche ist zwischen 1900 und dem 1. Weltkrieg das indirekte Terrain, sich mit den Konflikten der Zeit auseinanderzusetzen. Besonders feinjustiert müssen in diesem Zusammenhang die Komplexe der aristokratischen Wertemuster und das sich in allen Bereichen durchsetzende Bürgertum, eine gleichzeitige Sehnsucht nach wissenschaftlichen Maßstäben und künstlerischer Individualität sein. Die vieldiskutierte Sexualwissenschaft und der Hang zu sinnlicher Verklärung, das Bedürfnis nach geistiger und erotischer Emanzipation in der Nachbarschaft von geschlechtlicher Herabwürdigung zeigt ein neurasthenisches Bild der Moderne. Da erscheint im November 1911 wie ein Paukenschlag der Roman Alraune. Es ist die Geschichte androgyner Schönheit im mythischen Kontext eines Nachtschattengewächses, das unter dem Galgen gedeiht. Die Truggestalt Alraune - der Vamp als dämonische Verführerin - ist das Produkt einer künstlichen Befruchtung. Das Buch verkauft sich in den ersten acht Jahren zweihundertausendmal, wird in zwanzig Sprachen übersetzt und schließlich fünfmal verfilmt. Das Enfant terrible Hanns Heinz Ewers landet einen Welterfolg. Bevor es soweit ist, schreibt der Rebell am 18. November 1911 einen Brief an Maximilian Harden. Dieser wohl einflussreichste Publizist des wilhelminischen Deutschlands und Herausgeber der Wochen-Zeitschrift Die Zukunft, intimer Kaiserfeind und Entdecker literarischer Moderne, für den Max Reinhardt Premieren verschob, der mit der Feder vermochte, Fürsten zu stürzen, war der Einzige, vor dem sich Ewers verneigte. Eine Kritik aus dessen Feder, egal ob positiv oder negativ, war das Förderlichste für ein literarisches Werk. Hanns Heinz Ewers: Hochverehrter Herr Harden, ich sandte Ihnen mein neues Buch: Alraune – zwei Jahre arbeitete ich daran. Ich möchte so gerne, dass Sie es lesen.. Ich würde mich so sehr freuen, wenn Sie mir wieder einmal die Gelegenheit geben würden, Sie zu sprechen! (Nicht um Sie zu sehen.. denn ich sehe Sie stets in Ihren Vorträgen!) Mit dem Ausdrucke tiefer Verehrung und ergebenster Gewogenheit, Ihr treu ergebener Hanns Heinz Ewers Erzählerin: Aber Maximilian Harden hat Alraune, um die sich wenig später alle Welt reißt, vermutlich nicht gelesen, geschweige denn rezensiert. Schmeicheleien scheinen sich in Ewers Leben nicht auszuzahlen. Es ist die feine Balance zwischen Normalität und Abgrund, Wissenschaft und Phantastik, Psychologie und Erotik welche die Leser erregt. Zusätzlich gibt der morbide Alraune-Stoff Anlass zu wilden Spekulationen, die durch eine sich verselbständigenden Kette merkwürdiger Umstände und tragischer Zufälle forciert werden. Die Ausgabe der ungarischen Übersetzung wird von den Budapester Behörden sofort konfisziert und der Herausgeber verklagt. In Polen entbrannt um das Buch vor allem mit der klerikalen Partei eine regelrechte Presseschlacht, die sich ein Jahr lang hinzieht, was die Verkaufszahlen unerhört ansteigen lässt. Schließlich meldet sich in dieser Sache fast die gesamte polnisch-literarische Welt zu Wort, am engagiertesten der dunkle Literat Stanislaw Przybyszewski. Sein Vorwort für die Alraune erhitzt die Gemüter noch darüber hinaus. Der Ewers-Process ist schließlich der Auslöser einer längst angestandenen Debatte über die Freiheit der Literatur und Kunst. Privat muss Ewers einen Familieneklat ausstehen. Denn eine Hauptfigur im Roman ist der sich ethischen Prinzipen widersetzende Geheimrat ten Brinken. Dieser gleichzeitig widerwärtige und genialische Wissenschaftler, der ein menschliches Wesen mit künstlicher Befruchtung erschafft, hat offenbar die äußeren Merkmale seines Großonkels. Und seine Gattin Ilna Wunderwald hat zwar das Buch noch gestaltet, ist jedoch mittlerweile zu ihrem Liebhaber nach Leipzig durchgebrannt. Die Scheidung steht an. Hanns Heinz Ewers: Wie willst Du leugnen, liebe Freundin, dass es Wesen gibt, seltsame Wesen, die aus der verruchten Lust absurder Gedanken entsprangen? Seine Exzellenz ten Brinken, Dr. med., Ord. Professor und Wirkl. Geh. Rat, schuf das seltsame Mädchen, schuf es, ganz allein. Und dieses Wesen, das sie taufen ließen und Alraune nannten, wuchs heran und lebte wie ein Menschenkind. Was es anfasste, ward zu Gold, wo es hinblickte, da lachten die wilden Sinne. Wohin aber sein giftiger Atem traf, schrie alle Sünde, und aus dem Boden, den seine leichten Füße traten, wuchsen des Todes bleiche Blumen. Nicht für dich, blondes Schwesterchen, schrieb ich dies Buch. Deine Augen sind blau und sind gut und wissen nichts von den Sünden. Deine Tage sind wie die schweren Trauben blauer Glyzinen, tropfen hinab zum weichen Teppich: so schreitet mein leichter Fuß weich dahin durch die sonnenglitzernden Laubengänge deiner sanften Tage. Nicht für dich schrieb ich dies Buch, mein blondes Kind, holdes Schwesterlein meiner traumstillen Tage – Dir aber schrieb ich es, du wilde, sündige Schwester meiner heißen Nächte. Wenn die Schatten fallen, wenn das grausame Meer die schöne Goldsonne frisst, da zuckt über die Wogen ein rascher giftgrüner Strahl. Das ist das erste schnelle Lachen der Sünde über des bangen Tages Todesfurcht. Und sie reckt sich über die stillen Wasser, hebt sich hoch, brüstet sich in brandigen, gelben und roten, tief violetten Farben. Und Sünde atmet durch die tiefe Nacht, speit ihren Pesthauch weit hinaus über alle Lande. Und du fühlst wohl ihren heißen Hauch. Da weitet sich dein Auge, hebt sich frecher die junge Brust. Da fliegt ein Zittern über deine Nüstern, spreizen sich weit die fieberfeuchten Hände. Da fallen die bürgerlichen Schleier aller sanften Tage, da gebiert sich die Schlange aus schwarzer Nacht. Da reckt sich, Schwester, deine wilde Seele, aller Schanden froh, voll aller Gifte. Nimm, Schwester, dies Buch. Nimm es von einem wilden Abenteurer, der ein hochmütiger Narr war – und ein stiller Träumer zugleich. – Von einem, Schwesterlein, der neben dem Leben herlief – Erzählerin: Die das Buch umrahmenden Worte an die schöne Freundin und sündige Schwester sind – wie sich denken lässt – nicht an die Gattin Ilna Wunderwald adressiert. Die dunkel-romantische Umkleidung im Auftakt und Ausklang des Alraune-Romans spielt auf eine junge Frau an, die Ewers in Wien kennenlernt. Als im März 1911 der Dichter in der Donaumetropole einen Indienvortrag hält, findet er zu seinem Erstaunen das Podium mit einem Orangenbaum geschmückt und mit Apfelsinen-Blüten und Früchten übersät. Das hatte eine philosophisch und musikalisch gebildete junge Frau in Anlehnung an seine berühmte Erzählung arrangiert. Maria Munk, die reizvolle Tochter eines vermögenden jüdischen Dampfsägenbesitzers empfindet die hochbürgerlichen Konventionen ihrer Herkunft totlangweilig, verliebt sich in den gefeierten Dichter und hofft auf die Möglichkeit, durch ihn, in die große Welt zu gelangen. Sie reist ihm mit ihrer Mutter bis nach Miramar bei Triest hinterher, wo er einen großen Teil der Alraune schrieb. Die Rechnung scheint aufzugehen, denn bereits im Sommer des Jahres wird auf der istrischen Insel Brioni Verlobung gefeiert. Die Eltern der Braut wollen Ewers zur Hochzeit zwei Millionen Gulden und jährliche Zahlungen von 50.000 Kronen zukommen lassen – man freut sich beiderseits auf eine gute Partie. In der Brioni Insel Zeitung vom 3. Februar 1912 heißt es: Zitator: Mitten in der Stille des Weihnachts-Friedens drang plötzlich nach Brioni die Kunde von einem tragischen Fall, der sich in Wien ereignete: Die Tochter eines angesehenen Großindustriellen hatte durch einen zielsicheren Revolverschuss ihrem jungen Leben eine Ende gesetzt. Dieses Ereignis rief in Brioni umso größeres Aufsehen hervor, als das Mädchen noch vor ganz kurzer Zeit auf der Insel geweilt hatte. In Gesellschaft ihrer Eltern und eines berühmten Schriftstellers, der zugleich mit ihr angekommen war, verbrachte sie hier mehrere Wochen und niemand hätte zu jener Zeit ahnen können, welch furchtbares Schicksal dieses blühende Menschenleben ereilen werde. Wie man allgemein sprach, war sie mit dem Schriftsteller verlobt und binnen kurzem sollte angeblich die Vermählung stattfinden. Täglich konnte man beobachten, wie beide in angelegentlichstem Gespräch vertieft, über die sonnigen Frühherbstgefilde Brionis dahin wandelten, sie das hübsche, geistreiche, dem Anscheine nach etwas schwärmerisch veranlagte Mädchen und er, der weitgereiste Mann mit dem berühmten Namen, ein wenig exzentrisch in seinem Gehaben, im ganzen jedoch eine Erscheinung von dämonischem Reiz. Die Erbin großen Vermögens sollte sich mit der literarischen Kapazität vermählen und es schien, als hätten sich hier zwei zusammengefunden, deren Leben das Schicksal mit Rosenketten umschlingen wolle. Erzählerin: Maria Munks Suizid spricht sich in der hohen Gesellschaft und literarischen Bohème herum wie ein Lauffeuer. Ewers hatte der gerade 24-jährigen leichtfertig die Ehe versprochen und will, offenbar um Zeit für seine unentschiedenen Gefühle zu gewinnen, mit Max Reinhardt für einige Monate nach Amerika gehen. Es ist möglich, dass er ihr selbst den mit Perlmutt belegten Damenrevolver schenkte, damit sich die psychisch labile Maria in seiner Abwesenheit sicherer fühle. Aber die Unglückliche schießt sich damit ins Herz. Die Katastrophe rüttelt stark an seinen Nerven. Ewers versucht, acht Jahre später mit dem Theaterstück Mädchen von Shalott das Schicksal Marias literarisch aufzuarbeiten. Neben der Toten spielen dort der Maler Gustav Klimt und er selbst, als Unverantwortlicher bezeichnet, die entscheidende Rollen. Nicht nur im Stück Mädchen von Shalott, sondern ganz tatsächlich wird Maria auf dem Totenbett von Klimt porträtiert, denn er ist mit den Eltern der jungen Frau seit langem bekannt. Auf diesem Bild ist Maria – wie von Ewers literarisch skizziert – auf Rosen gebettet. Die dem Unverantwortlichen als Geist erscheinende Tote beschreibt sich selbst im Stück als Rosenknospe: Hanns Heinz Ewers: Die Knospen sangen, alle sangen sie und reckten singend, jubelnd sich empor, dem Sonnenstrahl entgegen. Und Tag um Tag sprang eine auf, und wieder eine, und ward zur vollen Rose. Später, als alle anderen Rosen im Garten, blühte der Busch dort an der Mauer – aber schöner viel, viel reicher waren seine roten Rosen. Nur – tief unten – und halb verdeckt von Rosenblatt und Efeu, wuchs eine junge Knospe. Schlank, sehr schlank, zarter als alle andern. Dicht versteckt von breiter Blätter Grün, lugt‘ sie hinaus und sah den goldnen Strahl, sah seine Pracht und all den Glanz. Und sehnte sich wie keine, nach seinem Kuss, so sehr, so sehr! Doch niemals kam der Sonnenstrahl, niemals, an keinem frohen Tag. Sie sah im Strahl des Paradieses Glanz, der alle, alle Knospen schmeichelnd küsste, nur sie nicht. Nie. Und nie erschloss sie sich, öffnete sich nie, ward nie zur Rose. Senkte das Köpfchen, welkte. Brach einmal, als ein Wind sie fasste, fiel… Erzählerin: Die Klimt-Forscherin und langjährige Kuratorin an der Albertina in Wien Dr. Marian Bisanz-Prakken entdeckte einen ikonographischen Zusammenhang zwischen Ewers und Klimt: Zitatorin: Zunächst malte der Künstler 1912 das Totenbildnis der Maria Munk, die wie bei Ewers beschrieben auf Rosen gebettet ist. Ein Jahr später bekam er den Auftrag, die junge Frau als stehende Figur widerzugeben. Weil dieses Ergebnis den Eltern missfiel, behielt Klimt das Bild und arbeitete es, wie ihr Cousin Erich Lederer im späteren Alter berichtet, zur leicht entblößten Tänzerin um. Das dritte, 1917 begonnene und 1918 durch den Tod des Künstlers unvollendet gebliebene Öl-Gemälde Maria Munks ist – genau wie das Bildnis der „Tänzerin“ - hundertachtzig mal neunzig Zentimeter groß. Am ausführlichsten behandelt Klimt hier das über die Schulter blickende, dem Betrachter frontal zugewandte Gesicht. Der Ausdruck ist verträumt und leicht melancholisch. Die einander überlagernden Raumschichten entsprechen, für Klimt charakteristisch, verschiedenen inhaltlichen Ebenen. Die Tulpen, Rosen, Päonien, Chrysanthemen, Nelken, und Cinerarien scheinen auf positive, vielfach chinesisch orientierte Werte wie Glück, Reichtum, Schönheit und Vornehmheit zu verweisen. Von der Klimt-Forschung völlig unbeachtet blieb das im rechten oberen Drittel sichtbare Naturfragment aus äußerst bizarren Formen. Wie ein penetranter Fremdkörper wirkt die grob gerillte Wurzel mit der krummen Endung. Der dünne Hals des rot umrandeten, rosa und weiß leuchtenden Volumens verzweigt sich rechts oben in wilde, schwarze Striche und trägt gleichsam einen großen Kopf. Bei diesem für ihn erstaunlich hässlichen Gebilde hat Klimt sich anscheinend an einer nackten, pharmazeutisch konservierten Wurzel der Alraune orientiert. Diese äußerst giftige „Zauberwurzel“ ist seit jeher wegen ihrer angeblich magischen Kräfte und aphrodisierenden Wirkungen berühmt. Die Wahl des außergewöhnlichen Bildmotivs war wohl kein Zufall. In Wiener Kreisen wurde der spektakuläre, am 28. Dezember 1911 von Maria Munk begangene Selbstmord zwangsläufig mit dem kurz vorher erschienenen Roman Alraune von Hanns Heinz Ewers assoziiert, der sofort zum Bestseller geworden war; die Beziehung zwischen dem Autor und der reichen Industriellentochter war kein Geheimnis. Um die konträren Welten beider Protagonisten zu versinnbildlichen, scheint Klimt das Hauptmotiv des Skandalromans Alraune ins Spiel gebracht zu haben. Im Gemälde, das erst in jüngerer Zeit als Ria Munk III bekannt ist, beherrscht die grelle, hochgiftige Alraunenwurzel das chaotisch und aggressiv wirkende Bildfeld, das wie ein schädlicher Virus in die Harmonie der „guten“ Botanik und der Glückssymbole hereinbricht. Böse Mächte bedrohen die ahnungslose, verträumte Frau, lauern ihr hinterrücks auf und greifen sie an ihrem Kopf sogar unmittelbar an. Das Thema der von „feindlichen Gewalten“ bedrohten Unschuld ist kein Novum im Werk des Künstlers. Kontrastpaare wie Gut und Böse, Rein und Verderbt, Hell und Dunkel, Klar und Verworren spielen in Klimts allegorischer Bildwelt überhaupt eine Schlüsselrolle. Das Bildnis Ria Munk III wird – zweifellos im Sinne des Auftrags – von der Blumenaura der schönen jungen Frau überstrahlt. Dabei fügt sich die Ewers-Komponente als Metapher des Bösen so raffiniert in die dekorative Buntheit ein, dass sie bis heute nicht wahrgenommen oder gar als negativer Faktor erkannt worden ist. Ob oder in welcher Form der verschlüsselte Hinweis auf die zerstörerischen Kräfte dem Auftrag entsprochen hat, muss dahingestellt bleiben. Erzählerin: Auch die Alraune-Verfilmung von 1952, scheint auf den Klimt-Ewers-Komplex anzuspielen. Darin gestaltet der Maler Wolf Gontram ein riesiges Wandgemälde, das sehr stark an Gustav Klimt erinnert. In den verschiedensten Variationen ist darauf nur Gontrams angebetete Alraune porträtiert. Die unheilbringende femme fatale wird hinreißend von der jungen Hildegard Knef dargestellt. Der Künstler Wolf Gontram, Graf Geroldingen und der Kutscher Mathieu werden durch sie zugrunde gerichtet; ein so ein zartes Geschöpf wie Olga treibt sie in den Selbstmord. Diese wird von der 20-jährigen Julia Koschka gespielt. Im ´Spiegel` vom 10. September 1952 heißt es: Zitator: Regisseur Rabenalt entdeckte ihr Gesicht in einer Film-Illustrierten und verpflichtete sie für den „Alraune“-Film an der Seite Hildegard Knefs. In Geiselgasteig musste Julia Koschka als Selbstmörderin Olga Wolkonska dreizehnmal vor der Kamera den „Giftbecher“ trinken. Erst beim vierzehnten Mal war der Regisseur Rabenalt mit der Szene zufrieden. Wieder zuhause in Lübeck wurde sie besinnungslos in ihrem Bett gefunden, – wie im „Alraune“-Film – vergiftet durch den Genuss unzähliger Schlaftabletten. Ohne die Besinnung wiedererlangt zu haben, verstarb sie kurz darauf im Städtischen Krankenhaus. Der Abschiedsbrief, den sie hinterlassen hatte, ließ das Motiv ihres Freitods im Dunkeln. Die nächstliegende Vermutung, ihr Filmdebut sei ein Reinfall gewesen, den sie nicht habe überwinden können, erwies sich als unbegründet. Blieb das metaphysische Raunen über ihre „Alraune“-Rolle: Der von Hanns Heinz Ewers als Roman gestaltete Stoff sei „belastet“. Dieser uralte Mythos von der Wurzel, die unter dem Galgen eines Gehängten wächst und den Besitzern Glück und Tod bringt, räche sich an denen, die ihn zu gestalten wagen. Hat nicht vor Jahren schon Brigitte Helm nach ihrem „Alraune“-Aufnahmen einen Menschen mit ihrem Auto tödlich überfahren? Das Nachthemd, indem Julia Koschka vor der Filmkamera vierzehnmal das Gift schlucken musste und das man ihr dann geschenkt hatte, dieses „Alraune“-Nachthemd hat sie angehabt, als sie den echten Selbstmord beging. In ihrem Abschiedsbrief schrieb sie, Sie wünsche, auch damit beerdigt zu werden. Erzählerin: Und am 29. Oktober 1952 war im ´Spiegel` zu lesen: Zitator: Hildegard Knef, 26, Filmschauspielerin, hat nach den Aufnahmen zu ihrem neusten Film Alraune einen „Alraune-Komplex“ entwickelt. Wie die Münchner Abendzeitung meldet, steuert sie ihr grünes Chevrolet-Kabriolett nicht mehr selbst. Seit die Zeitungen voll sind mit Erinnerungen, dass schon Brigitte Helm als Alraune bei der Verfilmung des Hans-Heinz-Ewers-Stoffes vom Unglück verfolgt wurde und einen schweren Verkehrsunfall verursachte, der ein Menschenleben forderte, hat sich Hilde nicht mehr ans Steuer gesetzt. Der Freitod Julia Koschkas, die neben Hilde eine kleine Rolle im Alraune-Film zu spielen hatte, schürt den „Alraune-Komplex“ noch mehr. Erzählerin: Arthur Maria Rabenalt berichtet folgendes über den Kult-Regisseur und Schauspieler Erich von Strohheim, der an der Seite von Hildegard Knef spielt: Zitator: Er hatte panische, jawohl, panische Angst vor der kumpelhaften Berlinerin Hildegard Knef, vor ihrem Schlangen- und Basiliskenblick, vor der magischen Alraune, mit der er sie tatsächlich zu identifizieren begann. Er verfiel in Zittern, wenn sie das Studio betrat und zog es vor – wenn irgend möglich – größere Szenen mit ihr zu drehen, wenn sie gar nicht anwesend war, da allein ihr Blick Unglück brächte. Es hätte komisch sein können – war aber tragisch. Das gutmütige Hildchen wurde für ihn de facto zur Hexe, zum männermordenden Vampir, zur Alraune. Er ertrug ihren Blick aus ihren schönen hellen Augen nicht mehr… Erzählerin: Die Alraunenwurzel wird bereits vor 4000 Jahren von den Ägyptern als Liebestrank, Schlaf- und Schmerzmittel verwendet. Sie wird in den Pyramiden als Grabbeilage beigegeben und auf dem Totengewand Tut-Ench-Amuns finden sich deren Früchte. Die griechische Göttin Aphrodite trägt den Beinamen Mandragoritis, Herrin der Alraune. In der klassischen Literatur zwischen Plinius, Flavius, Machiavelli, Shakespeare, Hebbel und den Gebrüdern Grimm erfreut sich die Wurzel mit entsprechend aufgeladener magischer Bedeutung großer Beliebtheit. Alraune bedeutet volkstümlich Drachenpuppe, Galgenmännlein oder Henkerswurzel. Das Wort entlehnt sich dem Althochdeutschen alp und dem Germanischen runa. Alp bedeutet gespenstisches Wesen oder nächtlicher Kobold, während runa für Geheimnis steht. Ewers hat mit seiner Alraune nicht nur die Literaturgeschichte ergänzt, sondern – ohne es zu wollen – auch reale Alpträume hervorgerufen. Musik – Josef Weiss: Filmmusik für Der Student von Prag, Intro [1:06] Erzählerin: Von Anfang an verzaubert ein neues Medium den Dichter: die Kinematographie. Die laufenden Bilder sind eine Sensation mit großem jahrmarkthaften Unterhaltungswert. Echte Kunst jedoch, die man beispielsweise am Theater oder der Oper erleben kann, wird bis zum Ersten Weltkrieg diesem Gaudium fürs Volk abgesprochen, ja in den Zeitschriften sogenannter Hochkultur als Albernheit und Geschmacklosigkeit gewertet. Ewers gehört zu den Pionieren, die dem Film artifizielle Potentiale bescheinigen. Bereits 1907 schreibt er dem Kientopp einen erstklassigen Kulturfaktor, einen durchschlagenden Vitalitäts-Koeffizienten und neues Feld in der Kunst zu. Und fragt, wer diesen jungen Acker pflügen hilft. Bald darauf ist er Chefredakteur der Deutschen Montagszeitung. Dort erlaubt er sich eine Rubrik namens Kino-Revue einzurichten, um für seine Leidenschaft zu werben. In einer populären und für gebildete Schichten ausgerichteten Zeitung, ist das etwas Nie-Da-Gewesenes. Mit erstaunlichem Weitblick lässt er sich über die unbegrenzten Möglichkeiten des neuen Genres aus und räsoniert 1911 über die Zukunft des Tonfilms, der sich erst zwanzig Jahre später etabliert. Der Einsatz des Lichtbilds in der Schule und in der medizinischen Wissenschaft sollte seiner Ansicht nach das Studieren formalistischer Abstraktionen erleichtern, ja das Lernen zum Genuss machen. Und er erkannte natürlich die spielerische Komponente, die romantische Option, die alltagsvergessende Entspannung und kompensatorische Funktion des Films: Hanns Heinz Ewers: Ich ging wieder einmal in meinen besonders beliebten Kinema in der Friedrichstrasse, abends gegen neun Uhr. Da stand eine junge Frau vor dem Eingange und schaute sehnsüchtig die Bilder an. An jeder Hand hielt sie ein Kind; sie war krumm, unterernährt und überarbeitet. Ich hätte ihr gerne Geld gegeben, aber ich schämte mich, es ihr anzubieten. Und so, in der Verlegenheit, wie ich das wohl anstellen könnte, fragte ich sie, ob sie nicht hereingehen wolle. Die Frau schwieg, aber ihre Augen leuchteten. Und die Kinder schrien und drängten sich an mich – da nickte die Mutter. Ich saß dann neben ihnen, und in den Pausen sagte mir die Frau, dass es nichts Herrlicheres gibt in der Welt als einen Kientopp. Jetzt sei sie schon lange nicht mehr dagewesen, da der Mann keine Arbeit habe – und gerade jetzt sehne sie sich so danach. „Warum gerade jetzt?“ fragte ich. Sie sah mich groß an: „Das ist doch natürlich! Hier vergisst man doch alles – und wenn Sie wüssten, wie es bei uns zugeht!“ Erzählerin: Ab 1913 ist Ewers den theoretischen Avancen für den Film überdrüssig und legt selbst Hand an. Bis 1914 wird er für vierzehn Spielfilme die Drehbücher schreiben, teilweise Regie und Produktionsleitung übernehmen und sogar als Darsteller agieren. Zusätzlich flimmern einige seiner literarischen Stoffe wie Alraune von der Kinoleinwand. Ewers darf sich zu Gute halten, Theaterschauspieler wie Paul Wegener, Grete Berger, Ernst Lubitsch und Tilla Durieux für das Filmgeschäft gewonnen zu haben. Er dreht auch mit Alexander Moissi, Enrico Caruso, Emmy Destinn, Brigitte Helm und Werner Krauss. Ewers ist eine zentrale Figur der neuen Kunstrichtung. – Sein Film Der Student von Prag mit Paul Wegener in der Hauptrolle hat wie kaum ein anderer dieser Zeit das deutsche Filmschaffen inspiriert. Das Werk wird 1913 im Mozart-Saal des Theaters am Berliner Nollendorfplatz uraufgeführt. Es ist der Ursprung des Autorenfilms und bietet einige Besonderheiten: Drehbuch, Produktion und Regie übernimmt Ewers selbst, Regie-Assistenz der Däne Stellan Rye. Die Geschichte des Films ist an Chamissos Peter Schlemihl und Wildes Dorian Gray angelehnt; Balduin, ein armer Student, verkauft dem Teufel sein Spiegelbild. Doch das veräußerte Spiegelbild erscheint nun Balduin als bedrohlicher Doppelgänger. Letztlich schießt Balduin in seiner Verzweiflung auf das dämonische Ich und stirbt dabei selbst. Die Handlung ist nach Prag verlegt und spielt dort in historischen Straßen und alten Schlössern. Die von Ewers detailliert geplanten Lichteffekte wirken wie Clair-obscur-Kontraste von Eros und Todesengel und zeigen eine starke Affinität zum Spiel mit archaischen Mythen. Die Verbindung von Lust und der Fühlung mit dem Tod verbildlicht das Motiv gesellschaftlicher Entgrenzung. Die Szenerie auf dem jüdischen Friedhof lässt atmosphärisch Gustav Meyrinks Golem vorausahnen. Als Der Student von Prag am 22. August 1913 uraufgeführt wird, scheinen die meisten Journalisten im Urlaub zu sein. Ewers ist außer sich und schreibt noch am selben Tag an einen Kritiker: Hanns Heinz Ewers: Ich bin ganz ungeheuer deprimiert: in der ehrlichen Überzeugung, dass man wohl Kunst auch im Kino schaffen könne, bin ich dieses Jahr in Berlin geblieben, habe wie ein Tier gearbeitet. Sie machen sich keinen Begriff von der ungeheuren Arbeit, die in dem Film Der Student von Prag steckt. Wegener und ich haben fast drei Monate dafür geopfert; stellen Sie sich nur vor, dass jede der Doppelgängers-Szenen, bei denen Wegener zweimal auf dem Film ist, wenigstens 8 – 10 mal nachgedreht werden musste, ehe man soweit war, dass die Bewegungen harmonisierten! – Ich wollte alles das ausnutzen, was das Kino vor dem Theater voraus hat, alle die Möglichkeiten zeigen, die der Bühne immer verschlossen bleiben müssen! .. Und die Blätter.. „registrieren“ wie bei irgendeinem Dutzendfilm hundertsten Ranges! Alle Kritiker 1 Ranges sind weg.. so hatte ich nur kleine Schmöke da, die gar nicht begreifen können, was ich eigentlich wollte! Ich spiele mit Wegener und bekannten Namen der Reinhardt-Bühnen mit großen Kosten (über 40 Mille), bei dem ich den Versuch mache, neue Kunst auf neue Möglichkeiten im Kino zu zeigen, der Kunst also ein neues Gebiet zu erobern… und werde von der Presse behandelt wie der letzte Dreck!! – Zwanzig Zeilen unter „Lokales“ – und fertig!! Ich bitte, seien Sie so gut, nehmen Sie die Feder und schreiben Sie etwas in der BZ!! Verreißen Sie mich, wie Sie wollen, tadeln Sie, was überhaupt nur zu tadeln ist – aber verschaffen Sie mir die Genugtuung, dass wenigstens ein Blatt Berlins eine Arbeit, die so ernst ist, auch ernst nimmt!! Erzählerin: Auch das Betteln um diese Kritik bleibt ungehört. Und trotzdem wird der Film vom Publikum vor allem wegen der künstlerischen Innovationen gefeiert. Ein Zeitgenosse berichtet, dass die Zuschauer im Kinosaal aufgeschrien haben und ihren Augen nicht trauten, als die gleiche Person zweimal auf der Leinwand erschien. Und schließlich stimmen auch die Kritiker wohlwollend ein und Der Student von Prag wird die Weltbedeutung des deutschen Kinos begründen. Hier wurde zum ersten Mal ein Drehbuch von einem namhaften Autor geschrieben, zum ersten Mal stellte sich ein Theater-Star wie Paul Wegener dem bewegten Bild zur Verfügung, zum ersten Mal wurde in einem Spielfilm der Gedanke in die Tat umgesetzt, den Darsteller durch Doppelbelichtung sich selbst gegenübertreten zu lassen. Und es war das erste Mal, dass für einen Film Musik komponiert wurde – und zwar von dem Liszt Schüler Josef Weiss. Musik – Brigitte Helm, Chanson aus Alraune 1930 [2:34] Erzählerin: In der dritten Stunde der Langen Nacht erleben Sie Ewers während des 1. Weltkrieges in den USA, seine dortige Internierung, sein Comeback in Deutschland in den 20iger Jahren und schließlich seine fatale Liaison mit den Nazis. Musik 3. Stunde Musik – Gustav Holst: The Planets, Mars, the Bringer of War, Intro [3:20] Erzählerin: Wie aus dem Nichts kommt es im Sommer 1914 zur europäischen Apokalypse. Die Fakten sind bekannt, die Hintergründe umstritten. Nachdem der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin am 28. Juni in Sarajewo ermordet werden, hält ganz Europa den Atem an, um dann in verschiedenen Konstellationen und Allianzen über sich herzufallen. Besonders frappierend ist, dass die katastrophalen Geschehnisse gleichermaßen von Aristokraten, Bürgern, Arbeitern, Bauern und darüber hinaus von allen Konfessionen und politischen Parteien ekstatisch bejubelt werden. Auch Literaten, bildende Künstler und Wissenschaftler wie Gerhart Hauptmann, Max Scheler, Max Reinhardt, Franz Marc, Max Liebermann, Wilhelm Röntgen und Max Planck zeigen sich – zumindest bei Kriegsbeginn – von den Ereignissen euphorisch berauscht. Im Spätsommer 1914 triumphiert allseits die Ideologie des Nationalismus; unfassbar plump wird die eigene Tugend mit der angeblich verderbten Nachbar-Nation verglichen. Thomas Mann stellt der Kunst die Elementar-Macht des Krieges an die Seite und schlussfolgert, dass Deutschlands Schönheit sich erst im Krieg entfalten könne. Die Intellektuellen preisen in diesem Waffengang weniger ökonomische Interessen als die nationale Ergriffenheit für einen höheren Sinn der Wahrheit. In pathetisch-heroischem Ton wird der Krieg als notwendiger Ausweg aus einer tiefen Sinnkrise beschworen. Die Feldzüge gegen Nachbarvölker werden als Reinigung, Verjüngung, Bewährung und Entschlackung besungen. Es wird wieder über die deutsch-französische Erbfeindschaft räsoniert und der Krieg von 1870/71 propagandistisch verwertet. Zwischen den unzertrennlichen Freunden Henry und Ewers, die gerade noch gemeinsam aus dem Französischen und Deutschen übersetzt haben und interkulturelle Projekte umsetzten, kommt es zum Bruch – denn auch sie können dieser Tage nur national denken. Ewers befindet sich zum Zeitpunkt der Ermordung von Franz Ferdinand auf größerer Süd-Amerika-Fahrt und bei der Kriegserklärung von Österreich an Serbien in den USA. Er steht wie seine Kunstfigur Frank Braun dem historischen Spektakel unsicher gegenüber: Hanns Heinz Ewers: Was war sein Vaterland? Seine Heimat, das war gewiss, war Europa. In Wien war er zu Hause, in Berlin, in München und am Rhein. Aber nicht weniger in der Bretagne, in der Provence, in Paris. Und in Italien – o überall! In Andalusien auch und in der Stadt, die den Prado barg. Und in Stockholm, in Pest, in Zürich und Antwerpen. In – – Was war sein Vaterland? War er ein Deutscher – er? Weil er geboren war, irgendwo am Rhein? Kannte er nicht so viele Sprachen und sprach sie öfter als deutsch? International? – Nein? So hätte er nie empfunden. Aber es gab über allen Völkern ein anderes Volk, höher, edler und größer. Die Kulturnation hatte er es genannt – ihr gehörte alles an, was hinausflog über die Massen. Und er kannte sie gut, fand ihre Bürger überall in der Welt. Es war da dieses Volk, ganz gewiss, ohne jeden Zweifel. So nah war es, so mit Händen zu greifen – gestern noch. Und heute? Weg, fort – als ob es nie existiert hätte! Es gab nur noch Deutsche, Russen, Franzosen, Engländer. Und die schlugen sich tot, gegenseitig! Warum denn nur? Um ihrer Vaterländer willen?! Er lachte bitter auf. Erzählerin: The Fatherland, eine zum Ausbruch des Krieges in New York gegründete amerikanische Zeitschrift für deutsche Propaganda ist das Organ, wo Ewers sich schließlich hingezogen fühlt und Aufsätze beiträgt. Wie der Titel des Blattes suggeriert, kann er sich ein wenig zu Hause fühlen; hier schreibt auch der englische Skandalautor, Okkultist und Sexualmagier Aleister Crowley. Auch mit dem Deutschen Botschafter tauscht er sich in Sachen Kriegsagitation aus. Er hält zwischen 1914 und 1915 in 28 amerikanischen Großstädten wie Boston, Buffalo, Cleveland, Detroit, Chicago, Philadelphia, San Francisco, Los Angeles oder San Diego gut besuchte Vorträge über Deutschland und seine Kultur. Ewers berichtet, wie er seine Stimme trainiert, um größere Menschmassen zu erreichen. Im Vampir-Roman und im Amerika-Manuskript geht er darauf ein. An seinen Freund, den bekannten Literaten Artur Landsberger in Deutschland schreibt er: Hanns Heinz Ewers: Ich werde gefeiert, da ich scheußlich viel reden muss (diese Woche neun Mal!!! Meist in Englisch!), ich bekomme grässlich viel Sekt und habe immer schöne Autos zur Verfügung. Auch bin ich stets ab sieben im Frack (o die Ellenbogen!!) und verbrauche zwei Hemden am Tag – – aber die Miete bin ich natürlich schuldig und die Wäsche und alles andere auch!! Erzählerin: Und da Ewers zwar die Miete schuldig bleibt, keinesfalls aber auf Luxus und hochwertigen Wein verzichtet, muss er sich darüber hinaus verdingen. Er schreibt Filmszenarien, Theaterstücke und Opernlibretti. Da er jedoch auf die schlechte Bezahlung eines geduldeten Ausländers angewiesen ist, wird er noch zusätzlich als Schauspieler tätig. Auf der Bühne ist er u.a. im New Yorker Irving Place Theatre zu sehen. Dort spielt er in Strindbergs Stück Nachtigall von Wittenberg die Rolle des Ulrich von Hutten so überzeugend, dass die Presse jubelt. Im fernen Dresden wird derweil Eugen d’Alberts Oper Die toten Augen uraufgeführt. Die im März 1916 stattfindende Premiere an der Hofoper mit dem Libretto von Marc Henry und Hanns Heinz Ewers ist ein Publikumserfolg. Die Oper wird bald auf Schellack gepresst, in über achtzig europäischen Häusern, sogar im feindlichen London gespielt und schließlich in New York aufgeführt. Die berühmteste Stelle ist die Sopran-Arie „Psyche wandelt durch die Säulenhallen“. Hier wird musikalisch das ätherische Wesen der tragischen Hauptfigur eingefangen: Musik – Eugen d’Albert: Die toten Augen, Arie: Psyche wandelt durch die Säulenhallen, Aufnahme mit Lotte Lehmann 1933 [3:05] Erzählerin: Zu den guten Freunden in Amerika zählt die deutsche Jüdin Adele Guggenheimer-Lewisohn. Sie hat in New York einen reichen Anwalt geheiratet und ist dann früh verwitwet. Ewers hatte mit ihr schon in Berlin, als sie noch ein junges Mädchen war, ein Verhältnis, das während seiner Zeit in Amerika zwischen 1914 und 1920 wieder aufblüht. In der Novelle Der letzte Wille der Stanislawa D’Asp setzt er Adele ein literarisches Denkmal. Es wird die Geschichte einer jüdischen Frau aus dem Varieté erzählt, welche die Boheme verließ, den Traum vieler Tingel-Tangel-Mädchen verwirklichte und eine vermögende Gräfin wurde. Als in der vollkommenen Sicherheit ihres Lebens die innere Sonne erlischt, zeigt die einstmalige Künstlerin und Prostituierte Lea Lewi auf furchtbare Weise, dass Liebe nicht käuflich ist. In abgewandelter Form spielt sie auch im Vampir – wie in Stanislawa als Geliebte einer Figur mit Ewers-Zügen – eine markante Rolle. Adele unterstützt Ewers finanziell in New York und übersetzt seinen Poe-Essay ins Amerikanische. Er erwägt, sie in zweiter Ehe zu heiraten, und widmet ihr das Stück Das Mädchen von Shalott und seinen Vampir: „It is your book – take it with gracious hands!“ Im Vampir spürt Ewers mystischen Verbindungen jüdischen Ursprungs nach und ist fasziniert von der Idee einer deutsch-jüdischen Kultur-Elite. Dieser Gedanke bildet das Leitmotiv einiger Aufsätze, in denen für vollkommene Assimilation und schrankenlose Bürgerschaft der Juden plädiert wird. Dies begründet seine Freundschaft mit dem Philosophen und Wirtschaftsexperten Walther Rathenau. Ewers findet sich neben Martin Buber in dem verbreiteten Sammelband Prinzessin Sabbath und studiert intensiv den in London lebenden Autor Israel Zangwill. Der vielgelesene Zionist war früher Anhänger Theodor Herzls und Gründer der Jüdisch-Territorialistischen Organisation. Ewers besorgt die auf sieben Bände anwachsende Übersetzung und Herausgabe seiner Werke. Mit Rathenau korrespondiert er aus den USA über seine deutsch-nationalen Agitationen. Gleicherweise ist er über Rathenaus Fortschritte mit der Kriegs-Rohstoff-Abteilung informiert. Ewers beklagt sich über die Unfähigkeit deutscher Diplomaten in Washington, den antideutschen Kampagnen der amerikanischen Presse etwas entgegenzusetzen. Gleichsam wie mit einem siebten Sinn ausgestattet, tauscht sich Ewers während des Krieges mit dem vorrangig als Autor und Mäzen bekannten Rathenau über brisante Details der Außenpolitik aus. Dass dieser 1922 Außenminister werden wird, liegt damals noch in den Sternen. Ewers‘ Berichterstattung aus Amerika erinnert in Art und Detail an eine Agententätigkeit. Rathenau schreibt im Juli 1915 verschlüsselt von einem Rittergut, das durch geeignetere Kräfte bewirtschaftet werden könne, und freut sich auf den Geschäftsbericht, den Ewers dafür in Aussicht stelle. Mit dem „Rittergut“ ist die deutsche Botschaft in Washington und dem „Geschäftsbericht“ das Amerika-Manuskript gemeint. Auch Rathenau wird er später im Roman Fundvogel ein literarisches Denkmal setzen. In den USA beschäftigt Ewers die Frage: „Warum hasst man die Deutschen?“ Hanns Heinz Ewers: Am meisten hat den Deutschen im Ausland von jeher geschadet: das überlegene Lächeln. Es ist der Mann, der nach oben Hurrah schreit und nach unten Fußtritte austeilt, der Mann der „Ordnung“, der das „Schema F“ erdacht hat! Der Mann, der sein „Fach“ gründlich kennt, der ein sehr tüchtiger Richter, Oberlehrer, Unteroffizier, Zollbeamter oder Polizist sein kann – der aber weder ein Verständnis noch Interesse für irgend etwas anderes in der Welt hat. Der Mann des kleinen Horizonts und des schlecht sitzenden Kaiser-Geburtstags-Fracks, der Mann, der seine Käseglocke für die Welt, und die dicke Made – sich selbst – für deren Mittelpunkt hält. Der Mann, der nur die Sprossenleiter seines Lebens kennt, der die Rangordnung erfunden hat und die Zeichen seiner Würde auf der Visitenkarte trägt. Es ist der Mann, dem der Titel „Geheimrat“ und „Exzellenz“ Glanz bedeutet und zugleich tiefe Ehrfurcht einflößt, der instinktives Misstrauen gegen alles hat, was nicht so denkt wie er selbst, und dieses Misstrauen mit einer herausfordernden Arroganz zur Schau trägt. Kurz, es ist der Mann des subalternen Geistes, den sein Amt für sich und seine Untergebenen zum lieben Gott macht. Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass kein Land der Welt auch nur entfernt so pflichteifrige, tüchtige und gut ausgebildete Beamte hat wie Deutschland. Das leuchtet aus seinem Lächeln, das strahlt aus seiner ganzen Person. Und er ist der Mann, den man draußen für den typischen „Deutschen“ nimmt – für den er sich ja gibt – er ist der Mann, der deutsches Wesen im Ausland diskeditiert und verhasst macht. Erzählerin: Beamte wie der Chef des deutschen Propagandakabinetts in Amerika, Exzellenz Dernburg, und der deutsche Botschafter, Graf von Bernstorff, sind dem Dichter ein Gräuel. Der lässt sich lieber – wie in seiner Zeit als Varieté-Künstler – mit der Halbwelt ein, beteiligt sich an Passfälschungen für deutsche Landsleute, oder versucht, mittels privater Beziehung, das Zeichnen englischer Kriegsanleihen zu verhindern. Es ist ihm ein Anliegen, die USA vom Kriegseintritt abzuhalten. Um England zu schwächen, ist er mit Aleister Crowley aktiv für ein deutsch-irisches Bündnis engagiert. Die beiden zu magischen Ritualen, Drogen und sexuellen Enthemmungen neigenden Autoren nutzen ihre politischen Visionen, um sie mit okkulten Themen zu verbinden. 1915 fährt Ewers nach Mexiko, um den Rebellenfürsten Francisco Villa, genannt Pancho, zu animieren, in die Südstaaten einzufallen. Das sollte die USA davon abhalten, mit der Entente gegen Deutschland zu kämpfen. Ewers hatte den selbsternannten Diktator Villa schon 1906 in Mexiko kennengelernt. In der Folge kommt es tatsächlich zu Massakern an US-amerikanischen Bauingenieuren und Überfällen in Kleinstädten New Mexicos. Eine Gegenoffensive durch General Pershing bringt die beiden Staaten tatsächlich an den Rand eines Krieges. Doch die USA treten dennoch der Entente gegen Deutschland bei und im Juni 1918 meldet die New York Times, dass Ewers inhaftiert worden sei. Dreizehn Monate Gefängnis- und Lager-Internierung bringen ihn an den Rand seiner seelischen und körperlichen Kräfte. Da ihn kaum Post erreichen kann, aber hin und wieder Bücher zugelassen werden, schreibt ihm sein Freund Landsberger kurzerhand einen Geburtstags-Brief als Vorwort in seinen gerade erschienenen Roman. Darin erfährt der Inhaftierte, dass er in der Heimat und im Felde der meistgelesene deutsche Autor sei. Eine große Schar Freunde und Verehrer beiderlei Geschlechts würden an ihn denken. Ewers erkrankt im Frühjahr 1919 so schwer, dass er in ein Hospital gebracht und operiert werden muss. Durch die Bemühungen des späteren Nobelpreisträgers John Galsworthy und mit einer hohen Kaution wird Ewers auf freien Fuß gesetzt. Der Abenteurer und Hasardeur verspürt nunmehr eine große Sehnsucht nach Geborgenheit, die er in einer festen Bindung zu finden glaubt. Er verlobt sich mit der 25 Jahre jüngeren Josephine Bumiller aus Los Angeles, die er auch in zweiter Ehe heiratet. Adele ist aus dem Rennen. Hanns Heinz Ewers: Frieden war ausgebrochen, und man musste mich gnädigst aus dem Lager herauslassen. Nur, dachte man nicht daran, mir die gütige Erlaubnis zu geben, heimfahren zu dürfen. In dieser Zeit wurde die allgemeine Prohibition ausgerufen. Alle Brauereien geschlossen, überall im Lande. Die Whiskybrennereien Kentuckys vernichtet, Kaliforniens Weinberge brachgelegt. Trockengelegt eine ganze Bevölkerung von über hundert Millionen – und ich auch. Nun – es kam ein wenig anders. Es ist zu großem Sport geworden, dem Gesetz bei jeder Gelegenheit ein Schnippchen zu schlagen. Ich habe Schnaps aus allen denkbaren Behältnissen trinken müssen, aus Füllfederhaltern und Automobilreifen, aus Glühbirnen und Telefonhörern: jedes Ding, das irgendwo hohl ist, scheint geeignet zu sein, Schnaps zu verbergen. Ich habe als Rheinländer eine Zunge, die mehr auf Qualität, als auf Quantität wert legt. Das aber ist gewiss, dass mich die Prohibition schließlich zum regelrechten Säufer gemacht hätte – wenn ich noch länger drüben geblieben wäre. Das Verbot zu trinken, die Unmöglichkeit, leichte und bekömmliche Getränke zu bekommen, hat sich dort zu einem Zwang ausgebildet, das schwerste und gesundheitsschädlichste Zeug bei jeder Gelegenheit herunterspülen zu müssen. Erzählerin: Ewers nutzte die erste Gelegenheit, um aus Amerika zu verduften; er freute sich auf Deutschland, das ihn nicht vergessen habe, wie Landsberger schrieb. Es war verabredet, dass seine junge Braut nachkäme, wenn für die Hochzeit alles arrangiert sei. Doch in der Heimat scheint, bis auf seine Mutter, niemand auf ihn gewartet zu haben. Die Presse höhnt: Zitator: Berlin inszeniert doch sonst so prachtvolle historische Films? Wo war die Regie für die Ankunft des Hanns Heinz Ewers? Er hatte von Jüterbog eigens ein Kupee erster Klasse genommen, um eifrig durch das Spalier der Frauen zu schreiten. Und nun war gar niemand zum Empfang da. Wo blieb das Begrüßungsbankett der Koryphäen? Und der Reigen der Verleger mit den Viertelmillionen-Schecks der Heimat? Wo waret ihr? Erzählerin: Dreizehn Monate amerikanische Internierung hatten sowohl den Nationalpatriotismus als auch die Heimat-Sehnsucht des Dichters verstärkt – und nun gestaltet sich alles trostlos und deprimierend. Die Berliner Wohnung am Savignyplatz wurde in seiner sechsjährigen Abwesenheit geplündert und die meisten Manuskripte gestohlen. Als er im August 1920 in Düsseldorf seine Mutter besuchen will, wird er verhaftet. Das hatte Ilna Wunderwald zuwege gebracht, die Ewers wegen säumigen Unterhalt verklagt und behauptet, dass er sich nur vorübergehend in Deutschland aufhalte, um sein Vermögen in die USA zu verschieben. Es dauert einige Zeit, um nachzuweisen, dass die Ehe schon seit 1912 geschieden ist und Ewers, ohne dazu verpflichtet gewesen zu sein, reichliche Zahlungen an Ilna geleistet hatte. Um alle weiteren Ansprüche seiner geschiedenen Frau abzugelten, zahlt er ihr 40.000 Mark und ist wieder auf freien Fuß. Auch sein Verlag macht ihm enorme Probleme: Georg Müller hatte trotz Riesenumsätzen seit Kriegsausbruch kaum noch gezahlt, und diese aufreibenden Querelen halten an. In Deutschland ist man Ewers gegenüber verschnupft, weil er sich in Amerika vergnügt hätte, während in Europa die Apokalypse wütete. Absurder Weise werfen ihm selbst politisch links stehende Autoren wie Hans Reimann mangelnden Patriotismus im Weltkrieg vor. Als Ewers im Hochsommer 1920 in Berlin eintrifft, erscheint auch sein Roman Vampir. Die Presse ist wieder einmal gespalten. Das Berliner Tageblatt schreibt: Zitator: Ohne Scheu, ja mit Lust an der Darstellung des Entarteten, geradezu ein Gelehrter auf dem Gebiet der Sexualphysik, hochbelesen in alten und neuen Büchern, die nicht in Schulbibliotheken stehen, mit Farben gut gemischt aus Grell und Sanft, gibt Hanns Heinz Ewers die Eva in vielerlei Gestalt. In das Sichtbare mischt er dann noch das Unsichtbare: der Dichter der Alraune späht nach den verwegenen Zusammenhängen der Geschlechter und den geheimen Triebkräften der Menschheit. Aufsteigen lässt er den alten Blutglauben, der aus den frühsten Religionen bis in die heutigen schweift. Ein düsteres Verhängnis, das die Menschen zum Kriege, zum Morden treibt. Erzählerin: In der Weltbühne ist zu lesen: Zitator: Ewers, eine nette kleine Journalistenbegabung aus der Zeit des Spätnaturalismus, sah bald aus den Abrechnungen seiner Verleger und aus den Briefen seiner Verehrerinnen, die nicht alle werden, dass Eines sich immer lohnt: durch heimliche Andeutungen, mit satanischen Lastern zu prunken. Unangenehm, dass nichts davon wahr ist: ein paar Cook-Reisen, amerikanische, hier nicht nachzuprüfende Vaterlands-Propaganda (Wirkung gleich Null) – es ist nicht viel mit ihm. Die Redensarten, mit denen man bürgerliche Hysterikerinnen aufregt, schreibt ein begabter Mensch, wenn er das wollte, im Schlaf. Dieses unbegabte Stück Stimulator, das nicht einmal seine Quellen anständig verarbeiten kann, ist ein primitives Hänschen geblieben, sein Leben lang. Erzählerin: Schöpfer dieser galligen Zeilen ist Kurt Tucholsky, der sogar betont, den Vampir gar nicht gelesen zu haben. Die Glosse des sonst so geistvollen Autors klingt weniger nach Kritik, als nach persönlicher Abrechnung. Und sie ist es auch. Ende 1913 erwog der noch am Anfang seiner Karriere stehende Tucholsky, die Werke des Skandal-Autors Oskar Panizza herauszugeben. Doch Ewers kam ihm zuvor, indem er für die Buchreihe Galerie der Phantasten eine Panizza-Auswahl zusammenstellte. Die bibliophile Ausgabe mit Federzeichnungen von Paul Haase erschien knapp vor dem 1. Weltkrieg. Diese Gemeinheit hat er wohl nie verziehen. Allgemeiner gesprochen hat es – wie der Literaturwissenschaftler Helmut Mörchen schreibt – phantastische, groteske und Tabus verletzende Literatur in Deutschland ohnehin immer schwer gehabt. Die Abgrenzung zur sogenannten Hochliteratur sei hier besonders strikt gewesen, und der Konkurrenzneid unter Schriftstellern habe zusätzlich eine Rolle gespielt. Von Auflagen, wie Ewers sie hatte, konnte Tucholsky nur träumen. Da wurde schon gern einmal in der Öffentlichkeit auch im Reimformat gerempelt: Kurt Tucholsky: Er kam jetzt aus Amerika mit einem neuen Band – Was steht darin, was steht darin? Die Weise ist bekannt … Das hat kein Goethe g’schrieben, das hat ka Schiller dicht – Das is a Tantiemensadiste, der zu den Backfischen spricht! Musik – Comedian Harmonists: Ein Freund, ein guter Freund [2:15] Erzählerin: Der von Tucholsky als „Tantiemensadist“ verspottete Ewers hat seine Künstlerkollegen nicht diskreditiert. Es gehört zu seinen Vorzügen, Autoren wie Erich Mühsam, Artur Landsberger oder Alexander Roda-Roda mit Aufträgen zu versorgen und sich für diese bei Verlegern stark zu machen. Ständig überweist er Honorare von Vorträgen, Cabaret-Aufführungen und Bucheinnahmen an mittelose Künstler. Bereits 1906 gründet er die Scheerbart-Stiftung, welche die Existenz des gleichnamigen Visionärs und phantastischen Literaten sichert. In den 20igern unterstützt er Julius Hart, Ernst von Wolzogen und Arno Holz. Selbst verstorbene Kollegen bedenkt er engagiert: Villiers de L’Isle Adam mit der 7-bändigen Übersetzung seiner Werke, Fritz Mauthner mit dem Erhalt seiner Bibliothek, Ferruccio Busoni mit der Ordnung seines Nachlasses. Hanns Heinz Ewers: Sacht stieg vom Graben auf der stille Hang, die Marmorbänke küssten rote Rosen, aus Lorbeer scholl ein Locken und ein Kosen, Steinengel lauschten süßer Vögel Sang. Gewundne Wege. Efeuranken krochen, ein dichter Teppich, überall hervor – doch ganz am End, wo sich der Pfad verlor, wuchs hoch ein Berg von ausgebleichten Knochen. Kein Geld, kein Grab! – hier liegen die Verbannten, für die kein Kreuz und keine Säule prahlt, Zigeuner, Bettler, fahrige Musikanten. O wie die Sonne auf die Schädel strahlt! Ich zieh den Hut und grüße die Verwandten, die ihre letzte Miete nicht bezahlt. Musik – Paul Hindemith: Sonata for Viola and Piano, op. 11, No. 4, Intro [1:30] Erzählerin: Die körperlichen und seelischen Beanspruchungen seit der amerikanischen Internierung zehren mehr an seiner Gesundheit, als er wahrhaben will. Daher wird im Oktober 1920 eine Kur in Bad Kissingen notwendig. Schon während des Kuraufenthalts fängt es bei Ewers wieder an zu sprudeln, und der literarische Haudegen läuft zu alter Form auf. Mit der Typhusmarie gelingt ihm eine meisterhafte Novelle über eine Frau um die fünfzig. Die überaus geschmackvolle und elegante Marie Stuyvesant wird darin von einem maskulinen Gremium beschuldigt, mit bloßer Anwesenheit unselige, ja tödliche Ereignisse zu provozieren. Doch das Hauptverbrechen der ein wenig an Alraune erinnernden dämonischen Grande Dame scheint die geist- und espritvolle Überlegenheit gegenüber der Männerwelt zu sein. Marie Stuyvesant ist beispielhaft für die besondere Gestaltungsfreude im Ewers-Œuvre an starken, unabhängigen Frauen mit magischen Reizen. 1922 erscheint der Roman Geisterseher. Ewers erlaubt sich, das gleichnamige Schillerfragment zu Ende zu schreiben. Auf dem Buchdeckel ist folgerichtig der edle Name des Klassikers neben dem des umstrittenen Alraune Schöpfers zu lesen. Es geht ein Sturm der Entrüstung durch die Presse, denn sich an Schiller zu vergreifen, sei der Gipfel der Respektlosigkeit. Das Berliner Tageblatt mutmaßt, dass Ewers es gewesen sein könne, der in der Weimarer Fürstengruft den Schillerschädel stahl. Bessere Werbung lässt sich kaum denken. Die Bücher finden reißenden Absatz. Die nächsten drei Jahre arbeitet er an einem 500-seitigen Sachbuch über Ameisen. Die Myrmekologie, sprich Ameisenkunde, ist ein Spleen, dem Ewers schon lange nachhängt. Er züchtet in Hotels – sehr zum Ärger der Gastgeber – ganze Kolonien der kleinen Krabbeler, um sie studieren zu können. Das Buch ist auf dem wissenschaftlichen Stand seiner Zeit und enthält gleichzeitig erzählerische Ausbrüche. Hanns Heinz Ewers: Ein paar Worte noch als Gebrauchsanweisung. Durch die nächsten Seiten soll man sich durchfressen. Man muss schon wissen, wie viel Beine ein Tier hat, wie viel Augen und Mägen und andere schöne Sachen. Wie es aussieht von draußen und drinnen, wo es wohnt, wie es sich fortpflanzt. Dann: es hat mir Spaß gemacht, den schweren Stoff mit ein paar Geschichten zu unterbrechen. Weil ich ein Mensch bin, muss ich, trotz dem Gefasel verknöcherter Wissenschaftler, die Ameisen wie alle Tiere menschlich sehen: anthropomorph. Warum sollen nicht einmal auch Menschen – ameisenhaft sehen? Myrmekomorph? Erzählerin: 1929 erscheint der Roman Fundvogel. Die Geschichte balanciert peinlich genau die wissenschaftlichen Möglichkeiten und Risiken einer Geschlechtsumwandlung. Das öffentliche Interesse an dieser Thematik ist immens. Der Roman wird 1930 verfilmt und von der Wirklichkeit im selben Jahr mit der ersten geschlechtsangleichenden Operation an Lilli Elbe eingeholt. Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft führt die Eingriffe durch. Ewers und der berühmte Arzt sind bereits 25 Jahre befreundet. Der Dichter hatte in Hirschfelds Wissenschaftlich-humanitärem Komitee Vorträge gehalten und die vom Komitee eingebrachte Petition gegen die Strafbarkeit von Homosexualität unterschrieben. Gemeinsam mit Hirschfeld hatte er auch Einführungen zu der dreibändigen Prachtausgabe Liebe im Orient geschrieben und der Kunst erotischer Techniken. Nicht zufällig taucht Hirschfeld als literarische Figur im Drama Enterbt und im Roman Fundvogel auf. Der Berliner Kunstpapst Alfred Flechtheim schreibt in seiner Avantgarde-Zeitschrift Der Querschnitt über den Roman: Alfred Flechtheim: Meinem Freunde Hanns Heinz Ewers fällt auf einer Seite mehr ein, als anderen deutschen Schriftstellern in dicken Wälzern. Eine außerordentliche Fantasie. Ich beglückwünsche Ewers zu diesem Werke, dem interessantesten Buche seit Jahren, das man nicht liest, das man verschlingt. Musik – Tanzorchester Dajos Béla: Einen großen Nazi hat sie [02:49] Erzählerin: Der Sieben-Stäbe-Verlag schlägt Ewers vor, ein aktuelles Buch über die politischen Folgen des Versailler Vertrages zu schreiben. Daraufhin arbeitet er sich vor allem in das Thema Feme-Morde ein. Der aus diesen Studien gewachsene Freikorps-Roman Reiter in deutscher Nacht im Stil Ernst von Salomons und Arnolt Bronnens erscheint im Frühjahr 1932 und empfiehlt sich wegen des nationalen Pathos gewissen Nazikreisen. Ewers lernt Röhm, Goebbels, Hitler kennen. Letzterer gibt ihm den Auftrag, einen Roman über Horst Wessel zu schreiben, der Ende 1932 erscheint. Doch obwohl von Ewers auf Linie gebürstet, ist das Buch für die Nationalsozialisten wertlos. Das beschriebene Zuhältermilieu ist dem Märtyrer Wessel nicht zuträglich und eine Verbindung von christlichen Predigten mit SA-Agitation unerwünscht. Die Kommunisten werden zwar diffamiert, stehen aber im revolutionären Kampfgeist gegen das Bürgertum auf gleicher Ebene wie die SA. Ein charismatischer Kommunistenführer wird ausgerechnet mit dem Namen Schlageter gerufen, der Mitte der 20iger Jahre ein zum Märtyrer stilisierter rechter Freischärler und damit Vorläufer Wessels war. Dr. Wilfried Kugel, Ewers-Kenner und -Biograph, hat viele Manuskripte und Briefe im Umfeld des Dichters gerettet und bei Recherchen in den 1980iger Jahren noch einige seiner Verwandten und Freunde kennengelernt. Zitator: Oft wird ein vorschnelles Urteil über Ewers gefällt, weil dieser mit den Nationalsozialisten anbändelte. Eine differenzierte Betrachtung ist allerdings angebracht. Sicher, Ewers trat im November 1931 in die NSDAP ein und blieb bis zu seinem Lebensende Mitglied der Partei. Und er schrieb einen schlechten Roman über den SA-Mann Horst Wessel, den er persönlich gekannt hatte. Nach etlichen offiziellen Änderungsauflagen bemerkte Ewers 1932 selbst: „It’s more than rotten work!“ Der Roman war nicht antisemitisch, was in Parteikreisen für Missfallen sorgte. Ewers‘ zweite Ehefrau Josephine berichtete später, dass es in ihrer gemeinsamen Berliner Wohnung in den Jahren nach der „Machtergreifung“ von jüdischen Schutzsuchenden und anderweitig verfolgten Freunden und Bekannten nur so wimmelte. Und Ewers half immer, soweit das möglich war. Als beispielsweise der Verleger Erich Reiss aus dem Konzentrationslager entlassen wurde, erreichte er für diesen eine Einreisegenehmigung nach Schweden. Auch einem bekannten Berliner Anwalt namens Rosenberg gelang mit Hilfe von Ewers die Flucht über Frankreich nach England. Um Juden zu ermöglichen, aus Deutschland zu entkommen, besorgte Ewers über den damaligen Berliner Polizeipräsidenten Graf Wolf-Heinrich von Helldorf die nötigen Pässe und Visa. Helldorf wurde im August 1944 von den Nazis im Zusammenhang mit dem Widerstand des 20. Juli hingerichtet. Auch Ewers lebte bis zum Schluss gefährlich, denn zu seinem Freundeskreis gehörten auch die Hitler-Gegner General Wilhelm Ritter von Thoma und Generaloberst Franz Halder. Der Literaturkritiker Willy Haas, Herausgeber der Literarischen Welt, berichtete in seinen Erinnerungen, dass ihm Ewers den Tipp gab, seine Zeitschrift nicht übereilt zu verkaufen. Denn er hatte zufällig von Goebbels erfahren, dass die Literarische Welt noch unbehelligt zwei bis drei Monate erscheinen könne. So nutzte Haas die Zeit, um das Blatt vorteilhaft zu veräußern, bevor er nach Prag emigrierte. Im Frühjahr 1986 hatte ich die letzte Geliebte von Ewers in Berlin ermittelt. Bei unseren Gesprächen im Café Möhring am Kurfürstendamm berichtete mir die betagte Dame Details aus ihrem Leben und den letzten Jahren mit ihm. Sie fand nur lobende Worte für Ewers. 68jährig lernte er sein neues „Fräulein Braut“ – wie er sich ausdrückte – kennen. Es war die 28jährige Diplom-Ingenieurin für Städtebau Rita Grabowski, zur Hälfte jüdischer Abstammung. Frau Grabowski berichtete mir, sie habe Ewers erstmals 1939 auf einer Privatgesellschaft getroffen. Während andere Anwesende Autogramme etc. von Ewers erbaten, habe sie ihn nicht weiter beachtet. Als er sich dann von der Gesellschaft verabschiedete, habe er ihr einen Zettel mit seiner Telefonnummer zugesteckt. Sie sei zuerst sehr erstaunt gewesen, habe ihn dann aber doch angerufen. Eine intensive Beziehung entwickelte sich. Ehefrau Josephine hatte derweil ein Verhältnis mit General von Thoma. Rita Grabowski war wegen ihrer jüdischen Abstammung in Berlin nicht mehr sicher. Deshalb nahm sie Anfang 1943 – durch Vermittlung von Ewers – eine Stelle als Stadtplanerin in Proßnitz an, im damaligen deutschen Protektorat Böhmen und Mähren. Sie reiste mit einem ledernen Koffer von Ewers dorthin. Der wohl mit Ewers bekannte Bürgermeister von Proßnitz habe von Ritas Abstammung gewusst, sie aber – soweit ihm das möglich war – geschützt. Hanns Heinz und Rita blieben weiter brieflich und telefonisch in Kontakt, sahen sich aber nie wieder. Nach dem Krieg wurde Rita Grabowski technische Hauptsachbearbeiterin beim West-Berliner Senator für Bau- und Wohnungswesen. Später wurde sie erste weibliche Fraktionsvorsitzende der CDU in Berlin-Wilmersdorf und 1955 Bezirksrätin für Bau- und Wohnungswesen in Berlin-Schöneberg. Wie Rita Grabowski mir berichtete, trug Ewers jedenfalls in der Zeit ihrer Liaison, also von 1939 bis zu seinem Tod 1943, kein Parteiabzeichen der NSDAP. Ewers war nie parteikonform. Dafür spricht eine Episode, die sich bereits im Juni 1932 im Kurhotel Fürstenhof von Bad Eilsen zutrug. Der dortige NSDAP-Ortsgruppenleiter beschwerte sich bei der NSDAP-Reichsleitung über das „gemeingefährliche Individuum“ Ewers, das „in höchstem Maße das Ansehen der Partei“ gefährde, und bat darum, dass „sofort mit allen Mitteln gegen ihn eingeschritten“ werde. Er war echauffiert, weil Ewers Kinder von Golfklub- und Hoteldirektoren sowie Parteifunktionären im Fürstenhof zu einem lukullischen Mal lud, das aus Regenwürmern mit Schlagsahne bestand. In der Geschichte Der Regenwurmklub erzählt Ewers die illustre Episode, die Wellen bis in höchste Parteikreise schlug, während er in Bad Eilsen seinen Horst-Wessel-Roman schrieb. Im Nachlass von Ewers fand sich die Groteske Garten der Rassenschande von 1940. Ich habe diese Groteske 2013 im Hanns-Heinz-Ewers-Lesebuch erstmals publiziert. Die den Berliner Zoo besuchende Jugend wird hier ironisch vor der Rassenvermischung verschiedener Tierarten gewarnt – eine Parodie auf die Nürnberger Rassengesetze. Leider ist es mir bis heute nicht gelungen, eine Zusammenstellung der Satiren auf die Nazizeit von Ewers zu publizieren, die ihn als alles andere als einen überzeugten Nationalsozialisten zeigen. Erzählerin: Wie konnte es passieren, dass der Kosmopolit Ewers sich den Nazis in die Arme warf, die seinem gesamten Lebens-Impetus widersprachen? Die dabei waren, eine sensible Kultur zu zerschlagen, welche Ewers in Bezug auf Assimilation der Juden, Frauenemanzipation, Rechte für Homosexuelle, einen freieren Umgang mit Sexualmoral und eine vollkommene Offenheit der Künste zwischen 1900 und 1930 mit entwickelt hatte. Seine Frau Josephine sagt, dass Ewers den proletenhaften Nazis mit ungewisser Zukunft als Weltmann mit Monokel, eleganter Lässigkeit und als Produkt einer aussterbenden Epoche gegenüberstand, d.h. einer grundverschiedenen Welt angehörte. Auch wenn sich bei dem einst politische Realitäten verachtenden Dichter bereits während des 1. Weltkrieges nationale Tendenzen regten, ist aus dem weltenfernen Träumer nicht über Nacht ein deutscher Nationalist geworden. Es ist nicht auszuschließen, dass der etwas drogenzerrüttete Ewers die Nationalsozialisten kurzzeitig mit seinem künstlerischen Ich des Nazidraufgängers der 1890er-Jahre zusammenbrachte, auch waren seine Nerven wegen der zweiten unglücklich verlaufenden Ehe strapaziert. Eine plausible Erklärung für sein irrationales Tun wird letztlich schwer zu finden sein. Der Germanist Michael Sennewald schreibt dazu: Zitator: Ewers war so weit wie eh und je davon entfernt, realpolitisches Zweckdenken und fragile idealistische Utopien voneinander zu scheiden; im Grunde träumte er weiter, nur dass an die Stelle ekstatischer Trugbilder nun politische Phantasien getreten waren. Überdeutlich sehen wir hier in Ewers noch einmal die Vorliebe des Jugendstils für das eigene Gegenbild, also für die robuste Kraftnatur, für skrupelloses Sich-durch-setzen, zutage treten, weil Ewers selbst nie so gewesen war und von seinem ganzen Erscheinungsbild her auch nicht so sein konnte. Es war der Gegensatz des Lebensgefühls, das Ewers ansprach, nämlich die rüde Tatkraft, ein unreflektierter, animalischer Vitalismus. Man braucht über die Faszination, die der Nationalsozialismus zunächst auf Ewers ausstrahlte, nicht verwundert zu sein; eher wäre der umgekehrte Fall bemerkenswert. Denn nicht der politische Aspekt, das globale Programm der Nationalsozialisten zogen ihn an, was ihn blendete, war deren substantielles Anderssein. Erzählerin: Auch die politische Philosophin Hannah Arendt sieht in ihrem Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft eine zeitweilige Annährung zwischen sogenanntem Mob und gewissen Teilen der Elite. Beide entstammten dem Rand der Gesellschaft, kannten die Erfahrung der Ausgrenzung und hatten einen Ekel vor bestehenden Werten und bürgerlicher Zufriedenheit. Der aus einem expressionistischen Milieu stammende völkische Autor Hanns Jost prägte die Sentenz: „Wenn ich Kultur höre, entsichere ich meinen Browning.“ Doch Ewers musste schnell bemerken, dass das nicht mehr ein Spiel mit Worten war. Denn gleichzeitig gehen seine jüdischen Freunde einem furchtbaren Schicksal entgegen. Artur Landsberger und Egon Friedell werden in den Freitod getrieben, Erich Mühsam wird ermordet, Else Lasker Schüler, Magnus Hirschfeld und Alfred Flechtheim sterben verarmt in der Emigration. OT – Joseph Goebbels Rede zur Bücherverbrennung, Berlin 10. Mai 1933 [1:45] Erzählerin: Goebbels Rede zur Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 auf dem Berliner Opernplatz ist ein riesenhaft inszeniertes Spektakel. Neben den Büchern von Freud, Remarque, Tucholsky und Kästner werden auch Werke von Ewers verbrannt. Mit dem Roman Alraune bringt Ewers das Kunststück fertig, gleich zweimal verbrannt zu werden. Denn das Buch war bereits während des 1. Weltkriegs wegen politischer Bedenklichkeit auf den Scheiterhaufen geworfen worden. Und was macht der gefallene schwarze Engel der deutschen Literatur? Er stürzt sich – wider alle Vernunft – noch stärker in den Abgrund. Neun Tage nach der Bücherverbrennung veranstaltet der gleichgeschaltete Schutzbund Deutscher Schriftsteller im Berliner Luxushotel Kaiserhof einen Empfang für regimekonforme Autoren und Verleger. Die Dresdner Neusten Nachrichten berichten: Zitator: Hanns Heinz Ewers würdigte in seiner Begrüßungsansprache die Verdienste des Reichsministers Dr. Goebbels als Schriftsteller und Redner, und bat die Reichsregierung, dass sie ihre schützende Hand über die deutschen Schriftsteller und Verleger halten möge, damit die so lang ersehnte Einheit zwischen nationalem Schrifttum und Verlegertum verwirklicht werden könne. Am Schluss der Veranstaltung brachte Hanns Heinz Ewers als besonderes Zeichen der innigen Verbundenheit der deutschen Schriftsteller und Verleger mit der Reichsregierung dem Minister eine von dem Berliner Bildhauer Walter Wolk geschaffene Hitlerbüste. Erzählerin: Anstatt sich in dieser heiklen Situation zurückzuhalten, setzt Ewers auf die schlechteste aller Karten – die der Anbiederung an die neuen Machthaber. In Folge entwickelt sich eine nicht aufhören wollende Pressekampagne, welche selbst für den in Sachen Kritik abgehärteten Dichter unvorstellbar ist. Es wird kolportiert, dass die volksvergiftenden Erzeugnisse des perversen Phantasten und schlimmsten Schmutzliteraten nur zu Recht den Flammen übergeben worden seien. Insbesondere die Begrüßungsansprache an Goebbels sei ein Verbrechen, denn eine öffentliche Verbindung mit Ewers wirke auf alle anständigen Deutschen wie eine verlorene Schlacht gegen den Kulturbolschewismus. Auch wird der Dichter als Judenfreund beschimpft und die völlige Ausmerzung seiner Schriften angeregt. Ewers, der noch immer nicht begreift, dass mit den neuen Herren nicht zu spaßen ist, will unbedingt das Wesselbuch ins Kino bringen. Ihm schwebt eine Filmästhetik im Sinne von Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin vor. Zwischen Juli und September 1933 wird der Roman mit Paul Wegener als russischem Kommunistenführer mit Leninzügen verfilmt. Hermann von Wedderkop, den Ewers noch gut aus der avantgardistischen Galerie Flechtheim und dessen Zeitschrift Querschnitt kennt, schreibt darüber: „Ein sehr großer Eindruck. Völlig neu in der Sachlichkeit seines Berichtes und besonders in der Großartigkeit der Massenszenen.“ Und tatsächlich vergleicht der Pariser Journalist Jules Sauerwein Horst Wessel mit dem technischen und künstlerischen Meisterwerk Panzerkreuzer Potemkin. Doch der Film wird sofort verboten und darf nur noch in stark gekürzter Fassung unter anderem Titel laufen. Hanns Heinz Ewers: Kein Mensch kann sich auskennen, was heute eigentlich verboten und was erlaubt ist. Es ist viel gescheiter, man fragt erst gar nicht, dann fühlt man sich wenigstens in seinem Gewissen unschuldig. Wenn man erst anfängt, sich zu erkundigen – mein Gott, man braucht ja nur gegen den Wind zu niesen, schon hat man ein ganz eigenartiges, neuerfundenes Verbrechen begangen. Erzählerin: Ende Juni 1934 steht Ewers im Zusammenhang mit dem sogenannten Röhm-Putsch auf den Todeslisten der SS, kann aber untertauchen und dank Interventionen einflussreicher Freunde entkommen. Ein Generalverbot seiner Schriften ist angeordnet, und Goebbels selbst verbietet den Wessel-Roman. Es folgt ein Veröffentlichungs- und Schreibverbot. Der kreative Geist und Projektemacher leidet schwer daran, dass seine Bücher nicht mehr vertrieben werden und er nicht mehr publizieren darf. Er hat für die geistige und politische Situation in Deutschland nur noch galligen Humor übrig – und findet das letzte Publikum in den Lesern seiner Briefe. An Josephine schreibt er über eine Konferenz internationaler Schifffahrtsrechte in Den Haag, die von der holländischen Königin Wilhelmine geleitet wurde. Laut dem Bericht habe nach einem ausgiebigen Mahl mit Bohnen und Speck die Majestät zu ihrer eigenen Verlegenheit während der Tagung laut furzen müssen. Der französische Botschafter sei geistesgegenwärtig aufgestanden und habe sich für den Fauxpas entschuldigt. Darüber habe sich der deutsche Botschafter geärgert, weil er nicht selbst auf das Kavalierstück gekommen sei. Als ein weiterer Furz der Erlauchten entglitten, sei der Deutsche aufgesprungen, habe die Hacken zusammengeschlagen und gerufen: „Diesen – und die nächsten drei – übernehme ich! Heil Hitler! Am 3.11.1941 erscheint ein Artikel im Düsseldorfer Mittag, der einen auffällig anderen Tenor trägt: Zitator: Der Schriftsteller Hanns Heinz Ewers, ein Sohn der Stadt Düsseldorf, ist soeben siebzig Jahre alt geworden. Zwei vortreffliche Eigenschaften darf man ihm unbedingt nachsagen: Er ist ein guter Freund und treuer neidloser Kamerad für alle, mit denen er sich versteht, und hat einen Sinn für Kollegialität, wie man ihn unter Künstlern leider nicht häufig antrifft. Außerdem ist er ein aufrichtiger echter Deutscher und Vaterlandsfreund. Hanns Heinz Ewers gehört auch zu denjenigen Schriftstellern, die sich früh dem Nationalsozialismus angeschlossen und ihre Begabung in den Dienst der Partei gestellt haben. Erzählerin: Der Geburtstags-Artikel von Herbert Eulenberg, den mit Ewers eine lebenslange Freundschaft verbindet, ist sicherheitshalber mit dem Pseudonym Lynkeus gezeichnet. Die Antwort des 70jährigen vom 7. November 1941 an Eulenberg hat sich erhalten: Hanns Heinz Ewers: Soeben kommt Dein Brief mit dem Zeitungsausschnitt. O Lieber, was hast Du mir angetan – womit habe ich das verdient?! Ich weiß, dass ich ein Narr bin, da darfst Du mich ruhig so nennen – aber „Schriftsteller“ genannt zu werden, diese Beleidigung hätte mir erspart werden sollen! Und all der absonderliche Schmus, ogott-ogott-ogott! Kamerad anderer „Schriftsteller“? Ich?? Ich liebe einige wenige schreibende Menschen – aber die Masse aller schriftstellerischen Zeitgenossen verachte ich tief und will nichts mit ihnen zu tun haben, wenn ich ihnen auch neidlos alle klingenden Erfolge gönne. Und diesen Scheißkerlen und Arschlöchern, die mich und Dich und alle anständigen Menschen, die Talent besitzen, verboten haben – diesen Lumpen sollte ich Kamerad sein? Und diese jämmerliche Kunststadt Düsseldorf, die stets alle wahre Kunst mit Füßen getreten hat, die ihren größten Sohn Heinrich Heine bespeit und stets bespieen hat, die sollte ich als Vaterstadt anerkennen? – Bitte verzeih mir, aber es ist wirklich wahr, dass diese gutgemeinten Zeilen mich tief verletzt haben. Gottseidank hat sonst kein Blatt von mir Notiz genommen. Erzählerin: In einer offenen Karte, die Nazis als Scheißkerle und Arschlöcher zu beschimpfen, grenzt in dieser Zeit an Wahnsinn. Zumindest dokumentiert es, das Ewers mit dem Leben abgeschlossen zu haben scheint. Er ist wie seine Figur Alraune, mit der Magie des Abgrundes spielend, in traumwandelnder Höhe aus der Balance geraten und abgestürzt. Hanns Heinz Ewers stirbt 1943 vereinsamt in seiner Wohnung am Berliner Tiergarten. Seine letzten Worte an die Sekretärin sind: Hanns Heinz Ewers Jennylein, was war ich für ein Esel! Musik – Pat Bonens Tanzorchester: Frasquita (Wilhelmshallen am Berliner Zoo, 1938) [2:49]