COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 08. Juni 2009, 19.30 Uhr Bessere Noten erwünscht Migration, Bildung und das deutsche Schulsystem Von Barbara Leitner Atmo 2 Take: Ani Jetzt ist Ferien. Aber er muss nicht nur sitzen und Fernsehen gucken. Sprecherin: Freizeit soll mehr sein als Fernsehgucken, meint Ani, Mutter von Leon und Mandy. Ani ist 28 und kommt aus Armenien. Mit ihren Kindern spricht sie meist in der Muttersprache. Dennoch sorgt sie auch bei Leon, der in die erste Klasse geht dafür, dass er deutsche Kinderbücher liest. Die bringt sie vom Flohmarkt mit. Take: Ani Weil er guter Leser ist. Er liest sehr gut und ich will, dass er viel mehr Zeit zu Hause lesen und Aufgaben macht. Sprecherin: 1998 hat Ani mit ihrem Mann Armenien verlassen. In Deutschland ist das Paar nur geduldet. Sie dürfen weder arbeiten, noch bekommen sie einen Deutschkurs finanziert - zehn Jahre lang. Ihre Kinder, die hier geboren sind, schicken sie mit drei Jahren in die Kita. Take: Ani Ich war traurig, weil ich habe gesehen, wie mein Sohn steht einfach und guckt Kindern nach, spielt nicht. Er wollte keinen Kontakt haben mit Kindern. Die Erzieherin hat gesagt, dass ich mehr mit Leon sprechen muss, dass ich erklären muss, wie es im Kindergarten ist, er muss Kontakte haben mit Deutschen, aber er wollte gar nichts. Sprecherin: Kontakte, die die Eltern nicht haben. Bis heute sind sie den ganzen Tag zu Hause. Vom Sozialamt bekommen sie Unterstützung für ihr Leben in einer drei-Raum- Plattenbauwohnung. Deutsch bringen sie sich selbst bei, das Fernsehen nutzen sie als Unterrichtsmittel. Den Sohn motivieren die Eltern: Er müsse Deutsch bei den anderen Kindern lernen. Take: Ani Wir haben auch selber Kindergarten besucht und dann Schule. Das muss so sein. Ich kann nicht Deutsch beibringen. Er muss Kontakte haben, mit Kindern unterhalten. Sprecherin: Erst jetzt, nachdem der Familie der Aufenthalt bewilligt wurde, können die Eltern Arbeit suchen. Der Vater will als Automechaniker arbeiten, die Mutter in einem Aushilfsjob. In der Schule der Kinder lädt seit einiger Zeit ein Verein die Eltern zu einem Frühstück ein. Vor allem Mütter aus Migrantenfamilien tauschen sich dort über ihren Alltag aus, erfahren, wie das deutsche Schulsystem funktioniert, Sozialarbeiter geben Anregungen, vermitteln auch das Gespräch mit den Lehrern. Außerdem unterrichtet eine Ehrenamtliche die Eltern in Deutsch. All das ist Unterstützung für Ani. Denn inzwischen hält ihr die neunjährige Tochter Mandy schon entgegen: Mama, du kannst mir gar nicht helfen. Take: Ani Mandy hat bisschen Schwierigkeiten. Drittes Jahr, ist bisschen schwer für Mandy. Mandy, vielleicht schafft sie nicht Gymnasium. Mathe kann ich helfen und Grammatik ist bisschen schwer, weil ich selber kann nicht sagen, das ist richtig und das falsch. Aushilfe kann ich auch nicht und sie alleine schafft vielleicht nur Realschule. Aber Hauptschule, nein, ich will nicht.Hauptschule, ich habe gehört, dass die Berufe nicht können finden, gute Berufe. Sprecherin: Mandy und Leon lernen an einer Ganztagsschule. Das gibt ihnen über den Unterricht hinaus mehr Zeit, mit dem Deutschen vertraut zu werden. Die Mutter ist froh, dass ihre Tochter eine Lehrerin hat, die sie in ihrem schulischen Lernen unterstützt. Das aber genügt nicht, um mit den gleichaltrigen Deutschen Schritt zu halten, spürt Ani. Atmo 3 Sprecherin: Zu Hause sitzt Mandy an einem gebraucht gekauften digitalen Piano und spielt armenische Musik. Ani besuchte in Eriwan eine Musikschule. Nun unterrichtet sie ihr Kind. Die Tochter soll den Lebenstraum der Mutter verwirklichen und Tänzerin werden. Leon soll wie der in Deutschland lebende armenische Landsmann Arthur Abraham, erfolgreicher Boxer werden, malen sich Vater und Sohn aus. Entsprechende Kurse besuchen die Kinder nicht. Den Eltern fehlen das Geld, die Kraft und das Wissen, wie man das organisiert. Was sie ihren Kindern geben wollen und auch können, ist die armenische Kultur, die Sprache, die Lieder und Geschichten. Das aber ist nicht gefragt: Take: Ani Ich habe versucht, armenisch Buchstabieren oder Lesen beizubringen. Aber die Lehrerin hat mir gesagt, Mandy schafft das nicht. Weil sie müssen jetzt Deutsch mehr wissen. Mandy schafft nicht zwei Sprachen, drei. Denn sie lernt jetzt Englisch. Take: Gogolin Mit dieser Lehrerin würde ich gern mal ein längeres Gespräch führen. Ich habe gute Argumente, dass das nicht der Fall ist. (Lachen) Sprecherin: Ingrid Gogolin, Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Hamburg. Sie forscht und lehrt seit mehr als 20 Jahren über Mehrsprachigkeit. Take: Gogolin Zweisprachigkeit ist etwas Wunderbares. Die Kinder, die in zwei Sprachen leben, haben sprachlich eine sehr glückliche Lebenssituation. Aber die Institutionen Kindergarten und Schule müssten das auch ernst nehmen. Eigentlich verschwenden wir unglaublich viele Kompetenzen dadurch, dass in unseren Institutionen diese Zweisprachigkeit nicht weiterentwickelt wird. Es gibt ganz viel Forschung die zeigt, dass zweisprachig lebende Menschen sehr gute Voraussetzungen für das Lernen mitbringen, weil Zweisprachigkeit so was wie eine intellektuelle Herausforderung ist ständig. Sie müssen überlegen, welche Sprache kann ich jetzt benutzen, wen rede ich wie an oder wie kann ich mir helfen, wenn ich mich mal nicht verständigen kann. Das sind alles Strategien, die auch ganz gut sind für anderes Lernen. Insofern ist Zweisprachigkeit kein Nachteil, sondern eine enormer Vorteil, aber es müsste auch als Vorteil entwickelt werden. Sprecherin: In erfolgreichen Einwanderernationen wie Kanada weiß man, dass es wichtig ist, vor allem das sprachliche Band zwischen Kindern und Eltern zu festigen. Mit der Sprache soll den Eltern nicht noch einmal die Heimat und obendrein die Autorität gegenüber den Kindern verloren gehen. Sie werden deshalb ermutigt, mit ihren Kindern in ihren Sprachen komplex und authentisch zu sprechen. Das Erlernen der Zweitsprache wird in kanadischen Kindergärten und Schule durch qualifiziertes Personal unterstützt. In Deutschland allerdings wird erwartet, dass das die Eltern übernehmen, kritisiert der Psychologe und Migrationsforscher Haci-Halil Uslucan. Take: Uslucan Da zeigt die Forschung, das hat überhaupt keine Effekte auf die Deutschkompetenz des Kindes, weil das Deutsch, was in den Migranten-Familien gesprochen wird, ist ein ganz anderes als es in der Schule gefordert wird. Und dennoch werden Politiker, öffentliche Akteure nicht müde als Lösung zu sagen: Migranten - Eltern, türkische Eltern müssen zu Hause mit ihren Kindern Deutsch sprechen. Sprecherin: Etwa 18 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind nichtdeutscher Herkunft. Der Anteil bei den Kindern wächst. Bei den unter Fünfjährigen liegt er bereits bei einem Drittel, in Großstädten bei der Hälfte aller Kinder. Darauf ist das deutsche Erziehungs- und Bildungssystem kaum eingestellt. Die Armenierin Ani hört von der Lehrerin ihrer Tochter, sie solle sich deutsche Freunde suchen, um sich zu integrieren. Take: Ani Aber ich habe keine Freunde, Deutsche. Ich werde froh sein, wenn eine Deutsche kommt bei mir zu Hause, also Freunde von Mandy. Das ist kein Problem. Oder mit Ihren Eltern. Oder Geburtstage zusammen feiern. Das wäre sehr schön. Ich bin auch so ein Mensch, dass ich nicht Erste sein nicht sein möchte. Ich bin bisschen zurückhaltend. Take: Gogolin Es gibt nicht genügend Einrichtungen, die einfach hingehen, die die Menschen mitnehmen. Sprecherin: Das fand Ingrid Gogolin auch im Forschungsprogramm "Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund" bestätigt. Take: Gogolin In den Projekten sind die erfolgreichen Zusammenarbeiten mit Eltern immer zustande gekommen, wenn man erst mal hingeht. Im nächsten Schritt kommen sie dann auch in die Institution. Aber das Vertrauen muss erst mal aufgebaut sein, denn man hat es da mit Menschen zu tun, die vielfach durch diese Institutionen enttäuscht worden sind in ihrem frühen Leben und von daher selbst nicht so offensiv darauf zugehen. Atmo 4 Take: Natalie Ich konnte auch kein Deutsch, kein Wort Ich habe einen Sprachkurs gemacht. Und dann wollte ich noch besser lernen und da habe ich noch zweite Kurs gekriegt und dann habe ich Kinder gekriegt. Sprecherin: Natalie ist 39. Vor elf Jahren kam sie mit ihrem Mann Alexander, einem Russlanddeutschen und seiner Großfamilie nach Deutschland. Ihr Mann arbeitet heute als Techniker in einer Solarfirma. Natalie schulte zur Altenpflegerin um und arbeitet in dem Beruf. Take: Natalie Mir macht überall, egal welche Arbeit Spaß. Wir sind fleißig (lacht), arbeiten gerne. Atmo 5 Sprecherin: Natalie und Alexander haben ein Haus gebaut und einen kleinen Garten angelegt. Drei Jungen hat die Familie. Die Zwillinge sind 10, der ältere Sohn 19. Er wurde eingeschult, als die Familie nach Deutschland kam. Im nächsten Jahr legt er sein Abitur ab. Take: Alexander Bei ihm klappte alles super. Wir hatten überhaupt kein Problem mit ihm. Drei, vier Mal vielleicht in den ganzen Klassen habe ich ihn geholfen, Mathe, dass er es nicht verstanden hat. Aber sonst ist er immer klargekommen. Sprecherin: Um die Zukunft des 19-jährigen sind die Eltern nicht besorgt, so scheinbar mühelos kommt er in Deutschland zurecht. Anders ist das mit den Zwillingen Erik und Daniel. Take: Natalie Nach dem ersten halben Jahr haben sie nicht gute Zeugnisse gekriegt und da habe ich gesagt, na wenn ihr nicht wollt in der Schule lernen, dann müssen wir noch dazu lernen. Da haben wir hier Mathehilfe genommen, nachgefragt, Englischunterricht machen wir. Ist besser. Sie bleiben sowieso zu Hause vor dem Fernseher sitzen, spielen Nintendo oder andere Spiele. Ist besser, dass sie ein bisschen was anderes machen. Atmo 6 Sprecherin: Nach der Schule dürfen sich die Jungen kurz ausruhen, ehe die Mutter oder der Vater mit ihnen Hausaufgaben erledigen und üben. Und wenigstens einmal im Monat geht Natalie in die Schule, um mit den Klassen - und Fachlehrern zu reden. Take: Natalie Früher hatte ich Angst, dass ich nicht so richtig spreche. Mit ältesten Sohn war ich nicht in der Schule. Mein Mann ist immer gegangen. Aber mit den zwei kann ich schon verstehen und sprechen irgendwie und dann gehe fast immer ich. Sprecherin: Sie habe Vertrauen, die Lehrer würden ihr Interesse an der Schule begrüßen und das für wichtiger halten als korrektes Deutsch. Atmo 7 Sprecherin: Natalie und Alexander leben in einer Stadtrandsiedlung. Dort spielen die Kinder auf der Straße mit den Nachbarskindern. Manchmal werden die Eltern noch gefragt: Wo kommt ihr her? Wie war es dort? Im Wohnzimmer hängt neben dem Kamin ein Gemälde von einer Wald- und Seenlandschaft in Kasachstan. Im Fernsehen läuft ein russisches Programm. Ihr Alltag aber unterscheidet sich kaum von dem der Nachbarn. Aussiedler sind als einzige Migrantengruppe den Einheimischen von Anfang an rechtlich gleichgestellt. Mehrere Sprachkurse und ihre Ausbildung zur Altenpflegerin haben Natalie und ihrem Mann geholfen, hier heimisch zu werden. Am ehesten unterscheidet sich die Familie von den Deutschen in ihrer Haltung zur Schule und zum Lernen. Wenn die Lehrer sich über Disziplinschwierigkeiten der Jungen beschweren, verteidigt Natalie nicht ihre Kinder und fordert die Lehrer heraus. Sie verlangt von ihren Jungen, brav zu sein und sich anzupassen. Aus Russland Stammende - das zeigen Studien - haben oft hohe Erwartungen an ihre Kinder. Auch Natalie kümmert sich um Nachhilfe, um Schwierigkeiten beim Lernen auszubügeln. Selbst bei ihren Kollegen holt sie sich dafür Unterstützung. Take: Natalie Oft sagen die Kinder, Mama, ich muss Buch vorstellen. Wir haben viele Bücher, die lesen auch. Und wenn die neue Buch brauchen, ich frage auf die Arbeit meine Kollegen, hast du ein Buch, dein Kind schon gelesen hat, kannst du mir ausleihen? Die Kinder lesen, dann bring ich dir wieder zurück. Die bringen immer was wir brauchen. Atmo 8 Sprecherin: Zwar ist Russisch die Umgangssprache zwischen Eltern und Kindern. Gedacht aber wird in der Familie deutsch. Die Leistungsanforderungen der Gesellschaft haben Alexander und Natalie verinnerlicht und geben sie an die Kinder weiter. Take: Alexander Alle Eltern wollen, dass was Gutes wird, sie was können. Die Zeiten werden immer schlimmern mit der Arbeit. Sogar einfache Arbeit ist nicht so einfach zu kriegen. Da muss man schon lernen - sonst keine Chance. Mit Ingo, der hat Grundschule, Gymnasium. Alles. Mit Hauptschule, dass kenn ich nicht. Was das ist? Take Natalie: Ist besser, wenn die Kinder Realabschluss haben oder Abitur machen. Hauptschule, das ist nicht so... Take: Uslucan Ich glaub, ich hätte keine Hemmung gehabt, mich auf die Hauptschule anzumelden, wenn der gesagt hätte, du gehörst auf die Hauptschule. Und meine Eltern selbst hatten von der Differenzierung der Schule hier, welchen Schulzweig man hier besucht, welchen enormen Einfluss es hat, wer und was man hier werden kann, keinen Blassen gehabt. Sprecherin: Professor Haci-Halil Uslucan ist Psychologe. Mit acht Jahren ist er als Kind türkischer Gastarbeiter nach Deutschland gekommen. Wie noch heute für viele türkischstämmige Familien üblich, hätten auch seine Eltern der Einschätzung des Lehrers vertraut. Man kennt sich nicht aus mit dem deutschen Schulsystem und hört deshalb auf die Autoritäten. Doch er hatte Glück. Sein Lehrer sieht in der sechsten Klasse seine Leistungsfähigkeit und Intelligenz - auch wenn er noch nicht gut Deutsch spricht. Take: Uslucan Der hat zu mir gesagt, allein dass du es geschafft hast nach zwei Jahren guter Durchschnitt zu sein, glaube ich, dass du es schaffst auf ein Gymnasium zu gehen. Sprecherin: Darin ist Haci-Halil Uslucan eine Ausnahme. Auch seine eigene sozialwissenschaftliche Forschung bestätigt den so genannten Pygmalioneffekt: Das die Vorannahmen von vielen Lehrern, türkischstämmige Kinder seien schlecht und würden durch ihre Eltern nicht unterstützt, in kürzester Frist tatsächlich zu einem geringen Leistungsvermögen führt - obwohl sie auf gleichem Niveau wie andere Kinder starten. Take: Vedat Und deshalb vielleicht ist er in Europaschule, dass er nicht viel diskriminiert wird. Wir haben Angst gehabt, deshalb ihn in die Europaklasse geschickt. Sprecherin: Vedat spricht über seinen 16-Jährigen Sohn Onur. Vedat und seine Frau Zeynep haben in der Türkei studiert, Zeynep auch noch in Deutschland. Heute unterrichten sie deutsch- und türkischstämmige Grundschüler an der Europaschule in Berlin. Die besucht auch ihre achtjährige Tochter Simay. Onur ist unterdessen auf einer Gesamtschule. Take: Vedat Es gebt Vorteile natürlich. Vorurteile, meine ich. Wegen der Sprache z.B.. Man hört immer. Er kann nicht gut Deutsch oder er ist schlecht in Mathe. Solche Sachen. Aber er wird gut natürlich, weil er in zwei Sprachen aufgewachsen ist. Das ist ganz normal, so ein bisschen Zeit braucht man. Und wir haben gerade auch gesehen, dass wir Recht haben. Ab dieses Jahr er ist besser geworden, natürlich. Sprecherin: Vedat und Zeynep wollen unbedingt, dass ihr Sohn das Abitur schafft. Dafür, so sagen sie ihm deutlich, muss er besser sein als die Anderen. Sie berichten von verschiedenen Erlebnissen türkischer Freunden mit der Schule und bewerten sie als Diskriminierung. Zahlen scheinen ihnen Recht zu geben: Nur 14 Prozent der türkischstämmigen Schüler machen Abitur, 30 Prozent aber keinen Schulabschluss. Nur sieben Prozent aller Studierenden in Deutschland sind migrantischer Herkunft. Dennoch widerspricht die Erziehungswissenschaftlerin und Migrationsexpertin Ingrid Gogolin aber in einem Punkt: Take: Gogolin Es gibt dafür keinen empirischen Beleg, dass die Kinder aktiv in der Schule diskriminiert werden. Aktive Diskriminierung passiert am Übergang zum Arbeitsmarkt, da kann man es nachweisen. In der Schule ist das nicht der Fall. Aber unser Schulsystem hat eingebaute Mechanismen, die sich diskriminierend auswirken. Wir haben im Moment kein Schulsystem, das sich daran orientiert, was die Kinder können, sondern unser Schulsystem orientiert sich an dem, was die Kinder nicht können und solche Kinder haben in diesem Prozess natürlich sehr sehr schlechte Karten. Sie können aus der Perspektive der Schule sehr viel mehr nicht, als das, was sie können, weil das, was sie können nicht anerkannt wird als bildungsrelevant oder als etwas, was wertzuschätzen ist. Sprecherin: Dabei werden diese Kompetenzen von Migrantenkindern vor allem über Sprache registriert, ohne Brücken zu schlagen zu anderen Kompetenzen. Eine genaue Wahrnehmung der Kinder und ihrer Potenziale fehlt. Nur ein Beispiel. Ein Sechsjähriger kennt das Wort Heizung nicht und seine Lehrerin stuft ihn darauf hin als dumm ein. Was ihr verborgen bleibt: Zu Hause gibt es noch einen Ofen und den kann der Junge allein heizen, eine Kompetenz, die die Lehrerin nicht mehr hat und an die anzuknüpfen sie verschenkt. Ähnliches erlebt Vedat auch als Lehrer an seiner Europaschule. Beispielsweise wenn er mit seinen deutschen Kollegen Empfehlungen für die weiterführende Schulen vergibt. Take: Vedat Immer deutsche Kollege sagt, aha, er oder sie kann nicht gut Deutsch. Deshalb kann nicht Gymnasium schaffen. Wir haben darüber diskutiert. Warum immer Sprache. Was für ein Schulsystem ist das? Er oder sie ist in Mathe sehr gut. In türkischer Sprache auch. Aber in Deutsch schlecht, sagen wir mal. Und deshalb deutsche Kollegen sagen, kann nicht Gymnasialempfehlung geben. Sprecherin: Er und seinen Kollegen, erzählt Vedat, schaffen es, deutschen Kinder ohne jede Vorkenntnis und Unterstützung durch die Eltern innerhalb von acht bis zehn Jahren ein gutes Türkisch beizubringen. Warum gelingt das den deutschen Lehrern nicht mit den türkischen Kindern, fragt er. Take: Gogolin Ich finde wirklich, jeder Mensch der hier lebt und lernt, sollte auch gut genug Deutsch können. Die Frage ist nicht, ob die gut genug Deutsch können müssen, sondern: wer ist in der Pflicht, ihnen das Deutsch beizubringen, was sie können müssen? Und diese Frage wird meines Erachtens noch falsch beantwortet, in dem Sinne, dass man die Familien und die Kinder dafür verantwortlich sind, das zu bringen, was die Institution erwartet. Aber die Schule ist die Instanz, die dafür zu sorgen hat, dass dies geschieht. Und wenn die Kinder nicht gut Deutsch können nach vier oder sechs Grundschuljahren, dann ist das ein Urteil über die Schule und nicht über die Kinder. Atmo 10 Sprecherin: Zeynep und Vedat treffen sich nach der Schule am späten Nachmittag mit ihren Kindern zum gemeinsamen Essen im unteren Wohnraum ihres neu gebauten Hauses. Anschließend ziehen alle in das gemeinsame riesige Arbeitszimmer der Familie um, um sich für die Schule am nächsten Tag vorzubereiten. Take: Zeynep Erstmal gucken wir die Hausaufgaben, ob sie Hausaufgaben haben. Erledigen. Das ist das erste. Und zweitens wir lesen zusammen und wenn sie Fragen haben, können wir das zusammen im Internet recherchieren, dann suchen sie selber die Antworten. Wir gehen in die Bibliothek zusammen, holen Bücher, lesen die. Ich muss wieder sagen, organisieren: wir lesen jetzt! Ich weiß nur einfach, dass man die Zeit für die Kinder braucht oder nimmt. Das wichtig. Sprecherin: Genau dieses Erziehungsverhalten setzt die deutsche Schule stillschweigend voraus. Doch deswegen ist es noch lange nicht üblich. Atmo 11 Sprecherin: Elterncafe an einer Berliner Grundschule mit einem Migrantenanteil von 70, 80 Prozent. In ihrer Muttersprache lädt eine Sozialarbeiterin einmal in der Woche die türkischsprachigen Eltern der Schüler ein. Die Mütter kommen teilweise mit drei oder vier Kindern, auch jenen, die erst in drei, vier Jahren eingeschult werden. Gemeinsam backen sie Waffeln, trinken Tee, malen und gestalten etwas mit den Kindern und sprechen dabei über Erziehungsfragen. Viele von den Frauen haben in der Türkei höchstens acht Jahre die Schule besucht und sind erst durch die Heirat nach Deutschland gekommen. Als Hausfrauen sorgen sie für die Familie, vielleicht auch mit einem kleinen Nebenjob. Deutsch sprechen etliche von ihnen nur wenig. In einem fremden Land sind sie gefangen in ihrer engen Welt, die sich für zwei Stunden in der Woche in der Schule weitet. Davon reden die Blicke der Frauen. Aber keine tritt vor das Mikrofon. Take: Uslucan Natürlich kriegen Türken, gerade Türken auch mit, dass der Diskurs über sie immer gehässiger wird. Was nicht dazu führt, wenn sie die Fehler erkennen, dann verbessern sie sich auch. Das ist psychologisch völlig falsch gedacht. Sprecherin: erklärt sich Haci-Halil Uslucan das Verhalten. Take: Uslucan Wozu führt das, dieser gehässige Diskurs führt dazu, dass viele sich dann in ihren latenten Annahme, dass sie hier nicht gewünscht sind, noch mal bestätigt fühlen und vielleicht auch wissenschaftlich seriöse Befunde eher in Zweifel ziehen, das heißt immer mit einem Verdacht, dass man nur wissenschaftlich absegnen möchte, was ohnehin landläufig Meinung über sie ist. Sprecherin: In ihrem Forschungsprogramm zur Förderung von Migrantenkindern fragt Ingrid Gogolin differenziert, was in den Familien geschieht, dass die Kinder benachteiligt sind - auch wenn die Eltern hochgradig am Bildungserfolg ihrer Kinder interessiert sind. Take: Gogolin Da gibt es z.B. Forschung darüber die zeigt, dass die Art und Weise, wie Migrantenfamilien ihren Kindern Zugang zur Schrift geben, wie sie ihnen anfangen Geschichten zu erzählen oder eben nicht erzählen, auf eine bestimmte Weise dafür sorgen, dass die Kinder einen schlechteren Start haben als Kinder aus nichtmigrierten Familien, die sehr aktiv mit Rollenspielen, mit Märchenspielen, mit der Unterschiedlichkeit von Erwartungen von verschiedenen Personengruppen mit ihren Kindern umgehen schon vor der Schule. So dass da Benachteiligungen liegen in Gewohnheiten, die gar nicht so intendiert sind. Die Migranten vielfach fördern ihre Kinder auf eine sehr liebevolle Weise. Das lerne ich immer wieder kennen, wenn ich in Migrantenfamilien bin, aber manchmal nicht unbedingt mit Methoden, die sich positiv auswirken, weil sie nicht den Erwartungen entsprechen, die die Institutionen in die die Kinder dann hineingehen an die Kinder hat. Da gibt es offensichtlich Informationsdefizite oder auch Defizite in den Vorstellungen davon wie Kindheit ist und wie es gut und richtig ist und so weiter. Atmo 12 Sprecherin: Das wird auch im Elterngesprächskreis an der Berliner Grundschule deutlich. Eine Sozialarbeiterin fragt in die Runde, wo die Kinder am meisten lernen würden - im Elternhaus oder in der Schule. Die türkischen Mütter sind sich sofort einig: In der Schule. Was sie selbst ihren Kinder vermitteln, wenn sie mit ihnen kochen und backen, einkaufen, zum Arzt oder Spazieren gehen, ist für sie nicht so wichtig wie das vom Lehrer vermittelte Wissen . Take: Uslucan Also man wertet das Eigene schon immer aus der Perspektive einer europäischen Mittelschicht. Das Bild des anderen wird in das Selbstbild schon integriert. Das, was diese Mutter kann, das wird gar nicht als wertvoll erachtet. Also ein Stück weit Unterschätzung, auch Nichtwahrnehmung der eigenen Kompetenzen. Sprecherin: Die Haltung kennt Haci-Halil Uslucan aus der Forschung wie aus der Begutachtung von Familien. Das Fatale ist: Wenn es nichts wert ist, braucht man sich auch nicht darum zu kümmern: Dass ein Kind allein seinen Schuh binden oder die Jacke öffnen kann. In der ersten Klasse können das viele türkische Kinder nicht, abgesehen davon, dass es ihnen schwer fällt, sich zu konzentrieren und still zu sitzen. Das verlangen die Eltern ihnen zu Hause nicht ab. Genauso wenig wie sie die Jüngsten am Familientisch ermutigen, sich auszudrücken und über sich zu reden, um ihnen so das nötige Selbstvertrauen für die Schule zu geben. Take: Uslucan Aus meiner Sicht ist ein wichtiger Aspekt, der von Pädagogen immer wieder bemängelt wird, diese all zu starke Laissez- faire Haltung in der frühen Kindheit. Es ist noch ein Kind. Im Türkischen sagt man: Der lernt noch. Das war mal in Zeiten berechtigt, wo Kindersterblichkeit noch sehr hoch war, wo man das Kind einfach stark behütet hat und völlig entlastet hat. In Deutschland muss man solche Sorgen nicht haben. Deshalb wäre es hier umso wichtiger, dass Migranteneltern, türkische Eltern sehr früh mit der Selbständigkeitsentwicklung und zwar für beide Geschlechter, insbesondere für die Söhne und darüber hinaus auch, was die Leistungsmotivation betrifft. Sie soll nicht exzessiv sein. Aber schon ab zweieinhalb, drei Jahren selbst Essen können, sich selbst die Schuhe zubinden. Das das Kind sich als tüchtig erfährt. Das muss man den Müttern klar sagen. Wenn du das Kind fütterst, beraubst du es genau dieser Chance. Du tust ihm nichts Gutes, sondern etwas Schlechtes. Sprecherin: An dieser Stelle brauchen gerade türkischstämmige Eltern sowie Eltern aus arabischen und afrikanischen Ländern Unterstützung - sowohl von ihren Communities als auch von der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Dafür muss es Mittel und Personal in Nachbarschaftsheimen, Kindergärten und Schulen geben - genügt es nicht, befristete Projekte wie das Elterncafe an der Berliner Grundschule zu fördern. Take: Uslucan Wenn man beispielsweise jungen türkische Mütter den Wert von Bildung, wenn sie den selber spüren, wenn sie merken, wie gut sie ihren Alltag durch bessere Bildung, durch bessere Sprachkenntnisse schaffen, dann sind sie viel eher bereit, Bildung ihrer Kinder gut zu heißen, als die von oben auf oktroyierte Haltung, du hier, türkische Mama, fördere die Bildung deines Kindes. Sprecher vom Dienst: Ein Feature von Barbara Leitner Es sprach: Eva Kryll Ton: Boris Manych Regie: Klaus-Michael Klingsporn Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2009 1