DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Ulrike Bajohr Die Ausgräber von Gusen Reise durch eine österreichische Erinnerungslandschaft Von Sibylle Tamin Sprecherin: Reneé Zucker Regie: Ulrich Gerhardt Redaktion: Ulrike Bajohr, DLF URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? DeutschlandRadio Ansage: Die Ausgräber von Gusen Reise durch eine österreichische Erinnerungslandschaft Ein Feature von Sibylle Tamin Erzähler: Es ist Mai und das Wetter prächtig und an den Biertischen unterm Maibaum sitzen vergnügt die Bewohner von Gusen und essen und trinken. Und dem Jungen gegenüber- O-TON Mayer 1 Mayer: Da war ich vierzehn Erzähler: -dem Jungen gegenüber sitzt ein Nachbar, der ihm bei Limo und Bratwurst eine Geschichte erzählt, so nie gehört, so unerhört, dass sie fortan sein Tun und Denken bestimmen wird. O-TON Mayer 2 Mayer: Ich versuche mich genau an diesen Moment zu erinnern, ich glaube, dass das eher ein Vakuum erst mal war; wie wenn sich der Boden unter einem öffnet und- O-TON Audioweg 3 Frau: - der ganze Boden ist mit Blut durchtränkt. O-TON Mayer 4 Mayer:- und plötzlich eine unglaubliche Tiefe da ist; eine Leere, wie wenn plötzlich ein anderer Grund da ist. Ja, man befindet sich dann parallel hier und dort. Atmo Schritte Erzähler: Gusen, ein Ort der Gemeinde St.Georgen, ist nicht weit von Linz. Eine Viertelstunde mit der Bahn, schon ist man in der Stadt, die sich Hitler zum Alterssitz bestimmt hatte. Speers Pläne sahen die Errichtung weitläufiger Gebäude entlang der Donau vor. Das Material dafür sollte aus den Granitbrüchen der Gegend beschafft werden. Die Granitindustrie besaß in St.Georgen und Gusen die größten und modernsten Betriebe Europas. O-TON Mayer Meine Eltern sind nach St.Georgen an der Gusen gezogen Anfang der 70er Jahre und ich bin da aufgewachsen. Erzähler: Im Winter 1939 war dort mit umfangreicher Bautätigkeit begonnen worden. Die SSeigene "Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH" aus Berlin richtete in St.Georgen eine Verwaltungszentrale ein, übernahm die Steinbrüche und begann mit dem Bau eines großangelegten Donauhafens. O-TON/ Ausgräber Mayer: Ganz normal bin ich in die Musikschule gegangen,- Ich hab ganz normal diese Dinge berührt und der Schock kam für mich eigentlich erst, als ich erfahren hab, dass diese Dinge, die für mich normal waren, eben die Musikschule oder das Gebäude vom Schützenverein, dass das Orte und Gebäude waren, die dafür gebaut wurden, nämlich für das Konzentrationslager Gusen. Erzähler: Speers Hafenprojekt wurde nach wenigen Jahren aufgegeben und stattdessen begonnen, in Gusen Stollen in den Berg zu treiben für die größten unterirdischen Fabrikationsanlagen der Rüstungsindustrie. Bis zu zehntausend Menschen, Zwangsarbeiter aus Polen und Spanien, europäische Juden, russische Kriegsgefangene waren zur Produktion neuer Waffensysteme für die Luftwaffe dorthin transportiert worden. auf Musik O-TON Audioweg Frau: Das wichtigste waren doch die Flugzeuge. Und wir hatten die ersten Düsen-Flugzeuge da, überhaupt der Welt. Diese ganze Produktion war alles unter der Erde. Mit der Hand ist da gegraben worden. Und soviel Zivilarbeiter konnte man da gar nicht mehr herbringen. Was die dann an Material, an Menschenmaterial verschlissen haben-. Schritte Erzähler: Gusen liegt wenige Dörfer von Mauthausen entfernt. 1939 war im Ort Gusen der größte Lagerkomplex Österreichs entstanden, der sich mit Häftlingsbaracken, SS-Siedlung und Krematorium schließlich über die gesamte Ortschaft dehnte. Der Ort Gusen war zum KZ geworden. Musik O-TON Audioweg Traude: Das Entsetzen, wissen Sie, das Entsetzen, das wir am Anfang gehabt haben, dass ein Mensch zum Menschen so sein kann, das hat sich dann gelegt irgendwie. Das ist halt so, net? O-TON Mayer Mayer: Mauthausen war mir damals schon mit 11 Jahren ein Begriff, weil ich mit den Eltern dagewesen bin. Ich hatte den Ort gesehen, hab dann einen Film gesehen in der Gedenkstätte, wo ich gesehen hab, was da passiert ist, und - O-TON Audioweg Traude: Ich hab?s ja eh an mir selbst gesehen, dass wir dann relativ cool geworden sind, wie man heute so schön sagt. Atmo O-TON Mayer Mayer: - und hab das, was passiert ist, mit diesem Ort Mauthausen verbunden und damit war das für mich ein sehr sakraler Ort eigentlich, an dem ich niemals so gegangen wär wie an jeden andern Ort, nur weil da die Sonne so schön scheint und weil man sich da hinsetzen kann, weil es da still ist rund herum, und man kann da ein Eis essen, sondern das ist ganz klar mit dieser Erinnerung und mit dem Gedenken an diese Erinnerung verknüpft worden. Musik O-TON Audioweg Traude: Wir haben sie ja nicht ewig da rein nehmen können, ins Herz. Da wären wir ja draufgegangen. O-TON Mayer Mayer: Drei Jahre später hab ich dann erfahren, dass die Orte, an denen ich mich eben ganz normal hingesetzt habe und mein Eis gegessen hab, auch so eine Geschichte haben. Und damit ist sehr schwer umzugehen. O-TON Ausgräber Haunschmied: Ich glaube, es gibt nicht viele Orte auf der Welt, wo sich so viel Niederträchtigkeit manifestiert hat über die Jahre wie am Schauplatz Gusen. O-TON Mayer Mayer: Weil entweder müßte man dann auch nach Mauthausen gehen können und dort auf dem Appellplatz einen Swimmingpool graben können und dort baden gehen können oder auf der Todesstiege sein Eis essen oder man müßte in Gusen das nicht mehr tun. Und das ist ja der Fall, dass man in Gusen und St.Georgen sich ganz normal verhält in seinem Alltag und allen Dingen, die damit verbunden sind, Festefeiern und Klavierspielen und mit einem Gewehr umgehen lernen in einem Schützenheim, das müßte man ja aufhören, wenn das jetzt gleichgesetzt würde. Und das ist eine Diskrepanz, die ich über Jahre nicht verstanden hab. Musik O-TON Audioweg Gusener: Wir sind in den Wienergraben-Teichen baden gegangen. Das war herrlich. Wunderbar. Wir sind von den Felsen runtergesprungen. Und da war einmal ein falscher Zeitpunkt, da war eine ausländische Delegation dagewesen und das Baden ist in kurzer Zeit eingestellt worden. Haben wir natürlich dort nicht mehr baden gehen dürfen. Dann ham wir jahrelang immer Stock geschossen. Dann ist auch im Winter mal jemand dagewesen und dann ham wir auch nicht mehr Stockschießen dürfen. Das ist für uns unverständlich gewesen. Für die vielleicht nicht - sie haben gesagt, da sind so viele Leute in diesem Teich drin umgekommen oder so. Ich weiß nicht, ob man das so sehen soll. ATMO Erzähler: 37 000 Menschen sind im Konzentrationslager Gusen umgekommen. Durch unmenschliche Arbeitsbedingungen; durch Totbaden, Ertränken und Erfrieren; durch medizinische Experimente; durch Vergasung. ATMO und Musik O-TON Audioweg Täter: Sie wollen eine Tür aufmachen, wo es für Sie praktisch keinen Durchgang gibt. Sie versuchen in eine Welt einzudringen, die für Sie nicht geschaffen wurde. Und wenn Sie mit mir durch diese Tür wollen, wie wollen Sie das schaffen. Wir können nicht zusammen durch diese Tür gehen. ATMO Schritte auf Treppe abwärts + Stadtkulisse Überlebender: Ich hab alle Sachen vermeiden müssen, das alles hab ich müssen vergessen; ich erinnere, aber ich leb nicht damit. Ich hab dadurch ein normales Leben. ATMO 4 Schritte und Glocke Erzähler: Erzähler: St. Georgen hat kein Gasthaus, aber eine Kirche. Gusen hat keine Kirche, aber zwei laute Gastwirtschaften; also gehe ich in die Kirche, in der es still und kühl ist und in der es der Herr Pfarrer eilig hat. ATMO 6 Schritte hallig, Tür fällt zu Erzähler: Der Herr Pfarrer ist auf dem Weg in die Ferien, und so bleibt ungehört, was er zu Vergessen und Erinnern am Ort zu sagen hat, und warum es so schwer war zu erinnern, was in Gusen geschah, und warum die katholische Kirche erst Papa Gruber entdecken musste, einen im KZ umgebrachten Geistlichen, um die Gedenkstätte wahrzunehmen; und ungehört bleibt auch, was es bedeutet, auf einem Grund der Verdammnis zu leben, wo die Kirche dem Geheiligten doch so viel Wirkung zuschreibt. Nun, da ich antwortlos bleibe, trete ich hinaus hinter die Kirche und schaue ins Land, auf die weite Flußlandschaft, die Auen und Wiesen und Wäldchen und dahinter die weichrundigen Voralpen und unterhalb des Kirchhügels auf einem Kalksteinplateau die erst kürzlich erbauten Wohnhäuser, die bald nach Bezug fast wieder verschwunden wären, versunken im Berg, in dessen weitläufigem Tunnelsystem, den haushohen Hallen, versunken in der Unterwelt, einer Totenkammer von 50 000m2 für Tausende von Zwangsarbeitern der Lager Gusen 1 und 2. ATMO 5 Schritte bergauf, Passanten, entf. Stadtkulisse Erzähler: Die Hauptstraße von St.Georgen liegt menschenleer, doch im Schatten eines Hauses sitzt vor der Tür ein dicker Mann, den nackten Bauch mit einem Taschentuch bedeckt und plaudert mit dem Nachbarn; und ich gehe durch den Ort, der friedlich und freundlich ist mit seinen weinumrankten alten Häusern neben den neuen mit glänzenden Fassaden und denke, seit je hat das Grauen der Orte Menschen nicht gehindert zu siedeln. Zerstörte Städte erstanden wieder auf blutigem Grund; Häuser und Residenzen von Mördern wurden bezogen; Wohnungen Deportierter und Ermordeter bewohnt. Das Wissen müsse bereits im Gepäck haben, wer an traumatischen Orten etwas finden wolle, schreibt Ruth Klüger. Doch mancher, denke ich, hat sein Wissensgepäck kurzerhand in den Graben geworfen, so geht sich `s leichter, und die moralische Genickstarre hindert den Blick zurück und hinein ins eigene Dunkle. O-TON Mayer Mayer: Da gibt es ein Gespräch mit dem damaligen Bürgermeister von Gusen-Langenstein. Ich hab den Bürgermeister gefragt: wie war das, als ihr beschlossen habt, das Siedlungsgebiet werden zu lassen, was habt ihr euch da für Gedanken gemacht. Da sagt er, das war eine ganz schwierige Entscheidung: soll das jetzt ein Siedlungsgebiet werden oder soll Gusen ein Industriegebiet werden. O-TON Bürgermeister: Ob es eine gute Idee war, kann man sicher bezweifeln. Tatsache ist aber, dass es geschehen ist, in diesem Kontext der Verdrängung und es ist auch dieses Siedlungsgebiet ein Ausdruck einer Unfähigkeit mit der jüngeren Geschichte umzugehen über viele Jahrzehnte hinweg. Es ist aber genau so falsch, heute zu sagen, Menschen, die sich dort angesiedelt haben in Unwissenheit, zu verurteilen dafür. O-TON Audioweg Gusener: Ich sag, das ist a wunderschöne Wohngegend worden. Mann: ich möcht? da net weg. ATMO Brunnenplätschern, Stadt Erzähler: Auf dem Marktplatz von Mauthausen beschatten zwei mehrhundertjährige Platanen den Brunnen, auf dessen Stufen rauchend junge Frauen sitzen, und drüben in der Sonne am Rathaus leuchtet eine Tafel, die den mutigen Bürgermeister, den mutigen Pfarrer und den mutigen Magister ehrt, Männer, die 1809 in einer konzertierten Aktion den sächsischen General erfolgreich um die Verschonung der Stadt vor Brandschatzung angefleht hatten. So ziehen sich 300jährige Häuser gelb, rosa, grün den Hügel über der Donau hoch, während die Touristen in ihren Radlerhosen unten bleiben in den Gasthäuser am Quai zwischen Schnellstraße und Fluß, und die Gedenkstätte im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen unbeachtet lassen. Sie liegt nicht am Weg, liegt einige Kilometer vom Ort entfernt in den Hügeln. ATMO Anfahrende Autos, Frau ruft; Brunnenplätschern O-TON 40 Haunschmied: Das ist, was den wesentlichen Unterschied zwischen dem Lager Gusen und dem Lager Mauthausen ausmacht, dass die Auswirkungen des KZ Gusen keine Rücksicht nahmen auf die Lebensräume der örtlichen Bevölkerung, sondern sich viele Brutalitäten mitten in den Ortschaften abspielten. Wegschauen war hier im Ort nicht mehr möglich. ATMO Bus fährt an und ab Erzähler: Kaum zehn Minuten mit dem Bus sind es von Mauthausen nach Gusen und der Fahrer wünscht mir guten Tag - ATMO Bus; Schritte, Spatzen, Motorbrummen Erzähler: Und ich gehe hinein nach Gusen, zur Siedlung mit den 200 Häusern, die nach dem Krieg entstanden sind. Die Länge eines Häftlingsblocks ergab drei Grundstücke. Gartensiedlung. Vom Zwerg bis zu den akkuraten Hecken, alles da. O-TON Ausgräber Piesenberger: Für mich war Gusen als Kind ein toller Spielplatz. Ein Spielplatz, wo Löcher in der Erde waren, wo ?s Stollen gab, wo man hat nachschauen können und gewisse Metallteile gefunden hat, und als Jugendlicher hab ich mich nie gefragt, woher das kommt. Haunschmied: Im Alter, so über 10, da bekamen dann schon langsam diese riesengroßen unterirdischen Welten, diese Stollen, die damals noch ungeschützt und offen lagen für uns als Abenteuerspielplatz eine besondere Bedeutung. Tagelang haben wir diese Gänge erforscht. Es schien, als würde das ein unendlich großes Tunnelsystem sein Piesenberger: Wir haben hier gespielt, das war lustig für uns; wir waren Kinder und hatten keine Ahnung gehabt, dass hier Teile für die Flugzeuge produziert worden sind, Teile für Maschinengewehre. Und da...(Pause) ATMO Amsel, entf. Auto, Taubengurren, Gartenarbeit mit Eimer, Schurren, entf.Stimmen, entf.Verkehr, Moped fährt davon; Erzähler: Sonntag im August. Die Straßen in der Sonne. Die Bäume stehen anderswo. Schwimmbecken fast in jedem Garten, aber die Menschen sind in ihren Häusern geblieben, bei der Lektüre der Kronenzeitung vielleicht, in deren Verkaufsbehälter an der Straßenlaterne kein Exemplar mehr steckt und dem Vorübergehenden so die Schlagzeile des Tages entgeht, die anderswo noch ruft: "Sieg für Österreich." Musik O-TON Ausgräber Piesenberger: Ich wohn in Gusen auf dem Lager. Jetzt, da ich mich mit dem Thema auseinandergesetzt hab, erst jetzt weiß ich, was da Furchtbares passiert ist. O-TON Bürgermeister: Es ist das Thema verdrängt und ausgeblendet worden. O-TON Ausgräber Piesenberger: Das Land wurde ja billigst verkauft in der Absicht, dieses Thema verschwinden zu lassen. O-TON Bürgermeister: Ich denke, die Menschen, die heute dort ein Haus haben, dort wohnen und leben, denen ist so kein Vorwurf zu machen. Es ist wohl der Politik ein Vorwurf zu machen, dass es auch der Plan war, diese Orte vergessen zu machen, um sich nicht mehr auseinandersetzen zu müssen, im falschen Bewußtsein, wenn der Ort nicht mehr existiert, existiert auch die Tat nicht. O-TON Ausgräber Piesenberger: Jetzt leben wir auf einer geschändeten Erde, so muss ich es mal ausdrücken. Hier ist Furchtbares passiert diese Information ist sicherlich irgendwo und wir haben uns hier angesiedelt. Nun, wir haben die Schuld oder die Teilschuld, dass wir das gemacht haben. Denn wir hätten ja auch nachfragen können. Wie man hier diesen Baugrund billigst erworben hat, meine Großeltern hätten ja mal fragen können, warum ist das so günstig. Haunschmied: Es ist mit Sicherheit so, dass Leute, die Zeugen waren dessen, was passiert ist, sich dort keine Parzellen gekauft haben, sich nicht niedergelassen haben oder hätten. Piesenberger: Wir müssen jetzt mit dieser schrecklichen Vergangenheit lernen umzugehen. Und wir tun uns sehr hart damit. ATMO 13 Frau ruft von weit, entfernte Sirene, Schritte, Autotür, entfernt Kinderstimmen Erzähler: Der Künstler Christoph Mayer ist in die Vergangenheit hinabgestiegen. O-TON Mayer Mayer: Es ging uns nicht darum, dass wir einen Skandal inszenieren, den man hätte inszenieren können, das wär wunderbar gegangen. aber das war nicht das Ziel, sondern ein stiller Prozess der Auseinandersetzung, ein innerer Prozess, das war mir sehr, sehr wichtig.. Erzähler: Er hat Versunkenes freigelegt und ihm eine Stimme gegeben. O-TON Ausgräber Piesenberger: Ich hab den Christoph faszinierend gefunden, aber ich hab einfach nicht verstanden, warum er diese Erinnerung nicht ruhen läßt. Ich hab es nicht verstanden Erzähler: Ans Licht müsse, sagt Mayer, was verborgen, verschüttet, verdrängt worden sei, 60 Jahre lang. ATMO Schritte auf Schotter, Grillen, ab und zu Wind, O-TON Mayer Mayer: Es beschäftigt mich die generelle Verschiebung von Wahrnehmung, und die damit verbundene Konsequenz der Moral, das was gut und böse ist. Erzähler: Mayer entwirft den Audioweg, der den Besucher von Gusen nach St.Georgen führt, über Plätze und Straßen, vorbei an Häusern und Vorgärten, an Wiesen und überwucherten Bahndämmen und erzählt dem, der es wissen will, wie es aussah hier, in den Jahren ?38 -?45, und was geschah am Ort seiner Kindheit, die erst 1975 begann. - Und ich setze den Kopfhörer auf und gehe von den Stimmen geführt entlang der Gegenwart in die Vergangenheit. MUSIK: Audioweg O-TON Audioweg Böwe : Ich habe nach Erinnerungen gesucht, nach Menschen, die hier waren, als das alles gebaut wurde. Manche von ihnen haben nach 60 Jahren das erste Mal darüber gesprochen. Musik O-TON Audioweg Alter Mann: Die, die vielleicht ein wenig involviert waren in die KZ-Geschichte, da haben sich viele das Leben genommen und die andern haben nicht geredet darüber. O-Ton Mayer Diese Dinge, die über die Generationen weitergegeben werden, auch wenn man nicht darüber spricht, das ist schon vorhanden in den Nachkommen, Das ist, glaube ich, etwas, das sehr wohl sich vermittelt, in einem Gefühl, einer Haltung zu etwas. Da bin ich mir ganz sicher, dass sich das weitergibt. ATMO Schritte auf Asphalt und Schotter, Vogel, entfernt Verkehr Erzähler: Ich gehe die schnurgerade Straße entlang, unter deren Teerdecke die alte, von den Häftlingen gebaute liegt, vorbei an den tadellos gepflegten Einfamilienhäusern und - O-TON Audioweg Böwe: bleiben wir da kurz stehen ATMO Vogel kurz, entfernt Stimmen und Autos Erzähler: - und stehe vor einem langgestreckten einstöckigen Haus unter dessen säulengetragenem Vordach ein Tisch mit bunter Plastikdecke steht und einer Vase voller Gartenblumen. O-TON Audioweg Überlebender: Ja, das ist Bordell Erzähler: Eine alte Frau öffnet die Haustür spaltbreit, schaut her zur Besucherin am Gartentor und verschwindet wieder. Musik O-TON Audioweg Frau: '54 sind wir nach Gusen gekommen. '59 hab ich dann g'heiratet und wir sind seitdem hier herinnen. Mann: das war einmal das Puff Frau: da sind lauter so kleine Kabinen gewesen, da ist in jeder eine Badwanne dringestanden und ein WC. Mann: Wir ham die Zwischenwände rausgerissen, dass wir ein großes Zimmer kriegt ham. O-TON Ausgräber Piesenberger: Selbstverständlich haben sich die Leute nach dem Krieg mit dem beholfen, was hier war. Aber klar, wir Gusener haben uns der KZ-Mauer bedient und die Steine in Fundamente reingegeben - das sehe ich nicht als Schuld. Haunschmied: In der Nachkriegszeit herrschte Not an allem, so war es ganz normal, dass man Objekte, die im Zusammenhang mit dem KZ aufgebaut wurden, dass man die für Wohnzwecke benutzt hat. Man fragte da nicht lang, das war damals keine Kategorie und es hat den Anschein, dass das Hinterfragen doch auch mit einem gewissen Wohlstand zusammenhängt. Man muss es sich leisten können, diese Dinge in Frage zu stellen. ATMO Schritte auf Asphalt, viel Wind; Vogel, entf. Verkehr; Erzähler: Nach dem Krieg boten Stahl- und chemische Industrie in Linz tausende von Arbeitsplätzen, und die Menschen kamen aus den Dörfern, um dort zu arbeiten und siedelten im preiswerten Umland. "Wir waren alle beteiligt an der Verdrängung der Vergangenheit", schreibt Ruth Klüger. (..) "Uns allen war der Boden zu heiß und fast alle haben wir uns auf Neues verlegt." Vielleicht, schreibt Klüger, sei die Verdrängung der erste Schritt zur Bewältigung gewesen. Und ich höre den Historiker Hermann Lübbe, der das "kommunikative Beschweigen" deutscher Verbrechen verteidigt, denn nur im Schutz "einer gewissen Stille" sei es der Bevölkerung nach dem Krieg gelungen, sich in eine demokratische Bürgerschaft zu verwandeln. ATMO Schritte auf Asphalt, viel Wind; Vogel, entf. Verkehr; O-TON Ausgräber Lehner: Österreich hat es naturgemäß leichter gehabt, sich nach Ende des Krieges als Opfer darzustellen. Diese einseitige oder fast ausschließliche Betonung der Opferrolle ist aber durchaus etwas, das man als Geschichtsfälschung bezeichnen kann. Haunschmied: Gusen, St.Georgen, das sind nicht Nebenschauplätze in der Geschichte des Nationalsozialismus, sondern wichtige Orte, die normalerweise ausgeklammert bleiben. Hauptargument dafür ist, dass 1939/40 parallel zum Polenfeldzug das Lager Gusen aus dem Boden gestampft worden ist, um in Gusen eines der ersten Vernichtungslager in der deutschen Geschichte zu realisieren. Lehner: Man hat geglaubt, dass die Täter von damals ungeschoren davonkommen. Man hat auch wesentlich Verantwortliche für diese Verbrechen des Naziregimes nach dem Krieg in verantwortliche Positionen gehoben und alle diese Menschen haben Interesse gehabt, dass da nicht zu viel an die Öffentlichkeit gelangt. Haunschmied: Würden nicht Objekte da sein, die hinweisend oder Fragen aufwerfend vorhanden sind, dann würde man die Dinge nicht hinterfragen. Erzähler: 1965 hatten Überlebende des Konzentrationslagers Gusen das Grundstück gekauft, auf dem der Krematoriumsofen noch stand. Er war unversehrt an der ursprünglichen Stelle stehen geblieben. Die Kaufverhandlungen hatten schier unüberwindbare Hürden wachsen lassen, und nur über eine Beziehung zum Vatikan war schließlich ein Vertragsabschluss möglich geworden. Rings um das Krematorium waren längst Häuser gebaut worden und die kleine Gedenkstätte, die nun entstand, stand mitten unter ihnen, dunkel, fremd, aus Glas und Beton. Musik O-TON Bürgermeister: Es hat immer diese Spannung gegeben der Besucher, die das Gelände begangen haben , wo sie selbst geschunden oder ihre nahen Angehörigen ermordet wurden, das hat natürlich zu einer gewissen Spannung geführt, weil, da kommen Menschen, und ich hab da mein Haus, mein kleines Heim, wo ich mich zu Hause fühle, und da kommen Menschen, die haben erlebt, dass ihre Angehörige da ermordet wurden. Das ist ein unglaublicher Widerspruch, der zu massiven Spannungen führt. O-TON Ausgräber Lehner: Ich glaube aber nicht, dass man sich moralisch zu Schuldgefühlen verpflichtet fühlen muss, wenn man dort wohnt und dort lebt. O-TON Bürgermeister: Nur ein Gespräch kann dabei vermitteln... Was durchaus auch gelungen ist. Das hat die Bevölkerung positiv erlebt, dass es eine Auflösung des Widerspruchs gibt und akzeptiert, dass es Menschen gibt, die mit dem Ort was anderes verbinden, als ich mit meinem Heim. O-TON Ausgräber Haunschmied: Hier geht's letztlich auch um den Seelenfrieden, der viel mit Wissen und Nichtwissen verbunden ist. ATMO Schritte auf Schotter, entf. Verkehr, Traktor und Hupen entfernt; O-TON Audioweg Mann: Da ist das Krematorium und über meinen Grund ist die Straße gegangen, direkt zum Ofen hin. Die hab ich rausgerissen und das Geschichtsträchtige, das da war, das hab ich erst im Laufe der Zeit reingekriegt; als Junger betrachtet man das viel oberflächlicher. Ich war der erste, der verkauft hat und dann hat's der Hans genauso verkauft. O-TON Mayer Mayer: Mitgeteilt, warum er verkauft, hat er nicht, das wäre für den Kaufpreis nicht vorteilhaft gewesen, zu sagen, das war ein Lager, deshalb will ich nicht mehr hier wohnen. Ich hab ihn gefragt, warum er das nicht dem anderen Käufer gesagt hat, sagt er: er kann ja eh sehen, dass da noch der Ofen ist. O-TON Audioweg Mann: Man hat keine Freud mehr damit. Da sind dreißigtausend Menschen umgekommen, und dass die Seelen noch irgendwo sind, die verschwinden ja nicht. O-TON Ausgräber Piesenberger: Ich kann mir net vorstellen, dass sowas spurlos an Orten vorübergeht, das wäre ja ein Vergessen von der Natur her, - Lehner: Ich glaube nicht daran, dass Orte Erinnerung aufbewahren im Sinne von sie speichern Emotionen oder Erinnerungen. Sie sind Symbole für die Menschen. Piesenberger: das geht irgendwo in einen Kreislauf ein und ist irgendwo hier. Lehner: Da müßte es auf der ganzen Welt fast überall spuken. ATMO Dumpfe Geräusche, Brunnen, Brummen der Donaukähne, Schwalben, weit entfernte Baugeräusche. Erzähler: Im Memorial Gusen ist es still. (Musik) Die junge Frau, die die Aufsicht hat, sitzt vor der Tür in der Sonne. Niemand ist heute hierher gekommen und schaut sich die Dokumente und Bilder an vom Lager Gusen 1 und 2. Den Ofen des Krematoriums hat man umbaut und Photos der Toten in ovalen Rahmen an den Wänden angebracht. Und während die Gesichter der ums Leben gebrachten Männer her blicken, mit einem kleinen Lächeln viele, mit einem Lächeln her zum Ofen, diesem aus rotem Backstein gemauerten Ofen mit den großen dunklen eisernen Türen, und während diese Zahl auftaucht - 35 725 - schallen die fröhlichen Rufe her vom Wohnhaus, Mauer an Mauer mit dem Memorial. O-TON Bürgermeister: Ist natürlich ein Riesenwiderspruch: hier der Ofen, die Vernichtung, auf der andern Seite des Zauns die Zukunft, das Glück. O-TON Ausgräber Piesenberger: Wir können die Leute umsiedeln, warum nicht, das ist eine Sache des Geldes, eine Sache der Organisation, aber viel besser ist es doch, so einen Ort leben zu lassen mit der Vergangenheit. ATMO Kind: "Papa, Papa", entf. Mann und Frau; Erzähler: Um einen kleinen baumlosen Platz hinter dem Krematorium stehen vier zweistöckige Häuser. Ins vordere, dort, wo vor 65 Jahren Frau Traude zum Zahnarzt ging, ist heute ein Hochzeitspaar eingezogen. "Hoch lebe das Brautpaar" steht auf einer blumenumkränzten Tafel über dem Eingang. Im Vorgarten hängt reglos die österreichische Fahne und im Sandkasten sitzt ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen. Musik O-TON Audioweg 87 Frau Traude: Auf einmal kommt der Obersturmführer Bachmeier: wissen Sie was, hat er gesagt: Sie können im Lager zum Zahnarzt gehen. Erzähler: Auf dem Grundstück des Wohnhauses stand das Lagerkrankenhaus, in dem medizinische Experimente an Häftlingen durchgeführt wurden. Dort hatte auch der Lagerzahnarzt seine Behandlungsräume. O-TON Audioweg Frau Traude: Der hat gesagt, ein Stück geradeaus und dann rechts. Und auf einmal denke ich, was ist denn da Rotes, so eine rote Soß? und jetzt war das lauter Blut, das hab ich aber nicht gewußt, ich wär bald reingestiegen. Jetzt will ich da drübersteigen und auf einmal kommt ein SSler auf mich hergeschossen und: zurück, zurück, sagt er: wieso sind denn Sie überhaupt da? Sag ich, der Herr Obersturmführer Bachmeier hat mir das jetzt geregelt, ich kann zum Zahnarzt gehen. Ach so, ja, warten Sie ein bißl, in 10 Minuten können Sie zum Zahnarzt gehen. Jetzt steh ich da und auf einmal seh ich folgendes: haben sie einen Lastwagen gehabt und Säcke oben. Zwei Häftlinge, befehligt von so einem Kapo, haben sie diese Säcke an die Wand geschmissen, mit den Kindern drinnen. Auf eins zwei drei haben sie's zerschmissen. Ich bin wie versteinert da gestanden und hab das gesehen. Ich hab nicht mehr vor und zurück können und hab denen zugeschaut. Dann haben sie mich durchlassen. Dr. Rutschmann hat er geheißen. Der war auch ein höherer SS und der war Zahnarzt. So hab ich gezittert. Die haben sie umgebracht. Die Säcken haben sich gerührt. Kinder, so wie ich sie im Kindergarten gehabt hab. Da sagt er: fürchten Sie sich so? Sie kriegen doch eh eine Spritze. Hab ich gesagt, ich hab jetzt draußen so was Schreckliches gesehen, und hat er mir sofort das Wort abgeschnitten und gesagt: wir fangen jetzt gleich an, machen Sie den Mund auf. ATMO Schritte auf Schotter, Grillen, ab und zu Wind, Erzähler: Jenseits der großen Straße entlang der Siedlung dehnen sich die Mais- und Rübenfelder bis hinüber zur Gusen, dem zum Staunen klaren Flüßchen, das wenig weiter in die Donau mündet. Und hinter die Flußlandschaft hat der Föhn die Alpen geweht, unter deren Gipfel die Schneemulden herüber leuchten und durch den Schnee kommt jetzt John Weiner auf mich zu, - O-TON John Weiner: Jemand hat gesagt, dass die sogenannten Überlebenden sind die Gefangenen ihrer Erinnerungen geworden. Erzähler: -er ist aus dem Taxi gestiegen und kommt durch den Schneematsch her zu mir, und wie er herkommt in seinem fischgratgemusterten Wollmantel, der irgendwie zu schwer zu sein scheint für diesen kleinen zarten Mann mit der Hornbrille, die weit herab über die Backenknochen reicht, eine Schutzbrille, die sein Lächeln schützt, und er eilt mir voraus, "es ist keine Beleidigung, einer Frau die Tür aufzuhalten", und er hilft mir aus dem Mantel " jeder genießt doch kleine Aufmerksamkeiten" und schiebt mir den Stuhl zurecht, und wir sind in München und trinken Bier und er wünscht es ganz ohne Schaum und das Glas muss zweimal zurück und verbessert werden, und ich sehe das Feixen der Kellner, doch John bleibt davon unberührt und zeigt mir das Photo eines jungen Mannes, der in die Kamera lächelt, Johns großer Bruder, wie er hinter dem Vater steht und lächelt und neben dem Vater die schöne Mutter und neben der Mutter John, zehnjährig, die Hand auf ihrer Schulter - O-TON John Weiner: Eines Abends kommt mein Vater nach Hause und sagt mir, es gibt ein Gerücht, dass die Deutschen jetzt auch die Eheringe wollen und wenn der Ehering nicht vom Finger herunterkommt, weil der Finger durch die Jahren der Ehe dicker geworden ist, so schneiden sie den Finger herunter. Dann ging ich mit meinem Vater in unser Badezimmer und habe meines Vaters Ehering durchgeschnitten. (Pause) Jemand hat gesagt, dass die sogenannten Überlebenden sind die Gefangenen ihrer Erinnerungen geworden. Und das stimmt auch. Diese Erinnerung, wie ich den Ehering durchgeschnitten habe, das bleibt in mir so stark, und ich weiß, dass ich nicht schuldig war; und doch, dass ich das Symbol einer glücklichen Ehe durchschnitten habe, Musik das drückt auf mich und ganz egal wie oft man mir sagt, du hast damit doch nichts zu tun gehabt, ist egal, das bleibt mit mir. Es ist nicht einmal das, wie es heißt die Schuld der Überlebenden. Es ist eine Last, die ich habe. O-TON Audioweg Täter: Wissen Sie, da sind keine Schuldgefühle aufgekommen. Das ist ja das, das ist so schwer zu beschreiben heute. Hat man da überhaupt gelebt? Ja. Hat man mit Schuldgefühlen gelebt? Nein. Wenn der Obersturmführer, ja - dass man da auch zuschlägt- ja - warum tut man das? Jetzt fragen Sie mich doch, warum hab ich an Mißhandlungen teilgenommen? Verstehen Sie, das ist das Schizophrene. Hier die helfende Hand und da beteiligt man sich dann an Mißhandlungen. ATMO O-TON Audioweg Täter: Das Gute hab ich genauso unüberlegt gemacht als wie das, dass ich bei Mißhandlungen war, das Böse, verstehen Sie, damals hab ich es nicht so gedacht. Es war meine Pflicht, da zu sein, verstehen Sie? ATMO Schritte auf Schotter, Grillen Erzähler: Während ich mit einem der Ausgräber über den Bahndamm gehe, dessen letztes Stück jetzt zum europäischen Radwanderweg gehört, erzählt er, was er fand, als er noch tiefer in die Schichten der Geschichte zu graben begann, erzählt vom bronzezeitlichen Richtplatz hier am Ort, erzählt von einem blutig niedergeschlagenen Bauernaufstand und erzählt, wie eines Tages von Linz her der Realschüler Adolf Hitler nach Gusen und St.Georgen angereist war, um den Ort des Bauernschlachtens zu erkunden und wie er ebendort dreißig Jahre später 40 000 Menschen ermorden ließ. O-TON Ausgräber Haunschmied: Aus meiner Sicht ist die einfachste Methode, diese Geschichte gar nicht in sich einzulassen, sich gar nicht zu öffnen, die Bücher nicht anzuschauen, dann lebt man so, wie in jedem andern Ort. Dort wo man sich einläßt auf die Geschichte, ist es schon zentral: was war denn an dem Ort, wo ich lebe. Musik War das der Platz wo der Bahnhof gewesen ist, wo Tausende ohne Nahrung, ohne Wasser hingebracht wurden, um Leben auszuhauchen. In dieser Richtung ist zu differenzieren, davon hängt 's ab. ATMO Brummen, Insekt, Flugzeug, Grillen, Autos auf Schnellstraße, Grillen, entfernt Stimmen. O-TON Audioweg Junge Frau: Ich bin da geboren und das ist eine Aufforderung, für mich was draus zu machen. O-TON Mayer Mayer: Es gibt da Momente wo ich nur still sein kann und nicht weiß, was tun. Es gibt Momente, wo ich mich damit auseinandersetze und mit dieser Geschichte arbeite. Die meiste Zeit aber ist es nicht präsent eigentlich. Ja, man hat auch ein ganz normales Leben, auch an diesem Ort, wo das passiert ist. Erzähler: und setzte mich unter einen Apfelbaum und während der betörende Duft von Phlox her weht - und Pulks von Radfahrern auf der jetzt asphaltierten ehemaligen Bahntrasse vorbeisausen und Kamille und Kornblumen im Fahrtwind schwanken, schaue ich ins Gartenland am Fluß und in meinen Blick schiebt sich das Bild der Landkarte Deutschlands, übersät mit zahllosen schwarzen Punkten, jeder ein namenlos gewordenes ehemaliges Konzentrationslager, benannt und dem Vergessen entrissen in einem Projekt der Künstlerin Sigrid Sigurdson, ein offenes Archiv, in das Zeitzeugen ihre Erinnerung einbringen können und ich denke, es gibt keinen Weg vorbei an den traumatischen Orten, sie sind unter uns, sind die Verkörperung des ?radikal Unselbstverständlichen des gesellschaftlichen Guten?, sind die Aufforderung, den Blick in den eigenen Abgrund des Bösen zu zwingen. ATMO Glocke schlägt 3.; entfernter Verkehr; Erzähler: Es ist still hier am Ende des Weges vor den Hügeln. Gras und Buschwerk haben das gigantische Bauprojekt der Nazis unsichtbar gemacht, überwuchert die hohen Stolleneingänge in das weit verzweigte Tunnelsystem mit den Fertigungshallen der Rüstungsindustrie. ATMO Grillen , Flugzeug; O-TON Mayer Mayer: Dass mein Onkel als Kind in St.Georgen lebend, bei Luftangriffen in die Stollen, wo auch die Häftlinge gearbeitet haben, dass er da erlebt hat, dass er einen Apfelbutzen einfach so weggeworfen hat und ein Häftling hat sich den genommen und wurde dann erschlagen, und er dachte immer, das sei seine Schuld, weil er das ausgelöst hat. ATMO Wind, Grillen, Verkehr Erzähler: Und während ich die ehemalige Reichschnellstraße entlang gehe, die Zwangsarbeiter bauten, sehe ich John Weiner wieder vor mir. Es war ein heißer Augusttag wie heute und das langgestreckte Gebäude der Gedenkstätte Neuengamme, in dem John gleich eine Ausstellung über jüdische Zwangsarbeiterbrigaden eröffnen würde, lag licht und hell und alles, was diesen Ort des Schreckens ausmachte, war verschwunden, aufbewahrt nur noch in Büchern und Heften, in denen man blättern konnte bei Kaffee und selbstgemachtem Kuchen, serviert von einer jungen hübschen Frau, und an Tischen saßen Besucher mit Sonnenbrillen im Haar und erzählten sich lustige Geschichten. Gab es noch eine Verbindung von diesem Tisch im weitläufigen, gut durchlüfteten Raum zu dem Ort der Demütigung, der Mißhandlung, Angst und Hoffnungslosigkeit? Musik O-TON John Weiner: Die Baracke wo ich war, das war Baracke Nr.15. Das war schon eine weite Entfernung von der Toilettenbaracke, was ein Kapitel für sich war. Nun, wenn man nicht erreicht hat den Toilettenblock, dann hat man sich versaut und das war der Punkt, wo man zusammengebrochen ist. Das war der Punkt, wo ich gesehen habe, Bekannte von zu Hause, gebildete Leute, Künstler, Professoren, die sich auf den Boden gesetzt haben und zu weinen angefangen haben. Einesteils, weil sie sich geschämt haben und andererseits wegen dieser Ungerechtigkeit, dass sie sich versaut haben, nicht weil sie dreckige Menschen waren, sondern weil die Konditionen das verursachten. Also, du bist dort in einem fremden Land, jeder, den du geliebt hast, jeder, der für dich etwas bedeutet hat, war weg. Alles wofür du dein Leben gearbeitet hast, ist von dir weggenommen, du warst drei Tage und Nächte lang in diesen Waggonen, hast gesehen, was passiert mit deiner Familie dort, dann kommst du an, wirst behandelt wie ein Viech oder schlimmer wie ein Viech, du hast keine Haare mehr, du hast keine Individualität, du bist verhungert, du hast einen unbeschreibenen Durst und du hast keine Hoffnung, dass es morgen besser wird - dann versaust du dich - das ist das Ende von einem Mensch. (Pause) ATMO Schritte, Spatzen, Motorbrummen, Schleppkahn fährt vorbei, Schnellstraße; Erzähler: Die vier Kilometer durch Gusen und Langenstein bis nach Mauthausen gehe ich zu Fuß zurück, weil am Sonntag auch der Busverkehr Ruhetag hat. Diese Strecke war täglich auch der ?Grüne Heinrich? gefahren, wie der Vergasungswagen von der Bevölkerung genannt wurde; fuhr vorbei am Heiligen Dominik, der schon damals in einer Hausnische hinter Gittern stand, vorbei an seinem mitleidig gesenkten Blick auf das Kreuz in seinen Händen, vorbei an den Küchenfenstern der Bauernhäuser, hinter denen die Bäuerinnen wirtschafteten und den Bus mit den schwarzen Scheiben vorüberfahren sahen. O-TON Mayer Mayer: Natürlich kann ich bei mir selber den Impuls beobachten, verstehen zu wollen, was da passiert ist. Aber ob das bewirkt, wenn man es verstanden hat, dass man es nie wieder tun würde, das würde ich bezweifeln. ATMO Schritte, Grillen; O-TON Mayer Mayer: Ich glaube, vielleicht ist es so, dass man, wenn man diese Geschichte kennenlernt, ist man erst mal tief schockiert, weil das einfach unglaublich weit weg ist, weit von jedem moralischen Handeln und Empfinden, in dieser zivilisierten bürgerlichen Welt in Mitteleuropa. Ich würde jetzt nicht hingehn zum nächsten Haus und dort 300 Menschen reinschleusen und als Arbeit, die ich verrichte, Fenster verdichten und Zyklon B reinschmeißen, damit die dann sterben.-also das ist absurd weit weg, unvorstellbar weit weg. Möglicherweise aber ist es trotzdem etwas, was in uns Menschen schon vorhanden ist. Wenn ich jetzt in einem graduellen Prozess der Wahrnehmung dahin kommen würde, möglicherweise würde ich das dann schon tun. Vielleicht würde man das dann schon machen können. Vielleicht wäre es nicht etwas, das so unvorstellbar ist, dass man das nicht tun kann. Warum ich das sage, ist, dass ich glaube, dass das eben in Frage stellt, dass die Erinnerung an diese Vorgänge allein verhindert, dass so etwas wieder passiert. Das würde ich erst mal bezweifeln. ATMO Schritte auf Schotter, Grillen, ab und zu Wind, Glocke; Erzähler: Zwei Monate nach dem Treffen in Neuengamme ist John Weiner tot. ATMO Stuhlrücken Erzähler: Damals an diesem warmen Augusttag im Saal der Gedenkstätte hatte er das Totengebet gesprochen. O-TON John Weiner: aus dem Gebetbuch, das meiner Großmutter gehörte. Erzähler: Er hatte sich am Ende seiner Rede die Kippa aufgesetzt und das Kaddisch gesprochen (spricht hebräisch weiter). O-TON John Weiner: -Kaddisch- Und ich bedanke mich, dass Sie in Gedanken bei uns waren und ich wünsche Ihnen allen Gottes Segen. Absage: Die Ausgräber von Gusen Reise durch eine österreichische Erinnerungslandschaft Sie hörten ein Feature von Sibylle Tamin Ton und Technik: Hanns-Martin Renz und Gabriele Traichel-Lahme Regie: Ulrich Gerhardt Redaktion: Ulrike Bajohr Eine Produktion des Deutschlandfunks 2009 1