DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 23.11.2010 Redaktion: Karin Beindorff 19.15 ? 20.00 Uhr Gefühl und Härte ? "Haus Ausblick". Von Beate Hinrichs Co-Produktion WDR/DLF URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - *********Alle Namen der Jugendlichen wurden im Manuskript geändert.*********** O-Ton Lars (Jugendlicher): [Umlegen Riegel vorm Tor, kracht.] Lars: Das ist langweilig, Abfuck is' das. Das ist Scheiße hier so. [Tür geht zu.] Frage: Wo wärste denn lieber? Lars: Ja, irgendwie zuhause, aber auch irgendwie wieder hier. Atmo - Landstraße, Autos, Gänse Ansage: Gefühl und Härte - "Haus Ausblick". Ein Feature von Beate Hinrichs. Atmo - Rap Das sind die Kids - mein Deutschland ist endlich frei - ich weiß ich fühl mich vogelfrei ? Junge, du bist ein Opfer, der die Schnauze hält ... Junge, weißt du wer ich bin? ? Junge, du bist ein Opfer, nichts weiter ... willst du rappen oder was? ? das sind meine Reims ... O-Ton Andreas (Jugendlicher): Andreas: Ursprünglich kommt das vom Richter, dass ich hierhin muss. Nicht vom Jugendamt. Frage: Und was haste gemacht, dass der Richter gesagt hat, du musst dahin? Andreas: Alles Mögliche, fahren ohne Führschein und so was. Ohne Fahrerlaubnis, ohne Versicherung, so was. Frage: Kommt man wegen Fahren ohne Fahrerlaubnis gleich in die Jugendhilfeeinrichtung? Andreas: [lebhaft] Ja, war ja nicht nur einmal, war ja ganz oft, und dann waren das so kleine Motorräder, die nicht zugelassen sind, die aus Japan kommen, irgendwo, importiert werden. Und dann Diebstahl und so was alles. Sprecherin: Andreas ist 17 und der Größte in "Haus Ausblick". Er hat braune Locken, braune Augen und kann charmant lachen. O-Ton Andreas (Jugendlicher): Frage: Wo haste denn die ganzen kleinen Motorräder hergehabt, die du gefahren bist? Andreas: Gekauft? Frage: [ungläubig] Gekauft? Oder Geklauft? Andreas: Nee, gekauft! Kosten hundert Euro. Man darf sie besitzen, man darf sie halt nicht fahren. Sind für die Straße komplett verboten, gibt's keinen Führerschein für, nix. Sprecherin: Andreas ist das, was Politik und Presse "Intensivstraftäter" nennen. O-Ton Andreas (Jugendlicher): Frage: Und wo kriegst du hundert Euro her, um die zu kaufen? Andreas: Ja, wenn man irgendwo in die Sporthalle eingebrochen ist und dann in den Kabinen da die Handys mitgenommen hat, dann kann man die verkaufen oder halt in diesem An- und Verkauf abgeben und dafür wat anderes mitnehmen. Frage: Haste das öfter gemacht? Andreas: Ja. Ich wurd ja immer erwischt, dann waren die Motorräder weg, dann braucht ich 'n neues. Und dann hab ich mir 'n neues geholt. Sprecherin: Intensivtäter bedeutet: Mindestens fünf registrierte Straftaten jedes Jahr. Nur fünf oder sechs Prozent der tatverdächtigen Jugendlichen sind Mehrfachtäter - aber sie begehen einen Großteil aller Delikte. Atmo - Rap Das ist mein Floh, mein Floh ist so hart und burnt wie ne Kette aus Gold ... ich hab' deine Freundin im Visier ... Sprecherin: Seit eineinhalb Jahren wohnt er in "Haus Ausblick". In der sozialtherapeutischen Wohngruppe in Bedburg-Hau leben sechs straffällige Jugendliche. Atmo - Führung "Ausblick" mit Lars Lars: Ja, hier ist Geräteschuppen, Schubkarren, Leiter, und so alles Frage: Wofür? Lars: Ja, Schubkarren zum Beispiel wenn wir den Rasen umgraben, sind Steine zwischen, da rein, den hinten zum Hof bringen, Harken und so was... Frage: Das heißt, Ihr arbeitet hier auch richtig auf'm Hof. Lars: Ja. Tenne helfen wir hier bei dem Umbau und so was. Ja. Frage: Wer sagt Euch denn, was Ihr machen müsst? Lars: Ja, wenn wir sagen, wir machen da und da, dann machen wir das und das. Manche machen von selber, gehen hin, packen an und arbeiten den Tag und dann, fertig. O-Ton Nicole Oetinger (Psychologin): Sie wollen gar nicht hierherkommen. Wir besuchen sie manchmal im Gefängnis beim Erstgespräch, und dann sagen sie vielleicht: "Nee. Ich komm nicht mit!" Total stolz, wirklich sehr beeindruckend, "ich verreck hier lieber, als mitzugehen, was wollt ihr, Sozialgelaber, Psychokram irgendwie, an mich kommt sowieso keiner ran, ich bin eisenhart und ich brauch auch niemanden bis zum Rest meines Lebens, kann ich mir alles so besorgen, ich werd Zuhälter, ich werd das und das, was soll ich mir 'n Job suchen oder so" -- ja, so fangen wir hier an. Atmo - Führung "Ausblick" mit Lars Lars: Ja, manchmal freiwillig und manchmal muss ich's. Ja... Frage: Machste das denn ganz gerne eigentlich oder ist das eher lästig? Lars: Ja, kommt drauf an, was für Sachen. Sagen wir mal, wenn wir jetzt den Garten umgraben, hier so Kleinzeug rausholen und sowat, dann mach ich das nicht gerne, aber wenn das so wie hier ist, so sagen wir mal, 'ne Tenne umbauen, dann mach ich dat schon gerne, so mit stemmen oder Steine schleppen, das mach ich dann schon. Aber so Garten umgraben kann ich nicht - keine Lust zu. Sprecherin: Lars zeigt mir "Haus Ausblick". Ein verwinkelter alter Bauernhof mit einem angebauten zweigeschossigen Wohnhaus. Roter Klinker ohne besonderen Charme. Die Klingel ist kaputt, der Heizkörper im Hausflur kommt aus der Wand, ein dunkler Flur verbindet zwei Gebäudeteile, rechts-links-geradeaus, mittendrin eine Stufe. "Haus Ausblick" ist ein work in progress. Atmo - Führung Wohnzimmer mit Lars [Schritte, schneller werdend, auf der Treppe nach oben Lars: Ja, hier ist die Küche -- ja. Die wird auch verlegt. Unten in die Tenne, wenn die fertig ist; da ist das Wohnzimmer.] Sprecherin: Zwei Sofas, ein Fernseher auf einer alten Kommode, das meiste mit Macken; vieles ausgebessert und nichts passt so richtig zueinander. O-Ton Lars (Jugendlicher): Frage: Welche Räume sind abgeschlossen und in welche könnt ihr frei rein? Lars: Waschküche ist abgeschlossen, Büro ist abgeschlossen, das Raum, wo die Betreuer schlafen, ist abgeschlossen, Keller ist abgeschlossen, Vorratsraum ist abgeschlossen, Schule ist abgeschlossen, Werkstatt ist abgeschlossen, und der Geräteschuppen eigentlich auch, aber der ist ja kaputt, die Sporthalle ist abgeschlossen, ja sonst nix. O-Ton Daniel Paschen, Jannik (Betreuer, Jugendlicher): Jannik: Mach mal die Toilette auf! Daniel Paschen: Was soll ich aufmachen? Jannik: Toilette! Frage: Die Toilette ist auch abgeschlossen? Daniel Paschen: Das machen wir extra so, weil die sonst --Wolltst Du rein?--, weil die sonst immer rumsauen... Deswegen haben wir gesagt: Wir schließen das ab, die müssen zu uns kommen, dann schließen wir denen auf, und seitdem klappt das auch viel besser. Atmo - Erdnüsse essen vor der Haustür [Jugendliche, Betreuer stehen vor der Haustür, essen Erdnüsse (Schalenknacken hörbar)] Sprecherin: Ein paar Jungs und Sozialpädagoge Daniel Paschen stehen in der Sonne vor der Haustür und futtern Erdnüsse. Viele Schalen landen auf den Stufen. Lars legt ein paar Schalenreste auf mein Mikrophon. Atmo - Erdnüsse essen vor der Haustür Lars: Seien Se mal nicht so hier, kriegen Se auch 'ne Schale. Frage: Sag mal, seid Ihr mit den Fernsehjournalisten auch so umgegangen? Andreas: Noch schlimmer. Lars: Einen von denen haben wir ermordet. Frage: (ironisch) War klar. [Atmo Nüsse-Essen, Schalen knacken, paar Worte fallen, Ach, jetzt hör auf! - Lars bewirft das Gerät mit Erdnussschalen.] Sprecherin: "Haus Ausblick " liegt ein paar Hundert Meter entfernt von der Landstraße zwischen Kleve und Till-Moyland. In der Sonne wirkt die Atmosphäre friedlich. Das kann sich jederzeit ändern. Als auf den Wegen rund ums Haus noch Kieselsteine lagen, musste regelmäßig der Glaser kommen. O-Ton - Ernö Malberg (Haustechniker): Also, gerne werden Türen zerstört, also haben wir gesagt, wir nehmen Stahltüren, sieht zwar 'n bißchen blöde aus, aber letztendlich, diese Stahltüren, die wir eingebaut haben, bleiben ganz. [Jugendliche hämmern von draußen an die Bürotür] O-Ton - Andreas (Jugendlicher): Frage: Hier ist zum Beispiel gerade wieder 'ne Tür kaputtgegangen, ich weiß nicht, wer das war. Andreas: Wann? Frage: Die vom Vorratsraum. Andreas: Die ist dauerkaputt, die war noch nie ganz. Frage: Wodurch geht die immer kaputt? Andreas: Wenn einer was zu essen brauch. Dann wird die aufgebrochen. O-Ton - Monika Vogel (Leitung "Haus Ausblick"): Das sind Jugendliche, die haben nicht gelernt, mit Dingen, die sie nicht direkt am Körper tragen, sag ich mal, die wirklich ihr nächstes Eigentum sind, damit vorsichtig oder achtsam umzugehen. Bei denen ist ja Wertesystem, kaputt oder marode. Ihr inneres Wertesystem und auch alle äußeren Wertesysteme. Es ist ganz schwer, die gehen nicht sehr wertschätzend mit einem Fahrrad um. Das Fahrrad fährt, und wenn es seinen Dienst getan hat, wird es in die Ecke geschmissen. Die gehen mit den Gegenständen so um, wie ihre Eltern damals mit ihnen umgegangen sind. In dem Moment, wo das nicht mehr gebraucht wird oder nicht mehr so schön ist oder gerade nicht passt oder zur falschen Zeit am falschen Ort ist, da wird es eben weggetreten, weggeschmissen. Atmo - Vogelzwitschern, Land [vorm Haus: Atmo nachmittags, Vogel keckert, Rufe weit weg] Sprecherin: Ein klarer Tagesablauf, eine feste Struktur und strenge Regeln sollen den Jungs Halt geben. Um 21 Uhr müssen sie zum Beispiel ihre Handys abgeben. Wenn sie ihre Aufgaben erfüllen - pünktlich aufstehen, putzen, aufräumen, Hausaufgaben machen - dann gibt es Bonuspunkte. Wenn nicht, Punktabzug. Monika Vogel, Leiterin von "Haus Ausblick": O-Ton - Monika Vogel (Leitung "Haus Ausblick"): Früher ins Bett, nicht runter vom Hof, nicht gemeinsam mit den anderen was machen, nicht mit den andern vielleicht mal ins Kino oder Basketball oder Fußball oder Billard, sondern immer die ganze Zeit ein Betreuer am Bein. Das ist für die 'ne harte Sanktion. Sprecherin: Ich verbringe mehrere Tage mit den Jungs, ihren Betreuerinnen und Betreuern in "Haus Ausblick". Und ich merke schnell: Es ist nicht leicht, den Tagesablauf zu strukturieren. Besonders in der kalten Jahreszeit gibt es viel Leerlauf. O-Ton - Lars (Jugendlicher): Hier ist langweilig, so. Hier kann man - okay, kommt jetzt der Winter wieder, ist kalt draußen, kann man nix machen. Frage: Was würdest du dir denn wünschen als Abwechslung? Lars: 'N bißchen so - so überhaupt, wenn ich noch hier wohn? Für mich selber? Dass ich 'n bißchen mehr Freiheit kriege, dass ich 'n bißchen mehr in die Stadt gehen kann oder zum Beispiel jetzt wenn Winter kommt, eislaufen gehen kann. Auch mal mit Freunde, wenn ich welche in der Schule kennenlern'. Bißchen auch was machen. Sprecherin: Lars hat schon zwei Jahre im Heim gelebt, bevor er nach "Haus Ausblick" kam. Als ich ihn nach seinem Zuhause frage, rückt er in die Sofaecke und schweigt. O-Ton - Lars (Jugendlicher): Frage: Warum hat das Jugendamt beschlossen, dass du hierher sollst? Lars: Weil ich Scheiße gebaut hab. Frage: Was haste gemacht? Lars: Straftaten. Frage: Sag mal, was. Lars: Gummibären geklaut... Spaß! Na, keine Ahnung, was soll ich gemacht haben - halt Scheiße gebaut. Frage: Sag mal! Lars: Nee, sag ich nicht. Frage: Warum nicht? Ist dir das peinlich heute? Lars: Nee. Kein Bock zu sagen. Sprecherin: Lars ist 15. Er wirkt fast zart, hat blaue Augen und hält seine blonden Stoppelhaare mit Gel in Form. O-Ton - Lars (Jugendlicher): Frage: Manche Jugendlichen hier, habe ich den Eindruck, prahlen ganz gerne damit, was sie gemacht haben und wie klasse sie das können. Lars: Ja, ich aber nicht. Frage: Wäre das, wenn ich Dich im April gefragt hätte, noch anders gewesen? Lars: Ja, da hätt ich Ihnen das gesagt! Frage: Und jetzt biste nicht mehr stolz drauf? Lars: Nä! Menschen ändern sich. Sprecherin: "Haus Ausblick" ist eine sogenannte freiheitsbeschränkende Maßnahme, keine freiheitsentziehende. Kein Knast. "Menschen statt Mauern" heißt das Konzept. O-Ton Monika Vogel (Leitung "Haus Ausblick"): Wenn sie wollen, können die weg. Sie können auf jeden Fall weg. Also, sie gehen über 'nen Acker und steigen in irgend 'nen Bus und fahren schwarz und fahren zum nächsten Bahnhof oder klauen sich irgendwo im nächsten Ort 'n Fahrrad oder wie auch immer. Wenn die weg wollen, dann sind die weg. Das ist so. Das heißt, alle die, die nicht abhauen, sind ganz bewusst hier. Eigentlich entscheiden die sich jeden Tag wieder aufs Neue ganz bewusst, dass die hier sind. O-Ton - Lars (Jugendlicher): Lars: Ja, das hab ich am Anfang gemacht, immer abgehauen... Frage: Wo biste dann hin? Lars: Zur Windmühle bin ich gelaufen, hier, oder zu Till... Frage: Aber so in die Orte in der Umgebung, heißt das? Lars: Ja. Frage: Und da läufste einfach nur hin? Oder bauste noch irgendwelchen Scheiß? Lars: Ja einfach hinlaufen, und entweder holen die mich da wieder ab oder ich lauf den Weg wieder zurück. Frage: Kommst aber freiwillig immer wieder zurück? Lars: Ja. Frage: Und wenn die dich abholen, wissen die, wo du bist? Lars: Da rufen die mich vorher an -- Frage: -- auf dem Handy? Lars: Ja. Dann hab ich mich beruhigt, und dann sag ich denen, wo ich bin. Und dann kommen die und holen mich ab. Sprecherin: Träger von "Haus Ausblick" ist die Jugendhilfe - nicht die Justiz. Das Gesetz sieht einen "Hilfeplan" vor. Den erarbeiten der Jugendliche, Eltern oder Vormund, Mitarbeiter von Jugendamt und "Haus Ausblick" gemeinsam. Sie vereinbaren Ziele: Keine Straftaten mehr, keine Gewalt, regelmäßig zur Schule gehen, seine Pflichten erfüllen; zum Beispiel die Putzdienste. Atmo - Rauchpause vor der Haustür [Jugendliche, Betreuer stehen vor der Haustür - Gespräch über Drehtabak und Freizeitaktivitäten und was es zum Mittagessen gibt.] Sprecherin: Morgens haben die Jungs Unterricht - in der Regel einzeln und stundenweise, in einem rechteckigen, flachen Container auf dem Hof. O-Ton - Jannik im Schulcontainer: Andrea Rudolph: Kannst du mir sagen, hier auf der Karte zeigen, wo wir gerade sind? Jannik: Boooh, weiß ich nicht... Andrea Rudolph: Wo würdste das zuordnen? Wenn hier Hamburg ist und hier Berlin... Das ist Bremen, ist 'n bißchen hoch - hier oben ist die Nordsee. Lars: Hier so tief. Andrea Rudolph: Genau. Hier ist Dortmund, Düsseldorf, da kommst Du her... Jannik: Wo? Dortmund. Andrea Rudolph: Düsseldorf? Jannik: Dortmund. Lars: Hier sind wir. Jannik: Düsseldorf. Andrea Rudolph: Sind wir hier. Sprecherin: Der Schulabschluss ist für die meisten ein fernes Ziel. Zwei der Jungs besuchen mittlerweile eine reguläre Förderschule, in Emmerich und Kleve. Lars wird jeden Morgen die 15-Minuten-Strecke mit dem Auto gebracht. O-Ton - Lars (Jugendlicher): Lars: Ich hatte keine Lust am Anfang. Ja, jetzt ist mir klar geworden, dass ich Schule brauche, Schule machen muss, ja, um meinen Abschluss zu kriegen und dies und das. Frage: Kannst du dich erinnern, dass du irgendwann gemerkt hast: Das ist jetzt das, was ich will? Lars: Ja, ich hab einmal 'n Gespräch gehabt, da haben die gesagt: "Du weißt, du musst Schule machen, das ist deine letzte Chance oder sowat", ja -- da haben die mir mal erzählt, wat 'n Hartz IV kriegt und da hab ich mir gedacht: Nee, damit würd' ich nicht klarkommen. Und dann hab ich mir gedacht: Ich mach meine Schule, 'n guten Abschluss, dann weiter Schule machen und dann gucken, wat weiter kommt. Sprecherin: Lars ist im April 2008 wenige Wochen vor Andreas hier eingezogen, als einer der ersten Bewohner in "Haus Ausblick". O-Ton Lars (Jugendlicher): Frage: Würdest du sagen, dass dein Aufenthalt hier, deine fast anderthalb Jahre hier, dass die dir gut tun? Lars: Ja. [nachdenklich] Ich finde, die haben mir sehr gut getan. Wär ich jetzt in ... geblieben, würd' ich gar nicht hier sitzen. Ich bin froh, dass ich hier gelandet bin, dass ich die Kurve gerade kriege, und ich bin einfach - einfach nur froh. Ja! Frage: Viele sind noch nicht soweit, ne? Lars: Nä. Frage: Da hacken auch einige auf dir rum, ne? Lars: Ja, weil ich und der Maro sind die einzigsten eigentlich, die soweit sind, wegen schulemäßig, und dies und das und das. Ja. Frage: Meinst du, die andern sind auch 'n bißchen neidisch, dass die das noch nicht geschafft haben? Lars: Ja. Es gibt noch drei, die noch vielleicht noch kriminelle Gedanken haben, aber ich hab se nicht mehr. Ich will se nicht. Fertig. Atmo - Rap Du weißt ganz genau, ab heute bin ich der Chef ? sei ruhig und schreib deinen Text ... O-Ton Jan-Philip Maaßen (Betreuer): Wir haben den Räuber, wir haben den Schläger, wir haben aber auch den Jugendlichen, der es nicht erwarten konnte, Auto oder Roller zu fahren. Sprecherin: Timo ist 14. Vor drei Jahren fing er an, fast jeden Tag Fahrräder oder Handys zu klauen. Von den "Einnahmen" hat er Haschisch gekauft. Das hat ihm rund 40 Anzeigen eingebracht. O-Ton Timo (Jugendlicher): Frage: Haste das Gefühl, du hast hier was gelernt oder dich verändert, seit du hier bist? Timo: Ja, nicht immer mehr so der Mitläufer zu sein. Frage: Warste in eurer Bande immer der Mitläufer? Timo: Ja, ab und zu auch. Frage: Und wie machstes jetzt anders? Timo: Ja, einfach nicht mehr machen, wenn ich das nicht will. Wenn ich dat möchte, mach ich dat. Sprecherin: Timo hat ein rotbäckiges Engelsgesicht, glatte, blonde Haare, lange Wimpern und einen unschuldigen Blick. O-Ton Timo (Jugendlicher): Frage: Haste denn eigentlich, seit du hier bist, noch was geklaut? Timo: Ja, 'n Autoradio. Und Wodka und so. Und Geld aus'm Büro. Frage: Und was ist dann passiert? Timo: Anzeige. Frage: Bei der Polizei? Timo: Ja. Sprecherin: Straftaten werden im "Ausblick" angezeigt. Immer. O-Ton Timo (Jugendlicher): Frage: Und dann? Jugendarrest oder irgend so was? Timo: Nee. Da war ich ja noch dreizehn. Frage: Und seit du 14 bist? Timo: Nee. Frage: Und warum ist seitdem nix mehr passiert? Timo: Keine Ahnung. Paß jetzt besser auf. Atmo - Mittagessen mit Kohlrouladen [Tischdecken, Bestecke, Schüsseln, Kohlrouladen - Schimpfworte, Durcheinander...] Sprecherin: Beim Mittagessen ist Timo gereizt. Die Hauswirtschafterin hat Kohlrouladen gemacht. Die mag Timo nicht. Genervt wickelt er das Fleisch aus dem Kohl und verteilt die Blätter samt Sauce auf dem Tisch. Plötzlich nimmt er den Hackfleischklops und schmeißt ihn mit Wucht die steile Küchentreppe runter. Die Betreuer bleiben ruhig, damit die Situation nicht eskaliert. O-Ton Daniel Paschen (Betreuer): Daniel Paschen: Der hat wie verrückt gegen die Betreuertür getreten, weil er Hunger hatte, wollte noch 'ne Kohlroulade haben; da musste ich ihm leider sagen, dass die nicht mehr da sind, vorhanden, dass jetzt alles aufgegessen ist; ja, und da war er natürlich sehr sauer, und da ging erst mal gar nix, und dann hab ich ihm nachher angeboten, wir können ja was anderes machen, jetzt 'ne Portion Kellogg's oder sonst irgendwas essen. Der ist handgreiflich geworden dann. Frage: Das heißt was? Daniel Paschen: Er hat versucht, mich zu schlagen und zu schubsen. Atmo - Mittagessen mit Kohlrouladen Sprecherin: In "Haus Ausblick" wird permanent gerangelt, gekämpft, die eigene Position bestimmt. Die Gruppe ist das Bezugssystem. Die Methoden der Hackordnung: Sich gegen andere zusammenschließen, sie beklauen, erpressen, manchmal körperliche Gewalt, öfter runtermachen und demütigen. Atmo - Nach dem Mittagessen [Küche aufräumen, Durcheinander, laut ? Schlüssel] Sprecherin: Jannik ist dick und breitbeinig. Der 13-Jährige markiert gern den Macker. Als alle die Küche aufräumen, nimmt er dem schwächeren Lars einfach das Handy ab. Jannik flitzt die Treppe runter, versteckt das Handy, und Lars braucht einen Moment, um sich Gehör zu verschaffen. Schließlich findet die Hauswirtschafterin das Handy im Badezimmer neben der Küchentreppe. Die Jungs müssen ihren Platz in der Gruppe stets aufs Neue verteidigen. Und Lars ist der Kleinste, sagt Betreuer Thomas Jezewsky. O-Ton Thomas Jezewsky (Betreuer): Der gibt eigentlich gerne immer alles ab, um sich beliebt zu machen und auch, wenn er unter Druck gesetzt wird; äußert dann das so nicht, aber wir merken das ja, und jetzt sprech' ich einfach das Zimmerverbot aus dann. O-Ton Andreas (Jugendlicher): Frage: Habt Ihr 'ne Hackordnung? Wer oben steht und wer unten steht und wer sich in der Mitte lümmeln darf? Andreas: Ja, nee, nicht so wirklich. Frage: Sagen wir mal, in der Hackordnung, die 's nicht wirklich gibt, wo stehst du denn da? Andreas: Ganz unten. Frage: Das glaub ich dir nicht. Kein Wort glaub ich dir! Andreas: Nee, so - zwei oder eins. Frage: Ihr rangelt so darum, wer der Leitwolf sein darf im Rudel. Andreas: Ja. So kann man's auch sagen. O-Ton Monika Vogel (Leitung "Haus Ausblick"): Das ist das Schwierige, dass die auf dem Hof in Gruppe sind. Und das darf man nicht vergessen, dass die alle aus Bandenkriminalität kommen und dass die, sobald die in Gruppe sind, ihre Hierarchien herstellen müssen. Atmo - Geschrei beim Mittagessen Jannik blökt recht laut... Jannik: Die nimmt auf! Timo: "Nimmt die auf?" Jannik: "Wat soll die Kacke?" O-Ton Monika Vogel (Leitung "Haus Ausblick"): Körperlich gewalttätig hält sich das sehr im Rahmen, hier. Ich glaube, dass die Gewalttätigkeit, womit die sich bestrafen, womit die sich verletzen, dass das was zu tun hat mit ihren Lebensgeschichten, und da sind die nicht nur alle traumatisiert, sondern die wissen auch, dass die anderen auch genauso traumatisiert sind. Das heißt, die wissen, wo die anderen verletzbar sind und verletzlich sind, und da hauen die rein. O-Ton - Lars (Jugendlicher): Ich sag, das ist einfach nur asozial. Sprecherin: Ich spreche Lars an; will von ihm wissen, was er über den gewalttätigen Angriff in der Münchener S-Bahn denkt. Zwei Jugendliche hatten im September 2009 einen Mann zu Tode getreten, der sie hindern wollte, eine Gruppe jüngerer Mädchen auszurauben. O-Ton Lars (Jugendlicher): Okay, ich hab das früher zwar selber gemacht, aber dat ist das Schlimmste, was de machen kannst. Das ist einfach nur asozial, Scheiße, dadurch verbauste dir viel, und so halt Sachen. Frage: Hast du andere auch abgezogen? Lars: Ja, dat nich so... Frage: ... eher so mal zugeschlagen? Lars: Ja. Okay, sagen halt welche: Ich halt mich da raus, ich will nicht auch sterben, deswegen. Oder ich will auch nicht totgeschlagen werden. So, aber das ist so: Zugucken und gar nichts machen ist auch 'ne Straftat. Ist genauso gut, die kriegen sogar, die Leute, die zugucken, kriegen mehr einen auf den Sack, wer den einen totgeschlagen hat. Weil der hat Beihilfe, heißt dat dann. Die Leute, die zugeguckt haben, gehören direkt weg mit. Fertig. O-Ton Andreas (Jugendlicher): Frage: Hast du unter deinen Straftaten auch Körperverletzung, oder-- Andreas: Ja. Frage: Du hast auch schon mal zugehauen? Andreas: Ja. Sprecherin: Wenn ich mit einem der Jungs allein bin, sind sie völlig anders als in der Gruppe. Entspannter, freundlicher, zugänglicher. O-Ton Andreas (Jugendlicher): Frage: In München war das so, dass viele zugeguckt haben und keiner hat was gesagt ... - du würdest auch nicht mithelfen? Andreas: Na, ich weiß nicht, wenn ich die Jungs vor mir sehe - ich weiß ja nicht, was das für welche sind. Ob das so durchtrainierte Tiere sind oder ob das so normale Jugendliche sind, kommt auf die Situation an, ob die Waffen haben oder ob die keine Waffen haben. Frage: Findste das prinzipiell gut, Schwächeren zu helfen, oder ist das einfach dämlich, weil man sich besser mit den Stärkeren zusammen rauft? Andreas: Ja, ich würd' vielleicht nicht direkt helfen, so dahingehen, aber Polizei erst mal so rufen. Oder noch anderen Bescheid ... , also nicht allein dahingehen. Zum Beispiel noch andern, da in der Bahn oder wo das war, sagen: "Komm, helf mal jetzt mit!" Also, ich würd' nicht allein dahingehen. O-Ton Winni Möller (Betreuerin): Die Jugendlichen erzählen schon über ihre Straftaten, erst recht, wenn man sie unter vier Augen ist, und sie sagen dann auch meistens die Gründe, warum es passiert ist. Einer wollte, ja, die Mutter damit bestrafen, so kleine Sachen gemacht, die allerdings strafrechtlich verfolgt werden; 'n anderer eben aus Langeweile -- Also, untereinander wissen sie sowieso Bescheid über ihre Straftaten. Atmo - Rap Mein Rap burnt dich weg ... - Junge, geh' deine Schnauze putzen ... - mir egal, ich bleib auf dem Boden und nehm' immer noch Drogen. Atmo In Andreas' Zimmer Nicole Oetinger: Ich komm. Die telefoniert. Weil, eigentlich bin ich ja hier Mädchen für alles. "Haste mal Klopapier?" - "Kannste mal mein Zimmer aufschließen?" - "Ich hätte da mal 'ne Frage..." [Schritte auf dem Weg zu Andreas' Zimmer.] Frage: Diplom-Mädchen für alles. Nicole Oetinger: Diplom-Summa-cum-laude-Mädchen-für-alles. [lacht] Alte Frauenrechtlerin - hier vergisst man das. [öffnet Andreas' Zimmer.] Frage: DAS nennst du besonders UNOrdentlich? Nicole Oetinger: Er ist eigentlich total ordentlich. Es ist ihm immer auch ganz wichtig, wie so sein Reich aussieht. Andreas: Nee. Jetzt nicht mehr. Sprecherin: Andreas ist ein großer Fan von Michael Jackson. Er hat einen Michael-Jackson-Hut, CDs, eine alte Schallplatte, Poster und Fotos an den Wänden. Michael Jackson, der Superstar - Michael Jackson, das einsame und geschlagene Kind, dem die Kindheit weggenommen worden ist. Atmo Andreas' Kuscheltiere Frage: Hast ja noch 'n paar Kuscheltiere auf dem Schrank. Andreas: Uralte! [Holt sie runter.] Frage: Der ist ja süß! Ein Weihnachtsbär. Andreas: Ja, voll alt sind die. Frage: Haste die mitgebracht, als du hergekommen bist? Andreas: Ja. [Der Hund singt leiernd.] Die Batterie ist fast leer. Frage: Ein Hund, der singt. Ist ja geil. Von wem haste den denn gekriegt? Andreas: Keine Ahnung. (Stellt den Hund ab.) Doch, hier hab ich den gekriegt, wo ich neu war, von der Psychologin. Frage: Und deinen Weihnachtsbären? Andreas: Den hab ich, wo ich acht war, glaub ich, gekriegt, oder sechs. Sprecherin: Auf dem Sofa ein paar zerknitterte Klamotten, oben auf dem Schrank Kuscheltiere: ein Plüschhund, ein Weihnachtsteddy. In einer Ecke ein halbfertiger Bretterverschlag, der mal ein Tonstudio werden sollte. Andreas spielt an meinem Aufnahmegerät herum; er produziert absichtlich Rückkopplungen. Jannik und Timo kommen ins Zimmer. Atmo Rap: Timo rappt O-Ton Andreas (Jugendlicher): Andreas: Kennen Sie den Film Wut? Frage: Ist das der von diesem türkischen Jugendlichen, der den andern immer abzieht, und der ist Professorensohn und wehrt sich nicht richtig? Andreas: Ja, genau. Frage: Ich hab nur Teile davon gesehen - kennst du den ganz? Andreas: Klar. [räkelt sich] Der Schauspieler ist geil. Frage: Welcher Schauspieler? Andreas: Der Türke. Oktay Özdemir heißt der. Frage: Aber der ist ziemlich krass in dem Film, ne? Andreas: Ja, ist doch gut. Frage: Das ist gut? Andreas: Ja. Sprecherin: "Wut" ist ein Fernsehfilm von Züli Alada? mit dem deutsch-türkischen Schauspieler Oktay Özdemir. Gefällt Andreas die Gewalt in dem Film? Er lehnt sie jedenfalls nicht ab. O-Ton Andreas (Jugendlicher): Frage: Ey, hör mal, neulich haben wir über U-Bahn-Schlägereien geredet, erinnerste dich?, da haste gesagt, findeste nicht gut, wenn-- Andreas: Ja, das ist ja was anderes, 'ne U-Bahn-Schlägerei! Frage: Du hast gesagt, wenn 'ne Gruppe Ältere die Jüngeren abzieht, findeste Scheiße. Andreas: Der war ja nicht älter! Frage: Ist dann der türkische Jugendliche sozusagen der Held, der den anderen - der ist ja aus so wohlhabenden Verhältnissen, der andere -, ist das gut, wenn der den abzieht? Andreas: Der ist gleichberechtigt. [lacht] Frage: Gewalt ist nie gleichberechtigt, egal in welche Richtung das geht! Andreas: Dann ändern wir halt das Thema jetzt. Sprecherin: Einige der Jungs klauen weiter, während sie in "Haus Ausblick" wohnen. Jeder Diebstahl wird bei der Polizei angezeigt. Aber der Betreffende fliegt nicht sofort raus - er bekommt noch eine Chance. O-Ton Jan-Philip Maaßen (Betreuer): Solche Straftaten, da gibt's 'n großes Interesse für, das stellt auch irgendwo die Hierarchie im Haus klar, bei uns in der Wohngruppe, aber die Jugendlichen sehen sich 24 Stunden am Tag, die wachsen auf wie Geschwister, sehr intensiven Kontakt haben die miteinander, ja, und da findet man sehr schnell heraus, dass der Jugendliche auf jeden Fall nicht fünf Leute verhauen hat. Zum Beispiel. Und da hört man schon mal: "Ja, pass mal auf, ich hab schon räuberische Erpressung!" - so ungefähr-, "Du blöder Autodieb, halt mal schön die Füße still", so ungefähr. Sprecherin: Fakt ist: Andreas hat keine Straftaten mehr begangen, seit er in "Haus Ausblick" lebt. Ein Erfolg. Betreuer Jan-Philip Maaßen: O-Ton Jan-Philip Maaßen (Betreuer): Dass die jetzt zu uns kommen und durch die Tür gehen und sind straffrei und erzählen uns von ihrem Problem - das ist natürlich totaler Quatsch. Manche erzählen auch von Anfang an, weil sie sofort eine Atmosphäre auffinden, die sie bisher gar nicht kannten und sich so wohlfühlen; manche checken uns aber auch über Jahre ab. O-Ton Nicole Oetinger (Psychologin): Einige unserer Jungs sind schmerzunempfindlich, wärme-, kälteunempfindlich, also das sind alles Dinge - sie können nicht spüren, wann sie Hunger haben oder wann sie satt sind, was kitzelt, was schön ist, was streicheln ist; da boxt man sich lieber auf den Arm oder tritt sich irgendwo hin, als mal 'n zärtliches Gefühl zuzulassen. Das sind Dinge, die sie alle hier lernen können, und die sie dann mit großen staunenden Augen aufnehmen und dann gleich draußen weiterprobieren - [lacht] das ist nicht immer zur Freude der anderen. Sprecherin: "Draußen weiterprobieren" kann auch heißen: Einfühlungsvermögen gegenüber Fremden beweisen. Andreas hat zwei Praktika gemacht, in der Gastronomie und in einer Autowerkstatt, und die Chefs haben ihn hoch gelobt. O-Ton Monika Vogel (Leitung "Haus Ausblick"): Also, einmal kann der höflich sein und zuvorkommend sein. Aufgrund seiner Geschichte, hat der ein unglaubliches Gespür für Menschen. Der ist hochsensibel, therapeutisch würde man sagen, der ist sehr, sehr schwingungsfähig oder resonanzfähig - und da zu gucken: Wofür kann der diese Fähigkeit, die der entwickelt hat, damit er durchkommt in seinem Leben, wie kann der die anders nutzen? Sprecherin: Andreas hat - wie alle Jungs in "Haus Ausblick" - eine schwierige Familiengeschichte. Sein älterer Bruder sitzt wegen Diebstahls im Knast. Andreas ist bei seiner Großmutter aufgewachsen. O-Ton Andreas (Jugendlicher): Frage: Wo ist deine Mutter? Andreas: Keine Ahnung. In Deutschland. Das weiß ich. Frage: Seit wann ist die weg? Andreas: Ähm - 14 Jahre. Frage: Also, deine Mutter war eigentlich nur da, als du Kleinkind warst? Andreas: Ja. Frage: Und dein Vater -- oder bist du dann direkt zu deiner Oma gekommen? Andreas: Also, ich war bei meiner Tante, danach bei meinem Vater, und weil mein Vater arbeiten musste, der konnt' mich nicht allein zu Hause lassen, bin ich zu meiner Oma gekommen. Frage: Und seit wann bist bei deiner Oma gewesen? Andreas: Seit ich drei bin. Kurz bevor ich vier wurde. Das war so: Ich war bei meiner Tante. Zum so, Wochenendbesuch war das. Die wollte mich dahinbringen, hat meine Mutter die Tür nicht aufgemacht. Hat die gesagt, nein und so was. Dann bin ich wieder mit zu meiner Tante, hat meine Tante meinen Vater angerufen und so was, [isst ein Schokobonbon] dann gab's 'n bißchen Stress, und dann bin ich nicht mehr bei meiner Mutter gewesen. Frage: Hat deine Mutter dir gefehlt, als sie weg war? Andreas: Nee.[knistert] Nee, warum soll die mir fehlen? Ich brauch die doch nicht! Sprecherin: Trauer oder Wut kann oder will Andreas nicht spüren. Eine Herausforderung für die Psychotherapeutin. O-Ton Nicole Oetinger (Psychologin): Da muss man schon wirklich gut Bescheid wissen und ganz genau die Grenzen dessen kennen oder genau wissen, wie man Zugang zu jemand findet, der die Mauer so hoch hat, und mit Sprengstoff und Stacheldraht versehen, dass man eigentlich nur zu Schaden kommen kann, wenn man näher tritt. Aber 's ist wichtig zu verstehen, wo's herkommt; das ist auch für die Jungs wichtig, das entlastet sie auch, weil es ihnen ein Stück der Verantwortung nimmt; und so können sie's auch wieder lernen, weil sie merken: "Okay, wenn ich jetzt das bekomme, was ich eigentlich brauche, dann kann ich einen anderen Weg gehen." O-Ton Monika Vogel (Leitung "Haus Ausblick"): Diese Jungs, die bei uns sind, haben alle ein schwieriges Verhältnis zu ihren Müttern. Das ist so. Das sag ich auch öffentlich. Ich möchte da nicht missverstanden werden; wenn ich sage: Die Jungs haben dadurch 'ne Problematik, durch die Schwierigkeit mit ihren Müttern, heißt das für mich nicht, dass ich damit den Müttern die Schuld gebe! Das finde ich ganz wichtig. Sondern es ist so, diese Mütter haben zum Teil unter extrem schlimmen Bedingungen gelebt. Diese Mütter sind enttäuscht, diese Mütter sind vielleicht belogen und betrogen und um ihre Liebe, um ihr Leben, um ich weiß nicht was. Und ein Kind, was die Liebe und Aufmerksamkeit will und braucht von der Mutter und was auch die Mutter lieben will, und wozu die Mutter in dem Moment gerade nicht in der Lage ist. Und deshalb ist es so fatal. Sprecherin: Damit die Jungs später nicht in das gleiche Umfeld zurückkehren, aus dem sie gekommen sind, ist es wichtig, ihre Familien mit einzubeziehen - oder was von ihnen übrig ist. Das klappt unterschiedlich gut. Atmo Andreas' Kuscheltiere Andreas: Ja. [Der Hund singt leiernd.] Die Batterie ist fast leer. Frage: Ein Hund, der singt! Andreas: Ja die Batterie ist fast leer. O-Ton Nicole Oetinger, Andreas (Psychologin, Jugendlicher): Nicole Oetinger: Und auch wenn's hier 'ne große Hackordnung gibt und Gefühle Schwäche sind in diesem Haus, gibt es doch so was, dass der eine sich um den andern kümmert, schon mal zu mir kommt und sagt: "Dem geht's heute ganz schlecht, geh mal dahin." Oder: "Ich geb dem meine Stunde ab." Sie haben durchaus auch schon mal Mitgefühl mit andern. Andreas: Ich hab kein Mitgefühl. Frage: Du hast kein Mitgefühl? Andreas: Doch, einmal hat ich das nur, sonst aber nicht. Das war, wo der ... HPG hatte. Frage: Hilfeplangespräch? Andreas: Ja. Frage: Und warum hatteste da Mitgefühl? Andreas: Weil das so 'n kleiner Asylant ist, der nichts hat. Deswegen. Frage: Und da haste gedacht, in dem Gespräch machen die den ein? Andreas: Nee, die Mutter wollte halt, dass der wieder nach Hause kommt, das Jugendamt wollte 's nicht, der hat dann halt so keine feste Meinung gehabt. Und dann hatten die halt so 'n Übersetzer dabei, und der Übersetzer hat dann alles falsch gesagt, was die Mutter gesagt hat. Frage: Und da hat der ... dir leid getan. Andreas: Ja. Atmo - Billardspiel auf der Tenne [Andreas: "So, Paschen, jetzt zieh ich dich aber ab!" Daniel Paschen: "Ja, lass krachen". - Billardkugel rollt.] Sprecherin: Auf der Tenne spielen Andreas und Daniel Paschen Billard. Atmo - Billardspiel auf der Tenne Sprecherin: Ein Kicker und Fitnessgeräte stehen hier, ein paar alte Tische und Regale. Atmo - Billardspiel auf der Tenne [Andreas: "Darf ich die halbe auch zuerst anspielen?" Daniel Paschen: "Welche meinst du damit?" Andreas: "Wenn ich die zuerst anspiele."] Sprecherin: An den Wänden hängen Decken; die hohe Halle lässt sich nicht heizen. Atmo - Billardspiel auf der Tenne [Daniel Paschen: "Welche wolltste denn versenken?" Andreas: "Die Volle." Daniel Paschen: "Musst die Vollen erst anspielen direkt".] Sprecherin: Es ist zugig, kalt und klamm. Draußen regnet es. Ich friere. Atmo - Billardspiel auf der Tenne [Billardkugel rollt - Andreas: "Wenn du die rein machst, biste voll läppisch. Is' so Herr Paschen! Triffst eh nicht. - Auf die Nasenspitze?" Frage: "Bin ich jetzt weiß?" Andreas: "Is' ja wenn blau, aber is' nix."] Sprecherin: Andreas steht mir gegenüber auf der anderen Seite des Billardtisches. Er tippt mit dem Queue ganz vorsichtig auf meine Nasenspitze. Zart fast. Ich halte still. "Ist meine Nase jetzt weiß?" - "Wenn, wäre sie blau", sagt Andreas. "Aber is' nix." Ein Freund von Andreas war im Boxcamp, in der Nähe von Kassel. Dort, wo gewalttätige und straffällige Jungs mit einem rigiden Tagesprogramm und viel Sport lernen, sich im Leben legal und gewaltfrei durchzuboxen. "Wir schaffen es" heißt das Motto im Boxcamp, einer Jugendhilfeeinrichtung von Lothar Kannenberg. O-Ton Andreas (Jugendlicher): Frage: Was müssen die da denn machen, in dem Boxcamp? Andreas: Um sechs aufstehen, dann dir 'ne halbe Stunde Sport von sechs bis halb sieben, das ist voll übertrieben gemacht, die haben gar keine Freizeit für sich. Nix haben die. Kannenberg ist ja keine Einrichtung, das ist ja sehr übertrieben alles gemacht. [Kreide auf Queue hörbar] Frage: Und das hier ist kein Erziehungscamp? Andreas: Nä! Frage: Wie nennst 'n das hier? Andreas: Ja, Wohngruppe. [schmunzelt] Frage: Ja, stimmt ja auch. Außenwohngruppe. Außen von allem. Andreas: Genau. [lacht] Also. ist nicht so'n Camp - aber hier is' so keine Möglichkeit, Scheiße zu bauen. Geht gar nicht, das Ist so abgelegen. O-Ton Marita Ahsendorf (Erziehungswissenschaftlerin): Es ist so, dass mir ein Jugendrichter in Frankfurt erzählt hat, dass er Jugendliche schon vor Gericht hatte, die gesagt haben: "Also wenn ich schon dahin muss, dann möcht' ich gern zu Kannenberg." Kannenberg ist Kult geworden. Sprecherin: Die Erziehungswissenschaftlerin Marita Ahsendorf hat verschiedene Einrichtungen für jugendliche Straftäter gesehen. "Haus Ausblick" ist kein "Erziehungscamp" - ein Begriff, der nicht definiert ist, aber an US-amerikanische "Bootcamps" erinnert. In der politischen Debatte symbolisiert er hartes Durchgreifen. "Haus Ausblick" ist auch keine geschlossene Einrichtung. Jugendliche, die sich nicht an die Regeln halten, die nur noch auf Zwang reagieren oder gar nicht mehr erreichbar sind, haben hier keinen Platz. O-Ton Nicole Oetinger (Psychologin): Unser Konzept ist ein gutes Modell, für mich das Beste, aber man kann nicht jeden damit erreichen. Es ist auch so, dass wir Grenzen haben, und das haben wir hier auch schon erkannt, und ich glaube, dass mancher Jugendliche, der auch unter diesem therapeutischen oder diesem intensiv-pädagogischen, therapeutischen Setting nicht mehr zu erreichen ist, dass der eine andere Form der Unterbringung braucht, die manchmal auch Gefängnis ist. Atmo Unruhiges Abendessen [Abendessen mit Brot und Aufschnitt, "Gib mir die Flasche!", recht unruhig, lebhaftes Durcheinander, Stimmengewirr] Sprecherin: Abendessen in "Haus Ausblick". Brot und Butter, Wurst und Käse, Weintrauben. Andreas schiebt Brotscheiben in den Toaster. Jannik reagiert zunehmend aggressiv auf meine Aufnahmen. Immer öfter gehe ich in Deckung, damit er die Kabel nicht aus dem Gerät reißt. Die anderen Jungs schreien und blöken ins Mikrophon. Atmo - Unruhiges Abendessen ["Haste Beatbox gemacht?" - "Live im Fernsehen?" Jungs durcheinander. "Beatboxen auf der Bauernstraße 68."] Sprecherin: Ich fühle mich zunehmend als Störfaktor. Das ist anstrengend, und ich reagiere gereizt. Atmo - Unruhiges Abendessen [Jungs: "Party Party, Mettwurst und 'n Bier. Party mit Nudelsalat. Hurensohn. Hör auf, wir wollen auch noch essen."] Sprecherin: Jannik legt eine undichte Milchtüte auf einen Teller in der Mitte des Tisches. Andreas will ihn stoppen; Timo lacht. Jannik hebt beide Arme zur Faust und lässt sie mit aller Wucht auf das Tetrapack sausen. Atmo - Unruhiges Abendessen [Geräusch: PENG! Splash! "Schwein."] Sprecherin: Die Tüte platzt an beiden Enden auf, Milch ergießt sich über den Tisch und uns alle. Atmo - Unruhiges Abendessen [Timo: "Wolln Sie'n Handtuch?"] Sprecherin: Daniel Paschen hat gerade aus der Vorratskammer Getränke geholt. Der Pädagoge ist jetzt mindestens so gereizt wie die Jungs. Jannik verteidigt sich, ohne rot zu werden: "Das war nicht mit Absicht!" Alle müssen jetzt mit aufräumen und putzen. Andreas ist sauer - er fühlt sich ungerecht behandelt. O-Ton Andreas (Jugendlicher): [Atmo: Wischgeräusche] Frage: Du kannst mir ja auch erklären, wie das so war! Andreas: Gut! Frage: Was war daran gut deiner Meinung nach? Andreas: Ja, alles! Frage: Bisschen Verschwendung von Milch, ziemlich viel Durcheinander, jede Menge Geschrei - und was haste dann davon? Andreas: Ja, Kino! [lacht] Frage: Du musst den Dreck wegmachen. Andreas: Ja, muss ich jeden Abend wischen. Ob da was ist oder nicht. Atmo - Rap Das sind die Kids - mein Deutschland ist endlich frei - ich weiß ich fühl mich vogelfrei ? Junge, du bist ein Opfer, der die Schnauze hält ... Junge, weißt du wer ich bin? ? Junge, du bist ein Opfer, nichts weiter ... willst du rappen oder was? ? das sind meine Reims ... Sprecherin: Alltag in "Haus Ausblick" ist jeden Tag anders. Nie vorhersehbar. Nie planbar. Ständig passiert etwas, auf das man nicht vorbereitet ist. Trotzdem bin ich froh, dass meine Interviews bald abgeschlossen sein werden. Die Jungs in "Haus Ausblick" sind mir ans Herz gewachsen - aber sie strapazieren auch meine Geduld. O-Ton Monika Vogel (Leitung "Haus Ausblick"): Aushalten hat ganz viel damit zu tun: Du bist es mir wert. Aushalten hat was mit Professionalität zu tun; aushalten hat was damit zu tun, wenn mich ein Jugendlicher beschimpft und sagt zu mir: "Sie Hure!", dann kann ich mich persönlich darüber aufregen und sagen: "Ich möchte nicht so angesprochen werden! Ich find das verletzend und verachtend", und ich muss in der Lage sein, für mich immer noch klar zu haben: Ich bin im Grunde nicht gemeint, ich bin gerade Projektionsfläche. Und das ist mit dem Aushalten gemeint. Und je nachdem, wie auch verbal übergriffig 'n Jugendlicher ist oder auch körperlich, ist das nicht einfach. Atmo - Jungs und Erzieher draußen [Daniel Paschen: "Geh mal nach draußen, schönes Wetter. Was meinste?"] Sprecherin: Wer in "Haus Ausblick" arbeitet, ist besonders motiviert - und besonders gefordert. Denn die Erzieher geben Regeln vor - und die Jungs brechen sie. Die Pädagogen ziehen Grenzen - und die Jungs überschreiten sie. Das kostet Kraft, und das fällt nach Dienstschluss von keinem einfach ab. Viele Mitarbeiter haben nach kurzer Zeit aufgegeben. O-Ton Monika Vogel (Leitung "Haus Ausblick"): Ich find's ganz schwierig, Menschen zu finden, die das aushalten können und dabei dennoch weich sind, das Herz an der richtigen Stelle haben, wirklich 'n Herz haben für diese Jugendlichen, sonst geht das gar nicht, die offen sind, die jeden Tag wieder neu gucken: Wer bist du? Die versuchen zu verstehen: Was hat man dir angetan, dass du so geworden bist? Dazu gehört Selbsterfahrung, Lebenserfahrung, am besten Therapieerfahrung, das ist ganz wunderbar; viel Kreativität, Wissen über Traumata, auf jeden Fall. Und bei allem zwischendurch auch Erschöpftsein oder vielleicht auch Sauersein, vielleicht auch Angenervtsein, trotzdem auch 'n ganzes Stück Hochachtung haben vor dem, was die als kleine Kinder für sich als Überlebensstrategien entwickelt haben. Sprecherin: Eine Mitarbeiterin, die vorher Jugendliche in einer Haftanstalt betreut hatte, verliess "Haus Ausblick" nach ein paar Monaten entnervt und erklärte: "Ich hätte nie gedacht, wie erleichternd es ist, wenn man hinter einem Jugendlichen eine Tür abschließen kann." O-Ton Jan-Philip Maaßen (Betreuer): Man muss sich wirklich vorstellen, dieser Job ist extremst anstrengend und belastend. Man baut 'ne Beziehung auf, das heißt, die Probleme bleiben nicht nur beim Jugendlichen, die betreffen einen auch selber; um so näher man in einer Beziehung steckt, um so mehr kriegt man auch ab. Ich bin natürlich der Doofe, der den Jugendlichen sagt, was alles falsch gelaufen ist und der jetzt erst realisiert; ich bin der, der Jugendlichen zum ersten Mal sagt: "So mein Freund, bis hierher und keinen Schritt weiter! So läuft das nicht!" Ich bin derjenige, der sich auf einmal Sorgen macht, und das sind ganz viele ungewohnte Situationen und Gefühle, die in den Jugendlichen aufbrechen, und man kriegt echt viel ab. Sprecherin: Viele der Mitarbeiter in "Haus Ausblick" haben sich bereits in einem anderen Job bewiesen, bevor sie Erzieher oder Pädagogen wurden. In ihrem ersten Beruf waren sie Bäcker, Bierbrauer, Tischler oder Maurer. O-Ton Jan-Philip Maaßen (Betreuer): Ich bring immer gern das Beispiel, ich wär' gern Maurer, dat schrei ich auch manchmal, man baut 'ne Wand auf und sieht, was man getan hat und, ach, wie toll! Und bei den Jugendlichen ist das einfach nicht so. Aber man bekommt auch, ja, viel, viel mehr wieder als von einer Wand. O-Ton Lars (Jugendlicher): Lars: Ich weiß nicht genau, wie lange ich noch hierbleibe, [Quietschen von Türangel im Hintergrund] was ich noch machen muss, welche Ziele ich noch erfüllen muss hier, ja. Schule muss ich weitermachen, werd ich auch tun, und je nachdem, gucken wo ich hinkomm', werd ich da auch weiter Schule machen, ja. Bis ich das habe, was ich haben will. Jetzt hab ich's eilig. Ich finde, für mich reicht dat. Atmo- Landstraße, Autos, Gänse Absage: Gefühl und Härte - "Haus Ausblick" Ein Feature von Beate Hinrichs Technische Realisation: Olaf Dettinger Regieassistenz: Tina Schimansky Regie: Thomas Wolfertz Redaktion: Gisela Corves Atmo - Monika Vogel geht: "Tschüß Jungs!" Schritte Treppe runter Absage: Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks mit dem Deutschlandfunk 2010. 2 2