COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Forschung und Gesellschaft, 12. November 2009 19.30-20.00 Uhr "Von Alemannisch bis Zapotekisch" Forschungen zu bedrohten Sprachen Autorin: Catherine Newmark Redaktion: Kim Kindermann Atmo Taa O-Ton "Das Exotische an Schnalzen ist eigentlich gerade, dass sie uns doch irgendwie vertraut sind, weil wir sie auch in Sprache verwenden..." Sprecher 1 Tom Güldemann ist Professor für Afrikanische Sprachen an der Humboldt- Universität zu Berlin und beschäftigt sich bereits seit mehreren Jahren mit südafrikanischen Schnalzsprachen: O-Ton "...nur eben in solchen Kontexten, die nichts mit normaler Sprache zu tun haben, also sogenannten paralinguistischen Phänomenen wie jemandem was verbieten und dabei "ts ts ts" machen oder ein Pferd antreiben und dabei "tlk tlk tlk" machen - das heißt also Schnalze sind eigentlich irgendwie exotisch, aber eben auch ganz nah, und deswegen für uns umso frappierender, dass man solche Laute in normale Sprache einbauen kann." Atmo Taa Sprecher 1 Das "Taa" ist eine Sprache, die im Kalahari-Becken in Namibia und Botswana gesprochen wird - allerdings nur noch von ein paar Tausend Leuten. Es gehört linguistisch zu den Khoisan-Sprachen und ist eine der sogenannten Schnalzsprachen, wie man sie vor allem im südlichen Afrika findet. Also eine Sprache, die neben Vokalen und Konsonanten auch Schnalzlaute benutzt. Atmo Taa Sprecher 1 Tom Güldemann leitet ein internationales Forschungsprojekt, das dabei ist, eine ganze Reihe von eng verwandten Dialekten im Kalahari-Becken linguistisch zu untersuchen und zu dokumentieren. Seit Jahren schon reist der Linguist immer wieder für Wochen oder Monate in die Region, sammelt Sprachdaten und versucht, die ausgesprochen komplexen Schnalze zu lernen. Das "Taa" kennt an die hundert solcher Schnalze. O-Ton "xyz - das war auf Taa ,ich weiß nicht'." Sprecher 1 Taa, das ist nicht nur eine zumindest für europäische Hörer ungewöhnliche Sprache, sondern auch eine Sprache, die in akuter Gefahr steht, von größeren Sprachen verdrängt zu werden und auszusterben. O-Ton "Dieses Gebiet, das südliche Afrika, ist insofern eben vergleichbar mit solchen Gebieten wie Australien, Nordamerika, dass sich eben schon seit Jahrhunderten dort eine große weiße Siedlerkolonie angesiedelt hat und dadurch auch die Dominierung durch diese Gruppe schon über Jahrhunderte so groß ist, dass bestimmte Sprachen dort verdrängt worden sind. Das ist weniger durch Genozid passiert, sondern die sind ihrer Subsistenz-Grundlage beraubt worden, und mussten sich sozusagen ökonomisch neu orientieren, und das ging meistens damit einher, dass sie sich der Siedlerkolonie und auch deren ökonomischen Verhältnissen angepasst hat und das was am Ende heute dazu geführt hat, in Südafrika sind eigentlich die indigenen Khoisan-Sprachen fast vollständig ausgestorben." Trenner Musik... Sprecher 1 Mit dieser Situation sind die Khoisan-Sprachen nicht allein auf der Welt. Anthropologen und Linguisten warnen schon seit Jahren davor, dass der Sprachreichtum dieser Erde schwer gefährdet ist. Bis Ende des Jahrhunderts könnten bis zur Hälfte der derzeit sechs- bis siebentausend Sprachen bereits ausgestorben sein. Die UNESCO hat darum vor einigen Jahren die Sprachenvielfalt zum "Intangible Cultural Heritage", zum unangreifbaren kulturellen Erbe, erklärt. Ein Erbe, das es zu schützen gilt. Sprecher 2 "The Atlas of the World's Languages in Danger", der Atlas der bedrohten Sprachen ist genau dazu da. Im Frühjahr dieses Jahres hat die UNESCO die bereits dritte Auflage herausgebracht. Zum ersten Mal ist das Werk interaktiv, als frei zugänglicher Online-Atlas verfasst, und jeder kann sich hier entlang von roten, gelben und schwarzen Fähnchen selbst ein Bild davon machen, welche Sprachen gefährdet, bedroht oder kritisch bedroht sind. Rund 2500 verschiedene Sprachen werden hier über den ganzen Globus verteilt einzeln aufgezählt, von Alemannisch bis hin zu Zapotekisch. Sprecher 1 Man sieht sofort: bedroht ist nicht gleich bedroht. In Europa scheint es oft etwas ganz anderes zu heißen als in anderen Weltteilen. Alemannisch - also unter anderem das Schwäbische und die Dialekte in der Schweiz, in Lichtenstein, im Vorarlberg und im Elsass - wird noch immer von Millionen von Menschen von Kindheit an gelernt. Dagegen zählen die verschiedenen Varietäten des Zapotekischen in Mexiko jeweils nur noch im besten Fall ein paar Tausend, im schlimmsten nicht mehr als ein gutes Dutzend Sprecher. Ähnlich viele der Khoisan-Sprachen im südlichen Afrika, die nur noch von wenigen Menschen gesprochen werden. Sprecher 2 Auch manche europäischen Minderheitensprachen werden nicht mehr von sehr vielen Menschen gesprochen - in Deutschland zählen etwa das Saterfriesische, das Südjütische oder das Sorbische auch jeweils nur wenige tausend Sprecher. Aber alle sind zumindest linguistisch gut dokumentiert und die meisten haben auch starke politische Vertreter, die sich für sie einsetzen. O-Ton "Es gibt verschiedene Indizien, die eine Sprache als bedroht charakterisierbar machen, ganz zentral ist ob die Transmission, die Übermittlung von Generation auf Generation noch funktioniert." Sprecher 1 ...sagt der Linguist Ekkehard König, emeritierter Professor an der Freien Universität Berlin. Das Überleben einer Sprache ist auch eine soziale und politische Frage: O-Ton "Und das ist möglich, wenn bestimmte äußere Bedingungen erfüllt sind, man hat angefangen Kriterien zu nennen wie die absolute Zahl der Sprecherinnen und Sprecher, aber die Zahl ist natürlich vage und sagt nicht sehr viel aus, also man sagt 10'000, aber es gibt auch Sprachen mit 10'000 Sprechern, die in keiner Weise gefährdet sind. Also zu den Bedingungen gehört dass sozusagen die sozialen Voraussetzungen für die Gemeinschaft da sind, in ihrem traditionellen Rahmen, oder im weiterentwickelten Rahmen, zu leben; zu den Voraussetzungen gehört, dass eine günstige Haltung der zuständigen Regierungsorgane gegenüber dieser Sprache da ist, und ihrer weiteren Pflege, so dass also zweitsprachige Unterrichts- Programme initiiert werden können." Sprecher 1 Als schwer bedroht gelten heute vor allem indigene Sprachen in Nord-, Mittel- und Südamerika, in Afrika, Asien und Ozeanien. Sprachen, von denen viele bisher noch nicht schriftlich verfasst geschweige denn wissenschaftlich dokumentiert sind. Verdrängt werden sie nicht nur von den Weltsprachen Englisch, Spanisch, Arabisch oder Chinesisch, sondern auch von regionalen Verkehrssprachen, in Afrika zum Beispiel das Swahili oder das Hausa. Was mit diesen Sprachen verloren geht, ist nicht nur linguistische Vielfalt. O-Ton "Viel gravierender ist der in den Sprachen sich manifestierende Blick auf die Welt, das kulturelle und sprachliche Wissen, was in diesen Sprachen gleichsam enkodiert ist und verschlüsselt vorhanden ist, das ist von hoher gesellschaftlicher, manchmal sogar ökonomischer Relevanz, dass mit diesem Verlust von Sprachen eben das Bio-Öko-System gravierend beeinträchtigt wird. Es ist ja auch bekannt, dass die größte Artenvielfalt und die größte sprachliche Vielfalt in den gleichen Regionen besteht. Was ich meine, mit sprachlich enkodiertem Wissen über Arten, über die Kategorisierung der Welt. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass in manchen Sprachen bestehende Vorstellungen, Kategorisierungen über Artenvielfalt bei Fischen, bei Holzarten, bei Bodenbeschaffenheit, weit über das hinausgehen, was die westliche Naturwissenschaft und die europäische Naturwissenschaft zutage gefördert hat. All das würde verloren gehen. Wissen, mögliches Wissen über Heilmittel, über die Verwendung von Pflanzen, die Kategorisierung von Pflanzen, die ja nicht immer, in diesen Gesellschaften, nach Linné erfolgt, sondern nach anderen Prinzipien, würde verloren gehen. Das ist das Gravierendste von allem." Sprecher 1 Linguisten in aller Welt versuchen darum heute, Sprachen zu retten. Oder zumindest wissenschaftlich zu beschreiben, in Tonaufnahmen zu dokumentieren, zu archivieren und damit für die Nachwelt zu erhalten. Die Sprachdokumentation ist mittlerweile zu einem der wichtigsten Zweige der Linguistik geworden. Tom Güldemann: O-Ton "Viele Linguisten verstehen das inzwischen als eine der Hauptaufgaben der derzeitigen Linguistik, wenn man überhaupt später auch mal theoretisch über Sprache arbeiten will, muss man überhaupt wissen, was alles an sprachlicher Diversität möglich ist. Das ist ein Aspekt, der eher wissenschaftliche Aspekt." Sprecher 1 Aus wissenschaftlicher Sicht ist nicht so sehr der Erhalt der sprachlichen Vielfalt das primäre Ziel. Vielmehr geht es zunächst ganz nüchtern darum, eine Bestandsaufnahme dessen zu machen, was überhaupt an Sprachen möglich ist, was für Sprachtypen es gibt, und welche Lautmöglichkeiten. O-Ton "Ein einfaches Beispiel, mal ein ganz trauriges Szenarium durchzuspielen: angenommen, die Schnalzsprachen im südlichen Afrika wären eher ausgestorben, hätte vielleicht kein Linguist jemals daran geglaubt, dass es sein kann, dass ein Schnalzen ein ganz normaler Laut in ner Sprache ist. Und von solchen seltenen Merkmalen gibt es natürlich hunderte." Trenner Sprecher 2 Die Dokumentationslinguistik ist mittlerweile international wichtig. Große Zentren und akademische Institute widmen sich bedrohten Sprachen. In Frankreich etwa das "LACITO" in Paris Villejuif, oder die Fondation Jacques Chirac; in London die School of Oriental and African Studies, in Nordamerika der "Endangered Language Fund". Das größte deutsche Programm zum Spracherhalt ist das sogenannte DoBeS- Projekt, eine Förderinitiative der Volkswagen-Stiftung. Das Kürzel "DoBeS" steht für "Dokumentation bedrohter Sprachen". Seit dem Jahr 2000 sind mehr als fünfzig internationale Sprachdokumentationsprojekte finanziert worden, von Nordamerika bis Südafrika, von Polynesien bis China. Sprecher 1 Ein wichtiger Bestandteil der Dokumentation von Sprachen ist heute neben dem Herstellen von Wörterbüchern, Grammatiken und Orthographien auch das Archivieren von Audio- und Videodaten. Mittlerweile gibt es weltweit mehrere Archive, die Sprachdaten zentral sammeln. Sprecher 2 Das Archiv des DoBeS-Projektes, das am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik im niederländischen Nijmegen angesiedelt ist, ist eines der größten. Das Archiv umfasst derzeit Audio- und Video-Aufnahmen von rund 60 im Rahmen der Initiative dokumentierten Sprachen. Daneben gibt es noch 17 Lexika, zahlreiche Fotos und Textdokumente sowie Feldnotizen und Grammatiken. Zudem gibt es hier sogar eine Forschergruppe, die sich eigens mit technischen Problemen der Datenarchivierung beschäftigt und versucht, Speicherformate zu entwickeln, die die Jahrhunderte überdauern. Schließlich sollen die Sprachen, auch wenn sie aussterben sollten, langfristig dem kulturellen Gedächtnis der Welt erhalten bleiben. Sprecher 1 Ein DoBeS-gefördertes Forschungsprojekt leitet auch Professor Manfred Krifka von der Humboldt Universität zu Berlin. Zusammen mit zwei Mitarbeiterinnen untersucht er eine Gruppe von Sprachen auf der Insel Ambrym, die zum Inselstaat Vanuatu im Südpazifik gehört - eine der sprachreichsten Regionen der Welt. O-Ton "Vanuato ist ein ziemlich interessanter Staat, weil es eben sehr viele Sprachen dort gibt. Die Einwohnerzahl ist ziemlich gering, das sind etwas 220'000 Einwohner, und es gibt so zwischen 80 und 100 Sprachen, die dort gesprochen werden. Das heißt das ist die größte Diversivität eines Staates überhaupt auf der ganzen Welt. Die Sprachen gehören alle den austronesischen Sprachen an, das heißt sie gehören einer bestimmten Sprachfamilie an, der größten Sprachfamilie der Erde eigentlich. Das heißt sie unterscheiden sich nicht sehr stark voneinander, aber es sind durchaus eigene Sprachen." Sprecher 1 Die deutschen Wissenschaftler untersuchen drei Sprachen im Westen von Ambrym. Sie heißen Dakaka, Dakikie und Ral-kalein und werden heute nur noch von insgesamt etwa 3000 Menschen gesprochen. O-Ton "Wir wollen eben grammatische Beschreibungen, Wörterbücher und anderes Material, Dokumentation von Erzählungen und anderen Sprachverwendungen, für diese drei Sprachen erstellen. Dafür haben wir drei Jahre Zeit und wir sind drei bis vier Mitarbeiter. Das ist das Ziel." Atmo Ambrym O-Ton "Wir haben angefangen zunächst mal Wortlisten abzufragen, da gibt es zum Teil Standard-Wortlisten, die wir dann aber erweitert haben. Daraus haben wir dann ein Lautsystem gewissermaßen rekonstruiert. Atmo Ambrym O-Ton "Dann haben wir erste Erzählungen aufgenommen und sind die dann sehr langsam durchgegangen, so dass wir gesehen haben, wo sind die Wortgrenzen - wobei das gewissermaßen durchaus auch theoretisch etwas ist, das man so oder so entscheiden kann." Sprecher 1 Die Arbeit mit Tonaufnahmen ist nicht nur für das spätere Archivieren wichtig; die Linguisten brauchen die Aufnahmen auch, um die Sprache selbst zu analysieren. Ein mühsames und langwieriges Geschäft. Von einem zweimonatigen Aufenthalt kommt Manfred Krifka darum mit nicht viel mehr als fünf Stunden Sprachmaterial zurück. O- Ton "Ja, ganz konkret versuchen wir möglichst wenig direkte Fragen zu stellen, sondern das abzuleiten gewissermaßen aus dem was wir vorfinden in den Aufnahmen. Also wir haben z.B. unseren Chief Philipp Talewo gebeten, einige Geschichten zu erzählen, was er sehr gern gemacht hat, und es hat sich als günstig erwiesen, dass man da auch einige Kinder dazusetzt, dann geht das viel besser." Atmo Ambrym Sprecher 1 Hier erzählt Philipp Talewo ein Märchen. Es handelt von einem Eisvogel, einer Schildkröte und einer unverschämten Ratte. Die Geschichte ist lang und kompliziert. Aber am Schluss ereilt die freche Ratte doch ihre gerechte Strafe - auch im Ambrymer Märchen geht es also moralisch zu. Aus solchen Kindergeschichten rekonstruieren die Linguisten die Sprache. O-Ton "Diese Aufnahmen haben wir uns dann genau angehört, mit einem Sprecher, den wir gewissermaßen fest unter Vertrag haben jetzt - es ist ein Zwanzigjähriger: dazu eignen sich die jüngeren Leute viel besser. Der hat sich dann alles Wort für Wort angehört, hat das zunächst mal übersetzt, dann haben wir gefragt, ja, was bedeutet jetzt dieser Teil, was bedeutet dieser Teil, kann man das auch so sagen usw. - und so nach und nach entsteht dann, natürlich geleitet über Hypothesen, eine ziemlich genaue Übersetzung. Wo man nicht nur weiß, was die Sätze jeweils heißen, sondern auch, was die einzelnen Abschnitte gewissermaßen, die den Wörtern entsprechen, heißen." Sprecher 1 Bei aller wissenschaftlichen Nüchternheit: die Dokumentationslinguisten arbeiten nicht nur als Forscher, sie engagieren sich durchaus auch für den Erhalt von bedrohten Sprachen. Wenn es geht in Zusammenarbeit mit den Behörden vor Ort. Manfred Krifka etwa arbeitet eng mit dem Staat Vanuatu zusammen. Es ist selbstverständlich, dass die Linguisten ihre Forschung den jeweiligen Sprechergruppen zur Verfügung stellen. O-Ton 13 "Wir haben auch natürlich mit dem Kulturzentrum des Staates Vanuatu enge Verbindungen und haben da auch den Auftrag bekommen, Orthographien zu entwickeln für diese drei Sprachen und zu versuchen, die zu verankern, auch natürlich lokale Wörterbücher zu erstellen und kleine Bücher, die auch in der Schule verwendet werden, zu erstellen. Das hatten wir ohnehin vor." Sprecher 1 Auch wenn es kein oder nur geringes politisches Interesse der Obrigkeiten an einer Minderheitensprache gibt: selbst die schiere Anwesenheit von Wissenschaftlern kann einer Sprache helfen. Tom Güldemann: O-Ton "Manchmal ist allein die Präsenz von Linguisten und das Wahrnehmen, dass es Außenseiter gibt, die sich für ihre Sprache und Kultur interessieren, schon mal ein sehr positiver Aspekt. Aber ob ne Sprechergemeinschaft am Ende muss man fast sagen das Ruder rumreißen kann, hängt natürlich von anderen Faktoren ab, und ist am Ende wirklich vorrangig Sache der Sprechergemeinschaft selber." Sprecher 1 Nicht nur Linguisten und die Sprechergemeinschaften haben Interesse an ihren Sprachen haben. Das Bewusstsein für das Problem des sprachlichen Massensterbens ist mittlerweile auch in der internationalen Politik angekommen. Dies zeigt nicht zuletzt das Engagement der UNESCO. Deren großangelegter Atlas bedrohter Sprachen ist einerseits der Versuch, den derzeitigen weltweiten Sprachreichtum überhaupt einmal aufzuzählen und festzuhalten. Andererseits liegt darin auch schon eine Aufforderung, die betreffenden Sprachen zu würdigen und zu pflegen. Sprecher 2 Gezielt wurde der UNESCO-Sprachatlas deshalb interaktiv angelegt. Per Mausklick hat jeder Nutzer die Möglichkeit, mittels eines sehr detaillierten Fragebogens Auskunft über seine eigene Sprache zu geben und damit an der Aktualisierung des Atlases mitzuarbeiten. Nichts soll verloren gehen. So wird nicht nur gesammelt, was da ist, sondern den Sprachen insgesamt ein größeres Gewicht gegeben. Sprecher 1 Die Versuche, Sprachen zu erhalten, sind, ebenso wie die vielen derzeit laufenden Dokumentationsprojekte, das Resultat eines politischen Umdenkens in den letzten zwei Jahrzehnten. Nicht nur die Sprachwissenschaft, auch die Politik scheint sich bewusst geworden zu sein, dass das Sterben von Sprachen auch einen Verlust an kultureller Vielfalt bedeutet. O-Ton "Dieses Interesse an sprachlicher Diversität ist ziemlich parallel zu dem Gegentrend der Globalisierung, und zwar der Rückbesinnung auch auf lokale Gegebenheiten, zu kleingliedrigeren Phänomenen." Sprecher 1 Andererseits: manche Linguisten betonen auch, dass selbst die Globalisierung nicht nur zur sprachlichen Vereinheitlichung führt. Sprachen sind nicht einfach nur lebendig oder tot - sie wandeln sich auch. Und man kann die großen Weltsprachen, die kleinere Sprachen verdrängen, nicht nur als "Killersprachen" sehen. Sie selbst unterliegen ja auch einer dauernden Veränderung. Man kennt das zum Beispiel vom Latein, das sich in die verschiedenen gegenwärtigen romanischen Sprachen hinein entwickelt hat. O-Ton "Umgekehrt darf man aber auch nicht vergessen, dass mit dem Englischen letztendlich das gleiche passiert, was vor zweitausend Jahren mit dem Latein passiert ist." Sprecher 1 Professor Ferdinand von Mengden vom Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Hamburg. O-Ton "Das heißt wir haben ein Englisch das in Indien gesprochen wird, wir haben ein Englisch, das in Australien gesprochen wird, wir haben ein Englisch, das auf den Philippinen gesprochen wird, in Südafrika, usw. Und all diese Englische sind deutlich unterschiedlich voneinander, sind gefärbt wiederum durch den Einfluss der regionalen Sprachen, und entwickeln sich aber auch eigenständig weiter. Der englischsprachige Inder wird bewusst sein Englisch anders sprechen als der englischsprachige Brite oder der englischsprachige Südafrikaner. Und dadurch entstehen einfach auch wieder neue Varietäten. Insofern entstehen auch wieder neue Sprachen." Sprecher 1 Ob man sich aber mit der regionalen Weiterentwicklung von großen Sprachen oder aber dem Erhalt von kleinen Sprachen beschäftigt - überall geht es nicht nur um das enge Zusammengehören von Sprache, Kultur und kulturellem Wissen, sondern auch um dasjenige von Sprache und Identität. Wir definieren uns über unsere Sprachen; wie wir reden, trägt auch in großem Maße zu unserem Selbstverständnis bei. Sprachpolitik ist darum immer auch Identitätspolitik; viele Minderheitensprachen sind ganz wesentlich für die Selbstdefinition und die politischen Forderungen von Bevölkerungsgruppen. O-Ton "Eine kulturelle Minderheit ist oft erst dann sichtbar, wenn sie sich auch sprachlich absetzt. Das heißt, das geht oft miteinander einher." Trenner Sprecher 2 In Europa gelten zwar auch viele Sprachen als bedroht, es geht aber nur noch selten um die linguistische Dokumentation dieser Sprachen; hier ist das Ziel von Sprachpolitik meist die politische Anerkennung und Förderung von Minderheitensprachen. Viele europäische Länder sind noch geprägt von den nationalstaatlichen Einsprachenpolitiken des 19. und 20. Jahrhundert, wo man versucht hat, die Einheit des Staates über die Einheit der Sprache zu festigen. Sprecher 1 Hierher gehört auch die alte Überzeugung, der Mensch müsse eigentlich einsprachig sein; von Kindheit an mehrere Sprachen zu sprechen würde zu einer Verwirrung seiner mentalen Fähigkeiten führen. Eine Auffassung, die man selbst heute noch ab und an zu hören bekommt, zum Beispiel in den Debatten um Migration, auch wenn Linguisten wie Ekkehard König sie mittlerweile für völlig verfehlt halten: O-Ton "Ich würde es ganz hart formulieren: dass der Bilingualismus schon in früher Kindheit einer optimalen intellektuellen Entwicklung im Wege steht halte ich für ein Märchen. Bilingualismus ist in jeder Weise zu unterstützen. Bei den bedrohten Sprachen sind natürlich, in allen Bereichen, die entsprechenden Sprecher bilingual, vielleicht auch multilingual. Trenner Sprecher 1 Ein klassisches Beispiel für europäische Einsprachenpolitik ist Italien, das im Zuge seiner Einigung das Italienische als Standardsprache forcierte - zum Nachteil von zahlreichen eigenständigen regionalen Sprachen. Erst in den letzten Jahren findet hier ein Umdenken statt. So auch in Sardinien, wo seit 1997 das Sardische auch als offizielle Sprache wieder gesetzlich verankert ist. Trotz seiner rund einer Million Sprecher gilt es als bedroht, und zwar vor allem deshalb, weil es von jungen Leuten nicht mehr genug gesprochen wird. Lucia Grimaldi ist Linguistin am Institut für Romanische Philologie an der Freien Universität Berlin und arbeitet beim Lingrom-Projekt mit, das sich der Erforschung und Förderung des Sardischen verschrieben hat. O-Ton "Es gab irgendwie vor zwei Jahren eine soziolinguistische Untersuchung wie viel Sardisch verwendet wird. Und wenn man danach geht... Die erste Frage war: Sprechen Sie oder können Sie Sardisch. Und ich glaube 95% haben geantwortet: ja. Und das klang ja erst mal so wow, super. Und dann gab's aber dann so diese feineren Fragen so wie welche Sprache verwenden Sie - mit Freunden, mit der Familie usw. Und dann hat man halt festgestellt, dass man eigentlich nicht mal mehr ne Diglossie-Situation hat, d.h. irgendwie Sardisch in der Familie, Italienisch irgendwie in der Schule, oder so, wie es halt wirklich früher war. Sondern dass mittlerweile - also sozusagen je jünger die Bevölkerung wird, desto mehr ist Italienisch die dominante Sprache - auch im Umgang mit Freunden, auch im Umgang mit der Familie." Sprecher 2 Beim Lingrom-Projekt geht es nicht mehr darum, eine Sprache das erste Mal zu beschreiben und aufzuzeichnen, sondern darum, sie möglichst breit in ihren verschiedenen Verwendungsweisen zu dokumentieren. Und vor allem auch den Sprechern ein Forum zu geben, um ihre Sprache zu pflegen. Gegründet wurde Lingrom im Jahr 2000 an der Freien Universität Berlin. Anders als für die Feldforschungen in Übersee gibt es keine gesonderte Finanzierung für dieses Projekt: nur die Mitarbeiter des Lehrstuhls beschäftigen sich damit - neben ihren anderen Aufgaben. Sprecher 1 Dafür benutzen sie vor allem das moderne Medium des Internets. Sie haben ein Informationsportal zur sardischen Sprache aufgebaut, wo sich jeder über das Sardische informieren kann - auf Sardisch selbst, aber auch auf Deutsch, Italienisch und Englisch. Das Projekt betreibt auch eine Mailing-Liste, auf der sich Sardisch-Sprecher austauschen können, und die rege genutzt wird. O-Ton "Dann archivieren wir natürlich all dieses Sprachmaterial, was wir sammeln, das ist nicht nur die Mailingliste, sondern wir bekommen auch Texte. Wir haben zum Teil Romane, von irgendwelchen Leuten, die sie selbst geschrieben haben; wir haben zum Teil Shakespeare-Sonette, die ins Sardische übersetzt worden sind. Das sammeln wir alles, da gibt's die sogenannte "Sardinian Text Database", die zwar noch keine richtige Datenbank ist, aber auch das ist in Planung, das heißt wir sammeln einfach soviel Sprachmaterial wie möglich. Wir haben auch ein interaktives Wörterbuch, wo wir sozusagen den italienischen Grundwortschatz drin haben, und so nach und nach versuchen, in den verschiedenen Varietäten dann die entsprechenden sardischen Wörter zu bekommen. Das funktioniert alles interaktiv übers Netz." Trenner Sprecher 1 Der Erhalt der sardischen Sprache ist zwar mittlerweile auch auf Sardinien selbst eine politische Priorität. Aber selbst wenn rundum guter Wille herrscht, eine Sprache zu erhalten, stößt man auf Probleme. Die Jugend etwa lässt sich kaum davon abhalten, das zu sprechen, was sie will - und das sind im Zeitalter der Internetglobalisierung meist größere Sprachen. Und auch bei den Verfechtern des Spracherhalts herrscht oft keine Einigkeit darüber, wie zum Beispiel die Orthographie einer bisher nicht schriftlich verfassten Sprache aussehen soll. In Sardinien etwa ist ein langer Streit über die Vereinheitlichung einer Standardschrift für die verschiedenen Dialekte des Sardischen geführt worden, der auch noch nicht vorbei ist, wie Lucia Grimaldi erzählt: O-Ton "Ich denke viele Teile der Bevölkerung sind damit aber auch nicht einverstanden. Also ich glaube das Hauptargument ist immer, wir wollen keinen Standard, wir wollen ja unsere Varietät erhalten. Also die hätten am liebsten einfach wirklich für jede Varietät einen offiziellen Standard. Das Problem ist natürlich, das macht ja wenig Sinn - und sie fühlen sich aber einfach bedroht durch diesen Standard, sie haben Angst, dass der Standard irgendwie dazu dienen wird, ihre eigene Varietät, die ja letztlich diejenige ist, die ihnen am Herzen liegt, irgendwie zu unterdrücken. So wie das sozusagen das Italienische damals gemacht hat." Sprecher 1 Der Wille zum Erhalt von Sprachen birgt also auch die Gefahr, den lebendigen Organismus Sprache in eine gewisse Erstarrung zu führen. Das Problem sieht man nicht nur bei Minderheitensprachen. Selbst bei großen und mächtigen Sprachen wie dem Deutschen oder dem Französischen sprechen manche Kulturpessimisten ja von einer "Bedrohung" durch die Weltsprache Englisch. Eine absurde Vorstellung, findet Ferdinand von Mengden: O-Ton "Also, ich glaube da wird einfach viel zu sehr das Wesen einer Sprache auch als kultureller Marker falsch eingeschätzt. Sprache funktioniert nur dann, wenn sie sich verändert. Es gehört zum Wesen der Sprache, dass sie sich verändert. Und Veränderung wird normalerweise, nicht ausschließlich, aber in allen Fällen immer auch, durch Sprachkontakt ausgelöst. Das heißt fremder Einfluss in einer Sprache ist normal. Es gibt keine Sprache die nicht fremdem Einfluss unterlegen ist und fremder Einfluss, egal wie stark er ist, trägt nicht zum Aussterben einer Sprache bei, sondern einfach nur zur Veränderung, und im Ende sind die Sprachen potentiell tote Sprachen, die sich nicht mehr verändern." Sprecher 1 Bedroht werden können Sprachen also auch durch Verknöcherung. Sprachen wirklich am Leben zu erhalten, nicht nur zu dokumentieren und zu archivieren, ist die große Herausforderung, vor der die Sprachpolitik und die linguistische Forschung heute stehen. 10