Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Emp- fänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Die nächste große Sause oder endlich ein Geschäft? Vom neuen Boom der Internet-Start-ups Von Peter Podjavorsek Besetzung: Sprecher Sprecherin Sprecher/in vom Dienst Atmo Musik, Stimmengewirr, Begrüßung der Gäste: "Willkommen bei der Langen Nacht der Start-ups"... Sprecherin Berlin, im September 2013. In der Hauptstadtrepräsentanz der Deutschen Telekom findet die erste Lange Nacht der Start-ups statt. Über 1.000 Besu- cher drängeln sich in den imposanten Räumlichkeiten. Mehrere Dutzend jun- ger Start-ups präsentieren sich einer breiten Öffentlichkeit auf der Suche nach Publicity und wertvollen Kontakten. Atmo Ein Start-up präsentiert sich auf der ,Langen Nacht...' Sprecher Nach dem Platzen der Dotcom-Blase Anfang des Jahrtausends schießen Internet-Unternehmen wieder wie Pilze aus dem Boden. In Berlin, dem neu- en El-Dorado der Gründerszene, wird alle acht Stunden ein neues Start-up im Bereich der Informationstechnologien gegründet - befeuert von Medien, der Politik und von Geldgebern, die sich angesichts allgemein niedriger Zin- sen wieder stärker vermehrt für Anlagemöglichkeiten bei den Unternehmen interessieren. Doch wie tragfähig sind diese Geschäftsideen? Braucht die Welt, oder we- nigstens ein paar ihrer Bewohner diese unzähligen Apps und digitalen Ange- bote? Sprecherin 7Moments - eine Internetplattform für privates Foto-Sharing. Atmo: Hurra Sprecher Geschlossen im Dezember 2013, nicht einmal zwei Jahre nach der Grün- dung. Atmo: Ausruf der Enttäuschung Sprecherin Buddy Beers - eine App, mit der sich Menschen ein Bier ausgeben können, auch wenn sie gerade nicht am selben Ort sind. Atmo: Hurra Sprecher Insolvent 2013. Atmo: Ausruf der Enttäuschung Sprecherin Modemeister - eine Shopping-Plattform für männliche Modemuffel. Atmo: Hurra Sprecher Verschwunden 2013. Atmo: Ausruf der Enttäuschung Sprecherin Amen - eine Plattform für Meinungen und Bewertungen, die Nutzer durch ein ,Amen' oder ein ,Hell no!' kommentieren können. Wie kaum ein anderes Start-up von den Medien gehypt und von Hollywood-Schauspieler Aston Kut- cher mit drei Millionen Euro unterstützt... Atmo: Hurra Sprecher ... wird es im Herbst 2013 von einem anderen Start-up geschluckt. Atmo: Ausruf der Enttäuschung Sprecher Nein. Die Welt brauchte diese Angebote nicht. Und zahllose andere ebenfalls nicht. Andererseits: Wo so viel Hype ist, muss da nicht auch Substanz sein? Mehr als bei der Dotcom-Blase der Nuller Jahre? Atmo Feier... "Wir freuen uns, dass Sie so zahlreich erschienen sind..."... Applaus. Musik Sprecher/in vom Dienst Die nächste große Sause oder endlich ein Geschäft? Vom neuen Boom der Internet-Start-ups Von Peter Podjavorsek Atmo Wegreen-Team diskutiert Webseite Sprecherin Start-up-Unternehmen haben nicht immer den besten Ruf: Ein paar junge Typen, die an so Sachen fürs Internet rumbasteln, meistens erfolglos. Atmo Wegreen-Team diskutiert Webseite Sprecherin Auch die sechs Männer und Frauen von Wegreen, die an der Optimierung der Webseite ihres jungen Unternehmens tüfteln, sind alle unter dreißig. Wegreen, ein in Berlin ansässiges Internet-Start-up verfolgt ein hehres Ziel: Mit einer Informations- und Handels-Plattform nachhaltigen Konsum zu be- fördern. O-Ton: Maurice Stanszus "Wir haben eine Nachhaltigkeitsampel entwickelt, wo man einfach erkennen kann, welche Produkte gut sind, welche besser sind. Die Grünen sind gut, die Roten sind schlecht. Versteht jeder." Sprecherin Der 27-jährige Maurice Stanszus hat die Idee während seines Studiums ent- wickelt. Ihn störte die Unübersichtlichkeit und Intransparenz vieler Siegel und Zertifikate. Wer weiß schon, wie fair ein Hersteller produziert? Wie ökolo- gisch ein Produkt wirklich ist? Kaum jemand hat Zeit und Lust, all diese In- formationen mühsam aufzuspüren. Ein einfaches Tool sollte deshalb her. O-Ton: Maurice Stanszus "Das Geschäftsmodell dahinter ist im Grunde so wie bei Preissuchmaschi- nen. Wo man auch ganz viele Produkte suchen kann. Fernseher, oder Kla- motten, oder was auch immer. Die Preissuchmaschine sagt einem da: Das kannst du da am günstigsten kaufen. Und wir machen das gleiche, nur mit einem anderen Attribut. Also nicht mit Preis, sondern eben mit Nachhaltig- keit." Sprecherin Für die Bewertung der Produkte greift das Wegreen-Team auf die Expertise von über 400 Organisationen zurück: Zertifizierungsgesellschaften, NGOs, Umweltorganisationen, Verbraucher-Initiativen, Siegelorganisationen. Sie alle bewerten in der ein oder anderen Form die Nachhaltigkeit von Unter- nehmen und Produkten. Ein von Wegreen entwickelter Algorhythmus führt diese Informationen zusammen und ermittelt automatisch eine Bewertung. Noten von eins bis sechs. Oder eben die Ampel: grün, gelb, rot. O-Ton: Maurice Stanszus "Viele Leute behaupten, sie würden gerne nachhaltig konsumieren. Und nur ganz wenige tun es. Oft ist die These im Raum, dass man sagt: Ist ja viel zu teuer! Wir haben jetzt nachgewiesen mit unserer Seite, wir haben jetzt die 5 Millionen Produkte-Marke geknackt, das ist also fast alles, was man sich vor- stellen kann. Und es gibt einfach keine Korrelation von Preis und Nachhaltig- keit. Es gibt Sachen, die sind teurer. Es gibt aber auch Sachen, die sind günstiger." Sprecherin Die Geschäftsidee von Wegreen liegt zweifellos im Trend. Dennoch stellt sich die Frage: Kommt sie bei den Kunden auch an? Werden sie das Portal zum Einkaufen nutzen? Derzeit rufen monatlich rund 25.000 Menschen die Seite auf. Um zu überleben, müssten es zehnmal so viele sein. Bislang hielt sich das Start-up durch Eigenkapital und Fördermittel für Exis- tenzgründer über Wasser. Vor kurzem konnte das Unternehmen aber 100.000 Euro über Crowdfunding einsammeln. Damit will das Team nun die Webseite optimieren und Marketingaktivitäten angehen. O-Ton: Maurice Stanszus "Ich glaube, wenn wir diesen Hebel schaffen, also Menschen informieren. Erstens über den Preis, und zweitens über die Nachhaltigkeit, dann können wir eben die Leute erreichen, die die ganze Zeit behauptet haben, sie wür- den gern. Aber es ist ihnen zu aufwändig" Musik "Berlin, du bist so wunderbar!" Sprecher Junge digitale Start-ups wie Wegreen gibt es inzwischen wie Sand am Meer. Und Berlin gilt als das neue Mekka der Gründerszene. Von den geschätzten 5.000 Start-ups in Deutschland befindet sich rund die Hälfte in der Haupt- stadt. Etwa zwei Prozent aller hier Beschäftigten arbeiten bei Start-ups. Musik "Berlin, du bist so wunderbar!" Sprecher Was macht Berlin für Gründer so attraktiv? Trotz steigender Immobilienprei- se sind die Mieten im Vergleich zu anderen Großstädten nach wie vor güns- tig. Es gibt eine hochkarätige Wissenslandschaft. Und nicht zuletzt gilt die Stadt weit über die Grenzen Deutschlands hinaus als hip und cool. Seit Jah- ren zieht sie nicht nur Kreative an, sondern zunehmend auch Gründer, Unternehmen, Finanziers. Musik "Berlin, du bist so wunderbar!" Sprecher Und es könnte noch wunderbarer werden. Das glaubt zumindest McKinsey, bereits 2000 ein Apologet der New Economy. In einer aktuellen Studie hat das Beratungsunternehmen festgestellt, dass in Berlin bis zum Jahr 2020 über 100.000 neue Arbeitsplätze durch Start-ups entstehen könnten. 40.000 in den Start-ups selbst. Weitere 60.000 über den Multiplikatoren-Effekt, dem- zufolge jeder neue Arbeitsplatz die Grundlage schafft für weitere Jobs. Musik "Berlin, du bist so wunderbar!" Atmo Vielbefahrene Straße, Hupen Sprecherin Eine viel befahrene Ausfallstraße im nördlichen Berlin. In der ehemaligen australischen Botschaft in der DDR befindet sich tape.tv. Das junge Unter- nehmen ist eines der Start-ups, die derzeit die Fantasien von einem zweiten Silicon Valley an der Spree beflügeln. Atmo Moderation/Musik aus tape.tv-Sendung "Auf den Dächern" Sprecherin Tape.tv hat sich das Ziel gesetzt, nichts weniger als der Nachfolger des Mu- sikvideosenders MTV zu werden. Nicht im Fernsehen, versteht sich, sondern im Internet. O-Ton: Conrad Fritzsch "Das Berieseln von Leuten im linearen Stream mit irgendetwas funktioniert so semigut. Das merken wir daran, wie wir selber fernsehen. Oder dass Ra- dio ganz oft zu einem Nebenhermedium wird." Sprecherin Conrad Fritzsch jedenfalls hatte irgendwann genug von der Beliebigkeit und Langeweile in TV und Radio. Das Internet wiederum bot zwar alles. Doch verstreut in allen Ecken des Netzes. Und irgendwie überforderte auch die Fülle. 2008 gründete Fritzsch deshalb mit einer Partnerin tape.tv. O-Ton: Conrad Fritzsch "Wenn ich hier sage: Was ist Ihr Lieblingskünstler? Dann würden Sie sa- gen?" "... oh..." "Genau. Und da setzen wir an. Also entweder der User weiß, was er will. Und dann schlagen wir ihm ganz viel vor, was dazu passen könnte. Oder er sagt: Ich hab keine Ahnung. Empfehlt mir mal was. Oder er sagt: Ich will ein Genre. Wir haben sogar Playlisten für Moods: Happy-Playlisten, Schlechte- Laune-Playlisten. Also, ich sag nur: Ich hab gute Laune. Gebt mir mal den Soundtrack dafür." Sprecherin Das Start-up beschäftigt inzwischen über 60 Mitarbeiter und hat Lizenzver- träge mit allen großen Labels und etlichen kleinen Anbietern abgeschlossen. Selbst Musikvideos aus den Anfängen des Genres und unbekannte Raritäten soll die Plattform bereitstellen. Hinzu kommen von tape.tv selbst produzierte Musiksendungen und Konzertmitschnitte. O-Ton: Conrad Fritzsch "Und die Frage ist halt: Wie kann ich für Dich eine Empfehlung machen, wo Du sagst: Ich machs nicht mehr aus."] Musik Musik aus tape.tv-Sendung "Auf den Dächern" Sprecherin Während viele digitale Start-ups darum kämpfen, schwarze Zahlen zu schreiben - selbst Zalando hat wegen hoher Rücksendequoten und seiner Expansionsstrategie bis heute keinen Euro Gewinn gemacht - hofft tape.tv, eine bessere Schnitte zu machen. Im Frühjahr 2014 soll die Seite nach einem Relaunch wieder online gehen. Dann wird es ein so genanntes Free- mium-Angebot geben. Das heißt: Das Basisangebot ist frei. Wer mehr will, muss zahlen. Darüber hinaus setzt das Start-up auf intelligente Werbung, zum Beispiel so genanntes ,Branded Entertainment'. O-Ton: Conrad Fritzsch "Früher hieß es immer product placement. Da wurden immer Gummibärchen ins Bild geschummelt im ZDF. Heute muss man das wesentlich schlauer ma- chen, weil der User das schnell identifiziert. Zum Beispiel, nur weil das Pro- dukt möglichst lange und möglichst groß zu sehen ist, der User davon über- zeugt ist, dass es das beste Produkt der Welt ist. Sondern Sie überlegen sich, wie die Marke eine Geschichte erzählen könnte. Wir erzählen also die Geschichte von einem Künstler und er nimmt eine Marke auf diese Reise mit. Also wenn man z.B. einen Roadtrip macht mit VW und einem Künstler und dabei auch bemerkt, dass der VW Golf unverwüstlich ist. Macht Sinn." Sprecherin Ob das Geschäftsmodell funktioniert, ob sich genügend Leute für die Ge- schichten interessieren, die Autos oder Limonaden erzählen, werden die nächsten Monate zeigen. Conrad Fritzsch ist davon überzeugt, dass sein Start-up nicht scheitern wird wie so viele vor ihm. Die Nachfrage nach Musikvideos ist jedenfalls enorm. Rund 40 Prozent aller auf Youtube angeschauten Filme sind Musikvideos - und nicht etwa Filme über Katzen, die Skateboard fahren oder Angestellte, die aus Frust den Fir- menkopierer zerschlagen. Hinzu kommt: Videos sind inzwischen fast all- gegenwärtig. O-Ton: Conrad Fritzsch "Wenn Sie gucken, wie stark wir gerade erst lernen, dass man das überall machen kann, müssen Sie mal in die U-Bahn gehen und gucken, wer alles auf sein Smartphone guckt und wer überhaupt noch rausguckt. Die glotzen alle nicht nach oben, sondern runter." Sprecherin Auch Investoren sind von dem Konzept des Berliner Start-ups überzeugt. 2012 steckten sie fünf Millionen Euro Risikokapital in das Unternehmen. Atmo Kurze Collage von Musik (Dub, Goa, Techno), ,Super-Mario'-Spiel, Ton von e-mail-Benachrichtigung Sprecher Wie vor 15 Jahren jagt eine Erfolgsgeschichte die andere. Tolle Ideen sprie- ßen wie Haare auf dem Hund und Investoren können es scheinbar kaum erwarten, Gründern ihr Geld hinterherzuwerfen. Atmo Pfeifendes Geräusch, das mit einem satten Knall/Scheppern endet Sprecher Doch die Realität ist nicht ganz so glorreich. Bei skeptischerer Betrachtung liegt der Anteil der Beschäftigten bei Start-ups nicht bei beachtlichen, son- dern bescheidenen zwei Prozent. Ihr Anteil an der ökonomischen Wert- schöpfung ist kaum höher. Hinzu kommt: Bei weitem nicht alle Start-ups befinden sich im Höhenflug. Schätzungen zufolge verschwinden in den ersten fünf Geschäftsjahren rund 40 Prozent wieder vom Markt. Langfristig überleben nur rund drei von zehn Unternehmensgründungen. O-Ton: Joel Kaczmarek "Wenn man sich Internet-Start-ups anguckt in Berlin, hat man oft den Fall: Es gibt verrückte, wilde Geschäftsideen. Aber eigentlich keine Geschäftsmodel- le. Also man hat ne Idee, was man machen möchte. Aber man hat keine Vorstellung, wie man mit dieser Idee Geld verdienen möchte." Sprecher Joel Kaczmarek ist einer der wenigen kritischen Beobachter der Szene. O-Ton: Joel Kaczmarek "Beim Produkt ist zum Beispiel ein typischer Fehler, dass man nicht nahe genug am Kunden entwickelt. Viele gehen gerne hin, schließen sich ins Kämmerlein ein. Erzählen keinem von ihrer Idee. Weil sie Angst haben, sie wird geklaut. Und dann kommen Sie mit einem Produkt auf den Markt, wo man merkt, man hat vorbei entwickelt." Sprecher Kaczmarek war mehrere Jahre Chefredakteur des Online-Magazins Grün- derszene und ist heute ihr Herausgeber und freischaffender Coach. Der um- triebige Mittdreißiger findet, dass nach Jahren des Hypes etwas mehr Nüch- ternheit durchaus angebracht wäre. O-Ton: Joel Kaczmarek "Die Selbstwahrnehmung in Berlin ist ja gerne manchmal ein bisschen über- steigert. Und wenn man mal genau hinguckt, hat Berlin ein Problem, dass Erfolg und PR-Wahrnehmung umgekehrt proportional sind. Oftmals ist es so, je bekannter ein Start-up ist, je gehypter, desto wirtschaftlich unerfolgreicher ist es auch. Aber wenn man mal genau hinguckt, sind eigentlich die Unterne- hen, die wenig Presse haben, die ganz langweilig andere Geschäftsmodelle nachbauen, Stichwort Samwers, die Klon-Könige von Berlin, die wirtschaft- lich Erfolgreichsten. Zalando, Schuhshop. Lange da gewesen. Wooga, Vi- deospiele. Gab's auch schon lange. Klar haben die auch ne große Aufmerk- samkeit. Aber eher funktional. Um Reichweite zu treiben." Musik Dub, Goa, Techno. Sprecher Der guten Stimmung in der Szene tun solche Betrachtungen keinen Abbruch. Wer gründet, ist ein Machertyp. Einer, der Risiken eingeht. Hadern und Zwei- feln, die Möglichkeit des Scheiterns gehört nicht ins Portfolio. Musik Dub, Goa, Techno. Sprecher Nicht nur Gründer, auch Wagniskapitalgeber engagieren sich zunehmend in der Hauptstadt. Sprecherin 6Wunderkinder, Anbieter einer digitalen To-do-list, erhielt im vergangenen Jahr 19 Millionen Euro. Atmo: Hurra Sprecher Das Online-Forscher-Netzwerk Researchgate 35 Millionen. Atmo: Hurra Sprecherin Der Lieferdienst-Service Delivery Hero 90 Millionen Dollar. Atmo: Hurra Sprecher Die von den Brüdern Alexander, Marc und Oliver Samwer gegründete Betei- ligungsgesellschaft ,Rocket Internet' mit ihrem Flaggschiff Zalando sammelte im zurückliegenden Jahr sogar eine Milliarde US-Dollar ein. Das Ziel: die weltweite Expansion in unerschlossene Märkte. Atmo: Hurra O-Ton: Ciarian O'Leary "Man muss verstehen, dass Berlin im Vergleich zu den großen Hubs in den USA natürlich noch unterentwickelt ist. Aber die Geschwindigkeit und der Anstellwinkel der Szene ist weltweit an absoluter Spitze. Es gibt nirgendwo weltweit, wo mit dieser Geschwindigkeit talentierte, internationale Leute in Verbindung mit internationalen Kapital zusammenkommen." Sprecherin In der Dachetage eines Hauses in der Nähe des Hackeschen Marktes resi- diert Ciarian O'Leary vom Risikokapitalfonds Earlybird. Das Unternehmen mit Außenstellen in München und Istanbul verwaltet beachtliche 650 Millionen Euro und ist damit einer der größten Risikokapitalfonds Europas. Klassische Banken spielen beim Geschäft mit Start-ups so gut wie keine Rolle. O-Ton: Ciarian O'Leary "Die meisten Banken würden bei einem Start up sagen: Du machst wohl Wit- ze! Nur Verluste, keinen Umsatz. Und wir sagen: Super! Also, wir vergeben keine Kredite, sondern investieren Eigenkapital. Das heißt: Mensch, für die nächsten sagen wir mal 18 Monate decken wir deinen Kapitalbedarf. Eine, zwei, bis zu 7 Millionen. Dafür bekommen wir Anteile am Unternehmen, wer- den also Mitunternehmer." Sprecherin Die Gründer erhalten nicht nur Geld, sondern auch Unterstützung - vom Knüpfen von Netzwerken über technischen Support bis hin zu Fragen des Managements. O-Ton: Ciarian O'Leary "Und das müssen nicht irgendwelche geschniegelten BWLer sein, die ihre Zahlen im Griff haben. Sondern wir wollen eigentlich Verrückte finanzieren. Weil, das was man vorhat. Man wird ja wahrscheinlich eh scheitern. Ist so mühsam, so ein Stress. Womöglich muss ich mich scheiden lassen. Jemand, der sowas auf sich nimmt, ist kein normaler, durchkalkulierter BWLer. Also wir mögen die Verrückten." Sprecherin Risikokapital war bislang vor allem in den USA verbreitet. Doch Europa holt auf, allen voran Berlin. Auch Earlybird investiert sein Geld zur Zeit vor allem in der Hauptstadt. Zu seinem Portfolio gehören Start-ups wie die 6Wunderkinder mit ihrer to-do-List-App oder Auctionata, ein Online-Kunst- und Auktionshaus. O-Ton: Ciarian O'Leary "Bei uns ist es so, ungefähr 30 Prozent unserer Investments werden extrem erfolgreich. Wir kriegen das Geld dann wieder, wenn das Unternehmen an die Börse geht oder verkauft wird. Und dann kriegen wir als Aktionär eben dann Erlöse." Sprecherin Und das unabhängig davon, ob das Start-up zu diesem Zeitpunkt bereits Geld verdient. Auf den Verkaufspreis, die Bewertung kommt es an. Musik, Atmo Start-up-Night in Berlin Sprecher Kein Wunder, dass zunehmend auch Unternehmen der Old Economy versu- chen, vom digitalen Boom zu profitieren. Die Berliner Start-up-Night im Herbst letzten Jahres wurde zum Beispiel von der Telekom ausgerichtet. Der Konzern unterhält darüber hinaus einen so genannten Accelerator, ein Be- schleunigungs- und Förderprogramm für Start-ups, die sich in der Anfangs- phase befinden. Der Kommunikationsdienstleister ist damit bei weitem nicht der Einzige. Fielmann, Allianz, Rewe, ProSiebenSat1, das Medienunternehmen Axel Springer. Sie alle betreiben Accelerator oder Inkubatoren, so genannte Brut- stätten für Start-ups. Atmo Leise murmelnde Stimmen, Computertastatur, im Hintergrund Geräusch von Tischtennisspiel O-Ton: Jörg Rheinbold "Um uns rum sehen wir wild beschriftete Wände. Das kommt, weil hier mal ein Künstler sein Atelier hatte. Und immer, wenn ihm die Leinwand ausge- gangen ist, hat er die Wände benutzt." Sprecher Der Accelerator von Axel Springer befindet sich in einer großen Etage in un- mittelbarer Nähe des Mutterhauses in Berlin-Kreuzberg. Rund ein Dutzend Start-ups gruppiert sich um die locker im Raum platzierten Tische. In einer Ecke steht eine Tischtennisplatte... Logisch, gehört zu jedem echten Start- up. In einer anderen Ecke brodelt ein Latte-Macchiato-Automat. O-Ton: Jörg Rheinbold "Die Atmosphäre, die wir kreieren wollen, ist die, in der wir gerne arbeiten. Und wir probieren immer verschiedene Dinge aus, die uns hoffentlich kreativ und produktiv machen." Sprecher Jörg Rheinbold ist Chef des Axel Springer Plug & Play Accelerator - einem Joint Venture zwischen dem Verlagshaus und Plug & Play aus Kalifornien, einem der ersten Accelerator weltweit. Rheinbold, der schon selbst mehrere Start-ups gegründet hat und auch privat Geld in junge Unternehmen steckt, sucht für den Medienkonzern den Brückenschlag zur digitalen Avantgarde. O-Ton: Jörg Rheinbold "Da hinten sitzt ,Get to play'. Die machen Musikinstrumenteunterricht online. Da kann man dann von bekannten Musikern lernen, wie man Gitarre spielt. Und kann sich das dann als Videos angucken. Kann verschiedene Perspek- tiven wählen, z.B. ich will die Griffhand sehen. Man kann sich die Noten an- gucken. Das kann man zeitversetzt machen, oder auch live buchen." Atmo Musikunterricht Sprecher Bei vielen Start-ups gibt es zunächst nicht viel mehr als eine Idee. Der Acce- lerator gibt ihnen die Möglichkeit, sich zu entwicklen und groß zu machen. Dafür stellt er jedem Unternehmen zunächst 25.000 Euro und einen Büro- platz für drei Monate zur Verfügung. Darüber hinaus organisiert er Vorträge, bietet Beratung, Kontakt zu Mentoren und künftigen Geldgebern. Im Gegen- zug erhält der Accelerator fünf Prozent Anteile an der Firma, die sich später im Falle eines Erfolges versilbern lassen. Das Angebot kommt an. O-Ton: Jörg Rheinbold "Wir haben dreistellige Bewerberzahlen für jeden Batch. Da können wir so zwischen 10 und 15 Unternehmen aufnehmen. Ich bin gespannt, wie sich das weiterentwickelt. Weil ich glaube, je mehr Erfolgsgeschichten wir kreie- ren - weil uns gibt's ja erst seit März so richtig - desto mehr Bewerber wer- den das hoffentlich. Weil wir hoffentlich zeigen können, dass wir tatsächlich beschleunigen können." Atmo Computertastatur, leise murmelnde Stimmen Sprecher Warum aber investieren Konzerne wie Axel Springer in Start-ups, die wenig bis nichts mit ihrem Kerngeschäft zu tun haben? Antworten findet man weni- ger bei den Konzernen selbst als bei den Beobachtern der Szene. Zum Bei- spiel bei Nikolaus Röttger, dem Chefredakteur des in Berlin ansässigen On- line-Magazins Gründerszene. O-Ton: Nikolaus Röttger "Viele großen Unternehmen haben gemerkt, dass innerhalb von wenigen Jahren das eigene Geschäftsmodell kaputt gemacht werden kann. Von Start- ups, die irgendwann mal klein waren und dann groß geworden sind. Zum andern ist es natürlich auch schick für große Unternehmen zu sagen, guck mal, wir sind da nah dran. Und wir sind innovativ." Sprecher Jan Pörksen, Start-up-Beauftragter der IHK Berlin, sieht weitere Gründe. O-Ton: Jan Pörksen "Das hat damit zu tun, dass sie erkannt haben, diese Großunternehmen, die bewegen sich ja wie ein Tanker. Und Start-ups sind so kleine Schnellboote. Dass es einfach für diese Tanker unglaublich teuer ist, einmal die falsche Richtung einzuschlagen. Das heißt, sie gucken sich an, wo fahren die Schnellboote hin. Und wenn sie feststellen, es ist der richtige Weg, dann können Sie mit Ihrem Tanker da hinterherfahren." Musik "Berlin, du bist so wunderbar!" Sprecherin Doch auch Schnellboote können sinken - wie Felix Petersen am eigenen Leib erfahren musste. Der heute 36-Jährige gründete sein erstes Unterneh- men Plazes im Jahr 2005. Dieser Webdienst verriet, wo sich Freunde und Bekannte gerade aufhalten. 2008 kaufte Nokia das Start-up für eine unbe- kannte Summe, es waren wohl mehrere Millionen. 2011 startete Petersen mit einem Partner dann das Meinungsportal Amen. Trotz Millioneninvestitionen konnte das hochgejazzte Start-up aber so gut wie keine Einnahmen generie- ren. O-Ton: Felix Petersen "Amen ist sozusagen in der Königsklasse des Internet angetreten. In einem Bereich, wo sich Firmen wie Facebook und Twitter tummeln, wo ich den neuen Markt schaffe. Wo ich den Leute etwas verkaufen, von dem sie bisher noch nicht wussten, dass sie so was brauchen. Das ist natürlich in der heuti- gen Zeit enorm schwer angesichts der Tatsache, dass wir ohnehin schon wenig Zeit haben." Sprecherin Doch Petersen wäre kein Entrepreneur, würde er sich davon unterkriegen lassen. O-Ton: Felix Petersen "Der entscheidende Faktor für den Erfolg von solchen Diensten ist nicht, ob man richtig liegt, sondern wie schnell man auf die Fresse fällt und wieder aufsteht. Wo man was raushaut und schaut, funktionierts? Geht, also weiter. Geht nicht, also anpassen. Funktioniert gar nicht? Vielleicht braucht niemand diesen Dienst. Hinter den meisten Erfolgsgeschichten stehen 5-10 Versuche. Das ist letzt- lich wie beim Weitsprung. Wenn da einer im 1. Sprung gut anläuft, aber dann übertritt, dann sagt ja auch keiner: Das wird nix mehr. Sonder eher: Wow, sah ganz gut aus, schaun wir auf den nächsten Sprung." Sprecherin In der Tat erfanden sich auch Facebook oder Apple mehrmals neu, bevor sie zu dem wurden, was sie heute sind. Sie probierten aus, verwarfen schlechte Ideen, kauften kleinere Start-ups mit deren Expertise auf und verbrannten zunächst riesige Summen Geld. Atmo News-Bericht über Facebook, das hohe Verluste fährt. Sprecherin Natürlich hat es ein Gründer einfacher, der auf einen existierenden Bedarf eingeht. Die Menschen benötigen zum Beispiel Kleidung. Wenn ein Online- Händler es geschickt anstellt, gute Preise mit gutem Service verbindet, hat er auch eine relativ große Chance, Leute zu finden, die bereit sind, dafür zu bezahlen. O-Ton: Felix Petersen "Wenn alles neu ist, jeder Aspekt des Geschäfts. Was tu ich für die Nutzer, brauchen die das? Funktioniert das überhaupt auf so einem neuen Gerät, das es erst seit 3 Jahren gibt? Dann hab ich natürlich ein sehr unberechen- bares Marktumfeld." Sprecher Viele in der Szene sind der Ansicht, dass Europa in Sachen Gründergeist von den USA lernen sollte. Dort gilt jemand, der nicht mindestens einmal ge- scheitert ist, kaum als richtiger Unternehmer. Generell spielt Unternehmer- tum in den USA eine weit größere Rolle als hierzulande. Vor allem im Silicon Valley mit seinen Googles, Facebooks und Apples. Jan Pörksen von der IHK Berlin. O-Ton: IHK "Wenn Sie das Silicon Valley sehen, dann sehen Sie, dass dort vor 10, 20 Jahren sehr erfolgreiche Unternehmen gegründet wurden. Es wurden Unter- nehmen verkauft. Und dieses Geld wird reinvestiert. Das ist ein Kreislauf, der dort stattfindet. So etwas haben wir in Berlin nicht. Berlin entwickelt sich so- zusagen gerade erst. Das heißt, wo im Silicon Valley schon vor 20, 30 Jah- ren die Post abging. Da stand hier noch die Mauer." O-Ton: Nikolaus Röttger "Im Silicon Valley ist eine viel längere Tradition. Da ist ne richtige Infrastruk- tur da. So wie damals aus PayPal lauter neue Ideen entstanden sind. Die Leute sind da rausgegangen und haben neue Sachen gemacht, bis hin zu Elon Musk, der jetzt Weltraumraketen baut und Elektroautos, mit Tesla." Musik Sprecher Die Branche boomt. Sie boomt dermaßen, dass selbst in den USA debattiert wird, ob eine neue Dotcom-Blase entstanden ist. Twitters Aktie zum Beispiel schoss zwischenzeitlich um 60 Prozent in die Höhe - ohne bislang einen Dollar Gewinn gemacht zu haben. Die Bewertung der Foto-App Snapchat, bei der sich Bilder nach wenigen Sekunden in Luft auflösen, kletterte von 70 Millionen Dollar auf vier Milliarden. Ohne dass dem Einnahmen gegenüber stehen. Doch Beobachter der Szene sind überzeugt. Die Situation heute ist eine ganz andere als vor einer Dekade. Jörg Rheinbold vom Axel Springer Plug & Play. O-Ton: Jörg Rheinbold "Es gibt natürlich immer wieder leichte Blasenbildungen an bestimmten En- den des Marktes. Aber es ist nicht vergleichbar mit der Situation Anfang 2000. Wo die Diskussion war, wie viele Tiernahrungsmittelversender braucht man in D, online. Und da war die Antwort: keinen! Und jetzt ist die Antwort: Jetzt braucht man welche! Weil jetzt gibt es Leute, die online Hundefutter kaufen. Und da kann man sehr profitable Geschäftsmodelle bauen." Sprecher Unstrittig ist: Die meisten digitalen Unternehmen werden vom Markt ver- schwinden, weil sie niemand braucht oder sie sich nicht rentieren. Viele wer- den vor sich hin dümpeln. Manche aber werden mittelständische Unterneh- men, die eine solide Truppe von Mitarbeitern beschäftigen. Und einige weni- ge werden durch die Decke gehen. Und das muss beileibe kein zweites Facebook sein. So manches Start-up ist erfolgreich, obwohl es kaum jemand kennt. Das Berliner Unternehmen Sociomantic etwa analysiert Werbeflächen auf Webseiten und versteigert sie an Werbetreibende. 2009 mit gerade ein- mal 3.000 Euro aus der privaten Schatulle gestartet, beschäftigt das Start-up heute 160 Mitarbeiter. Im letzten Jahr generierte es 100 Millionen US-Dollar Umsatz. Die Zukunft, so sieht es wohl aus, gehört dem Digitalen, nicht den Kritikern. O-Ton: Ciarian O'Leary Man denkt schnell, das ist jetzt durch. Aber wenn man sich die gesamte Welt anschaut. Das sind jetzt die Anfänge, was wir sehen. Nicht das Ende. Und insofern muss ich immer etwas schmunzeln, wenn man sagt, naja, diese ganzen Apps und so. Früher habe ich die Taxizentrale angerufen. Jetzt drü- cke ich einen Knopf, und das Taxi kommt. Das ist ein ganzes Geschäft. Das größte Taxiunternehmen der Welt ist ne App-Company. Und keine Taxi- Zentrale. Musik "Berlin, du bist so wunderbar!" Sprecherin Und so blickt Felix Peterson vom Start-up Amen zuversichtlich in die Zukunft. Und er hat allen Grund dazu. Seine Meinungsplattform wurde vom Musikvi- deo-Start-up tape.tv aufgekauft. Hier wollen Petersen und sein Amen-Team ihre Erfahrungen für den Aufbau des tape.tv-Bewertungs- und Hitlisten-Tools nutzen. Und Maurice Stanszus von der Nachhaltigkeitsplattform Wegreen? Er will in den nächsten Monaten beweisen, dass seine Idee nicht nur die Welt verbes- sern kann, sondern sich auch finanziell trägt. O-Ton: Maurice Stanszus "Bei Innovationen muss man halt Risiken eingehen. Sonst kommt keine In- novation raus." SPRECHER/IN v. Dienst Die nächste große Sause oder endlich ein Geschäft? Vom neuen Boom der Internet-Start-ups Von Peter Podjavorsek Es sprachen: Bettina Kurth und Thomas Holländer Ton: Ralf Perz Regie: Beatrix Ackers Redaktion: Martin Hartwig Produktion: Deutschlandradio Kultur 2014 Manuskripte und weitere Informationen zu unseren Zeitfragen-Sendungen finden Sie im Internet unter www.deutschlandradio.de 1