KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR 0.05 Uhr Titel der Sendung: Verbrannte Erinnerung Das Ende des Habsburgerreichs in der Literatur Autor : : Stefan May Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 29.06.2014 Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig © Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Zitator: Erde aus Ungarn Sprecher 2: Erde aus Polen Zitator: Erde aus Kärnten Sprecher 2: Slowenische Erde Zitator: Tschechische Erde Sprecher 1 Offiziere aus allen Teilen der Monarchie verabschieden sich vom toten Oberst. Zuletzt schüttet der jüdische Regimentsarzt Erde auf den Sarg: Sprecher 2: Erde aus ? aus ? Österreich Sprecher 1 Die Szene aus dem Theaterstück ?3. November 1918? von Franz Theodor Csokor spiegelt das Ende der Habsburger-Monarchie wider. Im Auseinanderbrechen des morschen Reichs bilden dessen Völker eigene, neue Staaten. Der Schriftsteller Richard Wagner stammt aus jenem Teil Rumäniens, der einst zur Habsburgermonarchie gehört hatte, dem Banat. Zitator Der Krieg war noch nicht zu Ende, als die Völker Kakaniens damit anfingen, nach Hause zu gehen. In aller Eile gründeten sie ihre Verlegenheitsstaaten. Am Ende des großen Krieges der Imperien begaben sich die Völker ins Machtvakuum und erfüllten sich auf diese Weise den uralten Traum der Selbständigkeit. Plötzlich gehörten die, die gestern noch in den Armeen des Kaisers dienten, zu den Siegern. Sprecher 1 Diese Neuaufstellung Mitteleuropas kam dennoch einem gewaltigen politischen Beben gleich. Die Suche nach der literarischen Reflexion auf diese Erschütterung in den Nachfolgestaaten führt an zwei entlegene Orte der k. und k. Monarchie: nach Lemberg in Galizien und Sarajevo in Bosnien-Herzegowina. Beginn Atmo Moscheehof Sprecher 1 In Sarajevo, da, wo heute die Menschen zwischen Moscheen und Kirchen durch die Fußgängerzone schlendern, hat vor 100 Jahren alles seinen Anfang genommen Das Attentat, das den Ersten Weltkrieg auslösen sollte, ereignete sich wenige Minuten nachdem das österreichische Thronfolgerpaar das Rathaus von Sarajevo, die Vijecnica, besucht hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Bau im maurischen Stil zur Nationalbibliothek von Bosnien-Herzegowina. Im Bosnienkrieg, vor etwas mehr als zwei Jahrzehnten, war die Vijecnica Zielscheibe der serbischen Belagerer, die auf den Anhöhen rundum die Stadt eingekesselt hatten. Ivo Andric beschrieb schon früher die geografische Lage von Sarajevo - Ende Atmo Moscheehof Zitator ?dieser verdammten Stadt, die wie eine Falle zwischen die hohen Berge gezwängt war. Sprecher 1 1992 schnappte die Falle für vier Jahre zu. In der Nacht vom 25. auf 26. August schossen die Belagerer von den Hängen um Sarajevo die Nationalbibliothek in Brand. Die gleich orangeroten Fahnen aus den Fenstern schlagenden Flammen wurden zum Symbol für die Vernichtung des geistigen Erbes Bosniens, für das Auslöschen seiner kulturellen Identität. Mehr als zwei Millionen Bücher und Dokumente verbrannten. Die Zerstörung war auch Symbol für die Vernichtung des österreichischen Erbes, denn zu Ende des 19. Jahrhunderts hatten die Habsburger das Rathaus von Sarajevo errichten lassen. 20 Jahre lang ragte die Brandruine aus dem geduckten Häusermeer. Erst in diesem Jahr wurde das restaurierte Gebäude der Bibliothek von Bosnien wieder eröffnet. Atmo Verkehr Sprecher 1 Wie ein orientalisch ornamentierter Würfel liegt die Vijecnica an markanter Stelle am Ufer der Miljacka: mit hufeisenförmigen Bögen über Balustraden, zierlichen Zinnen, eingefasst von braunen und gelben Farbbändern. Betrachtet man die Stadt als Perlenschnur, an der ihre Geschichte aufgereiht ist, dann hat der Architekt Alexander Wittek die Vijecnica an deren Anfang gesetzt: Ende Atmo Verkehr Beginn Atmo Zinnklopfer Sprecher 1 Hier liegt der älteste Teil Sarajevos, die Bascarsija, der Basar. In ihren Werkstätten hämmern die Schmiede Kaffeemühlen aus Zinn oder Kugelschreiber aus Patronenhülsen des letzten Krieges. Der Geruch von Cevapcici, einer Spezialität der Stadt, hängt in den schmalen Gassen. Einkäufer sitzen auf niedrigen Bänken vor den Läden und trinken Tee. Der Vijecnica, am Rand des Basars, schräg gegenüber liegt das Goethe-Institut in einem kleinen, typisch bosnischen Haus. Dort hat der 68jährige bosnisch-serbische Schriftsteller Stevan Tontic soeben eine Antwort darauf gefunden, warum das Ende der k. und k.-Monarchie in der Literatur seiner Heimat kaum thematisiert wird: Es ist das ?Übermaß an Geschichte?, sagt er. Ende Atmo Zinnklopfer OT 1 Tontic Also in erster Linie dieses Attentat Ende Juni 1914, der Anlass für den Ersten Weltkrieg war. Das ist ein Ort mit viel Tragisches in der Geschichte. Obwohl das früher eine kleine Stadt eigentlich war, also nicht so bedeutend und nicht an wichtigsten Wegen in Europa oder so. Aber in Jugoslawien liegt die Stadt selbst ganz zentral eigentlich, und man könnte schon denken, diese Kräfte haben sich irgendwie gerade da so tragisch getroffen. Sprecher 1 Für Stevan Tontic ist Sarajevo eine ?auch heute noch schöne und inspirierende Stadt?. In einem Essay für das Buch ?Bibliothek Sarajevo? spricht er jenes Übermaß an Geschichte an: Zitator Es ist bekannt, dass Sarajevo unter den Osmanen seine größte Blüte im 17. Jahrhundert erlebte, um am Ende dieses Jahrhunderts von der Armee des großen Kriegers Prinz Eugen von Savoyen niedergebrannt zu werden. Nach fast 200 Jahren begann mit der Herrschaft Österreich-Ungarns 1878 in Bosnien-Herzegowina die moderne Entwicklung der Stadt in einem neuen Geist. Das neue christliche Kaiserreich errichtete in seiner vierzigjährigen Herrschaft viele Verwaltungsgebäude, sakrale und andere Gebäude, die heute noch das Stadtzentrum dominieren. Sprecher 1 Messerscharf scheint die Altstadt vom habsburgischen Sarajevo getrennt zu sein. Architektonisch übergangslos folgt eine Epoche der nächsten. Auf der einen Straßenseite scharen sich die eingeschossigen Häuschen des Basars mit schrägen Schindeldächern, auf der anderen erheben sich Gründerzeitbauten mit Erkern und Giebeln ? wie in Graz oder Györ. Neben der mit einer Kuppel gekrönten Markthalle aus osmanischer Zeit steht das Hotel Europa. Es beherbergt ein Wiener Kaffeehaus mit runden Tischchen, Glaslüstern und Holztäfelung. Der bosniakische, also bosnisch-muslimische, Autor Ahmed Buric, ein gemütlicher Typ mit gepflegtem Vollbart, sitzt bei einer Melange und denkt über seinen berühmten Landsmann, den bosnischen Kroaten Ivo Andric, nach. Dieser habe das Fortschrittliche an der österreichisch-ungarischen Monarchie erkannt, auch wenn sie damals schon an ihrem Ende angelangt war. Sprecher 2 - OT 2 Buric (OV) Er verstand, glaube ich, dass das Österreich-Ungarn ein gutes Umfeld für Bosnien war, auch wenn er paradoxerweise von den Ideen einer Vereinigung der Südslawen beeinflusst war. Er war also Jugoslawe, aber er verstand auch, dass Österreich-Ungarn keine schlechte Lösung für Bosnien war. Ich denke, er verstand sehr gut den Geist dieser Zeit. Er war eine Art guter Reisender durch die Zeiten. Sprecher 1 Der in Travnik geborene Literaturnobelpreisträger Ivo Andric ging noch zur Zeit der Monarchie ins Gymnasium von Sarajevo. Für sein Buch ?Die Brücke über die Drina? erhielt er den Literatur-Nobelpreis. Das Denkmal von Andric steht in einem Park vor der serbisch-orthodoxen Kirche. Beginn Atmo Glocken Zitator Wer in Sarajevo die Nacht durchwacht, kann die Stimmen der Nacht von Sarajevo hören. Schwer und sicher schlägt die Uhr an der katholischen Kathedrale: Zwei nach Mitternacht. Es vergeht mehr als eine Minute und erst dann meldet sich, etwas schwächer, aber mit einem durchdringenden Laut, die Stimme von der orthodoxen Kirche, die nun auch ihre zwei Stunden schlägt. Etwas später schlägt mit einer heiseren und fernen Stimme die Uhr am Turm der Beg-Moschee, sie schlägt elf Uhr, elf gespenstische türkische Stunden, die nach einer seltsamen Zeitrechnung ferner, fremder Gegenden dieser Welt festgelegt worden sind. Die Juden haben keine Uhr, die schlägt, und Gott weiß, wie spät es bei ihnen ist, wie spät nach der Zeitrechnung der Sepharden und nach derjenigen der Ashkenasen. Ende Atmo Glocken Sprecher 1 Die Glocken symbolisieren jenes ?europäische Jerusalem?, für das Sarajevo einst stand: das Zusammenleben unterschiedlicher Religionen und Nationen - was Achmed Buric bestätigt. Sprecher 2 - OT 3 Buric (OV) Die österreichisch-ungarische Monarchie war das letzte wirklich multinationale und multikulturelle Land der Welt. Mein tiefes Empfinden dieser Zeit ist so etwas wie Verlassenheit, denn Österreich-Ungarn hatte eine Art Plan mit Bosnien-Herzegowina, es war aber nicht genug Zeit vorhanden, ihn zu verwirklichen. Wir leben in einer Art unfertiger Nation. Sprecher 1 Ähnlich liest es sich bei Ivo Andric. Zitator Nach diesem großen Krieg stieß man unter den Intellektuellen oft auf solche Menschen, die auf eine besondere Art, aber auf nichts Bestimmtes im Leben zornig waren. Sie fanden in sich nicht die Kraft, sich mit dem Vergangenen abzufinden und sich anzupassen, aber auch nicht, die große Entscheidung in einem entgegengesetzten Sinn zu treffen. Sprecher 2 - OT 4 Buric (OV) Er machte große Literatur daraus, wie die Bosnier die ärgsten Feinde ihrer selbst waren. Zitator Bosnien ist ein Land des Hasses. In Bosnien-Herzegowina gibt es mehr Menschen, die aus verschiedenen Motiven und mit den verschiedensten Ausreden in den Ausbrüchen dieses unbewussten Hasses bereit sind zu töten und sich töten zu lassen. Jene, die glauben und lieben, hegen tödlichen Hass gegen alle, die nicht glauben oder anderes glauben oder etwas anderes lieben. Sprecher 1 Das schrieb Ivo Andric lange vor dem jugoslawischen Bürgerkrieg. Ahmed Buric sagt, dieser Krieg habe sein Land um Jahrzehnte zurückgeworfen.Sein Land habe keine Lehren aus der österreichisch-ungarischen Besatzung und dem Zweiten Weltkrieg gezogen. Gibt es dieses von ihm angesprochene Unfertige auch in der gegenwärtigen Literatur seines Landes? Sprecher 2 - OT 5 Buric (OV) Ja, das habe ich bisher nicht bemerkt. Sie sprechen von der Art allein gelassen zu sein, etwa die Poesie von Faruk Shehic oder Mile Stojic oder von mir, um nicht zu bescheiden zu sein. Es ist die Geschichte vom Alleingelassen- sein, aber nicht nur von der internationalen Gemeinschaft, sondern hauptsächlich von uns selbst. OT 6 Ebner Meine Oma hat geweint, was man natürlich verstehen kann. Meine Oma. Und bestimmt die Familie meiner Mutter. Sprecher 1 Davor Ebner ist 41 Jahre alt, Musiker, der Bosnien-Herzegowina beim Eurovisions-Songcontest 2009 in Moskau vertreten hat. Ihn treffe ich in einem lauten Café der Stadt. OT 7 Ebner Aber ich denke nicht, dass sie geweint haben um Franz Ferdinand. Ich glaube, dass sie geweint haben, weil sie wussten nicht, was morgen kommt. Das ist genauso wie mit dem Tito. Als Tito starb, viele Menschen haben geweint, weil sie wussten nicht, auf sie zukommt. Deswegen, wenn sich etwas über Nacht verändert, dann sind die Menschen schockiert. Denn sie wussten nicht, wie sie weiter handeln sollen. Und es ist sehr, sehr richtig, dass die Österreicher von dem 1. Krieg ein Trauma haben. Sprecher 1 Ebners Großeltern waren im Gefolge der habsburgischen Besatzer aus Österreich ins Land gekommen. Etwas, was die Osmanen nicht kannten, sollten die Zuwanderer in Bosnien-Herzegowina aufbauen: Forstwirtschaft. Beginn Atmo Verkehr Sprecher 1 Es sind nur wenige Schritte vom belebten Café durch die Fußgängerzone und über eine geschwungene Steinbrücke ans andere Ufer der Miljacka, um an den historischen Ort des Attentats zu kommen, damals Appell-Kai, Ecke Franz-Joseph-Straße. In einem Haus an der Kreuzung mit Einschusslöchern im ersten und zweiten Stock ist im Erdgeschoss ein Museum eingerichtet. Es ist eher ein größerer Schauraum mit Uniformen, Zeitungen und historischen Bildern. Frack und Fez eines bosnischen Parlamentariers sind ebenso ausgestellt wie zwei der beim Attentat verwendeten Pistolen. Wenige Besucher schlendern an den Schaustücken vorbei. Eine junge Mutter mit ihren beiden Kindern ist zum ersten Mal hier. Im letzten Krieg war sie selbst etwa so alt wie ihr kleiner Sohn, der schon ganz gut Englisch spricht. Ende Atmo Verkehr Kinderstimme - OT 8 Museum (OV) Es ist ein sehr interessantes Museum, wirklich. Wir lernen darüber in der Schule. Musikakzent Sprecher 1 Es gibt sie noch, die österreichischen Spuren, unübersehbar, auch außerhalb des Museums. Wenn man der Miljacka in ihrem steinernen Bett weiter folgt, stößt man auf das 1888 errichtete Nationalmuseum. Hier hatte das Thronfolgerehepaar an jenem Junitag seinen Sarajevo-Besuch offiziell begonnen. Weil keiner der beiden bosnischen Teilstaaten, die nun für das Nationalmuseum zuständig sind, die Finanzierung übernehmen möchte, wurde es vor zwei Jahren geschlossen. Ein Schicksal ähnlich dem der Vijecnica: Dort verbrannte das kulturelle Erbe des Landes, hier wurde es weggesperrt. Das Nationalmuseum liegt unweit jener Stelle, wo das habsburgische Sarajevo in das jugoslawische Sarajevo übergeht: Hochhäuser aus der Tito-Zeit säumen die breite Ausfallstraße. Diesen Stadtteil hatten im letzten Krieg die serbischen Besatzer in ihrer Gewalt und feuerten aus den Hochhäusern auf die Straße. Deshalb wurde die mehrspurige Straße mit den Straßenbahngleisen in der Mitte bald Sniper-Alley, Scharfschützenalle, genannt. Beginn Atmo Straßenbahn Sprecher 1 Die Straßenbahn in Sarajevo wurde von den Österreichern zwei Jahre früher als jene der Reichs- und Residenzhauptstadt Wien elektrifiziert. Nach dem jugoslawischen Bürgerkrieg versorgten Verkehrsbetriebe aus aller Welt Sarajevo mit Straßenbahnzügen als Ersatz für den zerstörten Fuhrpark. Gleich einer Ironie der Geschichte sind heute auch einige rot-weiße Triebwagen aus Wien auf der langen Geraden zwischen der Altstadt und dem angrenzenden Kurort Ilidza unterwegs. Ende Atmo Straßenbahn Beginn Atmo Fluss Sprecher 1 Hier, im weiten Park, in einem von fünf Hotels, dem Hotel Austria, hatte das Thronfolgerehepaar vor dem Attentat übernachtet. Und hier findet sich eine der wenigen positiven Stimmen im Land. Die junge Rezeptionistin Belma, blond, mit fröhlichen blauen Augen, wurde nach dem Krieg geboren. Auf alle Fälle will sie nicht wie viele andere ihrer Generation das Land verlassen. Programmsprecherin - OT 9 Belma (OV) Ich bleibe, weil ich glaube, dass es in ein paar Jahren oder mehr besser sein wird. Und ich liebe dieses Land, es ist nicht gut für den Job, aus Gründen der Sicherheit, aber in ein paar Jahren wird es besser sein. Es kann nicht immer regnen, es muss auch die Sonne scheinen. Sprecher 1 Den Wunsch nach anderen Politikern haben viele Menschen in Bosnien. Sie machen ihre Vertreter dafür verantwortlich, dass sich der Staat seit dem letzten Krieg kaum weiter entwickelt. Vor wenigen Monaten hat sich der Volkszorn in kleinen Scharmützeln im ganzen Land Luft gemacht, war aber wieder verebbt. In einer solchen Gesellschaft erscheint die heimische Literatur als Mutmacher. So empfindet es der Schriftsteller Nenad Velickovic, ein hagerer Intellektueller mit Rundbrille. Sprecher 2 - OT 10 Velickovic (OV) Was wir tun können, ist aufzuhören unsere Vergangenheit zu respektieren und aufzuhören, uns aufzuopfern, unser Land zu verteidigen oder solche Dinge zu tun. Wenn wir wissen, dass alle diese Helden auch Menschen sind, die auch 24 Stunden pro Tag in ihrem Leben haben. Und sie müssen auch essen und scheißen. Sie haben sehr menschliche Motivationen Dinge zu tun, und für gewöhnlich sind diese Motivationen nicht so hoch und moralisch sauber. Und wenn du das weißt, kannst du sagen, ich werde ihnen nicht folgen im nächsten Krieg. Sprecher 1 Der bosnische Serbe Nenad Velickovic hat wie seine Kollegen Ahmed Buric und Stevan Tontic einen Essay für das im Drava-Verlag erschienene Buch ?Bibliothek Sarajevo? geschrieben. Auf dem Einband schimmert blau hinter Gerüsten und Netzen die Ruine der Vijecnica. Ihr hat der bosniakische Schriftsteller Dzevad Karahasan den ersten Beitrag im Buch gewidmet. Zitator Wie es einmal im Erleben der nächsten Generation aussehen wird, kann ich mir nicht vorstellen. Heute aber empfinden wir im Zusammenhang mit dieser Bibliothek alle Phantomschmerzen. Sie verweist zum einen auf die westliche Intervention in Bosnien. Zum anderen ist die Vijecnica ein Sinnbild der aktuellen Pseudopolitik in Bosnien. Die Möchtegernpolitiker, Mafiabosse und Kriminellen, die sich in Bosnien für Politiker ausgeben, für nationalistische Politiker, spiegeln sich ebenfalls in der Ruine wider. Sprecher 1 Die Anthologie, die sich als Plädoyer für ein vielstimmiges Sarajevo versteht, wurde unter anderem durch das literarische Netzwerk traduki gefördert. Seine Aufgabe ist die Übersetzung zeitgenössischer Literatur aus dem ehemaligen Jugoslawien in die jeweils anderen Sprachen sowie ins Deutsche und die Übersetzung deutscher Bücher in die slawischen Sprachen. In den ersten sieben Jahren wurden mehr als 600 Werke durch traduki gefördert. Hana Stojic ist Leiterin des Regionalbüros dieses Literatur- und Übersetzungsnetzwerks in Sarajevo. Auf die Schätze der Nationalbibliothek ihrer Stadt, der Vijecnica, kann sie nicht mehr zurückgreifen. OT 11 Stojic Es gibt sowohl einen symbolischen als einen ganz klar materiellen Verlust, der durch diesen Brand verursacht wurde. Und lange gab es auch eine Debatte, soll man die Vijecnica, also das Rathaus überhaupt aufbauen, oder soll sie wie die Berliner Gedächtniskirche als ein Mahnmal da stehen bleiben. Da sind Menschen im Alter meiner Eltern noch in dieses alte Rathaus gegangen und haben sich Bücher ausgeliehen, waren dort im Lesesaal und haben gelesen. Also, sie haben einen ganz klar auch emotionalen Bezug aus der Vergangenheit zu diesem Gebäude. Und ich, die zehn war, als der Krieg ausgebrochen ist, kennt das als die brennende Bibliothek, als die Stadt Sarajevo, die brennt, und die von diesem Rathaus verkörpert wird. Sprecher 1 Das kulturelle Bewusstsein Bosniens hingegen konnte durch die Tat nicht vernichtet werden. Hana Stojic erzählt von der jährlichen Buchmesse in Sarajevo, die von Mal zu Mal wachse. OT 12 Stojic Die Zeit von Österreich-Ungarn war für Bosnien-Herzegowina sicherlich sehr von Bedeutung, weil sie hat sehr viele Sachen nach Bosnien-Herzegowina gebracht. Ganz viele Institutionen wurden gebaut, viele Gebäude: Das Volkstheater, oder Dom Armije, das heute als Konzertsaal benutzt wird, das Landesmuseum. Also, das sind alles Sachen, die mit Österreich-Ungarn nach Bosnien kamen. Es ist aber eine Zeit auch, die sehr kurz gedauert hat, deswegen hören sie sehr oft auch heute von den Leuten: Ach wären die Österreicher länger bei uns geblieben und hätten für mehr Ordnung gesorgt. Von der Bevölkerung wird das so aufgefasst als eine Zeit der Ordnung, die eingetroffen ist. Sprecher 1 Dennoch hat dieser Abschied von der Monarchie in der Literatur des Landes kaum Niederschlag gefunden. OT 13 Stojic Der Abgang Österreich-Ungarns ist mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ja verbunden. Ich würde meinen, dass der Weltkrieg, der ja ein Weltgeschehen war, diesen Abgang überschattet hat, weil ein Krieg kam von einem ganz großen Ausmaß, der die ganze Welt beschäftigt hat, und dass der Fokus der Schriftsteller auf den Krieggelegt war und jetzt nicht durch die Tatsache, dass man jetzt nicht mehr zu Österreich-Ungarn dazu gehörte. Sprecher 1 Krieg lässt keinen mehr so wie er war, verändert alles und jeden, auch Schriftsteller wie Stevan Tontic, der Sarajevo heute nicht mehr als Ort seines Lebensschicksals wählen würde. Er verweist auf einen anderen Autor, den der Krieg ebenfalls geprägt hat. Der Krieg vor 100 Jahren. OT 14 Tontic Es gibt in deutscher Sprache von Milos Crnjanski, auch ein ganz großer Schriftsteller, so groß wie Ivo Andric, Milos Crnjanski so ein kleines Roman über Erstes Weltkrieg, sehr expressionistisches Werk, wunderbar. ?Tagebuch über Carnojevic?, so heißt das Buch. Zitator Dann schlugen sie mich wieder ins Gesicht. Aus meinen Dokumenten ersahen sie, dass ich auf dem Weg nach Rom war, und sie schrien mir ins Gesicht: ?Spion, Spion!? Ein Pope lag neben mir; sein Mund blutete, und die Zähne waren ihm eingeschlagen. Dann führten sie eine junge Frau herein, und es war schamlos, wie sie mit ihr umgingen. Auch sie schrien sie an: ?Spion, Spion!? Sie, ganz bleich, liebkoste die kleinen, braunen Köpfe ihrer Kinder. Dann schlugen sie mich wieder. Sprecher 1 Crnjanski macht deutlich, dass die österreichisch-ungarische Monarchie nicht nur Schönbrunn und Sachertorte, degenerierter Adel und Walzerseligkeit war. Für Crnjanski war seine Herkunft verschärfend: als ein aus dem damals österreichischen Siebenbürgen stammender Serbe. Zitator Wir werden aussterben, und es wird ein besseres Jahrhundert kommen, es kommt immer eines. Im grünen, zerlumpten Militärmantel werden wir uns grinsend überall durch die Straßen schleppen. Sprecher 1 Eine Parallele zum österreichischen Dichter Georg Trakl wird deutlich, der in die erste große Schlacht in Galizien gezogen und von ihrer Grausamkeit nachhaltig geprägt worden war. Während Trakl die furchtbaren Erlebnisse im Gedicht ?Grodek? verarbeitete, schrieb Crnjanski sein Erleben der Unmenschlichkeit des Kämpfens im ?Tagebuch über Carnojevic? nieder. Wie er gehört auch der Kroate Miroslav Krleza zu den Chronisten der untergehenden Monarchie und bildet gemeinsam mit Crnjanski und Andric das Dreigestirn der großen jugoslawischen Schriftsteller. Krleza ist einer, der das Habsburgerreich kritisch sah und sogar der damals revolutionären Sozialdemokratie spöttisch-abschätzig gegenübertrat. Zitator Mit dem geheimen Stimmrecht hat sich ihnen die Schokoladenseite zugewendet, und jeder neomarxistische Buchhalter hatte Aussicht, kaiserlicher Hofrat zu werden. Die Phrasen von der österreichischen Kultur-Mission an der Donau, von der ?Ostmark?, von der slawisch-deutschen Symbiose, von der ökonomisch-geographisch einzigartigen Basis zwischen Donau, Alpen und Karpaten, von der agrar-feudalen Grundlage, die man industrialisieren und von Wien aus ? als dem natürlichen geographischen Zentrum ? lenken soll, von der legendären Ost-West-Straße: Hamburg-Bagdad, und Nord-Süd: Danzig-Triest, die Theorie von Staat und Überstaat, all die zahlreichen Rennerschen leeren Phrasen bildeten die Grundlage für die österreichische sozialistische Politik zur Zeit des Aufschwungs um die Jahrhundertwende, zur Zeit der Annexionskrise, am Vorabend des Weltkrieges und während des Krieges bis 1918. Diese kaiserliche Hofratspolitik befand sich in einer Sackgasse des Nachkriegschaos, als eines Tages dreiundzwanzig Millionen Slawen im Nebel verschwanden und sich so die Lügen von Symbiose, gemeinsamer Basis und Mission wie Phantome auflösten, und den Sozialisten blieb das Wiener Rathaus als einzige reale Grundlage zur Durchführung marxistischer Politik. Sprecher 1 Krlezas Werke seien zum Synonym für die kroatische Perspektive geworden, schreibt der Zagreber Literaturwissenschaftler Filip Hamersak in der Zeitung ?Beton international?. Dieses Medium, dessen Erscheinen von Traduki unterstützt wird, widmet sich in seiner jüngsten Ausgabe dem Schicksalsjahr 1914. Hamersak weist darauf hin, dass im Königreich der Serbien, Kroaten und Slowenen, dem Monarchie-Nachfolgestaat und Jugoslawien-Vorläufer, plötzlich Völker vereint waren, die sich eben noch bekämpft hatten. Zitator Die offiziellen Erinnerungsrituale sowohl des royalen als auch des kommunistischen Jugoslawiens stützten sich auf die Erfahrungen der serbischen Armee und taten sich schwer damit, dass ein großer Teil der Bevölkerung des nun gemeinsamen Staates vier Jahre lang auf Seiten des ?Aggressors? gekämpft hatte. Geschichtswissenschaft, Publizistik und Literatur der ehemals zu Habsburg gehörenden Teile Jugoslawiens zeichneten sich dadurch aus, dass sie Tatsachen verschwiegen oder nur von einer Seite beleuchteten, wobei der Zwang zur Waffe und die Auflehnung von Kroaten, Serben, Slowenen und anderen Südslawen in den österreichisch-ungarischen Verbänden überbetont wurden. Sprecher 1 Kroatien gehörte in der Doppelmonarchie zur ungarischen Reichshälfte. Das Königreich Ungarn übte auf Kroatien und die anderen von ihm verwalteten Länder jenen Druck aus, dem es sich selbst im Gesamtstaat entzogen hatte. Ein dementsprechend ambivalentes Gefühl seines Landes gegenüber Österreich ortet der ungarische Schriftsteller György Dalos. Denn im so genannten Ausgleich hatte Ungarn dem Kaiserreich alles abgetrotzt, was es in seinen Revolutionen bis dahin begehrt hatte. Und nicht nur das. OT 15 Dalos Statt der hundertprozentigen Unabhängigkeit haben wir im Ausgleich das bekommen, Kroatien wie ein Kronland zu behandeln, den Rumänen und den Kroaten und den Slowaken die ungarische Sprache in öffentlichen Ämtern aufzuzwingen. Und das ist der Verrat der Monarchie. Das konnte nur die Monarchie garantieren, diese Unterdrückung der anderen Völker. Und deswegen glaube ich, es gibt auch keinen großen Roman über den Weltkrieg, es gibt nicht so etwas wie ?Kapuzinergruft? in der ungarischen Literatur. Der Krieg war vor allem in diesem intellektuellen Bereich ein absoluter Bruch. Weil damit endete die ganze, ich würde sagen beabsichtigte Modernisierung der ungarischen Gesellschaft. Sprecher 1 Dalos nennt die Lyriker Endre Ady und Mihály Babits, sowie Sándor Márai und Lászlo Néméth als jene Schriftsteller, die sich mit Krieg und Ende der Monarchie in seinem Land beschäftigt haben. Der kürzlich auch in Deutschland wiederentdeckte Miklós Bánffy erzählt in einer Trilogie über den Zerfall Siebenbürgens. OT 16 Dalos Siebenbürgen, das ist ein bisschen in der ungarischen Betrachtung so ein Ungarn im Konjunktiv: So wäre Ungarn, wenn es schön wäre. Und dieser siebenbürgische Traum wird von Bánffy sehr minutiös geschildert, erstens die Lebensweise der herrschenden Elite und zweitens die völlig Unfähigkeit dieser Elite bereits vor dem Weltkrieg die wahren Probleme wahrzunehmen, weil diese lauwarme, angenehme Atmosphäre der Monarchie war nichts als ein Ausdruck der Ohnmacht. Also die Monarchie war zum Tode verurteilt. Es gab diese Zweiteilung: Die Populisten oder Volkstümler, deren Thema das Dorf war, wie Néméth, zum Beispiel. Es gab die so genannten Urbanen, da ist Antal Szerb oder Sándor Márai, ein absoluter städtischer Schriftsteller. Bei denen ist der Grundton, und das ist vielleicht eine ästhetische Ähnlichkeit mit den Österreichern: Das ist die Melancholie. Das ist keine kämpferische Literatur mehr wie in dem romantischen 19. Jahrhundert, das ist die Literatur einer verlorenen Generation. Sehr schöne, traurige Bücher, die in keiner Weise zu etwas auffordern. Sprecher 1 Ungarn leidet unter dem Trauma des Ersten Weltkriegs besonders schwer, bis heute. Es verlor mit einem Schlag zwei Drittel seines Territoriums und fünf Millionen Landsleute. Die Tschechoslowakei hingegen war neu entstanden, eine Doppelnation, die erstmals selbstbestimmt war. Doch die literarischen Zeugnisse über jene Zeit sind dürftig. Andreas Ohme, Slawist an der Universität Leipzig, erinnert an Jaroslav Haseks Roman ?Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk?, der deutlich antiösterreichische Züge trage. Bei den zahlreichen deutschsprachigen Prager Literaten hingegen finden sich keine Hinweise auf die veränderten Umstände: Egon Erwin Kisch dient die neue Ordnung bestenfalls als Kulisse, nicht als Thema. Der in Tschechien geborene Karl Kraus allerdings verarbeitet das Erleben des großen Krieges in seinem Epos ?Die letzten Tage der Menschheit?. Zitator Die Mitwelt, die geduldet hat, dass die Dinge geschehen, die hier aufgeschrieben sind, stelle das Recht, zu lachen hinter die Pflicht, zu weinen. Die unwahrscheinlichen Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe sie gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate. Sprecher 1 ?schreibt Kraus im Vorwort zu seinem unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg beendeten Monumentalwerk. Robert Musil formuliert im ?Mann ohne Eigenschaften? die abschätzige Bezeichnung ?Kakanien? für die k. und k.-Monarchie. Kritik, Anbiederung, Distanzierung? Für den österreichischen Autor Martin Pollack hat die Literatur seines Landes großartig auf das reagiert, was sich Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa abgespielt hat. Sie habe die Österreicher im Ersten Weltkrieg keineswegs beschönigend oder selbstmitleidig beschrieben. OT 17 Pollack Es war ein Desaster, aber sie haben auch furchtbare Verbrechen begangen, gerade wenn wir heute von der Ukraine sprechen, Verbrechen gegen die eigene Bevölkerung, Verbrechen gegen die ukrainische Bevölkerung, gegen die Ruthenen, die wurden massenweise aufgehängt, wurden deportiert, nach Thalerhof bei Graz gebracht. Das finden sie alles bereits bei Joseph Roth, ja. Also irgendwo, kurioserweise, wenn man den jetzt liest, blendet man das alles offensichtlich aus, findet das nicht mehr. Bei Georg Trakl finden sie sehr wohl die Erinnerung genau an diese aufgehängten Leute, nicht. Und es ist wert, dass man sich die Literatur heute, glaube ich, mit neuen Augen betrachtet und noch einmal kritisch betrachtet, dass man ein bisschen diese, wenn man so will, rosa Brille abnimmt, nicht, mit der man Joseph Roth liest, das ist so, ja, verklärte Welt. Zitator Das Land hat in Westeuropa einen üblen Ruf. Dennoch ist Galizien, das große Schlachtfeld des großen Krieges, noch lange nicht rehabilitiert. Auch für diejenigen nicht, die Schlachtfelder für Felder der Ehre halten. Diese Heiligenbilder zwischen den Ähren der weiten Felder, an den Wiesenrändern, in den Waldlichtungen sind im großen Kriege vernichtet worden, durchlöchert, zerhackt, verkrüppelt und dort wieder aufgerichtet, bemalt, mit Inschriften versehen, wo der Bauern Opfermut so groß war wie ihre Frömmigkeit tief. Sprecher 1 Nicht nur der aus Brody in Galizien stammende Joseph Roth und seine Zeitgenossen haben sich literarisch diesem Landstrich gewidmet, der das heutige östliche Polen und die Westukraine umfasst. Die kroatische Autorin Dasa Drndic erinnert sich in einem Beitrag für die Zeitung ?Beton International? an ihren Großvater, der aus Istrien dorthin in den Krieg ziehen musste. Programmsprecherin - Zitatorin Galizien und die Erfrierungen an den Füßen meines Großvaters. Galizien, die ferne Ostfront, die Karpaten, die Russen, die österreichisch-ungarische und die deutsche Armee. Es war diese Schlacht in den Karpaten im Jahr 1915, in der die österreichische Armee große Verluste an Stellungen und Menschenleben hinnehmen musste, es war das ?Stalingrad des Ersten Weltkrieges?, das am wenigsten, am oberflächlichsten und damit auch am fragwürdigsten beschrieben wurde. Sprecher 1 Galizien, das ist zwar eines der großen Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs. Galizien ist aber auch eine Region dichter Religiosität, vom einstigen jüdischen Schtetl mit seinen bitterarmen Menschen bis zu den christlichen Kirchen: Drei orthodoxen und der mit Rom verbundenen griechisch-katholischen. Und Galizien ist ein Land, das einst wie jetzt auffallend viele Schriftsteller hervorgebracht hat, nicht zuletzt, als es Teil Polens war. Diesen heute wenig beachteten Einfluss betont der österreichische Autor Martin Pollack. OT 18 Pollack In der polnischen Literatur ist der Erste Weltkrieg, und auch die österreichische Vergangenheit sehr ernsthaft und sehr gut verarbeitet worden, und das spielt auch kurioser weise jetzt in die neue Literatur hinein. Auch die neue Literatur, auch in der Ukraine, zum Beispiel Juri Andruchowitsch, Jurko Prochasko, Taras Prochasko setzen sich mit dieser Zeit auseinander, und durchaus auf seriöse, also überhaupt nicht romantisierende, überhaupt nicht nostalgische Weise, sondern in einer ganz ernsthaften, spannenden Weise. Da müssten wir uns mehr drum kümmern, dass wir diese Auseinandersetzung auch mitbekommen, dass wir in einen Dialog treten können mit diesen Autoren. Sprecher 1 Viele von ihnen stammen aus Lemberg oder leben dort: Der Hauptstadt der Westukraine, früher Hauptstadt von Ostgalizien. Eine Stadt, die ihren Reiz aus dem Nebeneinander verschiedener Nationen zieht. Sie haben ihr nicht nur ihre Kultur, sondern auch einen jeweils anderen Namen gegeben, wie der Lyriker Tymofiy Havryliv bemerkt. OT 19 Havryliv Leopolis auf Lateinisch, wie es in den Chroniken anzutreffen ist, dann eben Lvuv auf Polnisch, Lviv auf Ukrainisch, Lemberg auf Deutsch oder auf Deutsch-Österreichisch und dann auch Lvov auf Russisch. Alle diese Lvivs sind auf dieser einen Fläche, die nicht allzu groß ist, zu Hause. Und alle beanspruchen für sich mit viel Argumenten Platz, dass es hier ihr Zuhause ist, und das finde ich legitim und schön. Sprecher 1 Seit den Zeiten der Monarchie verbinden sich berühmte Namen der Literatur mit Lemberg: Leopold von Sacher-Masoch, Joseph Roth, Bruno Schulz, Stanislaw Lem. Vom multikulturellen Lemberg vor dem Ersten Weltkrieg ist aber nicht viel geblieben: Der polnische Staat siedelte seine Landsleute nach dem Zweiten Weltkrieg nach Westen um Krakau um. Die Juden, die einst ein Drittel der Stadtbewohner ausgemacht hatten, waren schon vorher ermordet worden. Der Erste Weltkrieg war in Lemberg in einen weiteren übergegangen, in dem Ukrainer, damals Ruthenen genannt, und Polen darum kämpften, wer hier das Erbe der Monarchie antreten solle. Die Polen blieben bis zum Zweiten Weltkrieg siegreich, dann zog die Front mehrmals über die Stadt und wieder zurück. Nachher gehörte Lemberg zur ukrainischen Republik der Sowjetunion, seit 1990 zur freien Ukraine. Beginn Atmo Verkehr Sprecher 1 Was geblieben ist und der Stadt architektonisch seinen Stempel aufdrückt, ist die Architektur der Gründerzeit: ganze Stadtviertel bestehen nahezu lückenlos aus Bauten, deren Farben zwar ausbleichen, deren Stuck abbröckelt und deren Putz abblättert, die aber Lemberg zu einer durch und durch habsburgischen Stadt machen: Mehr noch als Wien, Zagreb oder Brünn. Joseph Roth beschreibt die Stadt fast idealisierend. Ende Atmo Verkehr Zitator Straßen, Plätze, Häuser, die vornehm zu sein die Bestimmung und Pflicht haben, Schlösser hinter Gittern, öffentliche Gebäude, zu denen man auf Stiegen empor schreitet ? alle sind populär. Die strenge Form lockert sich volkstümlich. Die Milderung der strengen Form artet auch in Unordnung aus, in zerstörende Langsamkeit, selbstmörderische Verwirrung. Die Gesetze sind zahlreich. Ihre Übertretung oberstes Gesetz, wenn auch ungeschriebenes. Der alte ?österreichische Schlendrian? findet eine adäquate Fortsetzung in der Lässigkeit, die slawisch ist und eine Begleiterin der Melancholie. Beginn Atmo Piano Sprecher 1 Es weht eine andere Zeit durch Lemberg, wenn sich jemand ans Piano hinter der Lateinerkathedrale, der katholischen Kirche im Zentrum, setzt und zu spielen beginnt. Die Habsburger haben die Stadt geprägt, so wie Sarajevo: Mit einer Corporate Identity, die über tausende Kilometer ihren Wiedererkennungswert hat. Das Architektenbüro Helmer und Fellner hatte eigene Formate für das Erscheinungsbild von Opern und Theatern entwickelt. In Lemberg steht noch ihr schneeweißes nobles Hotel George. In einem der Säle sinniert der Historiker Vasyl Rasevych in einer Nische über das Ende der k. und k.-Monarchie in Ostgalizien. Ende Atmo Piano OT 20 Rasevych Die galizischen Ukrainer, die Westukrainer, sie haben auch ihre eigene Republik proklamiert, aber die haben auch ein paar Tage gewartet, was sagt darüber der Kaiser, und das war lächerlich für mich, das ist auch lächerlich, aber die, die waren wirklich alte österreichische Legitimisten, die haben gebraucht eine Legitimierung von legitimer Macht. Sprecher 1 Es war Treue zum Staat, die aber nicht unbedingt Zuneigung bedeutete, denn der Autor Jurko Prochasko betont? OT 21 Prochasko ?dass es nur wenigste, ganz, ganz, ganz wenige Literaten hier gab 1918, die der Monarchie noch nachgetrauert haben, die irgendwie überhaupt dieses nostalgische Gefühl noch hätten. Diese Nostalgie, diese ausgeprägte Sehnsucht nach Habsburg, das ist alles ein Phänomen der Nachkriegszeit, aber der Nachkriegszeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Erklärung liegt für mich darin, dass erst der Zweite Weltkrieg und erst der Holocaust und erst der sowjetische Terror gezeigt haben, dass, eigentlich wie unschön und wie problematisch die Habsburgerzeit gewesen sein mag, aber vor dem Hintergrund all dieser historischen Katastrophen, das dann immerhin die beste Zeit war. Beginn Atmo Braukeller Sprecher 1 Heute ist die Haltung zum Habsburgerreich zwiespältig: Der Tourismus liebt Nostalgie. In manchem Restaurant hängt des Bild des backenbärtigen Kaisers, Kaffeehäuser betonen ihre Tradition. Vor einem Lokal mit dem Namen Sacher-Masoch haben die Betreiber eine lebensgroße Figur des Dichters aufgestellt. Als Bezug zu seinen mitunter frivol-pervertierten Texten kann man dem Denkmal in die Hosentasche greifen und die metallenen Genitalien des Dichters berühren. Sehr zum Ärger des Historikers Rasevych. Ende Atmo Braukeller OT 22 Rasevych Das ist kitschig, das ist primitiv. Aber die Leute vom Osten, die sind begeistert. Sie verstehen das so, dass zum Beispiel, das immer so war. Das ist alt, und das ist österreichisch, österreich-ungarisch. Sprecher 1 So harmonisch und gemütlich war es aber nicht. Die Zeit der Monarchie wird von den heutigen Schriftstellern durchaus problematisch gesehen. Etwa von Natalka Sniadanko, die feststellt, dass es keine ukrainische Literatur gibt, die sich mit der k. und k.-Zeit auseinandersetzt. OT 23 Sniadanko Wahrscheinlich teilweise deswegen, weil es eine schmerzliche Erfahrung war für ukrainische Kultur. Die war damals unterdrückt, und dieser Mythos entsteht erst jetzt. Also, wir haben jetzt eine sehr lebendige Phase des Zurückdenkens an k. und k. als eine schöne Zeit. Und natürlich oft wird dabei vergessen, dass es eine schöne Zeit war, aber nicht direkt für die ukrainische Kultur. Für mich ist eigentlich mehr als Ende der Monarchie, des Totalitarismus des großen Staates, ist mir das 1991, damals ist eine Mauer gefallen, und das war ein sehr, sehr großes Ereignis in der Literatur, dass endlich die ukrainische Sprache offiziell als die Sprache anerkannt wurde, dass ins Ukrainische übersetzt wurde, dass es nicht nur eine Dorfsprache war. Sprecher 1 Dann fügt Natalka Sniadanko eine Bemerkung an, die als Schlüsselsatz für die nur spärlich auffindbare Literatur zum Ende der Monarchie gelten könnte. OT 24 Sniadanko 1918 literarisch ist meiner Meinung nach wenig interessant, also das war politisch eine Zeit der Wende. Aber literarisch war das eben diese Literatur, die etabliert war, die war sehr modern, also die lebte als Literatur sehr eigenes Leben. Und die konnte auch weiter so leben, wenn das nicht vernichtet wurde. Das ist vielleicht immer so, dass wenn eine Zeit politisch zu intensiv wird, wird sie viel, viel später aufgearbeitet literarisch, das braucht immer seine Zeit. Sprecher 1 Die Schriftsteller seines Landes hätten heute mehr die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts im Blick, als dessen Beginn, meint demgegenüber Ljubko Deresch. Der gebürtige Lwiwer ist trotz seiner erst 30 Jahre ein erfolgreicher Autor in der Ukraine. Er verweist auf einen nicht minder berühmten Kollegen. Sprecher 2 - OT 25 Deresch (OV) Vielleicht Juri Andruchowytsch und die Welle der Prosa schreibenden Autoren, die nach ihm kamen. Einzig sie begannen die wahre Reflexion des Prozesses des Platzes der Ukraine in Europa und der Wurzeln der Ukraine in Europa, den Platz der österreichisch-ungarischen Monarchie in der ukrainischen Geschichte. Die Ukraine verlor ihre Identifikation als Teil der Sowjetunion und erlangte noch nicht die Identifikation eines neu geborenen Landes. Und Intellektuelle dieser Zeit sahen auf diesen neuen Typ einer eigenen Identität: Wer bin ich? Und Juri Andruchowytsch, unter anderen, versuchte Antworten auf diese Frage in den österreichisch-ungarischen Wurzeln zu finden. Also: Wir gehören zu Europa, weil wir in Österreich-Ungarn waren. Wir hatten diesen Stil, diese Zeit, diese Kultur, diese Literatur und so weiter. Zitator In dieser kleinstädtischen Welt der Häuser und Hinterhöfe bin ich aufgewachsen, zwischen Veranden und Mansarden, die vor gut hundert Jahren modern waren. Ja, genau vor hundert Jahren ? es handelt sich ja um das vorige fin de siècle, um die Zeitenwende, die man in der Provinz gemeinhin als nicht so dämonisch empfand wie etwa in Wien. Zu Zeit meiner Geburt lag diese Welt schon größtenteils in Trümmern, somit kann ich mich nicht an das Ganze erinnern, ich erinnere mich aber noch gut an jene seltsam gebeugten alten Männer und Frauen, die im galizischen Dialekt fluchten und lateinische Sprüche aus dem Gymnasium auswendig hersagen konnten und sich noch in den Jahren Chruschtschows und der Beatles so kleideten, als wären sie gerade aus der Tür getreten, um den Erzherzog Franz Ferdinand zu begrüßen. Sprecher 1 Juri Andruchowytsch beschwört diese untergegangene Welt, dieses Europäische im Gegensatz zum ihm fremden Einfluss aus dem Osten. Es ist ein vertrauensvoll in die Vergangenheit gerichteter Blick, den der Schriftsteller aus der Westukraine verfolgt. Zitator Meine besondere Liebe gilt alten Landkarten, die immer noch irrtümlich den Rand der Erde verzeichnen, Schildkröten und Walfische, ein Meer an der Stelle der heutigen Karpaten, schlummernde karpatische Vulkane und diverse, längst in Vergessenheit geratene lokale Konstrukte à la Böhmen, Galizien oder Cisleithanien. Gleich danach kommen für mich die Kursbücher aus der Zeit vor hundert Jahren; natürlich habe ich alle Anschlüsse längst verpasst, und trotzdem hat es für mich eine Bedeutung, zu wissen, dass zwischen Lemberg und Venedig zwei Züge verkehrten, der eine über Wien-Innsbruck, der andere über Budapest-Belgrad. Atmo Ansage Sprecher 1 Verbindungslinien eines untergegangenen Europa. Der Lemberger Hauptbahnhof, noch in solch altösterreichischem Format wie viele andere Stationsgebäude zwischen Adria und Weichsel, steht dafür, abgekoppelt von Österreich: Eine Zugfahrt von Wien nach Lemberg dauerte vor dem Ersten Weltkrieg 12 Stunden, heute benötigt man dafür fast doppelt so lange. In der Halle des immer noch ehrwürdigen Gründerzeitbahnhofs hängt eine Tafel, in der auf Ukrainisch und etwas ungelenkes Deutsch zu lesen steht: Zitator ?Am 4. November 1861 ist der erste Zug von Wien nach Lviv gekommen. Das hat den Anfang des Bahnverkehrs in heutzutagige Ukraine gemacht.? Sprecher 1 Lemberg war stets ein Schnittpunkt von Kulturen und Lebensweisen gewesen, lange bevor die Eisenbahn die Stadt erreichte. Als Lwiw, Lwow, Lvuv oder eben Lemberg hat es Stile und Weltanschauungen, Religionen und Nationalitäten in sich aufgesogen und zu einem unverwechselbaren Bild seiner selbst verschmolzen. Das aber ist noch kein Grund für Romantisierung. Sowohl Richard Wagner findet: Zitator Man lebte nicht friedlich zusammen, wie der dem heutigen Klischee angepasste Mythos nahelegt, man ging sich vielmehr erfolgreich aus dem Weg. Als auch der Historiker Vasyl Rasevych sagt: OT 26 Rasevych In Galizien gab es kein multikulturelles Leben, das war das Leben nicht miteinander, sondern nebeneinander. Sprecher 1 Als Beweis führt er die Konflikte und Massaker im 20. Jahrhundert an. Und auch Jurko Prochasko nähert sich nur vorsichtig dem Bild der Vergangenheit. Zitator Nostalgie haftet der Faktor des Lemberger Lebens an, als wäre diese Stadt nicht aus Stein, sondern aus Äther, und man sollte sich ständig dessen bewusst sein. Lemberg gehört nicht zu den Orten, wo man sich seiner eigenen Biographie so ganz sicher sein kann. Lemberg ist eine Stadt, die einem entgleitet, und die man trotzdem festhalten möchte. Beginn Atmo Messe Sprecher 1 In der Westukraine dominiert die mit Rom unierte griechisch-katholische Kirche. Da sie Priestern gestattet zu heiraten, wurde die Elite früherer Jahrhunderte von den Kindern jener Geistlichen gebildet. Hier stand die Wiege der ukrainischen Literatur, Loyalitätsbezeugungen an das Haus Habsburg, die heute gekünstelt und konstruiert wirken. Ende Atmo Messe Zitator Lemberg: Es ist die Stadt der verwischten Grenzen. Der östlichste Ausläufer der alten kaiserlichen und königlichen Welt. Das weit westlichere Krakau ist weniger österreichisch. Es blieb immer ein nationales Museum. Zwischen Wien und Lemberg ist heute noch, wie immer, der Radioaustausch der Kultur. Aber Bukarest ist noch dazugekommen. Der Umsturz hat nämlich alle galizischen Städte um einige Meilen nach Osten gerückt. Vielleicht zum Segen des Ostens? Sprecher 1 ?schreibt Joseph Roth mit erstaunlich aktuellen Worten. Joseph Roth stammt aus der deutschsprachigen Enklave Brody, der Stadt mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil der gesamten Donaumonarchie. Von dort war er nach Lemberg an die Universität gekommen und hatte sich nicht verständigen können, weil da seit 1871 polnisch gesprochen wurde. Also zog er weiter nach Wien, wo er sich mit Werken wie ?Radetzkymarsch? und ?Kapuzinergruft? der letzten Jahre des Kaiserreichs widmete, erzählt Jurko Prochasko. OT 28 Prochasko Diese Entwicklung vollzog sich bei ihm vor dem Hintergrund der wachsenden Bedeutung von Nationalsozialisten in Deutschland und in Österreich. Er beobachtete diese Entwicklung mit wachsender Besorgnis und hat sich dann auf diese österreichische Vergangenheit zurück besonnen und begann da an seinem großen Habsburgermythos zu arbeiten. Zitator Galizien liegt in weltverlorener Einsamkeit und ist dennoch nicht isoliert; es ist verbannt, aber nicht abgeschnitten; es hat mehr Kultur, als seine mangelhafte Kanalisation vermuten lässt; viel Unordnung und noch viel mehr Seltsamkeit. Viele kennen es aus der Zeit des Krieges, aber da verbarg es sein Angesicht. Es war kein Land. Es war Etappe oder Front. Aber es hat eine eigene Lust, eigene Lieder, eigene Menschen und einen eigenen Glanz; den traurigen Glanz der Geschmähten. OT 29 Prochasko Vielleicht wäre auch eine Antwort da zu finden, dass wir uns viel, viel zu stark grade von diesem Habsburg-Mythos ergötzen, dass wir ihn sozusagen intakt brauchen und einfach nicht wahrhaben wollen und verdrängen, dass das durch den Krieg zu Ende gekommen ist. Vielleicht wollen wir uns nicht an diesen Krieg erinnern, weil wir nicht wahrhaben wollen, dass auch dieser Habsburger-Mythos zu Ende ist. 2